Windhauch und Wein - Georg Schwikart - E-Book

Windhauch und Wein E-Book

Georg Schwikart

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Beschreibung

Das Buch Kohelet (auch Prediger Salomo genannt) ist ein biblisches Werk voller praktischer und erfahrungsgesättigter Lebensweisheit. Hier wird nicht abstrakt schwadroniert. Nüchtern-sachlich beobachtet der Verfasser die Welt und zieht seine Schlüsse, verpackt in markante Sinnsprüche. Religiöse Spekulationen oder lyrische Hymnen an den Schöpfer sucht man bei ihm vergebens. Georg Schwikart sieht darin sogar die eigentliche Pointe: "Obwohl alles so ist, wie es ist, glaubt der Prediger an Gott. Gott ist da, die Welt nimmt ihren Lauf. Daraus leitet sich vernunftgemäßes Verhalten ab. Und fertig." Indem er diese alte Textsammlung mit selbsterlebten Geschichten verbindet, zeigt Schwikart, wie aktuell und lebensnah sie auch heute noch ist.

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Georg SchwikartWindhauch und Wein

Georg Schwikart

Windhauch und Wein

Zur Aktualität von Kohelet,dem Prediger Salomo

Der Umwelt zuliebe verzichten wir bei diesem Buch auf Folienverpackung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar.

1. Auflage 2021

© 2021 Echter Verlag GmbH, Würzburg

www.echter.de

Umschlag: Vogelsang Design, Jens Vogelsang, Aachen

Umschlagbild: gettyimages / Jose A. Bernat Bacete

Innengestaltung: Crossmediabureau, Gerolzhofen

E-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim, www.brocom.de

ISBN

978-3-429-05659-9

978-3-429-05171-6 (PDF)

978-3-429-06538-6 (ePub)

Inhalt

Vorwort

Quintessenz in einem Satz

Kohelet versammelt Wahrheitssucher

Nichts Neues?

Der Reiz des Krummen

Rom im November

Der mittlere Weg

Vom Segen des Vergessens

Begriff im Wandel

Wofür ist Essen da?

Einfach mal „Ich weiß es nicht“ sagen

Mittwochskind

Mein Gott, dein Gott

Der Schrei nach Gerechtigkeit

Wir atmen dieselbe Luft

Einigermaßen Anstand

Geboren sein hat einen Preis

Herr M. bittet um die Taufe

Zwei haben es besser als einer allein

Der Herr, vom Thron gestoßen

Bleiben oder gehen?

Weniger ist mehr

Noch wichtiger als ein Versprechen

Rückendeckung für die Unterdrücker?

Geld ist nichts! – So weit die Theorie

Freude im Herzen

Philosophenstammtisch

Fremdbestimmte Freiheit?

Haus der Trauer, Haus des Festes

Therapie-Empfehlung: Geduld

Früher war es besser?

Verankerung

Ich verstehe es nicht

Weder Teufel noch Engel

Was die Leute so reden

Vertrauen ist vernünftig

It’s a man’s world … and religion

Das ledige Kind

Wem gilt die Treue?

Vergänglich wie ein Schatten

Freudenlied und Zorngesang

Niemand kann nachvollziehen, was Gott auf dieser Erde tut

Unbedachte

Genießen geboten!

Keiner hat alles

Weisheit ist besser als Stärke

Niemand kann vorhersagen, was geschehen wird

Du bist der Text

Dankbarkeit als Lebenskunst

Sie will

Tage, die uns nicht gefallen

Am silbernen Faden

Wohltuende Befremdung

Worauf kommt es an?

Quellenangaben

Bibelstellenregister

Vorwort

Wenn man fröhlich sein will, bereite man ein gutes Essen, und Wein bringt Heiterkeit ins Leben. Geld macht beides möglich. (Prediger 10,19)

Die Bibel ist ein Wunderwerk! Sie strotzt nur so vor tiefgründiger Poesie, spannenden Geschichten, anregenden Predigten – und praktischer Lebensweisheit. Die Heilige Schrift umfasst eine ganze Bibliothek. Eines ihrer Werke, das vergleichsweise schmale Buch Kohelet (das auch Prediger Salomo genannt wird), bietet seit mehr als 2000 Jahren erfahrungsgesättigte Weisheit. Der Mann schwadroniert nicht abstrakt, er beobachtet die Welt und zieht seine Schlüsse. Die bringt er in markante Sinnsprüche. Nehmen wir nur den oben zitierten: Essen und Trinken sind Ausdruck von Lebensfreude. Der Realist fügt hinzu: Ohne Moos nix los.

