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Ein Buch für Christen und Atheisten. Diese Erzählung beschreibt humorvoll und kritisch, wie sehr sich der Gläubige in seine Glaubenswelt verliert, die offensichtlich nicht existiert. Sie beschreibt auch, wie sich die katholische Kirche immer mehr in Widersprüche verrennt, je mehr sie versucht, sich daraus zu befreien. Abt Gregor, als belesener Theologe, kennt die Hintergründe des christlichen Glaubens. Er kennt die Ungereimtheiten und Widersprüche. Er will sie seinen Klosterbrüdern vorenthalten, doch die Umstände der Seligsprechung decken alles auf.
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Seitenzahl: 340
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Martin Becker
Die Reise des Bruder Johannes
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Vorwort
Akte – unter Verschluss
Die Rückkehr des Bruder Johannes
Jesus vom Kreuz
Berta, das Schwein
Die Ostertheater- Probe
Jesu Stammbaum
Bruder Tillmann
Die Novizin Mathilda
Monsignore Giovanni de Casanostra
Das Findelkind
Die Reise des Bruder Johannes
Die Rückreise
Die Hochzeit
Der Papstbesuch
Anhang
Werbung in eigener Sache
Zeitablauf
Verzeichnis der Personen in dieser Geschichte
Wissenswertes über den Glauben der Katholischen Kirche
Erlasse über die Bibel und den Glauben
Erlasse zur Sexualität, zur Ehe, zur Geburt und zum Zölibat
Erlasse zu Kreuzzügen, Inquisition und zur Hexenverfolgung
Wissenswertes über Reliquien (Beispiele)
Die 245 Dogmen der Katholischen Kirche (Plus 1)
Impressum neobooks
Die Reise des Bruder Johannes
Pater Gregor, Abt eines kleinen, bayerischen Klosters verliert die Kontrolle über seine beschauliche Welt. Ausgerechnet am Tage der Eröffnung seines nicht ganz legal finanzierten Brauhauses steht ihm eine Finanzprüfung ins Haus. Und ausgerechnet an diesem Tage werden die Gäste Zeuge eines Wunders, das dazu führt, dass Klosterbruder Johannes seliggesprochen werden soll.
Dass Abt Gregor seinen Ziehsohn Johannes auf eine ferne Reise schickt, macht die ganze Sache nur noch schlimmer.
Humorvolle, kritische und tiefgründige Erzählung über den katholischen Glauben, über Zweifel und Atheismus. Gleichermaßen interessant zu lesen für Christen und Atheisten.
Erzählung 409 Seiten Taschenbuchformat
Anhang Wissenswerte Tabellen 50 Seiten
Buch: Martin Becker
Grafik: Martin Becker
Publikation:
ISBN-13 Nr:
Alle Rechte vorbehalten
(c) 2016
Liebe Leserin,
lieber Leser,
eines der größten Rätsel der Welt, wenn man einmal von der Dunklen Materie absieht, ist der menschliche Geist.
Immer wieder steht man staunend vor dem Phänomen der unterschiedlichen Wahrnehmung und der verschiedenen Interpretation ein- und derselben Geschehnisse, derer man gemeinsamer Zeuge zu sein das Glück hatte.
Nehmen wir als Beispiel eine Zirkusparade in einer Stadt. Lustige Clowns, anmutige Tänzerinnen, kraftvolle Akrobaten, mutige Dompteure und geschickte Jongleure flanieren die Hauptstraße hinab, begleitet von kräftiger Blasmusik, Trommeln und Tamburin. Indische Elefanten, afrikanische Löwen und weiße Lipizzaner- Pferde untermalen die exotische Stimmung, und der Zirkusdirektor, allen voran, in rotem Frack und gezwirbeltem Schnurrbart, lacht dem Publikum entgegen und winkt mit dem buntverzierten Paradestab.
Dies ist eine Szene, die man gewöhnlich nur in einer einzigen Weise erleben kann, nämlich in kindlicher Begeisterung und uneingeschränktem Jubel.
Falsch.
Der menschliche Geist ist nicht so. Er ist anders. Er erlebt eine solche Szene nicht zwangsläufig in Begeisterung.
Er erlebt diese Szene in Freude, in Argwohn, in Spaß, in Neid, in Glück, in Leid, in Zweifel, in Missgunst, in Kritik und in Gleichmut.
Man flaniert staunend vor dem Publikum einher, winkt mit dem glitzernden Paradestab und rätselt darüber nach, warum nicht alle restlos begeistert sind. Manche halten sich sogar wütend die Ohren zu.
Der menschliche Geist ist ein Rätsel. Das Erleben ist unterschiedlich. Die Betrachtungsweise unvergleichlich. Und die Erinnerungen sind so unverwechselbar, wie Fingerabdrücke auf dem Polizeiprotokoll.
Die Lösung des Rätsels lautet: Der menschliche Geist erlebt nicht das Geschehnis in neutraler Form, sondern er erlebt sich selber. Er betrachtet das Geschehnis durch seine eigene Brille, und diese Brille gibt ihm die Vorstellung seiner eigenen Welt wider.
Diese Brille ist seine eigene Weltanschauung. Es sind seine Erfahrungen, seine Erinnerungen und Verhaltensmuster. Ein Fleckenteppich dessen, was der Mensch im Laufe seines Lebens an Urteilen über sein Leben gesammelt hat.
Wenn der Mensch etwas erlebt, dann blickt er sich selbst an. Er urteilt das Erlebnis anhand dessen, wie er die Welt sieht, danach rückt er das Erlebnis in das eigene Weltbild ein, bis es ihm passt, und erst dann lässt er die genau passenden Emotionen zu, die für eine solche Situation vorgefertigt wurden.
Das Ergebnis ist dann eine breitgefächerte Palette von Emotionen, die unterschiedlicher nicht sein können.
Sie glauben mir nicht. Das ist gut so. Bleiben Sie kritisch, denn das, was uns in dieser folgenden Erzählung aufgetischt wird, ist so haarsträubend, so unglaublich und unfassbar -und faszinierend. Am Ende zweifelt man darüber, ob das, was man wirklich glaubt zu erleben, sich auch tatsächlich so ereignet hat.
Diese Erzählung handelt davon, dass der menschliche Geist imstande ist, Erlebnisse wahrzunehmen, bei denen man einschreiten möchte, bei denen man Einhalt gebieten möchte.
„Nein“, wollen Sie ausrufen. „Das kann doch nicht wahr sein!“ Und doch ist es so.
Fassungslos erleben wir die Geschichte eines jungen Mannes, wie er sie wahrnimmt. Und während wir sie miterleben, fragen wir uns: „Und wie ist es denn eigentlich mit mir? Wie erlebe ich meine Welt? Bin ich am Ende genauso wie er, wie Bruder Johannes?“
Doch weiter kann ich nicht vorgreifen. Sehen Sie selbst, prüfen Sie selbst und stellen Sie sich ruhig die Frage nach der eigenen Vorstellung.
