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Soziale Stadtentwicklung und Gemeinwesenarbeit hat sich als Handlungsfeld Sozialer Arbeit längst etabliert. Das sozialräumliche Konzept in der Sozialen Arbeit lenkt den Blick auf die grundlegenden strukturellen Verursachungsgründe von Hilfenotwendigkeit und bietet zugleich praktische Handlungsperspektiven, die an den Ressourcen der Menschen und ihres sozialräumlichen Umfeldes ansetzen. Dabei werden individuelle Lebens- und kollektive Problemlagen mit ihren verursachenden Strukturen und daran ansetzenden Möglichkeiten zu Veränderungsprozessen in den Blick genommen. Das Buch führt ein in die grundlegenden Theorien und empirischen Befunde über die Entwicklung des Lebens in Städten und Quartieren. Schwerpunkte des Buches bilden das breite Spektrum von Programmen zur Stadtteil- und Quartierentwicklung sowie die Methoden der Gemeinwesenarbeit, wie Sozialraumanalyse, Empowerment, Bürgerbeteiligung, Netzwerkarbeit, Projektarbeit und Mobile Arbeit.
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Seitenzahl: 374
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Der Autor
Prof. Dr. Martin Becker lehrt und forscht seit 2007 an der Katholischen Hochschule Freiburg. Nach dem Studium der Sozialen Arbeit war er über zehn Jahre in verschiedenen Handlungsfeldern Sozialer Arbeit tätig. Nach dem Studium der Soziologie, Erziehungswissenschaften und Arbeits-/Organisationspsychologie wurde er an der Universität Freiburg zum Dr. phil. promoviert. Seine Lehr- und Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Stadt- und Quartierentwicklung, Sozialraumorientierung und BürgerInnenbeteilung. Seine wichtigsten Publikationen und Forschungsprojekte beschäftigen sich mit sozialer Stadtentwicklung auch im internationalen Kontext, Quartierstudien, Sozialraumanalysen sowie Studien zu freiwilligem Engagement.
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2., aktualisierte Auflage 2021
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-041214-9
E-Book-Formate:
pdf: ISBN 978-3-17-041215-6
epub: ISBN 978-3-17-041216-3
Der Band »Handlungsfeldorientierung in der Sozialen Arbeit«, in erster Auflage erschienen im September 2012 und aktualisiert und erweitert 2020, bildet die Einführung für eine Reihe von Einzelveröffentlichungen zu verschiedenen Handlungsfeldern Sozialer Arbeit. In der einführenden Publikation ist das »Freiburger Modell der Handlungsfeldorientierung« genauer beschrieben, das den folgenden Bänden zu einzelnen Handlungsfeldern Sozialer Arbeit auch zugrunde liegt. Dieses curriculare Modell für das Bachelorstudium der Sozialen Arbeit nimmt aktuelle Bedingungen und Entwicklungen in verschiedenen Feldern der Sozialen Arbeit in den Blick und leitet Aktionen und Interventionen fachlich begründet dazu ab. Dargestellt werden mögliche und notwendige Handlungskonzepte und Methoden, die zu Charakteristika von Aufgabenstellungen, Rechtsgrundlagen, staatlichen Programmen, Trägerlandschaften, Situationen und Personen in Handlungsfeldern diskursiv in Bezug gesetzt werden. Daraus ergeben sich Gestaltungs- und Kontexterfordernisse, die einer eher technokratischen Ver- und Anwendung entgegenwirken, die »reiner« Methodenlehre latent innewohnen. Nach Möglichkeit fließen dazu Hinweise auf Evaluation und zu Projekten der Praxisforschung mit ein. Die in der Reihe vorgelegte Systematik eignet sich für die Gestaltung von Studiengängen Sozialer Arbeit und wird an der Katholischen Hochschule Freiburg seit einigen Jahren bereits in der Lehre praktiziert. Dies geschieht vor dem Hintergrund einer stärker ausgeprägten Kompetenzorientierung, die im Zuge des Bologna-Prozesses didaktisch erforderlich ist.
Bei der Breite und hohen Differenzierung, die sich in den einzelnen Handlungsfeldern mit ihren unterschiedlichen Rahmenbedingungen, Aufgaben und Zuständigkeiten ergibt, liegt allen Einzelbänden doch eine gemeinsame Struktur in der Darstellung Sozialer Arbeit zugrunde. Zunächst wird der Gegenstandsbereich des jeweiligen Handlungsfeldes beschrieben und dessen spezifischer Bezug zur Wissenschaft Sozialer Arbeit hergestellt. Die Wissensgrundlagen des Handlungsfeldes werden unter Berücksichtigung gesellschaftspolitischer wie auch disziplinärer fachlicher Entwicklungen und theoretischer Rahmung aufgezeigt und in einen fachlichen Diskurs eingebunden. Interventionsformen des Handlungsfeldes werden auf der Basis professionsspezifischer Handlungskonzepte und Methoden erläutert. Für die Soziale Arbeit wichtig und geradezu konstituierend sind multidisziplinäre Perspektiven auf Handlungsfelder und soziale Probleme, die in den Beiträgen nicht fehlen dürfen. An praxisnahen Fragestellungen und ausgewählten Situations- oder Falldarstellungen werden soziale Probleme und Ansätze der Bearbeitung modellhaft erschlossen, ohne in die Falle enger, einfacher und scheinbar eindeutiger Lösungsmuster und Rezepte zu tappen. Am Ende jedes Kapitels stehen eine kurze Zusammenfassung oder auch Aufgabenstellung sowie weiterführende Literaturempfehlungen.
Ein wesentlicher Anspruch dieser Publikationsreihe ist es, einen Überblick zu aktuellen Entwicklungen in unterschiedlichen Handlungsfeldern Sozialer Arbeit zu geben und damit einerseits den Gemeinsamkeiten – etwa in grundlegenden Modellen, Orientierungen und Fragen der professionellen Entwicklung – und andererseits den Unterschieden – etwa in den historischen und aktuellen Prozessen – im Sinne eines besseren Verständnisses nachzugehen. Damit kann jeder Band dieser Reihe zu einer Orientierungshilfe im Studium wie im Berufsfeld der Sozialen Arbeit werden, einer Art von Karte oder Wegweiser für die individuellen Richtungsentscheidungen. Je nach dem Vorwissen, der Wahl und dem Zugang des interessierten Lesers kann an einem Handlungsfeld eine vertiefende exemplarische Auseinandersetzung erfolgen. Für Berufsein- oder UmsteigerInnen bietet jeder Band eine fundierte und nützliche Einführung in ein neues Handlungsfeld und kann dort zur Orientierung beitragen. Für alle PraktikerInnen dürfte sich diese Reihe als eine hilfreiche Anleitung zur Reflexion der eigenen Alltagsroutinen und damit zur Weiterentwicklung ihrer Praxis und den Vor-Ort-Konzepten eignen. Die Vergewisserung über und die Entwicklung bzw. Umsetzung von Konzepten und Methoden unter dem aktuellen beruflichen Handlungs- und Veränderungsdruck stellt sicher keine leichte Herausforderung für die Organisationen, die Träger, ihre Mitarbeiter und Teams dar. Eine fachliche Unterstützung, auch in dieser Form der Reihe und auf unterschiedlichen Ebenen, hat sie in jedem Fall verdient.
