Ein schönes Leben - Martin Becker - E-Book + Hörbuch

Ein schönes Leben E-Book

Martin Becker

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Beschreibung

Ein überraschendes, ungewöhnliches, mit zahlreichen Preisen ausgezeichnetes Debüt eines jungen Autors

Wer nicht wegkommt aus der schäbigen Provinz, die sich Leben nennt, der bringt sich um. Und wer selbst das nicht schafft, der bekommt in Martin Beckers Erzählungen eine zweite Chance: Erzählungen, als würde Fellini einen heruntergekommenen Wanderzirkus leiten und Tom Waits dazu die Schelle schlagen.

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Seitenzahl: 185

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Inhaltsverzeichnis
Buch
Autor
Ein schönes Leben
Copyright
Buch
Martin Beckers Geschichten sind ein Ereignis: nichts ist an ihnen wahrscheinlich und alles relevant. Wir betreten eine Welt voll von sprechenden Hunden, folgenlosen Morden und anrührend abseitigen Hobbies. Da kommt ein verlorener Sohn wieder nach Hause und entdeckt, welcher Hölle er entronnen ist. Da wird nach einem langwierigen Leben unverhofft die totgeglaubte Mutter wiedergefunden. Da muss eine Geburtstagsfeier an der Autobahnraststätte ohne den 70jährigen Jubilar auskommen, denn der liegt im benachbarten Moos und hat aufs Verrecken keine Lust. Da klingelt ein skurril unbegabtes Handwerker-Duo, um den bestellten Super-Kaffee-Automat aufzustellen, dessen Kapazität für ein Großraumbüro ausgerichtet ist. Aber Hand aufs Herz: Wem ist es nicht schon mal passiert, aus Versehen ein Lockangebot unterschrieben zu haben? Der Einbau des Automaten aber steigert sich zu einer finsteren Szenerie von Bedrohung, Todessehnsucht und Ausweglosigkeit.
Martin Becker ist ein Staunen machendes Talent: Immer wird an der offenen Seele operiert, aber Hygiene ist für die Pfuscher in diesen Erzählungen ein Fremdwort. Mit einem ungehörten, unerhörten Ton treibt Becker den Leser durch seine wilden, wüsten, traumschön schlimmen Welten, überbringt er uns Nachrichten von der Schatten- und Nachtseite des Lebens.
Autor
Martin Becker, geboren 1982 in Attendorn, studierte am Leipziger Literaturinstitut. Er verfasst Hörspiele, Features und Kommentare für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, u. a. WDR. Für seine Erzählungen erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, u.a. 2007 den GWK-Förderpreis Literatur, 2008 das Literaturstipendium der »Märkischen Kulturkonferenz« und den »Kunstpreis Literatur« der Lottostiftung Berlin-Brandenburg. Martin Becker lebt in Leipzig.
»Ist das der Kindergarten?« sagte Murphy. »Nein«, sagte Ticklepenny, »die Leichenhalle.«
Samuel Beckett: »Murphy«
Ein schönes Leben
Das Schlimmste hier sind die ungeschriebenen Gesetze, das Allerschlimmste aber die, über die niemand spricht. Eines davon heißt: Wer dableibt, der schafft sich Hunde an. Und ein anderes: Wer es nicht schafft, wegzukommen, geht auf den Dachboden und hängt sich auf. Bei dieser Entscheidung ist Odradek angelangt, er steht unschlüssig und mit weichen Knien auf der Treppe nach oben, in der rechten Hand den Schlüssel fürs Dach, in der linken den gepackten Rucksack.
Unten, im Leben: die Mutter. Die Beine höher lagernd als den Kopf durchblättert sie zum zehnten, zum zwanzigsten Mal die Fotoalben der glücklichen Tage. Blättert, lacht auf, schläft ein, wacht auf, blättert, lacht auf. Bald kommt die Gesellschafterin, die Nacht und Tag bei der Mutter verbringen wird, Gesellschafterin nennt man das hier (und damit zum ungeschriebensten Gesetz: Spar dir die Wahrheit!).