Das heißt allerdings keineswegs, Kohelet wäre der Vertreter einer Wohlfühlphilosophie. Ganz im Gegenteil, er legt eine radikale Abrechnung mit dem religiösen Grundsatz seiner Zeit vor, der bis ins Heute hineinreicht: dass das, was wir tun, in einem unmittelbaren Zusammenhang steht zu dem, wie es uns ergeht. So ist es gerade nicht. So lautet keine göttliche Ordnung! Diese Klarheit ist erfrischend, lässt mich in ihrer Absolutheit jedoch im Regen stehen wie einen nassen Pudel.

Bei der Lektüre des Buches Kohelet stelle ich immer wieder überrascht fest: Das kenne ich! In meinem Dasein finde ich ihn bestätigt. Ich will den Prediger aber nicht für meine Weltsicht vereinnahmen, sondern auch meine Positionen von ihm infrage stellen lassen. Denn dann und wann stehen seine Ansichten (so ich sie denn überhaupt richtig verstanden habe) im krassen Gegensatz zu meinen. Der Mann lässt mich nicht kalt. Was ich an ihm so schätze: Er überkleistert die Realität nicht fromm, er hält sie aus.

Kohelet ist einer, der an Gott glaubt. Das hindert ihn nicht an einem sachlichen Blick auf die Wirklichkeit. Vielleicht ist das sogar die Pointe seines Buches: Obwohl alles so ist, wie es ist, kann er an Gott glauben. Religiöse Spekulationen oder lyrische Hymnen an den Schöpfer sucht man bei ihm vergebens. Gott ist da, die Welt nimmt ihren Lauf. Daraus leitet sich vernunftgemäßes Verhalten ab. Und fertig.

Ich will von ihm lernen. Und ich möchte seine Gedanken und Erkenntnisse mit meinem Leben verbinden. Die Bibel wird doch erst fruchtbar, wenn ich sie ernst nehme. Wenn ihre Wahrheit in meinem Dasein aufleuchtet. Ich erzähle hier wahre Geschichten, meistens etwas verfremdet, um die handelnden Personen zu schützen. Was ich erlebe, steht in einem unmittelbaren Zusammenhang zu Kohelets Weisheit. Er wurde mir zum anregenden Gesprächspartner.

In der Auseinandersetzung mit dem Prediger bin ich sowohl sein Schüler als auch sein Kritiker. Ist es anmaßend zu sagen, mit dem faszinierenden Kohelet verbindet mich Freundschaft? Ein tiefes Verständnis füreinander. Obwohl ich meine, ihn zu kennen, bleiben wir uns dennoch in einigen Punkten fremd. Wie das so ist mit guten Freunden.

Herzliche Einladung, Kohelet und mich auf den Spaziergängen durch meine Erlebnisse als Pfarrer, Schriftsteller und Zeitgenosse zu begleiten. Und die Ermutigung an die Leserinnen und Leser, es ebenso zu halten: das biblische Wort konkret auf das eigene Leben zu beziehen.

Sankt Augustin, 23. April 2021, am Welttag des Buches und Namenstag des hl. Georg

Georg Schwikart

Für kritische Durchsicht des Manuskripts danke ich aufrichtig Dr. Maria Uleer, Kurt Hägerbäumer, Prof. Dr. Axel von Dobbeler und meinem Echter-Lektor Heribert Handwerk; diese können sich zwar nicht allen meinen Ausführungen anschließen, versagten mir aber dennoch nicht ihren konstruktiven Rat.

Quintessenz in einem Satz

Was ist das Leben? – Eine schöne Frage! Jeder darf sie stellen. Jeder darf sich dazu äußern. Die Antworten sind so bunt wie die Menschen selbst. Einer hat vor langer Zeit seine Meinung knapp zusammengefasst; was er sagt, klingt ernüchternd. Die vielen Bibelausgaben übersetzen seine Worte unterschiedlich, aber die Tonlage bleibt gleich. Also, was ist das Leben?