Freiburg im April 2021Martin Becker, Cornelia Kricheldorff und Jürgen E. Schwab
Vorwort der Herausgeber
Einleitung
1 Historische Entwicklung und Gegenstand der Gemeinwesenarbeit
1.1 Historische Entwicklung der Gemeinwesenarbeit
1.2 Soziale Stadtentwicklung und Gemeinwesenarbeit als Handlungsfeld Sozialer Arbeit
1.3 Sozialraumorientierung
1.4 Zusammenfassung und Arbeitsanregungen
2 Stadtentwicklung und Stadtmodelle
2.1 Entstehungsbedingungen von Städten
2.2 Geschichte und Entwicklungsphasen der Stadt
2.3 Europäisches Stadtmodell im globalen Vergleich
2.4 Zusammenfassung und Arbeitsanregungen
3 Theorien der Stadtentwicklung und Urbanität
3.1 Soziologische Betrachtungen von Städten
3.2 Theorien der Urbanität
3.3 Stadtsoziologischer Perspektivenstreit: »eigenlogischer« vs. »kritischer« Ansatz
3.4 Stadtgröße und Bevölkerungszahl
3.5 Bevölkerung pro Fläche (Dichte)
3.6 Funktionen baulicher Nutzung
3.7 Zusammenfassung und Arbeitsanregungen
4 Gesellschaftliche Veränderungen und deren Auswirkungen auf Stadtentwicklung
4.1 Veränderungen in Technologie, Ökonomie und Politik
4.2 Folgen, Risiken und Chancen der Veränderungen
4.3 Folgen der Veränderungen für die Städte
4.4 Räumliche Mobilität
4.5 Zusammenfassung und Arbeitsanregungen
5 Menschen in ihrem sozialen und räumlichen Umfeld
5.1 Lebensstile
5.2 Lebensformen
5.3 Bevölkerungsalterung
5.4 Migration und Zuwanderung
5.5 Soziale Ungleichheit in Städten
5.6 Segregation
5.7 Gentrification
5.8 Hintergründe für Interessen und Bedürfnisse der Bevölkerung in Stadtteilen und Quartieren
5.9 Zusammenfassung und Arbeitsanregungen
6 Stadtpolitik: Leitbilder, Strategien und Programme sozialer Stadtentwicklung
6.1 Leitbilder moderner Stadtentwicklung – Bewältigungs- versuche kommunaler Stadtpolitik, den Anforderungen gesellschaftlicher Entwicklungen gerecht zu werden
6.2 Politische Programme der Stadtentwicklung
6.3 Recht und Stadt
6.4 Empfehlungen für eine nachhaltige Stadt- und Quartierentwicklung
6.5 Instrument der »Kommunalpolitischen Wahlprüfsteine«
6.6 Zusammenfassung und Arbeitsanregungen
7 Methodisches Handeln
7.1 Sozialraumanalyse
7.2 Partizipation und Engagement am öffentlichen Leben
7.3 Thesen zur Bürgerbeteiligung
7.4 Übersicht über Methoden und Techniken
7.5 Zusammenfassung und Arbeitsanregungen
8 Herausforderungen sozialer Stadtentwicklung und Gemeinwesenarbeit
Abbildungs- und Tabellenverzeichnis
Literaturverzeichnis
Mit der vorliegenden zweiten aktualisierten Auflage des ersten Band der Reihe »Handlungsfelder Sozialer Arbeit« liegt eine Publikation vor, die den Versuch wagt, das umfangreiche Handlungsfeld derjenigen Arbeits- und Tätigkeitsbereiche innerhalb der Sozialen Arbeit zusammenfassend darzustellen, die sich durch spezifische Gebiets- und Sozialraumorientierung auszeichnen. Dabei besteht die Herausforderung u. a. darin, sowohl der Breite des Handlungsfeldes gerecht zu werden als auch genügend vertiefte Einblicke in bestimmte Tätigkeitsbereiche zu ermöglichen.
Obwohl oder vielleicht gerade weil »Gemeinwesenarbeit« als ein, gelegentlich als »Methode« bezeichnetes, vergleichsweise frühes Arbeitsfeld Sozialer Arbeit identifiziert werden kann (Kap. 1), hat es bis heute starke konzeptionelle und begriffliche Ausdifferenzierungen erfahren. Mit »Community Organizing«, »Stadt (teil)- oder Quartierentwicklung«, »Quartiermanagement«, »Gemeinwesen-« oder »Solidar-Ökonomie« sind nur einige Begriffe genannt, hinter denen sich mehr oder wenig klar beschriebene Konzepte und Aufgabenfelder verbergen. Die Gemeinsamkeiten liegen dabei in erster Linie auf der Verbindung sozialer und räumlicher Bezüge, die sich aus einer Perspektive ergeben, die aus der Mikroebene von Individuen, auf die Mesoebene der Lebens- und Aktionsräume von Gruppierungen, Milieus und Szenen in Stadtteilen und Quartieren sowie auf die Makroebene von Stadtgesellschaften, Regionen und Staaten heraus zoomt. Der AdressatInnenkreis geht dabei über die klassische Klientel Sozialer Arbeit hinaus und bezieht potenziell alle Menschen in einem sozial- und räumlich strukturierten Lebens- und Aktionsumfeld ein. Unter der Formel »Gemeinwesenarbeit als Arbeitsprinzip« oder der Bezeichnung »Sozialraumorientierung« (Becker 2020b) haben sich Konzepte entwickelt, die mittlerweile in vielen klassischen Arbeitsfeldern Sozialer Arbeit Einzug gehalten haben und mit Beteiligung und Aktivierung Betroffener, Beachtung und Nutzung von Ressourcen des sozialen Nahraums sowie institutioneller und individueller Vernetzung versuchen, ihrer jeweiligen Aufgabenstellung gerechter zu werden. So setzt die Ausrichtung der »gemeindenahen Psychiatrie« auf die Potentiale von Angehörigen, Nachbarschaft und sozialem Umfeld von Menschen mit psychischen Belastungen. Dies gilt auch für die Altenhilfe, wo ambulante vor stationären Hilfen und nahräumliche Versorgung bevorzugt werden. In der Jugendhilfe wird mit »Mobiler Jugendarbeit« und Straßensozialarbeit versucht, sozialräumliche Akzente zu setzen oder gar Finanzbudgets auf »Sozialräume« zu beziehen. Zur Integration von MigrantInnen wird versucht, über MultiplikatorInnen »Netzwerke der Integration vor Ort« zu schaffen. Die soziale, verkehrliche und ökonomische Infrastruktur am Lebens- und Wohnort wird für Menschen immer wichtiger, auch wenn sie bislang keine AdressatInnen Sozialer Arbeit sind. Interdisziplinäre Kooperation, institutionelle Vernetzung und gemeinsame Ressourcennutzung scheinen sich, wo bislang praktiziert, zu bewähren. Innerhalb integrierter Quartierskonzepte arbeiten im Idealfall SozialarbeiterInnen, Verwaltungsfachkräfte, ArchitektInnen und Angehörige anderer Professionen beim Aufbau von Strukturen und Prozessen zusammen, um allen Generationen, Gesunden wie Kranken, Einheimischen und Zugereisten ein gleichberechtigtes und selbstbestimmtes Leben in ihrem sozialen und räumlichen Umfeld zu ermöglichen. Fachkräfte und Bevölkerung werden, durch einschlägige Europa-, Bundes- und Länderprogramme, die die soziale Stadtentwicklung befördern sollen, darin unterstützt, die ganzheitliche Entwicklung von Städten, Stadtteilen und Quartieren in den Blick nehmen.
Es ändern sich folglich Berufsbilder und Aufgaben. Sozialraumorientierung, in Ergänzung der individuellen Fallorientierung, Kooperation, Koordination, Moderation, Vernetzung, Gewinnung und Fortbildung von engagierten BürgerInnen, Netzwerkarbeit im sozialräumlichen Kontext und integrierte Sozialraumanalysen setzen eigene Kompetenzen, Ressourcen und Steuerungsprinzipien voraus.
Dieser Band konzentriert sich auf jenes Handlungsfeld Sozialer Arbeit, in dem integrative Konzepte sozialer Stadt- und Quartierentwicklung zur Anwendung kommen, in dem danach gefragt wird, wie eine Stadt und ihre Quartiere so gestaltet werden können, dass sie den Interessen ihrer älter und bunter werdenden Bevölkerung gerecht werden und für eine vielfältige Bevölkerung, von Jung und Alt, Einheimischen und Zugereisten, Armen und Reichen, Kindern und Erwachsenen attraktiv, wirtschaftlich leistungsfähig und ökologisch nachhaltig sind.
Handlungsfeldorientierung im Sinne des dieser Publikationsreihe zugrunde liegenden »Freiburger Modells« bedeutet, die aktuellen Bedingungen und Entwicklungen in bestimmten Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit in den Blick zu nehmen und die daraus abzuleitenden Aktionen und Interventionen, mit denen die Soziale Arbeit fachlich arbeitet, in Bezug zu setzen zu den jeweils passenden und notwendigen Handlungskonzepten und Methoden. Handlungskonzepte, Methoden und Techniken werden in diesem Band also auf die handlungsfeldspezifischen Charakteristika von Aufgabenstellungen, Rechtsgrundlagen, Governance, Trägerlandschaften und Situationen von Stadt- und Quartierentwicklung bezogen.
Die Handlungsfeldorientierung dieser Reihe und damit dieses ersten Bandes ist auch vor dem Hintergrund der Kompetenzorientierung als Erfordernis des Bologna-Prozesses zu sehen. Auf der Grundlage des dreidimensionalen Kompetenzbegriffs, wie er im Europäischen Qualifikationsrahmen (EQR) definiert wird, spielen sowohl theoriebegründete Handlungskonzepte als auch die Methoden der Sozialen Arbeit eine wichtige Rolle beim integrierenden Modell der Handlungsfeldorientierung. Die Kombination von Wissensbeständen aus Bezugswissenschaften und Erkenntnissen der Wissenschaft Soziale Arbeit (Erklärungswissen), mit Kenntnissen und Fähigkeiten der Entwicklung und Anwendung von Methoden (Handlungswissen und Analyse-/Synthese-/Kritikfähigkeit), bildet auf der Grundlage von Wertorientierungen und Haltungen die Basis der Ausbildung spezifischer Handlungskompetenzen Sozialer Arbeit.