Diese Geschichte jedoch stand bis zum heutigen Tage unter Verschluss. Sie war streng geheim und sollte nicht das Licht des Tages erblicken.
Doch nun, da sie es tat, nahmen die Dinge ihren Lauf….
P.S. In dieser Geschichte hat sich der Autor die Freiheit herausgenommen, als Statist persönlich mitzuwirken. Achten Sie auf den Schweizer Gardist.
Dokumentensammlung
Abt Pater Gregor
Mammendorf, Anno Domini 30. März 1971
An seine HeiligkeitPapst Claudius III.Bischof von RomPontifex Maximus00190 Citta del VaticanoItalien
- Persönlich -
Betreff: Seligsprechung war ein Irrtum
Eure Heiligkeit,
kennt Ihr mich noch? Ich bin der Abt, Pater Gregor, des Klosters St. Nepomuk, in Bayern.
Vor vier Monaten habt Ihr uns, wegen der Seligsprechung unseres Bruders Johannes besucht. Ich muss Euch leider mitteilen, dass diese Seligsprechung ein ganz großer Irrtum war.
Diesen Brief schreibe ich an Euch in äußerster Demut, und ich bitte um Eure Erlaubnis, das Amt als Abt niederlegen zu dürfen. Ich bin nicht länger würdig, der erste Diener dieses Klosters zu sein.
Sicher seid Ihr erstaunt über meine Vermessenheit, eine von Euch vorgenommene Seligsprechung anzuzweifeln, und Ihr wundert Euch, dass ich mich so spät an Euch wende. Aber die Ereignisse waren so verwickelt, dass es eine solch lange Zeit brauchte, sie zu entwirren. Und nun, die gesamte Chronik vor Augen, muss ich erkennen, dass die ganze Seligsprechung auf einem Irrtum beruht.
Ich weiß, Ihr habt so viel zu tun, und ich entschuldige mich in tiefster Ergebenheit und in untertänigster Demut, Eure kostbare Zeit mit meinem Anliegen in Anspruch zu nehmen. Es ist mir jedoch unmöglich, das Schreiben zuständigkeitshalber an unseren Prior, den Bischof Rabenberg von Neufeld, oder an den Erzbischof Ratzefinger von München zu schicken, denn Eure Heiligkeit ward persönlich in die Ereignisse, die den Anlass zu meinem Schreiben geben, - ja man kann sogar sagen: verwickelt, und ich glaube nicht, dass es Euer Wunsch sein kann, dass diese Geschehnisse weiter bekannt werden, bevor Ihr persönlich entschieden habt, welche Konsequenzen daraus gezogen werden sollen.
Bitte urteilt über mich und meine Unfähigkeit, der ich geblendet war, von der großen Ehre Eures Besuches, und der ich doch zuerst auf das Wohl des Klosters geschaut habe, anstatt der Wahrheit zu dienen. Ich hatte Euch Informationen über unseren Bruder Johannes vorenthalten, die ausreichten, um Einspruch gegen die Seligsprechung erheben zu müssen, und ich habe zugelassen, dass die Seligsprechung stattfand. Das ist, strenggenommen, eine Lüge. Nun habe ich die Unwahrheit über mich und über Euch gebracht.
Wie lässt sich das Rad der Zeit zurückdrehen, um das ungeschehen zu machen, was geschehen war? Wie schwer lastet die Frage in meinem Herzen, was ich alles hätte tun können, um das Unausweichliche zu verhindern?
Da ich nicht weiß, wie ich mich nun weiter in dieser Situation zu verhalten habe, bitte ich Euch um Anweisungen des weiteren Vorgehens.
In demütiger Hochachtung und freundlichem Gruß in Christo
Ihr ergebener
Abt Gregor
PS: Gerne bin ich auch bereit, Euch den ganzen Hergang dieser peinlichen Geschehnisse zu berichten, die so viel Kummer über mein Haupt brachten, und wovon ich heute mehr denn je glaube, dass der Geißfuß des Teufels dabei im Spiel war.
Sekretarius VaticaniCardinal Octavianus
Citta del Vaticano, 06. April.1971
Kloster St. NepomukKloster Straße 18083 MammendorfBayern, Deutschland
Zu Händen Abt Pater Gregor
Euer Schreiben vom 30.3.1971
Lieber Bruder Gregor,
mit großem Interesse lasen wir Euren Brief vom 30.03.1971 und teilen Euch mit, dass eine Kündigung als Abt eines Klosters nicht möglich ist, sofern Ihr nicht direkt in Skandale verwickelt seid, die unter dem Druck der Öffentlichkeit alsbald zu einer Trennung führen könnten.
Wir teilen Ihre Sorgen um die Rechtmäßigkeit der vorgenommenen Seligsprechung. Eine päpstliche Zuwendung jedoch, ist unwiderruflich.
Es erübrigt sich daher eine Prüfung der näheren Umstände, und so ordnen wir an, dass Ihr absolutes Stillschweigen in dieser Angelegenheit bewahrt.
Damit Ihr jedoch Gelegenheit findet, Euch von Euren seelischen Belastungen zu befreien, sei es Euch im Rahmen einer Beichte und unter Berücksichtigung des Beichtgeheimnisses gestattet, Euer Anliegen dem zuständigen Prior Ihres Kirchenbezirks darzulegen.
Hochachtungsvoll
Kardinal Octavian
Vatikanisches Sekretariat
PS: Ihr habt doch keine Affären sexueller Natur? Dies würden wir eventuell als Kündigungsgrund akzeptieren.
Abt Pater Gregor
Mammendorf,
Anno Domini 09. April 1971
An das Kloster NeufeldBischof RabenbergPrior des Ordens der Cappuccino8521 Kloster Neufeld
- Persönlich -
Betreff: Seligsprechung war ein Irrtum
Eure Eminenz,
Von tiefsten Seelenqualen getrieben, wende ich mich in einer Angelegenheit an Euch, die eine fälschlicherweise vorgenommene Seligsprechung betrifft, welche ich nicht rechtzeitig verhindert habe.
Es handelt sich um die Seligsprechung unseres Bruders Johannes, bei dessen Zeremonie Ihr selbst anwesend ward. Diese Seligsprechung beruht auf einem Irrtum und hätte niemals stattfinden dürfen.
Ich habe versucht, diesen Irrtum durch ein diskretes Schreiben an den Vatikan zu bereinigen, jedoch wurde mir signalisiert, dass sich diese Problematik auf höherer Ebene nicht lösen lässt.
So bitte ich Euch um ein persönliches Gespräch, in dem ich Euch die Angelegenheit näher erläutern kann, denn ich trage mich mit dem Gedanken, aufgrund dieser Vorfälle, das Amt als Abt niederzulegen, und Euch deshalb um meine Entlassung zu bitten.
Mit demütiger Hochachtung und freundlichem Gruß in Christo
Ihr ergebener
Abt Gregor
PS: Der Grund meiner Kündigung ist keinesfalls wegen sexueller Skandale.
Anruf von Bischof Rabenberg am13. April 1971
Wortgetreue Telefonnotiz Abt Gregor
Abt Gregor:
„Kloster, St. Nepomuk, Pater Gregor“.