Vergeblich und vergänglich! (Gute Nachricht)

Windhauch, Windhauch. (Einheitsübersetzung)

Es ist alles ganz eitel. (Luther)

Nichtigkeit der Nichtigkeiten! (Elberfelder)

Dunst der Dünste. (Buber/Rosenzweig)

Eh alles egal! Unwichtig! Alles für den Arsch! Das bringt es nicht, geht sowieso alles den Bach runter! (Volxbibel)

Was für ein Auftakt! Das entscheidende hebräische Wort lautet „häwäl“, es kann „flüchtig“, „sinnlos“, „absurd“ bedeuten und meint auch „Hauch“, „Dunst“ oder „nichts“. So beginnt sein Buch! „Neues Leben. Die Bibel“ (aus der im Folgenden zitiert wird) formuliert fast zu brav: „Es ist alles sinnlos und bedeutungslos.“

Ist das Nihilismus? Also die – wie der Duden sagt – „philosophische Anschauung von der Nichtigkeit, Sinnlosigkeit alles Bestehenden, des Seienden“? Eine „weltanschauliche Haltung, die alle positiven Zielsetzungen, Ideale, Werte ablehnt“? Geht es um die „völlige Verneinung aller Normen und Werte“? Aber nein, die Überlegungen des Autors finden wir ja mitten in der Heiligen Schrift.

Er denkt über die Welt nach – als glaubender Mensch! Das Wort ‚Gott‘ taucht zwar erst in Vers 13 auf, aber Gott ist die Grundlage seiner Existenz. Sein kritisches, ja vernichtendes Urteil führt ihn nicht zum Atheismus, im Gegenteil. Es bindet ihn noch mehr und existentieller an Gott.

Die Welt allerdings, in der er lebt und glaubt, die ist absurd! Da macht er sich nichts vor. Er ist ein großer Realist, hat den Mut, den Tatsachen ins Auge zu schauen.

„Es ist alles sinnlos und bedeutungslos“, sagt der Lehrer, „unnütz und bedeutungslos – ja, es ist alles völlig sinnlos.“ Was hat ein Mensch davon, wenn er sich sein Leben lang müht und plagt? Generationen kommen und gehen, doch die Erde ändert sich durch die Zeiten nicht. Die Sonne geht auf und geht unter und zieht ihre Bahn am Himmel, nur um an der gleichen Stelle wieder aufzugehen. Der Wind weht nach Süden, dann dreht er ab nach Norden, er weht hierhin und dorthin, er dreht sich und schlägt um und gelangt doch nirgendwo hin. Die Flüsse fließen ins Meer, trotzdem wird das Meer nicht voller. Das Wasser kehrt immer wieder zu den Quellen der Flüsse zurück, um dort neu zu entspringen. Alles Reden ist mühselig. Nichts kann der Mensch vollständig in Worte fassen. Das Auge kann sich niemals satt sehen und das Ohr kann nie genug hören. (Prediger 1,2–8)

Hier analysiert jemand trocken seine Existenz. Ohne die Realität an großen Idealen glattzuschleifen. Er schwärmt nicht von der phantastischen Schöpfung, wie wunderbar und herrlich alles sei. Er fragt provozierend: Wofür das alles?

Wie gut, dass sein Buch in der Bibel zu finden ist. Manchem Gläubigen wird der bittere Tonfall unangenehm aufstoßen. Dieses Werk verhindert die bigotte Überheblichkeit, dass es für jene, die an Gott glauben, keine Schwierigkeiten mehr gäbe. Hier wird der Gegenbeweis angetreten. Vielleicht wirkt sogar auch alles nur noch schlimmer, weil die Wirklichkeit so schwer mit dem Vertrauen auf den guten Gott vereinbar ist.

Im Jahr 1652 reimte Michael Franck 13 Strophen eines Liedes, von dem acht im evangelischen Gesangbuch zu finden sind: „Ach wie flüchtig, / Ach wie nichtig / Ist der Menschen Leben! / Wie ein NEBEL bald / entstehet / Und auch wieder bald vergehet, / So ist unser LEBEN, sehet!“ Der „liebe Gott“ kommt nicht drin vor. Die Nichtigkeit allen Strebens wird ausführlich beschrieben. „Leben“ wird rückwärts gelesen zu „Nebel“, zu Dunst. Die Anlehnung des Liederdichters an unseren Denker aus der Hebräischen Bibel, dem Alten Testament, ist offensichtlich.