Das Handlungsfeld der sozialen Stadtentwicklung und Gemeinwesenarbeit erfordert spezifische Kenntnisse sowie ein differenziertes Verständnis sozialer Probleme. Dafür braucht es eine Verständigung über gesellschaftliche Strukturen und Prozesse, die problematische Lebenslagen produzieren können. Grundlage dafür sind Fähigkeiten, gesellschaftliche Rahmenbedingungen wie demografische, ökonomische, politische und ökologische Strukturen und Prozesse analysieren und kritisch interpretieren zu können. Im Einzelnen geht es darum, die wesentlichen demografischen Trends (wie Migration, natürliches Wachstum, Alterung), ökonomischen Entwicklungen (wie Globalisierung, Tertiarisierung, Polarisierung von Regionen, Stadtgesellschaften, Arbeitsmarkt und interkommunaler Wettbewerb), politischen Veränderungen (wie z. B. »unternehmerische Stadtpolitik«, Populismus und Radikalisierung) und deren gesellschaftliche Auswirkungen zu kennen und diese vor dem Hintergrund von Gesellschaftstheorien erklären sowie Interventionen im Rahmen staatlicher Sozial-/Wohlfahrtsregime konzipieren und bewerten zu können. Darüber hinaus gilt es, die politischen, rechtlichen und institutionellen Rahmenbedingungen für effektive Interventionen Sozialer Arbeit analysieren und, auf lokale Gegebenheiten übertragen, nutzen zu können. Das Wissen um individuelle Lebenslagen, aber auch sozialpsychologische und gruppensoziologische Erkenntnisse über menschliche Lebensformen und Milieus sind hilfreich, um Beteiligungs- und Aktivierungsprozesse in Gemeinwesen planen, initiieren und durchführen zu können, die den betroffenen Menschen, unter Einbezug ihrer Interessen und Fähigkeiten, mehr Handlungsoptionen eröffnen und ihre Selbstwirksamkeitserfahrungen erweitern. Sich als Fachkräfte weniger als »ProblemlöserIn«, sondern eher als »UnterstützerIn« von Potentialen und Interessen, die teilweise bereits vorhanden, aber noch nicht zur Geltung gekommen sind, zu verstehen, wäre dabei Teil der professionellen Haltung. Der Aufbau einer professionsbezogenen Identität wird durch eine Verständigung über die Geschichte und die Entwicklungsphasen des Handlungsfeldes ermöglicht. Dabei wird zur Reflexion des beruflichen Selbstverständnisses und der Wertvorstellungen, an denen sich das berufliche Engagement orientiert, herausgefordert. Die eigene Rolle als Gemeinwesen-/QuartierarbeiterIn bzw. QuartiermanagerIn oder sozialraumorientierte SozialarbeiterIn in anderen Handlungsfeldern definieren und gegenüber KollegInnen der eigenen und anderer Berufsgruppen/Professionen sowie AdressatInnen verständlich darzustellen, gehört zu den professionellen Kompetenzen. Dies impliziert, die für soziale Stadt-/Quartierentwicklung und Gemeinwesenarbeit wesentlichen Konzepte (wie z. B. Sozialraum-, Lebenswelt-, Ressourcen-, Managementorientierung) und Methoden (wie z. B. Empowerment, Netzwerkarbeit, Bürgerbeteiligung, Streetwork, Projektarbeit, Sozialstrukturanalyse, Sozialraumanalyse etc.) kennen und diese situations- und personengerecht entsprechend anwenden zu können. Dazu ist die Fähigkeit erforderlich, für das Handlungsfeld wichtige wissenschaftliche Erkenntnisse recherchieren, analysieren, interpretieren und anwenden zu können. Neben Sozialstruktur- und Sozialraumanalysen sind weitere Methoden und Instrumente der Aktionsforschung (wie z. B. die aktivierende Befragung) zu kennen und konzipieren, durchführen und auswerten zu können.
Der überwiegende Teil der Interventionen im Handlungsfeld der sozialen Stadtentwicklung und Gemeinwesenarbeit wird in Kooperation mit Institutionen, Verbänden und Vereinigungen organisiert. Für die Bearbeitung sozialer Probleme sind in diesem Kontext unterschiedliche institutionelle und disziplinäre Perspektiven relevant. Zur Akquise und Durchführung von Projekten ist der institutionellen Vernetzung besondere Bedeutung beizumessen. Fachkräfte Sozialer Arbeit können Kommunikations- und Arbeitsformen in Gemeinwesen konzipieren, die lokale Akteure und Bevölkerung miteinander verbinden, um die Belange des Quartiers auf den Ebenen Quartier-Kommune-Region zu positionieren. Sie können Projekte initiieren und durchführen, auswerten und öffentlichkeitswirksam darstellen. Sie können interdisziplinär, mit Angehörigen anderer Professionen, »auf gleicher Augenhöhe« zusammenarbeiten und dabei mit unterschiedlichen Hierarchiestrukturen umgehen.
Sowohl für die verschiedenen Beteiligungs- und Aktivierungsformen als auch für die Präsentation von Projekten und deren Ergebnisse werden grundlegende medienpädagogische Handlungs-, Ausdrucks- und Kommunikationskompetenzen für den Interaktionsprozess mit Einzelnen und Gruppen gebraucht. Fachkräfte sind in der Lage, Zusammenhänge übersichtlich und anschaulich zu visualisieren und dabei auch ein größeres Publikum einzubeziehen. Sie kennen Moderationstechniken für Großgruppen und Beteiligungsformen, die unterschiedliche Bildungsstände und Erfahrungen von BürgerInnen mit Beteiligungsformen berücksichtigen, und sind in der Lage, diese situations- und personenadäquat zu konzipieren und einzusetzen.
Den o. g. Kompetenzerfordernissen an Fachkräfte Sozialer Arbeit im Handlungsfeld sozialer Stadtentwicklung und Gemeinwesenarbeit entsprechend ist dieser Band aufgebaut. Geschichte und Entwicklung des Handlungsfeldes sind Bestandteil des ersten Kapitels. Dort werden die Entwicklungen von den Wurzeln der sozialarbeiterischen Pionierarbeit der Settlementbewegung und Gemeinwesenarbeit bis zur heutigen Ausdifferenzierung des Handlungsfeldes der sozialen Stadtentwicklung und Gemeinwesenarbeit mit ihren kritischen Phasen und unterschiedlichen Richtungen beschrieben. Mit der Darstellung der historischen Stadtentwicklung, ihren Epochen bis hin zu den Stadtplanungsphasen des 20. Jhs. werden bereits im zweiten Kapitel die ersten Erklärungsmodelle für heutige Muster der Stadtentwicklung geliefert. Damit ist der Boden bereitet für Kapitel 3, für tiefergehende theoretische Grundlagen von Stadtentwicklung, Urbanität und Raumbegriffen, mit denen sich die Besonderheiten urbanen Lebens erklären und verstehen lassen. Die Frage, welche gesellschaftlichen Veränderungen wesentlichen Einfluss auf heutige Städte und die darin lebende Bevölkerung ausüben und welche Konsequenzen sich daraus für Städte und ihre Quartiere ergeben, wird im vierten Kapitel beantwortet. Kapitel 5 steht dann ganz im Zeichen der Menschen in ihrem sozialen und räumlichen Umfeld und bearbeitet die Themen der Lebensstile, Lebensformen, Bevölkerungsalterung, Migration sowie soziale Ungleichheit und deren sozialräumliche Konsequenzen. Auf der Basis der bis dahin grundgelegten Kenntnisse geht Kapitel 6 auf aktuelle Leitbilder der Stadtpolitik und Stadtentwicklung ein. Finanzierungsmodelle für soziale Stadtentwicklung und Gemeinwesenarbeit werden vorgestellt und deren Auswirkungen diskutiert. Mit den »Empfehlungen für eine nachhaltige Stadt- und Quartierentwicklung« sowie »Kommunalpolitische Wahlprüfsteine« werden Tools für die praktische Anwendung vor Ort zur Verfügung gestellt. Die Anwendungs- und Praxisorientierung wird im siebten Kapitel mit wichtigen Grundlagen zu Praxisforschung und Bürgerbeteiligung sowie Anleitungen zum methodischen Handeln fortgeführt. Hilfreiche Empfehlungen und praktische Arbeitshilfen sind in den jeweiligen Kapiteln integriert. Alle Kapitel bauen inhaltlich aufeinander auf und folgen damit dem Inhalt und Ablauf einer Sozialraumanalyse (Kap. 7.1). Ein Ausblick auf weitere anstehende Herausforderungen des Handlungsfeldes der sozialen Stadtentwicklung und Gemeinwesenarbeit steht am Ende des Bandes und rundet die Beschreibung dieses Handlungsfeldes ab.