Bischof Rabenberg:
„Hallo, Bruder Gregor, hier ist Bischof Rabenberg, nicht wahr, nicht?“
Abt Gregor:
„Grüß Gott, Eure Eminenz.“
Bischof Rabenberg:
„Gregor, ich habe deinen Brief erhalten, nicht wahr, und ich muss gestehen, er machte mir ein wenig Sorgen. Ja? Du willst dein Amt niederlegen?“
Abt Gregor:
„Eure Eminenz, es haben sich unglaubliche Dinge zugetragen, an denen ich die Schuld trage.“
Bischof Rabenberg:
„Du meinst, wegen der Seligsprechung, nicht wahr? Was ist damit?“
Abt Gregor:
„Die Seligsprechung ist unrechtmäßig, Eure Eminenz. Sie hätte nicht stattfinden dürfen.“
Bischof Rabenberg:
„Warum unrechtmäßig, ja, was ist mit Bruder Johannes los? Lebt er in Sünde?“
Abt Gregor:
„Nein, nein, das ist es nicht. Nur ist er nicht der, für den man ihn hält.“
Bischof Rabenberg:
„Ist es ein Ungläubiger? Ja? Hat er kleine Kinder verführt? Ist er nicht katholisch, nicht wahr?“
Abt Gregor:
„Nein, Eure Eminenz. Er ist der frommste Mönch im Kloster. Er ist ein ganz besonderer Mensch. Nur ausgerechnet ihn hätte man nicht seligsprechen dürfen.“
Bischof Rabenberg:
„Und wie konnte es geschehen? Ja? Bevor der Papst jemanden seligspricht, nicht wahr, nicht, wird der betreffende Kandidat von der Vatikanischen Kongregation für Heiligsprechungs- Prozesse auf Herz und Nieren geprüft?“
Abt Gregor:
„Es waren so viele Dinge, die sich zusammen ereigneten, Eure Eminenz. Und aus der Summe dieser Ereignisse entstand dieser Irrtum.“
Bischof Rabenberg:
„Ich hoffe nicht, Gregor, dass du den Vatikan des Irrtums bezichtigst.“
Abt Gregor:
„Eure Eminenz. Eine Lawine von Ereignissen wurde losgetreten, die ich nicht mehr aufhalten kann. Ich habe sie nicht mehr im Griff, versteht Ihr?“
Bischof Rabenberg:
„Kannst du nicht die ganze Sache auf sich beruhen lassen? Nicht? Du weißt, der Vatikan wird sich niemals korrigieren, nicht wahr?“
Abt Gregor:
„Nein, Eure Eminenz, ich kann es mit meinem Gewissen nicht länger vereinbaren. Ich muss mir Klarheit verschaffen. Es kann nicht mehr so weitergehen.“
Bischof Rabenberg:
„Da muss ja eine ereignisreiche Geschichte passiert sein.“
Abt Gregor:
„Es ist eine haarsträubende Geschichte, Eure Eminenz.“
Bischof Rabenberg:
„Du musst mir die Geschichte erzählen, Gregor. Ja? Was ist passiert?“
Abt Gregor:
„Das geht nicht am Telefon, Eure Eminenz. Es ist eine sehr verstrickte Geschichte.“
Bischof Rabenberg:
„Dann komm mich besuchen. Wann kannst du kommen? Ja?“
Abt Gregor:
„Am Mittwoch, den 16. April?“
Bischof Rabenberg:
„Ja, das ist mir Recht. Nicht? Sagen wir um 10 Uhr?“
Abt Gregor:
„Gut. Dann komme ich am Mittwoch.“
Bischof Rabenberg:
„Gott segne Dich, Bruder Abt Gregor, nicht wahr?“
Abt Gregor:
„Vielen Dank, Eure Eminenz, auf Wiederhören.“
Kloster Neufeld, Orden der Cappuccino,8521 Kloster Neufeld, Prior Bischof Rabenberg,
Besuch bei Bischof Rabenberg am 16. April 1971
Protokoll des Aktuars Bruder Reinhart, Kloster Neufeld
Es war pünktlich 10 Uhr. Bruder Gregor klopfte an die Türe der Kanzlei des Bischof Rabenbergs.
Bischof Rabenberg:
„Herein. Ja?“
Bruder Gregor öffnete die Türe und trat ein. Bischof Rabenberg legte seine Brille ab, kam ihm entgegen und umarmte ihn.
Bischof Rabenberg:
„Gregor, lieber Bruder Gregor. Sei willkommen. Nicht wahr? Ich hoffe, du hattest eine angenehme Fahrt.“
Abt Gregor:
„Oh, Ja, Dankeschön, Eure Eminenz. Bei diesem herrlichen Wetter war die Reise ein wahres Gottesgeschenk.“
Bischof Rabenberg:
„Nimm Platz. Ja? Darf ich dir einen Kaffee bringen lassen?“
Abt Gregor:
„Ja, gerne.“
Man setzte sich auf die Besucher- Couch. Bischof Rabenberg läutete die Tischglocke und orderte eine Kanne Kaffee. Gleichzeitig wurde auf beidseitigen Wunsch der Gesprächsteilnehmer angeordnet, ein Protokoll über dieses Gespräch anzufertigen.
Bischof Rabenberg:
„Seid Ihr fertig, Bruder Reinhart? Ja?“
Aktuar Bruder Reinhart: „Ja, Eure Eminenz, wir können mit dem Protokoll beginnen.“
Bischof Rabenberg:
„Ich bin sehr gespannt auf deine Erzählung, Gregor, nicht wahr? Wie konnte das alles nur geschehen?“
Abt Gregor:
„Ich weiß es nicht genau, Eure Eminenz. Einerseits war ich getrieben durch die Eitelkeit, dass ein Mönch aus unserem Kloster seliggesprochen wird. Schließlich kam zu diesem Zwecke der Papst persönlich in unser Kloster.“
Bischof Rabenberg:
„Ja, ich weiß. Ich war selbst anwesend. Nicht?“
Abt Gregor:
„Ja, natürlich. Es war ein großes Fest, zu dem alle namhaften Persönlichkeiten unserer Diözese und des gesamten süddeutschen Raums geladen waren.“
Bischof Rabenberg:
„Und andererseits? Nicht wahr?“
Abt Gregor:
„Andererseits konnte ich das nicht mehr rückgängig machen, was ich selbst, wie eine Lawine losgetreten habe. Ich habe die Folgen dieser Ereignisse nicht mehr im Griff.“
Bischof Rabenberg:
„Was war das? Ja?“
Abt Gregor:
„Nun, es begann damit, dass ich beim Besuch des Steuerprüfers aus Rom, Informationen zurückgehalten habe, die ich zum Wohle des Klosters nicht nennen wollte, und es endete damit, dass mein Zögling Johannes seliggesprochen wurde. Das alles hätte niemals passieren dürfen.“
Bischof Rabenberg:
„Welche Informationen waren das, die du zurückhieltest?“
Abt Gregor:
„Nun, es waren die Zahlungen für Renovierungsarbeiten am Glockenturm. Aber das lässt sich nicht so einfach sagen. Ich müsste Euch die ganze Geschichte erzählen.“
Bischof Rabenberg:
„Dann erzähle, erzähle. Nicht wahr? Wir haben Zeit, nicht?“
Abt Gregor:
„Ja, ich weiß nicht, wie ich anfangen soll.“
Bischof Rabenberg:
„Erzähle einfach frei von der Leber weg, mein Sohn. Ja?“
Abt Gregor:
„Eure Eminenz, wenn es Euch hilft, ich habe die Notizen, die ich von den Ereignissen angefertigt habe und alle Briefe mitgebracht. Wenn wir ein Protokoll anfertigen, kann ich Euch diese Schriftstücke zu Ihren Unterlagen mitgeben.“
Bischof Rabenberg:
„Ja, vielen Dank, nicht wahr. Bruder Reinhart, bitte nehmt diese Unterlagen zu Euch.“
Anmerkung des Aktuars: Die dargereichten Unterlagen wurden in der Reihenfolge der folgenden Erzählung durch Pater Gregor zusammengestellt.