„Es ist alles sinnlos und bedeutungslos.“ Ein hartes Wort. Aber das darf man so sehen, das darf man so sagen. Gut biblisch, gut christlich. Wie beruhigend, dass einer ausspricht, was ich kaum zu denken wage. Ich fühle wie er, halte es aber kaum aus. Deswegen möchte ich mich mit seiner Ansicht auseinandersetzen.

Ich danke ihm – und ich danke Gott, dass er uns diesen Autor geschenkt hat: Kohelet, den Prediger.

Kohelet versammelt Wahrheitssucher

Wer ist dieser Mann, dessen zugespitzte Gedanken es geschafft haben, in die Bibel aufgenommen zu werden? Wir wissen kaum etwas über ihn. Sein Name ist kein Name, sondern eine Bezeichnung: Kohelet bedeutet etwa „Versammler“ oder „Anführer der Versammlung“ und steht für jemanden, der in einer Versammlung seine Lehre vorträgt. So wurde sein Werk auch als das Buch „Prediger“ bekannt. Das Buch Kohelet selbst gibt vor, sein Autor sei Salomo:

Dies sind die Worte des Lehrers, des Sohnes des Königs David, der in Jerusalem herrschte (Prediger 1,1). Ich, der Lehrer, war einst König in Israel und regierte in Jerusalem (Prediger 1,12). Ich sagte mir: „Es ist so: Ich bin weiser als alle Könige, die vor mir in Jerusalem regiert haben; ich habe viele Erfahrungen gesammelt und eine Fülle an Weisheit und Erkenntnis erworben“ (Prediger 1,16). Der Lehrer war ein weiser Mann und er gab seine Erkenntnisse an die Menschen weiter. Er vertiefte sich in die Lehre und forschte darin. Auch verfasste er viele Sprüche. Er versuchte, einprägsame Worte zu finden und nur das zu schreiben, was der Wahrheit entspricht (Prediger 12,9–10).

Darüber sind sich die Bibelwissenschaftler allerdings einig: Das Buch Kohelet wurde erst 500 Jahre nach der Zeit des Salomo verfasst; das kann man an Merkmalen seiner hebräischen Sprache feststellen. Wahrscheinlich ist das Werk im 3. Jahrhundert vor Christus entstanden. Sein Autor war zwar nicht jener König der legendären Weisheit, aber ein überaus intelligenter und origineller Denker. Er kannte sich mit der jüdischen Weltanschauung aus, aber auch mit griechischer Philosophie. Zudem beherrschte er die Kunst der Dichtung.

Kohelet scheint bei seiner Leserschaft das Wissen um jüdische Glaubensgrundlagen vorauszusetzen, denn die traditionellen Inhalte streift er höchstens. Wie ein Vorläufer der Reformation ignoriert er weitgehend den Komplex religiöser Opfer und den Kult. Er bringt einen ganz neuen Ton in die biblische Erbauungsliteratur, behauptet allerdings, damit verschaffe er nur dem eigentlich Alten und Unwandelbaren wieder Geltung.

Ob der Mann verheiratet war oder nicht, welchen Beruf und welche Stellung er innehatte, wo er lebte (Jerusalem oder vielleicht Alexandrien?) – all das wissen wir nicht. Sein Buch jedoch gehörte bald schon zum Katalog der Schriften, die man als Gebildeter des Volkes Israel gelesen haben musste. Sogar in den Höhlen von Qumran fand man zwei Kohelet-Fragmente.

Fachleute diskutieren, ob der Prediger sich an Positionen seiner Zeit abgearbeitet hat oder jüdisches mit griechischem Denken verbinden wollte. Sein Schwanengesang auf die israelische Weisheit bleibt brisant. 1759 wurde sein Buch in Paris als ketzerisches Werk verbrannt; man hatte den Übersetzer Voltaire für den Autor gehalten.