Um darauf hinzuweisen, dass mit und durch Sprache und Schrift in dieser Publikation grundsätzlich alle Menschen, unabhängig von Geschlecht und anderen Merkmalen, be- und geachtet werden, wird die symbolische Darstellung der Genderschreibweise mit großem »I« verwendet. Es sei dabei erwähnt, dass dieser Symbolverwendung weder eine bestimmte Ideologie zugrunde liegt noch aus dieser Schreibweise ein Fetisch gemacht werden sollte, wie Erich Fromm schon 1974 schrieb (2005: 14). Die selbstbewusste Variante der Soziologin Martina Löw wird damit nicht übernommen, die da lautet »Ich wähle im folgenden je nach Kontext entweder die weibliche oder die männliche Form als Verallgemeinerung« (Löw 2001: 16).
Gemeinwesenarbeit (GWA) als Soziale Arbeit in und mit Gemeinwesen1 hat ihre Wurzeln in der Phase der Industrialisierung und des Städtewachstums in den entwickelten Industrieländern im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert. Industriearbeitsplätze in den Städten und in zunehmendem Maße auch Dienstleistungsarbeiten erzeugten einen Zug von Menschen aus agrarwirtschaftlich geprägten ländlichen Gebieten in die zunehmend industrialisierten Städte. Dort konnten die Menschen nicht mehr auf die für ländliches Leben typischen familiären, verwandtschaftlichen und nachbarschaftlichen Hilfsnetze zur Sicherung der Lebensrisiken wie Missernten, Krankheit, Morbidität etc. zurückgreifen (Becker 2020a, 2016a, 2008).
Den »neuen Arbeitern« in den Städten standen die traditionalen bürgerlichen Formen sozialer Sicherung, wie Zünfte, Gilden, Stiftungen und Spitäler, wegen fehlender Zugehörigkeit nicht zur Verfügung. Daher wuchsen in den Städten mit jeder Struktur- und Konjunkturkrise Armuts- und Elendspopulationen, deren Hilfe- und Unterstützungsbedarf erst nach und nach durch zunehmend professionelle Hilfen von Wohlfahrtsverbänden der Kirchen oder der Arbeiterbewegung aufgebaut und geleistet wurde. Neben Übernachtungsmöglichkeiten, Kleiderspenden und Suppenküchen sollten auch soziale Kontakte unter der Bevölkerung in den Armutsvierteln sowie Gelegenheiten zu geselliger und kultureller Betätigung ein menschenwürdiges Leben ermöglichen (Müller 2009).
So entstanden in großen Städten nicht nur Europas und den USA soziale Initiativen von Menschen, die in die Elendsviertel zogen und dort versuchten, die Situation der Menschen mit diesen gemeinsam zu verändern und zu verbessern. In Großbritannien und den USA bekannt als »Settlementbewegung« aus Hochschul- und Kirchenkreisen (z. B. »Toynbee Hall/London«; »Hull House/Chicago«), in Deutschland bekannt als »Nachbarschaftshäuser« (z. B. »Volksheim« Hamburg oder »Soziale Arbeitsgemeinschaft« Berlin).
Nach den Recherchen von Oelschlägel (2013) über die Vorläufer der Gemeinwesenarbeit wurde 1884 in London mit »Toynbee Hall« das erste Settlement gegründet. Jane Addams und ihre Mitarbeiterinnen bezogen 1889 Hull House in Chicago. Walter Claasen gründete 1901 mit dem Volksheim Hamburg das erste Settlement in Deutschland. Im Berliner Osten gründete der Theologe Friedrich Siegmund-Schultze mit seiner Familie und Freunden 1911 die Soziale Arbeitsgemeinschaft (SAG) Berlin-Ost (Oelschlägel 2013; Müller 2009). Aus diesen Anfängen hat sich »Community-Work« mit seinen Richtungen »Community-Organization« und »Community-Development« in den USA, das »Opbouwwerk« in den Niederlanden sowie die »Gemeinwesenarbeit« in Deutschland entwickelt.
Oelschlägel erinnert daran, dass im ersten Drittel des 20. Jhs. seitens der damals sogenannten »kommunalen Fürsorge« und der »Freien Wohlfahrtspflege« bereits inhaltliche und organisatorische Grundsätze einer »stadtteilbezogenen sozialpraktischen Arbeit« gefordert und praktiziert wurden (Buck 1982; Oelschlägel 2013). Pionierinnen der Sozialen Arbeit wie Alice Salomon oder Marie Baum erkannten schon früh die Bedeutung des Einbezugs des sozialen und räumlichen Umfeldes von Wohnquartieren, Nachbarschaften und kommunaler Politik in Ergänzung zur Einzelfall- und Familienhilfe (vgl. Alice Salomon in Thole/Galuske/Gängler 1998: 132 f.; Marie Baum in Eggemann/Hering 1999: 216). Neben staatlicher Fürsorge und freien Wohlfahrtsverbänden hatte auch die Arbeiterbewegung, insbesondere die Kommunistische Partei Deutschlands mit ihrer Stadtteilarbeit in den zwanziger und dreißiger Jahren Gemeinwesenarbeit in Deutschland praktiziert (Müller 1971: 238). Während sich in Deutschland in der Zeit des Nationalsozialismus die Gemeinwesenarbeit – wie andere Formen fortschrittlicher Sozialer Arbeit auch – nicht weiterentwickeln konnte, erlebte sie in den 1970er Jahren einen vorwiegend politisch motivierten Aufschwung, der in den 1980er Jahren wieder nachließ (Odierna 2004; Oelschlägel 1989/2013).
Zunächst dauerte es etliche Jahre, bis im Nachkriegsdeutschland Gemeinwesenarbeit als Begriff und methodisches Handeln in der Sozialen Arbeit durch Rezeption der zwischenzeitlichen Entwicklungen in USA, Groß-Britannien und den Niederlanden wieder Fuß fassen konnte. Erste Publikationen in den 1950er Jahren (Kraus 1951; Lattke 1955) und Tagungen (Mayer-Kulenkampff 1962; Friedländer 1962) beschäftigten sich mit der Thematik und dem Ziel, Gemeinwesenarbeit in Deutschland wieder für die Soziale Arbeit bekannt und nutzbar zu machen (Vogel/Oel 1966). Das Spektrum der inhaltlichen Beschreibungen und Zielsetzungen von Gemeinwesenarbeit bewegte sich zwischen eher systemkonformen Lesarten, wonach Gemeinwesenarbeit die Aufgabe habe, latente Defizite bekannt zu machen und dafür Hilfsquellen des Gemeinwesens zu erschließen, und systemkritischem Verständnis der Aufdeckung von und Kritik an gesellschaftlichen Widersprüchen und Konflikten (Oelschlägel 2013). Oelschlägel benennt drei Gründe für den Anstieg praktischer Gemeinwesenarbeit in den 1950er und 1960er Jahren:
• Erstens konnten die Träger sozialer Dienste den steigenden Hilfebedarf mit den gegebenen materiellen und methodischen Maßnahmen nicht mehr decken, sodass eine methodische Weiterentwicklung erforderlich wurde.
• Zweitens kamen Staat und Kommunen durch die wachsende Kritikfähigkeit der Bürgerschaft und die Konkurrenz zwischen kapitalistischem System in der BRD und sozialistischem Regime in der DDR zunehmend unter Legitimationsdruck, der eine Orientierung am Gemeinwohl und Gemeinwesen nahelegte.
• Drittens forderten die professionellen SozialarbeiterInnen neue Strategien, um der zunehmenden Diskrepanz zwischen erhöhter Leistungsnachfrage und offensichtlichen Leistungsdefiziten sozialer Dienste zu entgehen (Oelschlägel 2013).
Nichtstaatliche Organisationen und Initiativen engagierten sich in Obdachlosensiedlungen, um dort »Hilfe zur Selbsthilfe« zu leisten. Später forcierten insbesondere christliche Kirchengemeinden in Neubaugebieten der 1960er Jahre den Ausbau einer diakonisch verstandenen Gemeinde-/Gemeinwesenarbeit, indem z. B. Gemeindehäuser errichtet wurden, die für die gesamte Bevölkerung des Gemeindegebietes oder Stadtteils offen sein sollten.2 Bereits Ende der 1960er Jahre wurde in der bundeszentralen Fort- und Weiterbildungsstätte der evangelischen Kirche, dem Burckhardthaus Gelnhausen, das erste Weiterbildungsprogramm zu Gemeindeaufbau und -wesenarbeit mit Pfarrer Manfred Dehnen als erstem Dozenten gestartet, das in langer Tradition bis in das 21. Jh. fortgeführt wurde (Müller 2009: 218 ff.).
Die ersten Erfahrungen mit GWA in Neubaugebieten (frühe Beispiele waren Stuttgart-Freiberg, Wolfsburg und Baunatal bei Kassel), insbesondere mit dem Großsiedlungsbau der Trabantenstädte (z. B. »Osdorfer Born« in Hamburg; »Märkisches Viertel« in Berlin; »Neu-Perlach« in München; »Landwasser« in Freiburg), offenbarten die Mängel der bis dahin gewöhnlich top-down angelegten Stadtplanung ohne Bürgerbeteiligung (Hubbertz 1984; Gronemeyer/Bahr 1977). GWA sollte dazu beitragen, dass bei Planungen die Bevölkerung in die Gestaltung ihres Lebensumfeldes einbezogen und nicht über ihre Köpfe hinweg geplant und entschieden wird. Damit verbunden war die Forderung an professionelle Soziale Arbeit, sich in Stadt-(Teil-)Planung einzumischen und das Feld nicht alleine den »Bauplanern« zu überlassen (Wendt 1989).