Bischof Rabenberg:
„Du sagtest, Johannes sei ein ganz besonderer Mensch? Nicht wahr?“
Abt Gregor:
„Das ist er. In der Tat.“
Bischof Rabenberg:
„Was ist an ihm so besonders? Ja?“
Abt Gregor:
„Nun, da habe ich ein gutes Beispiel. Ich muss es etwas ausführlich erzählen, Eure Eminenz.“
Bischof Rabenberg:
„Ganz, wie du meinst, Gregor, ja?“
Abt Gregor:
„Macht es Euch nichts aus, wenn ich etwas aushole? Ich meine, viele Details sind wichtig, die am Anfang vielleicht unbedeutend erscheinen.“
Bischof Rabenberg:
„Nein, nein, nicht wahr? Es macht nichts aus. Wir haben Zeit. Erzähle von Anfang an.“
Bericht von Abt Gregor
Es war am 24. Oktober 1969, in tiefster Nacht. Ich befand mich in unserer Kirche kniend vor dem heiligen Altar und betete fünf Rosenkränze vor dem Zubettgehen. Zum Zwecke der Beleuchtung hatte ich nur die Altarkerzen angezündet, so dass es in der Kirche sehr dunkel war.
Draußen wehte ein eiskalter Schneesturm, schon recht früh für das Jahr. Große Schneemengen fielen vom Himmel und legten sich auf unsere Dächer, Wege, Stufen und auf den Kirchplatz. Die Schneeverwehungen auf unseren Fußwegen im Kloster bedeuteten eine Gefahr für die Mönche, die am Morgen stets etwas verschlafen und unaufmerksam zur Frühmesse unterwegs waren. Ich überlegte mir deshalb, wen ich vor der Frühmesse zum Schneeschaufeln beauftragen sollte und dachte dabei an Bruder Jakob. Er war bei der letzten Messe eingeschlafen.
Da öffnete sich die Kirchentür und brachte den kalten Wind mit einem Schwall Schneeflocken hinein.
„Hier ist noch Licht“, sagte die Stimme unseres Nachtwächters, Bruder Leopold und brachte einen Mann hinein. Ich drehte mich um und betrachtete den Fremden. Er war in Lumpen gekleidet, verwahrlost, verdreckt. Die nackten Füße waren in alten Kleidern eingehüllt. Der Bart zerzaust, voller Eisklumpen und Dreck.
„Pater“, rief der Mann und lief auf mich zu.
Jetzt erst erkannte ich ihn: Es war Bruder Johannes, der mich begrüßte und welcher mir im ersten Moment so fremd erschien. Johannes war mein treuester und gutmütigster Mönch im Kloster, den ich ein halbes Jahr zuvor auf eine Reise geschickt hatte, und der erst jetzt wieder zurückkehrte.
„Johannes, mein Sohn!“ Ich stand auf, doch bevor ich mich dem Neuankömmling widmete, beendete ich mein begonnenes Gebet und bekreuzigte mich vor dem Altar.
Auch Johannes trat vor den Altar, über dem ein lebensgroßes Kruzifix hing, und seine Augen glänzten. Ich las in seinen Augen, dass mein Bruder viel Pein und Qualen durchgemacht zu haben schien, aber er hatte noch immer dieses unschuldige und treuherzige Strahlen.
„Mein Freund Guiseppe!“ rief er aus. „Du bist auch schon wieder hier?“
Er lächelte zu Jesus am Kreuz hinauf und das machte mich recht stutzig. Leopold hielt sich erschreckt die Hand vor den Mund. Johannes hatte die Eigenschaft, oftmals Schein und Wirklichkeit miteinander zu vermischen, aber er war nie ein Freund der leichten Worte. Doch ich deutete diese lockere Begrüßung als den Ausdruck der innigsten Freude darüber, hier am Herzen des Ortes seiner spirituellen Heimat, dem Altar unseres Klosters, wieder zurückgekehrt zu sein.
„Guiseppe?“ fragte ich. „Wer ist das?“
„Guiseppe ist Jesus“, antwortete Johannes. „Er ist mein Herr und Freund.“
Erst jetzt kniete sich Johannes vor mir nieder und küsste mir die Hand. Ich legte meine rechte Hand auf sein Haupt und segnete ihn. <Was ist denn bloß in meinen Schützling gefahren>, dachte ich mir, <dass er unseren Herrn Jesus in solcher Weise anspricht>. Johannes hatte das zuvor nie getan, und ich schrieb das dem Umgang zu, dem er möglicherweise auf seiner Reise ausgesetzt war. Ich machte mir Sorgen, ob ich es schaffen könnte, seinen Kopf wieder zurechtzurücken.
Da bemerkte ich eine Keksdose unter seinem Arm. Mein Herz tat einen Freudensprung, denn ich ahnte, dass sich in dieser Dose das befand, wonach ich Johannes ausgesandt hatte zu suchen.
„Du hast uns etwas mitgebracht, Johannes?“ fragte ich, denn ich war auf den Bericht über seine Erlebnisse gespannt.