An der philosophiehistorischen Debatte kann ich mich mangels Wissen nicht beteiligen. Ich lese Kohelet schlicht als Botschaft an mich heute. Ich fühle mich von seiner Art, die Welt zu betrachten und zu reflektieren, unmittelbar angesprochen. Er ist ein Realist und dabei ein glaubender Mensch. Seine Religiosität wirkt so anders als gewohnt. Das hat viele fromme Kritiker über die Jahrtausende gegen ihn aufgebracht. Wie wichtig er bis heute ist, drückt der Theologe Norbert Lohfink aus: „Für manchen modernen Agnostiker ist Kohelet die letzte Brücke zur Bibel. Es gibt heute Christen, für die ist Kohelet die verrucht-beliebte Hintertür, durch die sie jene skeptisch-melancholischen Empfindungen ins Bewusstsein einlassen können, denen am Haupteingang, wo Tugendpreis und Jenseitsglaube auf dem Namensschild stehen, der Zugang nicht gestattet würde.“

Die Auseinandersetzung mit Kohelet ist ein Vergnügen: Mal schenkt er mir neue Ideen und ungewohnte Perspektiven. Mal unterstreicht er das, was ich immer schon dachte, wofür ich aber keine Worte fand. Mal bringt er mich auf die Palme, weil ich seine Ansichten so abstrus finde und ablehne. Aber sich mit diesem Weisheitslehrer auseinanderzusetzen ist immer lohnenswert. Der Dichter-Pfarrer Kurt Marti kommentierte: „Im Büchlein Kohelet sind Passagen zu finden, die einem tief ‚einfahren‘ können, weshalb ich mir erlaubte, vom ‚Kohelet Blues‘ zu sprechen. […] Heute noch können sie uns vom Wahn der eigenen Wichtigkeit oder gar Unsterblichkeit befreien.“

Es gibt kein „Evangelium nach Kohelet“; der Mann ist weder Prophet noch Messias – aber eine herausragende Stimme der Heiligen Schrift. Was er uns bis in die Gegenwart hinein zu sagen hat, das konfrontiere ich hier mit meiner Lebenswirklichkeit. Nicht nur als Pfarrer oder Religionswissenschaftler, sondern als normaler Christ. Als einer, der an Gott glaubt. Wie Kohelet. Nur anders.

Da kommt etwas zum Klingen. Denn ihm gelang es tatsächlich, „einprägsame Worte zu finden“. Ob alles, was er schrieb, „der Wahrheit entspricht“ – das zu beurteilen maße ich mir nicht an. Die Wahrheit ist noch einmal größer als alles, was wir zu denken und aufzuschreiben vermögen. Sie aber zu suchen und um sie zu ringen, dafür sollte uns keine Mühe zu anstrengend sein. Dafür „sammle“ ich mich gern und bedenke das Buch des Versammlers.

Nichts Neues?

Unsere Tochter ist eine junge Frau, die, wie das für ihr Alter üblich ist, Freude hat an neuer Bekleidung. Weil es so mühsam ist, in der Stadt von Laden zu Laden zu laufen, wird im Internet bestellt. Unsere Tochter wohnt schon lange nicht mehr zu Hause, aber die Pakete kommen ins Elternhaus; wir sind ja immer da … Die Tochter packt aus, probiert an, zu klein, zu groß, die Farbe anders als auf der Bestellseite, der Stoff fühlt sich nicht gut an. Egal, zurück in den Karton. Und ich darf dann die Rücksendungen zur Post bringen.

Natürlich passt das eine oder andere neue Teil doch und bereitet Freude. Aber wie lange ist ein neues Kleid neu? Wann ist der Reiz des Neuen verflogen? Die neue Tapete ist irgendwann auch alt. Wir suchen das Neue, weil wir die Abwechslung lieben: neue Speisen, neue Reiseziele, neue Filme. Wir wollen neue Leute kennenlernen.