Noch ist nichts passiert. Noch steht Odradek unschlüssig mit seinen beiden Möglichkeiten in den Händen auf den Stufen nach oben, mal macht er zwei Schritte hoch, mal zwei runter, er weiß nicht, was zu tun ist, er sagt sich leise vor, welche Möglichkeiten bleiben: Ich geh jetzt da hoch und häng mich auf. Oder: Ich geh jetzt da runter und fahr ans Meer. In diesem Moment größter Unentschiedenheit, als Odradek stehen bleibt und seine Schritte sein lässt, öffnen sich am Bahnhof die Türen des Bummelzugs, und Heraklit von Ephesos steigt aus. Fett ist er geworden. Er trägt einen Leinenanzug, viel zu eng, ehemals schneeweiß. Behäbig trottet er von einem Ende des Bahnsteigs ans andere: Der Bürgermeister fehlt. Der Fanfarenzug fehlt. Der Männerchor fehlt. Ein dürftiger Empfang. Heraklit zieht eine dicke Zigarre aus dem Anzug und zündet sie an. Mit schweren Schritten geht er rauchend durch die Straßen. Er kommt an einem Hof vorbei, die großen Hunde wedeln ihm am Zaun entgegen. Er will ihre Schnauzen streicheln, doch den Rauch seiner Zigarre beantworten die Hunde mit lautem Bellen, und Heraklit schreckt zurück.
Odradek trifft eine Entscheidung, endlich. Er steckt den Dachbodenschlüssel in die Hosentasche, geht runter zur Mutter, verabschiedet sich von ihr mit einem Kuss auf die alte Wange und steht vor dem Haus. Hier ist gerade Sommer und alles ist lau und hell, noch eine Stunde, bis die Sonne untergeht. Die Gesellschafterin kommt pünktlich auf dem Fahrrad angefahren, und Odradek startet beruhigt den Motor, fährt davon und fährt und fährt und fährt.
Die einen sagen, der Herrenausstatter ist ein adretter alter Mann. Andere meinen, er sei ein Schleimer. Immer um das Wohl der Kundschaft bemüht, stets in Bewegung und kurzatmig. Gerade hat er die Kasse gemacht und die Kurzwaren reingeschoben, gerade schlüpft er zur Tür hinaus und will abschließen, als er Heraklit kommen sieht. Schon aus der Ferne winkt er ihm zu. Ein Fremder, denkt der Herrenausstatter und verschwindet flink wieder im Laden, als hätte er Heraklit gar nicht gesehen. Schon öffnet sich die Tür, und Heraklit kommt mit Zigarre zwischen den Zähnen herein. Rauchen verboten, ruft der Herrenausstatter und springt über die Theke. Geschlossen, außerdem haben wir schon geschlossen. Er zupft an Heraklits speckigem Ärmel. Heraklit streift die Hand des Herrenausstatters ab und räuspert sich: Mein Name ist Heraklit von Ephesos, ich bin ein Gelehrter. Ungeheuerlich, sagt der Herrenausstatter, ein Gelehrter. Heraklits Ton imponiert ihm. Er wittert ein Geschäft. Ich brauche einen neuen Anzug, und zwar dalli, sagt Heraklit. Donnerwetter, ein Mann der Tat, sagt der Herrenausstatter. Aber wir haben geschlossen, es geht erst morgen. Heraklits Miene versteinert. Der Herrenausstatter tänzelt ein wenig hilflos vor ihm herum, zupft Heraklit die Falten aus dem Anzug. Er ist nicht auf Widerspruch gefasst. Jeder weiß, dass der Herrenausstatter zu den angesehensten Männern im Ort gehört, immer hat er die beste pürierte Leber vorrätig. Die Männer hier haben eine Schwäche für pürierte Leber. Morgens, mittags, abends ein Stück Leber, dann bleibt das Herz gesund für immer: ein geschriebenes Gesetz, endlich. Heraklit weiß das auch, baut sich vor dem Herrenausstatter auf und sagt: Nein, ich brauche den Anzug heute. Und ich suche eine Bleibe für die Nacht, aber es muss morgens, mittags und abends gute Leber geben, nein, keine gute, die beste pürierte Leber am Ort, sagt Heraklit, kneift die Augen zusammen und zieht genüsslich an seiner Zigarre. Was für eine Gelegenheit, denkt der Herrenausstatter und sieht sich schon im Gewand des Bürgermeisters, der die Weisheit in den Ort gebracht hat. Gut, sagt er, also gut. Sie sollen Ihren Anzug haben, und die beste Leber noch dazu. Schon hüpft der