„Oh ja, Pater“, Johannes reichte mir die Dose. „Diese Büchse ist voll von heiligen Reliquien.“
Kloster Neufeld, Orden der Cappuccino,8521 Kloster Neufeld, Prior Bischof Rabenberg,
Fortsetzung des Protokolls am 16. April 1971
Bischof Rabenberg:
„Reliquien sagtest du, ja?“
Abt Gregor:
„Ja, Reliquien. Ich hatte Johannes ausgesandt, um Reliquien für unser Kloster zu suchen.“
Bischof Rabenberg:
„Wozu wolltest du Reliquien haben? Was?“
Abt Gregor:
„Eure Eminenz! Wie Ihr selbst wisst, ist unser bescheidenes Kloster noch niemals im Glanz und im Reichtum gestanden, wie das Benediktiner Kloster in Andechs oder das Augustiner Chorherrenstift in Dießen.“
Bischof Rabenberg:
„Ja, nicht wahr?“
Abt Gregor:
„Unsere Kirchenräume zeigen wenig Prunk und sind weiß gekalkt. Hier und da, schmückt eine bescheidene Schnitzerei die Wand, oder ein Gemälde aus früheren Jahrhunderten. Aber wir haben keine goldenen Stuckdecken und auch keine reichgeschmückte Kanzel. Lediglich unsere Marienstatue, die wahrlich nicht dem wunderschönen Abbild der Muttergottes auch im entferntesten nahekommt, schmückt eine goldene Krone, von der ich jedoch weiß, dass es nur eine eiserne Krone ist, mit hauchdünnem Blattgold überzogen.“
Bischof Rabenberg:
„Ja, Bruder Gregor, dein Kloster ist wahrlich nicht sehr reich. Nicht wahr?“
Abt Gregor:
„Nein, als reich und prunkvoll können wir unser Kloster wirklich nicht bezeichnen. Deshalb gestehe ich auch, dass ich die Nachbarklöster immer ein wenig um ihren Reichtum und ihre Pracht beneidete. Es war nicht der blanke Neid, der geeignet ist, zur Todsünde gezählt zu werden, Eure Eminenz. Es war der stille, der schweigsame Neid, der mich davon abhielt, freundschaftliche Verbindungen mit den Nachbarklöstern zu pflegen, und der mich daran hinderte, Einladungen an die Äbte auszusprechen, um mit ihnen gemeinsam das Brot des Herrn zu brechen. Es war der Neid und das Gefühl der Minderwertigkeit, die mich hinderten, ihre Gesten der Kontaktpflege zu erwidern, die in meinen Augen immer nur eine Vorführung ihres Prunks und Verhöhnung dessen war, wie es ein Kloster, wie das unsere, es im Laufe von 900 Jahren immer noch nicht schaffte, vom großen Kuchen der Pilgerspenden abzubeißen.“
Bischof Rabenberg:
„Worauf willst du hinaus, Gregor, ja?“
Abt Gregor:
„Ich meine, wir sind arme und bescheidene Cappuccino- Mönche, in einem bescheidenen kleinen Kloster, Eure Eminenz. Noch niemals war es in unserer Geschichte gelungen, heilige Männer hervorzubringen, oder auch nur Reliquien zu sammeln, als Erinnerung an die heiligen Vorbilder und zur Stärkung unseres Glaubens. Umso mehr war ich gerührt und überrascht über das Präsent des Bruders Johannes. Plötzlich hatte ich eine Vision von einer strahlenden Zukunft, denn Reliquien waren immer schon Magnete für Besucher und Pilger. Ich sah vor meinem geistigen Auge, wie mit diesen Reliquien, die Johannes mir darreichte, sich eine Türe zu mehr Ruhm und Reichtum für dieses Kloster auftat, und ich beschloss, was immer es auch sei, diese heiligen Erinnerungsstücke in goldene Gefäße schmieden zu lassen, und ihnen einen besonderen Kloster- Feiertag zu widmen.“
Bischof Rabenberg:
„War das der Grund, nicht wahr, warum du Johannes auf die Reise schicktest, ja?“
Abt Gregor:
„Ja, in der Tat. Eigentlich, so muss ich gestehen, füllte sich mein Herz in einem kurzen Moment mit Stolz, denn sollte es nun endlich mit unserem Kloster bergauf gehen, würde mein Name, als Abt des Klosters, für immer in die Annalen von St. Nepomuk eingehen, und auf goldenen Gedenktafeln werden spätere Generationen ehrfurchtsvoll vom großen Abt Pater Gregor sprechen, als den eigentlichen Wohltäter dieses bislang unbedeutenden Klosters. Doch ich verwarf sofort diesen eitlen Gedanken, der sich mir nicht ziemte, und ich beschloss, mir selbst eine Strafe von mindestens zehn Rosenkränzen dafür aufzuerlegen.“
Bischof Rabenberg:
„Du tatst gut daran, dies zu tun, nicht wahr?“
Abt Gregor:
„Doch ja, welche Anmaßung! Die Gedanken kreisten sich um meine Person, wo doch der eigentliche Beschaffer und Finder der Heiligen Reliquien vor meinen Füßen kniete, wenn auch die Stimmung zum Zeitpunkt seiner Abreise nicht so gut war, nach dieser verwirrenden und folgenschweren Geschichte, des Besuchs des päpstlichen Gesandten, Monsignore Giovanni de Casanostra.“
Bischof Rabenberg:
„Monsignore Giovanni war da, ja?“
Abt Gregor:
„Ja. Es war mir daran gelegen, dass Bruder Johannes nach diesen Aufregungen, über die ich noch zu berichten habe, eine Phase der Stille und der inneren Läuterung vollzog und schickte ihn deshalb weg. Dass jedoch darüber soviel Unheil über uns kommen würde, in das auch seine Heiligkeit, Papst Claudius verwickelt wurde, das kann allein durch die zerstörerische Macht des Teufels bewirkt worden sein, der, wie Ihr selbst wisst, umhergeht, wie ein hungriger Löwe und suchet, wen er verschlinge.“
Bischof Rabenberg:
„Ja, nicht wahr? Doch erzähle weiter, Bruder Gregor. Was geschah dann?“
Fortsetzung Bericht Abt Gregor am 16. April 1971:
„Voller Stolz stand Johannes auf und öffnete die Keksdose. Das Licht vor dem Altar war zu schwach, um all die Gegenstände sogleich zu erkennen. Ich erwartete eine oder zwei dieser klassischen Reliquien, Ihr wisst schon: Ein abgeschnittener Finger des Heiligen Sebastian oder eine abgeschnittene Zunge von St. Geronimo. Mir wäre auch ein Stein mit einem Spritzer der Muttermilch unserer Heiligen Muttergottes auf der Flucht nach Ägypten recht gewesen, oder ein Stück Vorhaut des beschnittenen Knaben Jesus. Jedoch was reichte mir Johannes da?
„Ich kann das nicht so gut erkennen“, sagte ich. „Nenne mir die Gegenstände!“
Johannes nahm einen Gegenstand nach dem anderen aus der Dose und war ganz aufgeregt vor Freude.
„Schrotkugeln von Jesus“, flüsterte er geheimnisvoll und öffnete eine Bonbonbüchse.
„Und ein Angelhaken mit Angelschnur von Gottvater persönlich. Und hier: Eine Haarspange der Mutter Maria.“
„Was?“ rief ich ungläubig auf.
„Die Mundharmonika vom heiligen Petrus, und das Feuerzeug von Luzifer.“
„Luzifer?“
„Ja, Onkel Lu, der Satan.“
War es Enttäuschung oder Wut? Ich weiß es nicht. Ich war außer mir, und ich verlor die Selbstbeherrschung.
„Du dummer, blöder Trottel!“ rief ich aus, und es tat mir in dem selben Augenblick leid, das gerufen zu haben.
Bruder Leopold, der Nachtwächter, hielt sich wieder erschreckt die Hand an den Mund.