In diesem Entwicklungsstadium der GWA wurde deren gesellschaftspolitische Bedeutung offensichtlich und entsprechend kontrovers diskutiert. Während Gemeinwesenarbeit einerseits obrigkeitsstaatliches (hier kommunales) Handeln durch Information der Bevölkerung legitimieren und die Menschen von der Notwendigkeit und Richtigkeit planerischer Entscheidungen, wie z. B. Sanierungs- und Neubaumaßnahmen, überzeugen sollte, wurde von anderer Seite die gesellschaftskritische Rolle der GWA und die Aufgabe der Demokratisierung der Gesellschaft reklamiert (Müller, W. 1972: 85).
Ziel der GWA war damals die Organisation der Menschen im Stadtteil. Die Wege zur Zielerreichung variierten allerdings zwischen der Selbstorganisation der Betroffenen, bei der GWA die Aufgabe zukommt, Möglichkeiten der Selbstorganisation zu initiieren und zu unterstützen, und der von anderen damaligen Akteuren intendierten Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse durch Engagement für die »Arbeiterklasse« und in deren Organisationen (Oelschlägel 2013).
Die Diskussionen über GWA und innerhalb der professionellen GWA spiegelten sich in den Fachpublikationen, womit sich zunehmend eine eigenständige deutsche GWA-Rezeption entwickelte. Die GWA-Klassiker von Murray Ross (1968) und Joe Boer (1970) wurden von C. W. Müller (1971) und dem Arbeitskreis kritische Sozialarbeit (AKS 1974) für ihre »systemerhaltende« Haltung kritisiert. Die Schriften von Saul Alinsky (1973; 1974) wurden neben anderen damals wesentlichen Ansätzen in dem Reader zur Theorie und Strategie von GWA der Victor-Gollancz-Stiftung3 (1974) rezipiert.
Ende der 1960er Jahre organisierten sich GemeinwesenarbeiterInnen anlässlich der Tagung des Verbandes Deutscher Nachbarschaftsheime (ab 1971 »Verband für sozial-kulturelle Arbeit e. V.«) und gründeten innerhalb des Verbandes, aber in Koordination mit Berufsverbänden (»Moderne Sozialarbeit«) und Gewerkschaften (ÖTV und GEW) die Sektion Gemeinwesenarbeit. Das »Forum Märkisches Viertel« in Berlin war zum vorläufigen Informations- und Koordinationszentrum geworden, und mit einem eigenen Rundbrief wurden Anschriften interessierter GemeinwesenarbeiterInnen, Kurzcharakteristiken neuer Projekte der GWA und Hinweise auf Fachliteratur und Tagungen in Fachkreisen publik gemacht. Diese Sektion GWA hatte Bestand bis 1979 (Oelschlägel 2013).
Bereits zu Beginn der 1970er Jahre wurden empirische Untersuchungen zu den Wirkungen der GWA durchgeführt, die u. a. den damals hohen politischen Anspruch in der Praxis als nicht einlösbar beurteilte, sondern die GWA im Spannungsfeld zwischen Behördenzielen und Bevölkerungsinteressen verortet sah (Victor-Gollancz-Stiftung 1972; Mesle 1978). Schon damals wurde als Erkenntnis aus den Untersuchungen die Notwendigkeit der Verbindung zwischen GWA und Stadtplanung/-entwicklung als kommunalpolitische Aufgabe erkannt (Müller 2009: 223 ff.). Soziale Arbeit in und mit Gemeinwesen war in Deutschland als »Gemeinwesenarbeit (GWA)« also zuerst eine weitere Methode neben Einzelfallhilfe und sozialer Gruppenarbeit (1950er Jahre), danach eine revolutionäre Vision (1960/70er Jahre) und durchlief seit den 1980er Jahren weitere Entwicklungen.
Zunächst führte die unter dem Begriff »Ölkrise« bekannte Wirtschaftskrise Mitte der 1970er Jahre zur Beendigung der Reformzeit im Bildungs- und Sozialwesen. »Radikalenerlass« und Berufsverbote, als Reaktion auf die Gewaltakte der »Rote Armee Fraktion« (RAF), bremsten darüber hinaus die Aktivitäten konfliktorientierter GemeinwesenarbeiterInnen und führten zu einer Ernüchterung bezüglich der Bedeutung von Gemeinwesenarbeit in Deutschland. Als Zeichen dieser Ernüchterung wurde im Herbst 1975 im Rahmen einer Tagung über konfliktorientierte GWA in Berlin eine symbolische Todesanzeige auf die Gemeinwesenarbeit mit folgendem Wortlaut veröffentlicht:
»Nach einem kurzen, aber arbeitsreichen Leben verstarb unser liebstes und eigenwilligstes Kind GWA an Allzuständigkeitswahn, Eigenbrötelei und Profilneurose, methodischer Schwäche und theoretischer Schwindsucht, finanzieller Auszehrung und politischer Disziplinierung. Wir, die trauernden Hinterbliebenen, fragen uns verzweifelt, ob dieser frühe Tod nicht hätte verhindert werden können?« (Müller 2009: 229)
Dass Mitte der 1970er Jahre, trotz erfolgreicher Arbeit, sowohl die Victor-Gollancz-Stiftung aufgelöst als auch das Burckhardthaus Gelnhausen organisatorisch umstrukturiert wurde, scheint kein Zufall, sondern Folge der Zerreißproben zwischen meist ehrenamtlichen Vorständen, mehr oder weniger traditioneller Wohlfahrtsorganisationen und deren professionellen, vorwiegend progressiven MitarbeiterInnen gewesen zu sein. Mit der Phase des politischen Aufbruchs, durch »Studentenbewegung« und »außerparlamentarische Opposition«, zu mehr Demokratie und Beteiligung der BürgerInnen an der sie betreffenden Politik, wuchsen in der Folgezeit neue soziale Bewegungen (Frauen-, Friedens-, Öko-, Bürgerinitiativen etc.) heran, die das Bewusstsein für die Gestaltung der Lebensbedingungen und einen lokalen Bezug unter dem Slogan »global denken – lokal handeln« schärften.
Erfahrungen und Kenntnisse aus der Gemeinwesenarbeit wurden vor allem von Oelschlägel Anfang der 1980er Jahre zu einem Handlungsfeld übergreifenden Konzept »Gemeinwesenarbeit als Arbeitsprinzip« der Sozialen Arbeit formuliert (vgl. Boulet/Krauss/Oelschlägel 1980). Dabei konnte sich Oelschlägel auf ältere Quellen von Steinmeyer (1969) beziehen, der schon Ende der 1960er Jahre ein, über den Methodenbegriff hinausgehendes, Verständnis von GWA vorschlug (Oelschlägel 2013). Auch auf den Tagungen der Victor-Gollancz-Stiftung wurde GWA bereits in den 1970er Jahren als Form einer stadtteilbezogenen, kooperativen und methodenintegrativen Sozialarbeit beschrieben (Graf 1976). »Gemeinwesenarbeit als Arbeitsprinzip« war demnach zu verstehen als eine Grundorientierung, Sichtweise und Haltung professionellen sozialen Handelns, die eine grundsätzliche Herangehensweise an soziale Probleme im Rahmen professioneller Sozialer Arbeit impliziert. Mit dem »Arbeitsprinzip Gemeinwesenarbeit« verbundene Merkmale:
• »Das Arbeitsprinzip GWA erkennt, erklärt und bearbeitet, soweit das möglich ist, die sozialen Probleme in ihrer historischen und gesellschaftlichen Dimension. Zu diesem Zweck werden Theorien integriert, die aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen stammen. Damit ist das Arbeitsprinzip GWA auch Werkzeug für die theoretische Klärung praktischer Zusammenhänge.
• Das Arbeitsprinzip GWA gibt aufgrund dieser Erkenntnisse die Aufsplitterung in methodische Bereiche auf und integriert Methoden der Sozialarbeit (Casework, Gruppenarbeit usw.), der Sozialforschung (z. B. Handlungsforschung) und des politischen Handelns (Öffentlichkeitsarbeit, Bürgerversammlungen etc.) in Strategien professionellen Handelns in sozialen Feldern.