Herrenausstatter mit dem Maßband um Heraklit herum, murmelt Konfektionsgrößen, verschwindet in der einen Sekunde in der Tiefe des Ladens, um in der anderen mit einem Stoß weißer Anzüge wieder um Heraklit herumzuscharwenzeln. Den teuersten, sagt Heraklit. Her damit. Donnerwetter, ruft der Herrenausstatter, eine gute Wahl, eine gute Wahl! Ich werde Ihnen Unterkunft gewähren, mit der besten Leber weit und breit. Da Heraklit nun edleren Schnitt trägt, entsorgt er seine alten Kleider schon beim Rauskommen aus dem Laden in einem Papierkorb. Die Müllabfuhr kommt, ein Müllabfuhrmann leert den Papierkorb aus, er ist nicht aus dem Ort, sprich: Er ist gewissenhaft, also nimmt er den Leinenanzug und legt ihn zurück vor die Tür des Herrenausstatters. Nur fünf Minuten später marschiert ein Penner mit großer Spitznase und langem schwarzen Bart auf dem Weg vom einen Nachbarort in den anderen vorbei und sammelt den Leinenanzug auf. Hustend und unter großem Aufwand schüttelt er Hose und Jacke aus auf der Suche nach Geld oder Essbarem. Wütend wirft er die leeren Kleider auf den Boden und tritt darauf herum; und als er sie nicht kaputtkriegen kann, setzt er sich in das nahe gelegene Buswartehäuschen des regionalen Busverkehrs und legt den Anzug neben sich. Er wartet, bis sich die Gardinen der Häuserfront wieder geschlossen haben und geht eilig und ohne Anzug davon. Heraklit liegt mittlerweile, und zwar auf einem bequemen Bett im bequemen Zimmer des Herrenausstatters, der bereits am Telefon hängt und mit flüsternder Stimme die Kunde vom edlen Gast weiterträgt. Er ruft den Bäcker an und erzählt, ein Gelehrter namens Heraklit sei gekommen, und er hätte ihn aufgenommen, denn das verheiße eine große Zukunft. Der Bäcker ruft den Lehrer an. Der Lehrer erzählt es dem Wirt, der Wirt klingelt den Bürgermeister aus dem Bett, und der Bürgermeister läuft eilig zu seinen Stadträten, und die frohe Botschaft verbreitet sich.
Während Odradek fährt und fährt und fährt. Um ihn herum ist die Nacht angebrochen. Aus dem Radio tönt Musik, eine Pastorale vom Land, die Odradek ans Herz geht. Der Gedanke, die Mutter im Stich gelassen zu haben. Schon laufen Odradek die Tränen bei voller Fahrt über die Wangen. Beinahe sieht er schon nichts mehr, da ist die Musik zum Glück vorbei. Odradek holt tief Luft, kurbelt mit einer Hand das Fenster runter und stößt den Atem einen unendlich langen Moment lang aus, als wäre es ganz und gar nicht sein eigener. Er schaut nach links, er schaut nach rechts, lauter Unbekanntes für Odradek. Dabei doch nur: die Einsamkeit der Autobahnraststätten, unter anderem. Abgerissene Dachrinnen am Fahrbahnrand. Lichter eines leeren Einkaufszentrums. Prostituierte ohne Rock und Hose, die andere Welt und noch eine andere Welt, so was halt. Jetzt Odradeks Blick wieder auf der Straße, im Kopf nur noch das Meer, weiter: nichts.
Menschen wie ich, die müssen zum Meer, denkt er. Odradek hat sich seine große Fahrt genau überlegt. Mit dem Auto braucht er elf bis elfeinhalb Stunden zum Meer, und elf bis elfeinhalb Stunden dauert es, bis er wieder daheim ist. Ein bis zwei Stunden wird er haben, dann geht’s zurück, pünktlich mit Odradeks Heimkehr wird sich die Gesellschafterin wieder auf ihr Rad schwingen. Spätestens dann muss Odradek wieder bei der Mutter sein, es ist nämlich so: Vorvorgestern wusste sie noch, wann sie geboren wurde, vorgestern, wo sie ist, und gestern, wie sie heißt. Aber heute.