Ich blickte in die reinen, unschuldigen Augen meines Ziehsohnes Johannes, der voll Stolz war, diese Gegenstände gebracht zu haben, aber welcher wiederum angesichts meines Wutausbruchs restlos verstört war. Für ihn waren es echte, wahrhaftige Reliquien mit einem höheren Wert, als alle Holzsplitter vom Kreuze Jesu zusammengenommen.
„Was sind das für dumme Gegenstände, du Dummkopf?“ rief ich, und ich wusste: Es war nicht meine eigene Stimme, die aus mir sprach. Es war die Stimme des Bösen. Der Ruf verhallte in den Gewölben der hohen Kirchbögen und Bruder Leopold verließ verschreckt und eilig die Kirche und schloss das Tor von außen.
„Aber Pater“, beruhigte mich Johannes mit beschwichtigender Stimme, und er kniete sich wieder vor mir nieder, die unselige Dose fest vor seiner Brust haltend.
„All diese Gegenstände!“ erklärte er. „Es sind wahre Gegenstände von Jesus, von Mutter Maria und von Gottvater persönlich.“
Johannes Stimme begann sich zu überschlagen. Er weinte, und all seine vergangenen Qualen der langen Reise brachen plötzlich in lautem Schluchzen auf, wie eine frische Wunde. Ich ergriff ihn unter den Arm, richtete ihn auf und begann, ihn zu trösten.
„Das können doch keine Reliquien sein“, erklärte ich, wie einem dummen Jungen. „Du weißt doch, wie Reliquien sind. Sie müssen von irgendwelchen Heiligen stammen, oder zweitausend Jahre alt sein.“
„Aber Reliquien können doch auch von heute stammen“, weinte Johannes. „Das hier sind echte Reliquien.“
„Angelhaken sind keine Reliquien“, sagte ich. „Ich gebe dir einige Beispiele: Die abgeschnittene Zunge unseres Klosterheiligen St. Nepomuk, die leider in Böhmen aufbewahrt wird, oder eine Schale ungeronnenen Blutes von der Heiligen Therese, oder der eigene Kopf, den St. Dionysius nach seiner Enthauptung fortgetragen hatte: Das sind Reliquien vom feinsten. Noch besser sind natürlich Reliquien, die aus der Zeit des Neuen oder des Alten Testaments aus dem Gelobten Land stammen, wie die Dornenkrone Jesu, das Grabtuch, Reste vom letzten Abendmahl, Reste von der Speisung der fünftausend, oder ein Stein, auf dem das Blut Jesu mit einem Spritzer Essig aus dem Schwamm, den die Soldaten ihm reichten vermischt ist, oder der Palmzweig, den die Tauben an die Arche Noah zurückbrachten, oder Teile vom brennenden Busch Mose. Solche Gegenstände sind Reliquien. Angelhaken sind es nicht, Schrotkugeln sind es auch nicht. Egal, von wem sie stammen, oder bei wem sie dringesteckt waren.“
Ich war außer mir, und meine Worte kamen eher laut und unbeherrscht aus meinem Munde.
„Aber diese Reliquien sind echt“, beharrte Johannes.
„Echt oder nicht echt, was macht das schon? Manchmal ist es sehr fraglich, ob Reliquien echt sind, denn niemand kann mit Bestimmtheit sagen, ob die Windeln Jesu von Aachen auch tatsächlich Originale sind. Und wenn sie echt sind, so hätten sie sich nach zweitausend Jahren doch sicherlich verkompostiert. Reliquien sind Gegenstände, an die man einfach glaubt, ohne viel danach zu fragen. Doch an Reliquien aus der heutigen Zeit, kann man nicht einfach so glauben. Basta, amen. So, und nun gehe in deine Zelle und besorge dir ein neues Gewand und neues Schuhwerk. Und morgen früh, noch vor der Messe, wirst du alle Wege vom Schnee freischaufeln. Behüt‘ dich Gott und schlafe gut.“
Johannes ging hinaus, und ich kniete mich wieder nieder und verharrte im Gebet, in der Hoffnung, von Gott einen Weg gezeigt zu bekommen. Ich war tief im Innern aufgewühlt und von Zweifel gepeinigt. Stunden vor dem Morgenanbruch hörte ich die Schneeschaufel des Bruder Johannes, die Wege vom Schnee räumen, während die anderen Brüder noch schliefen. Ab und zu drang ein leises Schluchzen Johannes durch die Kirchenfenster. Ich aber betete und dachte, ich könnte keinen Schlaf finden.
Doch ich muss eingenickt sein. Plötzlich standen im Traum Heilige vor mir: Die Heilige Therese, Sankt Nepomuk, Sankt Dionysius, Sankt Sebastian und noch viele mehr. Die Kirche war angefüllt mit Heiligen, die mich alle ansahen, ja man kann sagen: anstarrten.
„Gebt uns unsere Gliedmaßen zurück“, riefen sie.
„Was wollt Ihr?“ stammelte ich im Schlaf.
„Gebt uns unsere Gliedmaßen zurück.“
Erst dann sah ich mir die Heiligen genauer an: Sie waren alle verstümmelt und trugen Bandagen, oder liefen auf Krücken. Manche hatte keine Finger, andere keine Zungen, keine Augen, keine Füße, keine Zähne. Ich war zutiefst erschreckt und wachte auf.
Noch bevor die Dämmerung hereinbrach, rief Norbert zur Frühmesse und die treuen und gläubigen Mönche kamen zur Kirche. Ich war noch völlig verwirrt von meinem Traum und atmete schwer.
Einer der ersten Mönche, die durch die Türe kamen, war Bruder Johannes in neuer, graubrauner Kutte. Sein langer, schwarzer Bart war frisch gebürstet, die Augen und die Wangen leuchteten rot, aber er freute sich, wieder hier zu sein. Die Brüder hatten den Chorgesang zur Frühmesse angestimmt, und besonders nach dieser Nacht spürte ich, welch besonderer Quell der Kraft von den alten Melodien ausging.
„DOMINUS DIXIT AD ME: FILIUS MEUS ES TU. EGO HODIE GENUI TE. ALLELUIA ALLELUIA. IN SPLENDIDORIBUS SANCTORUM. EX UTERO ANTE LUCIFERUM GENUI TE. EX UTERO ANTE LUCIFERUM GENUI TE. ALLELUIA.“
Was soviel heißt wie: „Der Herr spricht zu mir: Mein Sohn bist du, heute zeuge ich Dich." Aus dem Propium der ersten Messe an Weihnachten von Maria Einsiedeln Psalm 2,7: und"Halleluja, Halleluja, Im Lichtglanz des Heiligtums zeuge ich Dich aus meinem Schoße vor dem Morgenstern." Aus dem Propium der ersten Messe an Weihnachten von Maria Einsiedeln Psalm 109,3
Ich wusste, dass die Brüder neugierig waren und Johannes gleich nach der Messe ausfragen würden. Dass Johannes aber diese unglückseligen Reliquien mitbrachte, sollten die Brüder noch nicht erfahren. Also ergriff ich das Wort zur Andacht.