• Mit ihren Analysen, Theorien und Strategien bezieht sich GWA auf ein »Gemeinwesen«, d. h. den Ort, wo die Menschen samt ihrer Probleme aufzufinden sind. Es geht um die Lebensverhältnisse und Lebenszusammenhänge der Menschen, wie diese sie selbst sehen (Lebensweltorientierung). GWA hat eine hohe Problemlösungskompetenz aufgrund ihrer lebensweltlichen Nähe zum Quartier. Als sozialräumliche Strategie, die sich auf die Lebenswelt der Menschen einlässt, kann sie genau die Probleme aufgreifen, die für die Menschen wichtig sind, und sie dort lösen helfen, wo sie von den Menschen bewältigt werden müssen. Dabei kümmert sich GWA prinzipiell um alle Probleme des Stadtteils und konzentriert sich nicht, wie oft Bürgerinitiativen, auf einen Punkt. Damit schafft sie Kontinuität, auch wenn es in dem einen oder anderen Fall Misserfolge gibt.
• Das Arbeitsprinzip GWA sieht seinen zentralen Aspekt in der Aktivierung der Menschen in ihrer Lebenswelt. Es will sie zu Subjekten auch politisch aktiven Lernens und Handelns machen, will selbst zu einer »Handlungsstrategie für den sozialen Konflikt« werden. Das bedeutet allerdings, dass GWA die scheinbare Neutralität vieler GWA-Konzepte aufgibt und parteilich wird.« (Oelschlägel 2013: 191)
Gesellschaftliche Entwicklungen im vierten Quartal des 20. Jhs., wie ökologische Krisen, Massenarbeitslosigkeit, neue Armut, Jugendproteste, Veränderungen der Parteienlandschaft, Entstehung alternativer oder hedonistischer Milieus, stärkere Individualisierung u. ä. (Beck 1986), haben in den Sozialwissenschaften zu einer Ausdifferenzierung und Suche nach neuen Gesellschaftsbeschreibungen geführt (Pongs 1999). Mit der Orientierung an Alltag und Lebenswelt bzw. der subjektiven Lebensqualität aus Sicht der Menschen in ihrer jeweiligen Lebenssituation ist Lebensweltorientierung (Thiersch 2009) in den 1980er Jahren zu einem zentralen Handlungskonzept der Sozialen Arbeit, so auch der GWA geworden.
In Gesellschaften und Quartieren mit großer Wertepluralität/-vielfalt machen unterschiedliche Werte möglicherweise unsicher und ängstlich. Deshalb wird Kontakt und Konfrontation tendenziell eher vermieden, wodurch Unverständnis, Missverständnis und Misstrauen eher noch anwachsen (Sennett 1983; Hinte/Lüttringhaus/Oelschlägel 2007: 99 ff.). Wenn Wertehomogenität und Wertekonsens angesichts unterschiedlicher, pluraler Lebensentwürfe und Lebensstile nicht (mehr) herstellbar sind, gehört gerade die Aushandlung von Regeln, etwa im Sinne der von Norbert Elias (1976) beschriebenen Zivilisierungsprozesse des Ausbalancierens von Machtpotentialen, mittels Diskussionen über Strittiges, Alltägliches, Einigendes, zum gesellschaftlichen Auftrag Sozialer Arbeit in Gemeinwesen, in denen Bevölkerung unterschiedlicher Herkunft, sozialer Lage und Lebensstile auf vergleichsweise engem Raum zusammenleben (müssen).
Während Oelschlägel und andere begrifflich an »Gemeinwesenarbeit« festhielten, verwendeten Hinte u. a. den Begriff »Stadtteilarbeit« und »stadtteilbezogene Soziale Arbeit« (Hinte/Metzger-Pregizer/Springer 1982) und entwickelten ein »Fachkonzept«, das zur Anwendung in einigen Handlungsfeldern Sozialer Arbeit, wie z. B. der »Jugendhilfe« (Hinte/Treeß 2007) der »Offenen Jugendarbeit« (Deinet 2005) oder der »Hilfe zur Erziehung« (Peters/Koch 2004) weiter schriftlich ausgearbeitet wurde.
Im Laufe der 1990er Jahre erfuhr der Terminus »Stadtteilorientierung« eine Umformulierung in »Sozialraumorientierung« verbunden mit zunehmender Verbreitung und Potential zu einem integrativen Handlungskonzept, mit Wirkungen über die Soziale Arbeit hinaus auch in andere Disziplinen (s. u., Literatur zu Sozialraumorientierung). Die Tatsache, …
»… dass zunehmend räumliche Einflüsse in das Blickfeld der kommunalpolitischen Akteure gerieten, dass sozialräumliche Strategien zunehmend anerkannt wurden und dass integriertes, ressortübergreifendes Denken in den Verwaltungen an Bedeutung gewinnen konnte …« (Hinte/Lüttringhaus/Oelschlägel 2007: 99)
…, kann als Ursache für die Entwicklung verschiedener politischer Fach-Programme, wie »soziale Stadtentwicklung«, »lokale und solidarische Ökonomie«, »Gesundheitsförderung«, »Bürgerschaftliches Engagement«, »Gemeindenahe Psychiatrie« etc., angesehen werden, die auf dem »Handlungskonzept Sozialraumorientierung« aufbauen. Die Prinzipien stadtteilbezogener bzw. sozialraumbezogener Arbeit nach Hinte u. a. (2007: 9) sind:
• Der Wille bzw. die Interessen der leistungsberechtigten Menschen als Ausgangspunkt jeglicher Arbeit und nicht Wünsche oder Bedarfe
• Vorrang aktivierender Arbeit vor betreuender Tätigkeit
• Personale und sozialräumliche Ressourcen spielen bei der Gestaltung von Arrangements eine entscheidende Rolle
• Aktivitäten sind immer zielgruppen- und bereichsübergreifend angelegt
• Vernetzung und Integration verschiedener sozialen Dienste sind Grundlage einer nachhaltig wirksamen Sozialen Arbeit (Hinte in: Hinte/Lüttringhaus/Oelschlägel 2007: 9).
In den 1990er Jahren erlebte die von Saul Alinsky bereits Mitte des 20. Jhs. in den USA entwickelte und praktizierte Mobilisierung von Bevölkerung für ihre eigenen Anliegen unter dem Namen »Community Organizing« (CO) eine Renaissance in Europa, insbesondere in Deutschland. Morlock u. a. veröffentlichten 1991 einen Vergleich zwischen GWA und CO. Nach der Jahrtausendwende hatte sich CO in Deutschland weiterverbreitet, wofür auch die Gründung der Plattform »Forum Community Organizing« (FOCO 1997) als Beleg gelten darf (vgl. Szynka 2006; Penta 2007). Mehr über diese und andere Formen von sozialraumorientierter Arbeit findet sich an anderer Stelle dieses Buches sowie in der angegebenen einschlägigen Literatur (vgl. Stövesand u. a. 2013).
Zwischenzeitlich wird Gemeinwesenarbeit nicht nur in Stadtteilen und Quartieren eingesetzt, die zu »Problemgebieten« geworden sind, sondern bereits in neu aufzubauenden Stadtteilen zur Förderung des sozialen Lebens und zur Vermeidung von Problemkonstellationen implementiert (Maier/Sommerfeld, 2005)4. Gegen Ende der 1990er Jahre hat sich in der Fachwelt der Begriff »Stadtteil- oder Quartiermanagement« entwickelt und im Laufe der 2000er Jahre verbreitet. Dabei geht es um die Beantwortung der Fragen, wer und wie für die Entwicklung von Stadtteilen bzw. Quartieren verantwortlich sein soll und kann (Alisch 1998). Grimm, Hinte und Litges (2004) legten mit ihrer Publikation »Quartiermanagement. Eine kommunale Strategie für benachteiligte Wohngebiete« einen Vorschlag zur Systematisierung der sehr inkonsistent verwendeten Begrifflichkeiten von »Stadtteil-/Quartiermanagement«, »Gemeinwesen-/Stadtteilarbeit« vor. Hintergrund für die Management-Orientierung waren u. a. Stadtentwicklungsprogramme wie das Bund-Länder-Programm »Soziale Stadt« (2019) und der Trend zu neueren Steuerungsmodellen der öffentlichen Verwaltung (Becker 2020a). In deren Rahmen spielen sowohl die verwaltungsinterne Koordination der Kommunalpolitik als auch die »Akzentverschiebung kommunaler Leitbilder« (Hinte/Lüttringhaus/Oelschlägel 2007: 179) von der Kunden- zur Bürgerorientierung eine Rolle (Becker 2016b).
Die Implementation von Quartiermanagement unter Einsatz von Fachkräften Sozialer Arbeit ist zwischenzeitlich auch im Rahmen von Projekten der Wohnungswirtschaft feststellbar. Neben den klassischen Aufgaben des Beschwerdemanagements und der Wohnberatung stehen dabei auch allgemeine Sozialberatung, Konfliktmoderation sowie Anregungen zu und Organisation von gemeinsamen Aktivitäten der BewohnerInnen bis hin zur Initiierung von sozialen Netzwerken gegenseitiger Hilfe bei der Betreuung von Kindern, alten Menschen oder Menschen mit Behinderungen auf der Liste der Tätigkeitsbeschreibung von GemeinwesenarbeiterInnen im Dienste von kommunalen Wohnungsgesellschaften oder Wohnungsgenossenschaften.5
Im Folgenden werden wesentliche Grundlagen Sozialer Arbeit im Handlungsfeld sozialer Stadtentwicklung und Gemeinwesenarbeit dargestellt.