Zu Ehren Heraklits ist schon alles in Bewegung. Mitten in der Nacht. Eine leere Villa wird zum Freudenhaus erklärt, das Gebäude daneben zum Ort der Kultur. Ein wenig außerhalb liegt der stillgelegte Flugplatz, auf welchem in den nächsten Stunden Kleinflugzeug um Kleinflugzeug landet. Eine Jazzcombo wird eilig eingeflogen, darüber hinaus ein Tanztheater, mehrere Seelsorger und einige leichte Mädchen. Die Gesellschafterin kümmert sich nicht mehr um die Mutter. Sie hat ihre Pflicht getan und die Mutter mit dem Untergang der Sonne ins Bett gelegt. Da schläft sie jetzt und träumt, erstaunlicherweise von Odradek, wie er im Auto sitzt und zum Meer fährt, sie träumt noch mehr, aber das sind nur Schemen aus besseren Zeiten, von anderen Orten. Die Gesellschafterin stützt ihre von der Arbeit kräftigen Arme auf die Fensterbank, hat die Gardinen zur Seite gezogen und sieht hinaus. Sie weiß noch nichts von Heraklit, aber sie merkt: Es liegt etwas in der Luft. Sie reckt ihren Hals weit nach vorn und sieht Scharen von Männern in Arbeitskleidung, wie ein Ameisenhaufen. Eilig und so lautlos wie möglich huschen sie durch die Straßen. Bäume werden gestutzt, grobe Schlaglöcher ausgebessert, Wege neu geteert, abbröckelnde Häuserfassaden notdürftig saniert und mit schneller Hand gekittet. An jeder Ecke balancieren alte Männer auf hohen, wackeligen Leitern. Sie hissen Fahnen und hängen längst verstaubte Wimpel auf. Noch bevor alle die Gardinen zur Seite zogen und staunten, waren heimlich, still und leise die Hundefänger da gewesen. Die Tiere: mit Leberwurst gelockt, eingesammelt und weggebracht, weit vor dem ersten Kläffen. Vom Marktplatz her tönt das Tambourcorps, es probt den großen Zapfenstreich. Die Gesellschafterin wippt mit dem Fuß und vergisst bei diesem Trubel vor dem Fenster ihre einzige Pflicht: die Mutter im Auge zu behalten. Sonst will hier niemand nachts raus, heute wollen alle, aber keiner traut sich. Jeder steht hinter seiner eigenen Gardine und schaut. Jeder glaubt, längst am besten Bescheid zu wissen, von hohem, gar höchstem Besuch wird hinter vorgehaltener Hand geredet, manchmal fällt gar so etwas wie: Hoffnung, Zukunft, so was halt. Viele stehen selig da und sehen hinaus bis zum Sonnenaufgang, dann erst öffnen sie ihre Fenster, tatsächlich, denken alle, es liegt etwas Herrschaftliches in der Luft, etwas Nie-Da-Gewesenes, etwas Fundamental-Alles-Veränderndes, etwas Die-Gesetze-Auf-Den-Kopf-Stellendes, etwas Für-Jeden-Bedeutsames, etwas Ein-Neues-Leben-.
Menschenleer ist das Meer, als Odradek den Wagen abstellt. Er denkt an die Mutter und wird den Gedanken nicht mehr los, Unrecht zu tun. Odradek betritt den Deich und schaut auf das Wasser, es kommt, noch gibt es Brachland dazwischen, aber bald schon wird der Schlick verschwunden sein.
Sicherheitshalber tastet Odradek in seiner Hosentasche nach dem Schlüssel zum Dachboden. Die Innensicht der Hosentasche: Odradeks Leben bis zum heutigen Tag. Ein klebriger Klumpen aus Erinnerungen. Postkarten vom Meer, vom Berg, von woanders, zusammengeknüllte, kopierte Krankenberichte, Papiere, Fotos, Zeugnisse vom Leben auf dem Land. In den raren, ruhigen Minuten bei der Mutter - wenn sie schläft bei Tage -, sortiert Odradek die Schichtung in der Tasche neu, alles klebt aufeinander, irgendwann ist ein Kaugummi dazwischengeraten, und die Dinge sind nicht mehr so einfach voneinander zu trennen. Zuletzt sieht sich Odradek ausdauernd seine liebste Fotografie der Mutter an: mit Hunden, schwarz-weiß, andere Zeit, anderer Ort. Sie war vielleicht zwölf, als die Fotografie entstand.
1. Auflage
Genehmigte Taschenbuchausgabe Juni 2009, btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München.
Copyright © 2007 by Luchterhand Literaturverlag in der
Verlagsgruppe Random House GmbH, München.
MM · Herstellung: SK
eISBN 978-3-89480-493-0
www.btb-verlag.de
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