„Liebe Brüder, wie ihr bereits gesehen habt, ist Johannes, unser lieber Bruder von seiner Reise wiedergekehrt. Wir heißen ihn hiermit herzlich willkommen und wir hoffen, dass er sich wieder wohl fühlt, in unserer Gemeinschaft. Johannes war jetzt ein halbes Jahr auf Reisen, und ich will anmerken, dass er vorher seinen Fuß nicht weiter, als einhundert Meter vor unsere Klostermauern gesetzt hatte. Er lebt in diesem Kloster, seit er ein Säugling ist. Wir dürfen also sehr gespannt sein, was er auf seiner Reise erlebte.
Allerdings will ich von vornherein unterbinden, dass Klatsch und Tratsch die Runde machen. Deshalb sollt ihr euch nicht gegenseitig mit Gerüchten verrückt machen, sondern ich allein werde euch davon berichten, wenn Johannes mir von seiner Reise erzählt hat. Lieber Bruder Leopold, alles, was du gestern bei deiner Nachtwache gesehen und gehört hast, sollst du vorerst auch für dich behalten. Ihr sollt Johannes nicht ausfragen, und Johannes soll keine Geschichten erzählen, die ich nicht vorher gehört habe. So sollt ihr Johannes so behandeln, als wäre er nicht auf dieser Reise gewesen, und als ob er die ganze Zeit über hier gewesen sei. Behandelt ihn so, wie ihr ihn immer behandelt habt.“
In diesem Moment krähte unser Hahn auf dem Hof, und eine Wolke verzog sich von der Sonne. Und das Krähen des Hahns mischte sich unter die Choräle der Mönche.
„DESCENDIT DE CAELIS DEUS VERUS, A PATRE GENITUS, INTROIVIT IN UTERUM VIRGINIS, NOBIS UT APPARERET VISIBILIS INDUTUS CARNE HUMANA PROTOPARENTE EDITA. ET EXIVIT PER CLAUSAM PORTAM, DEUS ET HOMO, LUX ET VITA, CONDITOR MUNDI“.
Was soviel heißt wie: „Vom Himmel stieg der wahre Gott, der Eingeborene vom Vater, ging ein in den Schoß der Jungfrau, uns sichtbar zu erscheinen, in menschlichem Fleisch gehüllt, das vom Stammvater den Ursprung hatte. Er trat hervor durch das verschlossene Tor, Gott und Mensch, Licht und Leben, der Schöpfer der Welt." Aus den Responsorien der Matutin an Weihnachten von Montserrat.
„Nein, Nein, Nein!“ rief da Bruder Sebastian, der Chorleiter.
„Bruder Johannes! Wir singen hier zum Lobpreis Gottes und wollen ihn nicht durch deinen Gesang anklagen und beleidigen.“
„Aber ich habe doch gar nicht gesungen“, verteidigte sich Johannes.
„Kikeriki“, drang es durchs Fenster.
„Widersprich mir nicht. Dein Gesang ist jämmerlich.“
„Es war der Hahn“, sagte Johannes.
„Schweige!“ rief Bruder Sebastian. „Du kannst nicht länger in unserem Chor mitsingen. Ich habe dir das bereits vor deiner Reise gesagt und ich sage es dir auch nach deiner Reise. Lasse dir von Vater Gregor eine niedrige Arbeit zuteilen, die deiner gerecht wird.“
Dass Bruder Sebastian meine Worte gleich so wörtlich nahm und Johannes auch tatsächlich so behandelte, wie er ihn immer behandelte, hatte ich nicht erwartet. Doch da Sebastian der Chorleiter war, musste selbst ich als Abt seine Entscheidungen akzeptieren, die die Zusammenstellung des Chores betraf. Es war nur schwer zu verstehen, dass Johannes von allen Brüdern der einzige war, der nicht im Chor mitsang, und dass er dadurch etwas von den Brüdern ausgegrenzt wurde. Andererseits stimmte es: Sein Gesang war erbärmlich. Gerade unsere Choräle waren so intoniert, dass sie getragen wurden im monotonen Gesang. Dadurch erreichten wir eine Einheit zwischen Gebet und Meditation, zwischen Stille und Gesang. Es ging nicht an, dass Johannes dabei die Choräle mit Melodien ausschmückte und Terzen- oder Quartsprünge machte, oder den Takt rhythmisch veränderte, um den monotonen Gesang aufzulockern.
Die Messe war beendet, und die Mönche schickten sich an, zum Frühstücken zu gehen. Doch ich winkte Johannes zu mir.
„Du kommst mit mir mit“, sagte ich.
Wir gingen gemeinsam hinaus und gelangten auf den frisch verschneiten Hof.
„Kikeriki“, krähte Gustl.
„Verräter!“ schimpfte Johannes.
„Ich sehe, dass du dich nicht sehr verändert hast“, sagte ich. „Du bist der Alte geblieben.“
„Oh, doch“, nickte Johannes. „Die Reise hat mich in Wirklichkeit sehr verändert.“
„Du hast viel Pein und Qualen durchgemacht?“ fragte ich.
„Oh, ja. Aber ich hatte auch sehr schöne Erlebnisse.“
„Ich möchte, dass du mir von deiner Reise berichtest.“
„Ja, Pater.“
„Komm mit in mein Büro. Ich bin schon sehr gespannt.“
„Können wir nicht vorher frühstücken, Pater?“ fragte Johannes.
„Nein“, sagte ich. „Nicht bevor ich alles über deine Reliquien weiß.“
In meinem Büro nahmen wir Platz.
„Mein Sohn“, sagte ich, „du zeigtest mir in der Nacht Reliquien, die, wie du selbst weißt, sehr umstritten sein können. Deshalb will ich mehr davon hören. Es liegt mir sehr viel daran zu erfahren, was du auf deiner Reise erlebt hast. Du hast bestimmt eine Menge gesehen, und du hast die Welt kennengelernt.“
„Für mich war es überhaupt das erste Mal, Pater, dass ich vom Kloster weg war. Aber ich hatte keine Angst. Dort draußen war es unbeschreiblich schrecklich, aber auch schön zugleich. Ich war glücklich, als ich unterwegs war, aber ich bin noch glücklicher, wieder zurück zu sein.“
„Erzähle, erzähle, was du gesehen und erlebt hast.“
„Oh, ja“, lächelte Johannes und überlegte. „Ich weiß nicht, wo ich beginnen soll. Wir haben viel gesehen.“
„Wir?“
„Ja, der Herr Jesus hat mich begleitet.“
„Ach so, ja, natürlich.“
„Es war aber anders, als sonst. Dieses Mal hat er mich wirklich begleitet.“
„Er begleitet uns doch immer auf unseren Wegen“, sagte ich.
„Aber noch nie zuvor konnte ich ihm Schrotkugeln aus seinem Hinterteil entfernen.“
„Schrot...?“
Ich war erschreckt und aufmerksam zugleich. Wollte sich Johannes der Gotteslästerung schuldig machen, oder erzählte er mir die Geschichte in seinem einfachen und kindlichen Glauben, ohne Harm und ohne böse Hintergedanken? Für mich war Johannes Seele immer wie ein offenes Buch, in dem sehr einfach zu lesen war.