In der Darstellung der Historie sowie der Entwicklungslinien gebietsbezogener Sozialer Arbeit wurden bereits eine Vielzahl einschlägiger Begriffe und deren Varianten erwähnt, ohne jedoch auf deren Unklarheiten, Brisanz oder Strittigkeit näherer einzugehen. Dies soll in diesem zweiten Abschnitt nachgeholt werden, weil für das Verständnis eines Handlungsfelds professioneller Sozialer Arbeit, die Grundlage eines fachlichen »State of the Art« als notwendige Bedingung erachtet wird. In der Einleitung und dem ersten Abschnitt wurde der Gegenstandsbereich, das hier zu betrachtende Handlungsfeld Sozialer Arbeit, zunächst mit »gebietsbezogener Sozialer Arbeit« umschrieben und unter Berücksichtigung historischer Wurzeln und unter Verwendung des Begriffs Gemeinwesen als »Soziale Arbeit in und mit Gemeinwesen« bezeichnet. Diese Begriffe sind zunächst als vorläufige Arbeitsbegriffe zu verstehen, die durch die folgenden Ausführungen problematisiert, diskutiert und für die Verwendung in diesem Band definiert werden.
Der Begriff »Gemeinwesen« wird im deutschen Sprachgebrauch sowohl für Gebietskörperschaften des Staatswesens (Nation, Kommune, Gemeinde) als auch für Personalverbände6 benutzt (Duden 1995). Begrifflich ist mit »Gemeinwesen« nach demokratiepolitischem Verständnis das ›Wesen des (All-)Gemeinen‹, also aller körperschaftlich miteinander verbundenen Menschen gemeint, womit der öffentliche, politische Rahmen angesprochen ist. Ein »Gemeinwesen« kann also so unterschiedliche territorial begrenzte und politisch verfasste Einheiten umfassen wie ein gesamtes Staatswesen, ein Bundesland, eine Kommune oder ein Teil einer Kommune. Das fachliche Verständnis von Gemeinwesen aus der Perspektive der Sozialen Arbeit wird im Handbuch Gemeinwesenarbeit (GWA) folgendermaßen expliziert:
»Mit Gemeinwesen bezeichnen wir einen sozialen Zusammenhang von Menschen, der über einen territorialen Bezug (Stadtteil, Nachbarschaft), Interessen und funktionale Zusammenhänge (Organisationen, Wohnen, Arbeit, Freizeit) oder kategoriale Zugehörigkeit (Geschlecht, Ethnie, Alter) vermittelt ist, bzw. darüber definiert wird.« (Stövesand u. a. 2013: 16)
In dieser Definition finden sich, mit dem territorialen Bezug, der Betonung funktionaler Zusammenhänge sowie kategorialer Zugehörigkeiten von Menschen Merkmale, die in der Sozialen Arbeit auch für Gemeinwesenarbeit reklamiert werden. Anders als rein territoriale oder geografische Gebietsbeschreibungen wie Stadtbezirk, Stadtteil, Stadtviertel impliziert der Begriff Gemeinwesen einen sozialen und politischen Zusammenhang von Menschen, die in einem (gewissen) Territorium leben. Ebenso wenig wie Individuen und Gesellschaft (Elias 1991) unabhängig voneinander existieren, können Raum und Soziales zwar getrennt betrachtet aber nicht getrennt voneinander verstanden werden, worauf im Folgenden noch näher einzugehen sein wird. Auch im Handbuch GWA wird mit der Feststellung »Gemeinwesen ist gleichzeitig Handlungsraum [administrativ begrenztes Gebiet von Dorf bis Staat; Einfügung des Autors MB] und Sozialgefüge« (Stövesand u. a. 2013: 24) einerseits die Bedeutung des Gebietsbezuges bestätigt und gleichzeitig mit der Aussage »Raum ist demnach immer schon Sozialraum« (ebd.: 25) auf die Verbindung zwischen materieller und sozialer Bedeutung von Raum hingewiesen.
Die Begrifflichkeiten für die territoriale Eingrenzung von Gemeinwesen sind sowohl in der Praxis als auch in der Fachliteratur sehr heterogen. Die Problematik der Begriffsverwendung besteht u. a. darin, dass die Eingrenzung von Stadtteilen und Stadtvierteln meist auf amtlichen statistischen Bezirken (z. B. Wahlbezirke, Schulbezirke, Planbezirke, Programmgebiete etc.) beruhen, die nicht immer deckungsgleich sind und nicht mit der Einschätzung und Definition des unmittelbaren sozialen und räumlichen Lebensumfelds der Bevölkerung übereinstimmen müssen. Verwaltungsbezirke in Großstädten sind, nach ihrer Bevölkerungszahl, oft größer als eine deutsche Mittelstadt (20–100 Tsd. EinwohnerInnen), und Stadtteile in Großstädten können, gemessen an der Bevölkerungszahl, der Größenordnung einer Kleinstadt (5–20 Tsd. EinwohnerInnen) entsprechen (Statistisches Jahrbuch 1999: 63).
Deshalb werden im Rahmen dieses Beitrages Stadtteile und Stadtviertel als administrative Territorien verstanden, deren Raumabgrenzungen zu Planungs- und Organisationszwecken vorwiegend nach statistischen und geografischen Indikatoren erfolgen.
Als »Quartiere« werden in diesem Band gesellschaftliche Räume betrachtet, die sowohl von baulich-materiellen Strukturen als auch von gesellschaftlichen Handlungsstrukturen sowie Interaktionsprozessen beeinflusst und geprägt werden und von der Bevölkerung nach ihren räumlichen und sozialen Dimensionen als relativ überschaubar empfunden werden.
Im Gegensatz zu den nach territorialen (Plangebiete, Verwaltungsbezirke, Stadtteile etc.) oder funktionalen (Wahl-, Schulbezirke, Postleitzahlbereiche etc.) Kriterien erfolgenden Begrenzungen von und in Kommunen, lassen sich »Quartiere« als subjektiv konstruierte soziale Räume verstehen, die mit unterschiedlichen Zuschreibungen an Bedeutungen und Begrenzungen seitens der Bevölkerung verbunden sind. Das Leben der Menschen spielt sich schließlich nicht nur in ihrem Wohnbereich und ihrer Nachbarschaft ab, je nach Interessen und Mobilität gehören ganz unterschiedliche »Aktionsräume«7 zur individuell-subjektiven Lebenswelt. Quartiere können und müssen demnach nicht deckungsgleich mit amtlichen Gebietszuordnungen sein, sondern bilden quasi eine empirische Zuordnung ab, die z. B. durch die informellen Begriffe wie »Kiez« in Berlin, »Veedel« in Norddeutschland oder »Grätzel« in Österreich unterstrichen wird. Während in Deutschland »Quartier« in einem älteren Verständnis für einen Schlafplatz (»das Quartier bereiten«) und in neuerem Sprachgebrauch für Bauobjekte (Marketingbegriff zur Investoren-/Käuferwerbung) verwendet wird, gilt das »Quartier« im schweizerischen und französischen Sprachgebrauch, auch in der Bevölkerung, eher als Stadtviertel und wird entsprechend benutzt.
Quartierarbeit als Soziale Arbeit in und mit Gemeinwesen kann mit Lüttringhaus beschrieben werden als …
»… Organisation von projekt- und themenunspezifischen Prozessen [Methode] in Wohnquartieren, und zwar über eine Vielzahl an Aktivierungsaktionen [Techniken] anhand direkt geäußerter und (durchaus häufig wechselnder) Interessen der Wohnbevölkerung mit dem Ziel einer ›Grundmobilisierung‹ eines Wohnquartiers [Ziel], die den ›Humus‹ für größere Einzelprojekte darstellt«. (Hinte/Lüttringhaus/Oelschlägel 2007: 11; in Klammern Einfügungen des Autors)
Soziale Arbeit in und mit Gemeinwesen als Quartierarbeit kooperiert mit »intermediären Akteuren«, die zwischen Verwaltung und Bevölkerung stehen (z. B. Organisationen wie Verbände, Vereine etc.), sowie mit Gebietsbeauftragten (z. B. »QuartiermanagerInnen«) der Verwaltung. Soziale Arbeit in und mit Gemeinwesen als Quartierarbeit ist demnach nicht identisch mit »Quartiermanagement«, sondern, gemeinsam mit anderen Akteuren, Teil kommunalen Quartiermanagements (Hinte/Lüttringhaus/Oelschlägel 2007: 11).