Was ist Glaube? Überlegte ich mir. Ist Glaube etwas, was man glaubt zu wissen, oder ist Glaube das konkrete Wissen selbst? Wir predigen den Glauben an Gott, als wäre unser Glaube Gewissheit. Wenn ich als Gläubige glaube, dann weiß ich. Wenn ich als Wissender glaube, dann zweifle ich. Wenn ich aber als Wissender weiß, dann glaube ich.
Johannes war kein Gläubige. Er war ein Wissender. Johannes hatte einen unerschütterlichen Glauben in die Wesen des Himmels, in die Wunder der Bibel und in die Wunder aller Heiligen. Wo doch unsereins, die wir gewohnt sind, einen Tatbestand vielschichtiger zu betrachten, hier und da in Zweifel getrieben werden, ob wir auch an das glauben sollen, was wir erlebt oder gehört haben. Gerade die Wunder der Heiligen bedeuteten für mich oftmals einen Stachel der Anfechtung, wie zum Beispiel St. Georg, der einen Drachen in Libyen erschlug. Er wurde von seinen Feinden zerstückelt und überlebte selbst den Kochkessel noch sieben Jahre danach.
Der Glaube an seine Wunder setzt voraus, dass ich auch an den Drachen glauben muss, den er tötete, und dass sein zerstückelter und gekochter Leib noch sieben Jahre lang weiterleben konnte. Erst im Kampf vieler durchgebeteter Nächte und im harten Ringen um meine Zweifel, konnte mein Glaube an St. Georg wiedergefunden und gefestigt werden. Ich habe es mir abgewöhnt daran zu denken, was passierte, als St. Georg in diesen sieben Jahren danach, aus Versehen einmal in seine gekochte Hand biss, wenn es ihn einmal hungerte. Ich lernte zu glauben, ohne zu fragen.
Doch welche Gedanken hatte ich da? Noch vor wenigen Jahrhunderten konnte ich wegen solcher Gedanken als Ketzer verbrannt werden. Der Glaube ist etwas, was nicht hinterfragt werden darf, sei der Umstand des zu glaubenden auch noch so kurios und unglaubwürdig. Wir kennen die Naturgesetze von Galilei, von Newton und Darwin. Wir Menschen können die Entfernung zum Mond berechnen und Raketen in das Weltall schießen. Und welchen Platz hat die Kirche mit ihrer Anschauung der Welt und ihrer Entstehung, mit ihrer Schöpfungstheorie von Adam und Eva? Die Schöpfung im Paradies und die Benennung der Tiere durch Adam? Welchen Namen gab er dem Tyrannosaurus Rex, und welchen dem Brontosaurus? Wie nannte Adam seinen entfernten Cousin, den Neandertaler? Will ich an Adam und Eva glauben, so muss ich die Existenz des Neandertalers abstreiten. Will ich glauben, dass Gott seinen Odem in Adams Nase einblies, so muss ich leugnen, dass die Evolution den Homo Sapiens Sapiens aus einem Affenwesen herausbrachte, durch eine ständige Serie an nützlichen Mutationen.
Gewiss, es gibt Bewegungen, welche die Schöpfungsgeschichte nunmehr symbolisch betrachten und in Adam so allgemein den menschlichen Urahn als solchen lehren. Aber, das ist nicht Recht, denn die Bibel ist absolut unfehlbar. Jedes geschriebene Wort der Bibel ist wahr. Das ist ein Dogma. Also gilt die Schöpfungsgeschichte Wort für Wort. Und ich als Gläubige habe keine Wahl: Ich muss daran glauben, egal, wie logisch mir auch die Entwicklung der Darwin- Finken erscheint, die ihre Schnabelform veränderten, um in neuen Lebensnischen zu überleben. Nach Gottes Schöpfungsgeschichte ist jedoch jedes Lebewesen so von Gott geschaffen, dass es sich nicht zu verändern brauchte. Folglich gibt es nach der Bibel auch keine Evolution. Es ist oftmals besser für den Glauben, die Darwin- Finken nicht zu kennen, als sich später die Gedanken darüber selbst zu verbieten.
Johannes aber kannte solche Gedanken und Zweifel nicht. Ich beneidete ihn immer um sein unumstößliches Gottvertrauen, auch wenn ihn seine Brüder für etwas einfältig hielten.
„Du warst mit Jesus zusammen?“ fragte ich
„Ja“, antwortete er, wie selbstverständlich.
„Du meinst unseren Jesus, den Gekreuzigten?“
„Ja, genau den.“
„Und wo wart ihr?“
„Wir waren in Rom, um den Papst abzulösen.“
„Johannes! Weißt du, was du da sagst?“
„Der Papst ist doch nur der Stellvertreter Christi auf Erden“, sagte er mit Unschuldsmiene. „Außerdem wurde ich von Gottvater persönlich dazu beauftragt.“
„Du hast...“
Langsam wurde mir die Geschichte zu bunt. Zuerst diese Reliquien, die keine waren, und dann diese Anspielungen auf Jesus, den Papst und Gott. Ich spürte, wie mir die Zornesröte wieder ins Gesicht stieg. Doch ich wollte Johannes nicht erschrecken, ihn nicht einschüchtern. Wenn ich ihn jetzt anschreien würde, würde er mir die Geschichte seiner Reise vielleicht nicht mehr erzählen. Ich würde unser Vertrauensverhältnis nachhaltig stören. Also schluckte ich meinen Ärger wieder hinunter und ging zum Schein auf Johannes verrückte Geschichte ein.
„Oh, mein Gott!“ sagte ich und lächelte dabei. „Ich ahne Schreckliches. Am besten, du fängst die Geschichte von vorne an.“
„Nun, wie soll ich das bloß anstellen, Pater? Es ist so viel passiert.“
„Ganz von vorn“, sagte ich. „Ich will, dass du nichts auslässt.“
„Oh, ja, wann war das alles? Ich glaube im April, nachdem Monsignore wieder abgereist war.“
„Ja, ich hatte dich auf die Reise geschickt.“
„Es war keine gute Stimmung bei uns im Kloster. Ich glaube, da waren einige Sachen schiefgelaufen.“
„Das kann man wohl sagen“, antwortete ich bestimmt.
„Es war auch nicht die Abschiedsstimmung, wie zum Beispiel bei anderen Brüdern, wenn sie auf Reisen gingen.“
„Wir hätten dir gerne ein Lied gesungen, aber...“
„Ihr sagtet, ich solle vor einem Jahr nicht wiederkommen.“
„Ist nicht schlimm. Ich hatte dich auch nicht vor Sommerbeginn wieder erwartet. So bist du bereits nach einem halben Jahr zurückgekehrt.“
„Meine Mission war beendet. Ich hatte die Reliquien.“
„Nun gut, erzähle mir. Du bist also losgegangen.“