Im Laufe der 1990er und 2000er Jahre hat sich in der Fachwelt der Begriff des »Stadtteil- oder Quartiermanagements« entwickelt und verbreitet. Dabei geht es um die Beantwortung der Fragen, wer für die Entwicklung von Stadtteilen bzw. Quartieren wie verantwortlich sein soll und kann (Alisch 1998). Hintergrund für diese Orientierung sind u. a. Stadtentwicklungsprogramme wie das Bund-Länder-Programm »Soziale Stadt« (2012) und der Trend zu neueren Steuerungsmodellen der öffentlichen Verwaltung (Kap. 6), in deren Rahmen sowohl die verwaltungsinterne Koordination der Kommunalpolitik als auch die »Akzentverschiebung kommunaler Leitbilder« (Hinte/Lüttringhaus/Oelschlägel 2007: 179) von der Kunden- zu Bürgerorientierung eine Rolle spielen (Becker 2016b; Grimm/Hinte/Litges 2004).
Mit Hinte kann Quartiermanagement definiert werden als …
»… eine institutionell gesteuerte professionelle Strategie zur Verbesserung der Lebensbedingungen, insbesondere in benachteiligten Wohnquartieren, und zwar vorrangig durch Aktivierung und Organisation der materiellen und personellen Ressourcen eines Stadtteils.« (Hinte 2002: 545)
Dabei werden im Wesentlichen drei Ebenen des Quartiermanagements unterschieden (Kap. 6; Abb. 1).
• Die Quartierebene, auf der GemeinwesenarbeiterInnen als Fachkräfte in Stadtteil-/Quartierbüros Interessen lokaler Akteure und BewohnerInnen wecken, aufgreifen, initiieren und begleiten sowie zu Aktivitäten animieren und die Bevölkerung an Prozessen beteiligen.
• Auf der Verwaltungsebene besteht die Aufgabe sogenannter »Gebietsbeauftragter« darin, zwischen Dezernaten und Ämtern Aktivitäten gebietsbezogen zu koordinieren, Ressourcen zu bündeln und die Gesamtsteuerung von Projekten zu übernehmen. Auch die Aufgabe, städtische Planungen vor Ort zu tragen und zu erläutern sowie innerhalb von Kommunalverwaltung und -politik auf Themen und Anliegen aus den Quartieren aufmerksam zu machen.
• Zwischen Quartier- und Verwaltungsebene, quasi auf intermediärer Ebene, sind Stadtteil-/Quartier-ModeratorInnen angesiedelt, zu deren Aufgaben gebietsbezogene Koordination, Mediation, Moderation und Vernetzung gehören. Sie vermitteln zwischen den Anliegen der Bevölkerung vor Ort auf der einen und den zuständigen Behörden auf der anderen Seite. Idealerweise betreiben die Akteure auf der intermediären Ebene keine eigenen Einrichtungen und Dienstleistungen im Quartier, um ihre Unabhängigkeit zu wahren und nicht Gefahr zu laufen, aufgrund eigener Interessen in Interessenskonflikte zu geraten.
Abb. 1: Schaubild QuartiermanagementQuelle: eigene Bearbeitung, Becker 2014 nach Bertelsmann-Stiftung/Hans-Böckler-Stiftung/KGST (Hrsg.) 2002: 9
Die Zuordnung zur jeweiligen Ebene und die damit verbundenen Aufgaben und Kompetenzen sind in der Praxis oft verschwommen oder ungeklärt, mit der Folge von Missverständnissen, Misserfolgen und Enttäuschung auf jeder Seite. Auf diese Problematik wird in Kapitel 6.4 in Zusammenhang mit den Empfehlungen für eine nachhaltige soziale Stadt- und Quartierentwicklung nochmals vertieft eingegangen werden (Kap. 6.4).
»Gemeinwesenarbeit« wurde in der Vergangenheit sehr unterschiedlich verstanden und definiert (zur Übersicht vgl. Galuske 2007: 99 ff.). Wie im ersten Abschnitt zu den geschichtlichen Hintergründen bereits beschrieben (Kap. 1.1) hat sich im deutschsprachigen Raum »Gemeinwesenarbeit« als Fachbegriff Sozialer Arbeit im Laufe von mehr als 150 Jahren entwickelt. In den Niederlanden setzte sich der Begriff »Opbouwwerk« durch, im englischsprachigen Raum wird dagegen von »Communitywork« mit den Differenzierungen in »Community Organization« und »Community Development« gesprochen, während es im französischen Sprachgebrauch keine genaue Entsprechung zum Begriff »Gemeinwesenarbeit« gibt und sich daher die Umschreibung »travaille social sur le commun« (Becker 2015: 93) anbietet.
Mit dem Begriff »Gemeinwesenarbeit« war in seiner historischen Entwicklung zunächst eine Methode, dann ein Arbeitsfeld und schließlich ein Arbeitsprinzip verbunden. Kennzeichnend für GWA ist dabei, dass der Fokus nicht auf einem Individuum oder einer Kleingruppe liegt,
»sondern in einem großflächigeren sozialen Netzwerk [Hervorhebung in Kursivschrift im Original], das territorial (Stadtteil, Nachbarschaft, Gemeinde, Wohnblock, Straßenzug), kategorial (bestimmte ethnisch, geschlechtsspezifisch, altersbedingt abgrenzbare Bevölkerungsgruppen), und/oder funktional (d. h. im Hinblick auf bestimmte inhaltlich bestimmbare Problemlagen wie Wohnen, Bildung etc.) abgrenzbar sind [ist].« (Galuske 2007: 101)
Wie aus der dargestellten historischen Entwicklung durchgängig erkennbar, bezieht sich GWA meist auf eine territoriale Einheit (Stadtteil, Stadtviertel oder kleinere Gemeinde). In den Anfangszeiten der Settlementbewegung waren Armen- oder sogenannte »Elendsviertel« die Einsatzgebiete der GWA. Pionierinnen der Sozialen Arbeit wie Alice Salomon oder Marie Baum haben schon früh die Notwendigkeit des Einbezugs des sozialen und räumlichen Umfelds hilfebedürftiger Menschen für die Bearbeitung und Bewältigung sozialer Probleme erkannt und gefordert.
In den Großwohnsiedlungen der Nachkriegszeit wurde, als diese, auf dem Planungsmodell Le Corbusiers (1957) basierenden Trabantenstädte im Laufe der 1980er Jahre sowohl baulich renovierungsbedürftig als auch infrastrukturell vernachlässigt waren und sich zunehmend sozial entmischt bzw. homogenisiert hatten, GWA für die sogenannten »sozialen Brennpunkte« oder »benachteiligten Wohngebiete« eingesetzt. Im Rahmen der sozialen Stadtentwicklungsprogramme wie »Soziale Stadt« (2008) werden »Gebiete mit besonderem Erneuerungs- bzw. Entwicklungsbedarf« ausgewiesen und administrativ festgelegt.
In den 1970er Jahren führten in Deutschland Forderungen nach Einmischung Sozialer Arbeit und Beteiligung von BürgerInnen an der Stadtplanung dazu, dass mehr Beteiligungsrechte im Baugesetzbuch aufgenommen wurden (Becker 2008: 444). Die Relevanz einer territorialen Perspektive Sozialer Arbeit für die Beurteilung und (präventive und korrektive) Bearbeitung sozialer Probleme, ergibt sich grundsätzlich aus der empirisch beobachtbaren Tatsache, dass sich globale, nationale und regionale Entwicklungen je nach gesellschaftlicher Bewältigungsstrategie mehr oder weniger auf lokaler Ebene in Form räumlicher Konzentrationen abbilden können. Gesellschaftliche Polarisierungs- und Spaltungsprozesse können zu räumlichen Konzentrationserscheinungen führen, die sich in wahrnehmbaren »Verlierer-« und »Gewinnerräumen« abzeichnen (Becker 2008). Erkenntnisse über Wirkungen räumlich-baulicher Strukturen auf Nutzungsqualitäten von territorial bestimmbaren Räumen und die Zusammensetzung der Bevölkerung in solchen Räumen, belegen die Bedeutung räumlich-baulicher Gestaltung von Siedlungsräumen (Farwick 2004). Nahräumliche Infrastruktur ist insbesondere für entfernungssensible Menschen, z. B. mit körperlichen oder finanziellen Mobilitätseinschränkungen, mitentscheidend für deren ökonomische, kulturelle und soziale Teilhabechance am gesellschaftlichen Leben. Gelegenheiten für soziale Kontakte beeinflussen die Bewältigungsmöglichkeiten von Menschen in schwierigen Lebenslagen. Die genannten Wirkungen und Effekte der »sozialwirksamen Raumstruktur« und »negativer Ortseffekte« werden in der Fachwelt nicht widerspruchslos geteilt, sondern mit Verweis auf unklare Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge in Frage gestellt (Ziegler 2011). Für die Untersuchung der komplexen Zusammenhänge zwischen gesellschaftlichen Entwicklungen und deren möglichen Auswirkungen in territorial bestimmbaren Räumen auf lokaler Ebene scheinen eindimensionale Ursache-Wirkungs-Vermutungen weder als Beleg noch als Gegenbeweis für (negative) »Ortseffekte« geeignet.