Zeitungen und Nachrichtensendungen leben von Neuigkeiten. Der amerikanische Literaturnobelpreisträger William Faulkner behauptet hingegen: „Es ereignet sich nichts Neues. Es sind immer dieselben alten Geschichten, die von immer neuen Menschen erlebt werden.“ Vielleicht ist er von sich aus auf diese Erkenntnis gekommen, doch neu ist sie nicht, denn schon Kohelet sagt das Gleiche:

Was einmal gewesen ist, kommt immer wieder, und was einmal getan wurde, wird immer wieder getan. Es gibt nichts Neues unter der Sonne. Gibt es eigentlich irgendetwas, von dem man sagen könnte: „So etwas gab es noch nie!“? Nein, alles gab es schon irgendwann einmal – in längst vergangenen Zeiten. Wir haben nur vergessen, was damals geschehen ist. Und in einigen Jahren wird man sich nicht mehr an das erinnern, was wir jetzt tun. (Prediger 1,9–11)

Natürlich wiederholen sich Biografien. Von der Geburt bis zum Tod ist die Variationsbreite der Lebensläufe auf der Erde zwar unendlich groß, aber Parallelen gibt es dann doch. Kindheit, Schule, Beruf, Partnerschaft, Familie, Alter – das alles ist nicht neu. Nur für den Einzelnen ist es jeweils eine neue Erfahrung.

Gibt es in der Menschheitsgeschichte etwas Neues? Läuft da nicht ein ewig gleicher Prozess von Werden und Vergehen ab? Kulturen entstehen und verschwinden wieder. Kriege und Katastrophen vernichten alles, aus den Trümmern wächst Neues. Das Neue aber bleibt nicht neu. Die Erkenntnis, dass sich alles verändert, ist es auch nicht.

Und doch! Der christliche Glaube tritt mit diesem ungeheuren Anspruch auf: Da ist etwas wirklich Neues passiert. Das Christentum selbst wird in der Apostelgeschichte als „der neue Weg“ bezeichnet: „Saulus verfolgte immer noch die Jünger des Herrn und drohte ihnen mit Gefängnis und Hinrichtung. Er ging zum Obersten Priester und bat um eine schriftliche Vollmacht für die Synagogen in Damaskus. Dort wollte er die Anhänger des neuen Weges aufspüren. Er wollte sie, Männer wie Frauen, festnehmen und nach Jerusalem bringen“ (Apostelgeschichte 9,1–2).

Ironie der Geschichte oder, wie ich besser sagen sollte, Wirken des Heiligen Geistes: Aus Saulus wird Paulus, aus dem Verfolger der größte Missionar. Paulus ist den neuen Weg gegangen und hilft bis heute Menschen, auf diesem Weg voranzukommen. Paulus erfuhr eine dramatische Lebenswende durch seine Begegnung mit Jesus Christus, sein Leben wurde absolut neu!

Was Kohelet dazu gesagt hätte? Vielleicht: „Das kann ich mir nicht vorstellen.“ Das meint meine Tochter auch schon mal. Ich reagiere dann ziemlich belehrend: „Es gibt Dinge, die können wir uns nicht vorstellen – und sie geschehen doch.“

Der Reiz des Krummen

Elisabeth ist erfahrene Ärztin in einem Klinikum, bei Patienten und Kollegen gleichermaßen geschätzt. Als Mitglied der Ethik-Kommission berät sie in komplizierten Fällen, was medizinisch angemessen und menschlich vertretbar ist. Elisabeth sieht nicht nur die Erkrankung, sondern den ganzen Menschen in seiner sozialen Wirklichkeit. In ihrer eng bemessenen Freizeit liest sie viel, um das Mysterium Mensch besser zu verstehen. Sie hält zahlreiche soziale Kontakte aufrecht und bleibt mit ihrer Kirchengemeinde in Verbindung, denn sie empfindet das Leben als Geschenk Gottes. Elisabeth ist verheiratet, hat zwei erwachsene Kinder und führt eine zufriedene bürgerliche Existenz. Auf einmal verliebt sie sich in den Medizinstudenten Robert. Eine amour fou!

Ihre moralischen Skrupel wühlen sie auf. Doch das Abenteuerliche an dieser geheimen Beziehung erfüllt Elisabeth mit Energie und Freude. Sie genießt Zärtlichkeit und Sexualität, wie sie sie nie zuvor in ihrer Ehe erlebt hat. Die unbeschreibliche Nähe zu ihrem Liebhaber taucht ihr ganzes Dasein in ein neues Licht.

Ich bemühte mich, mithilfe meines Verstandes die Dinge zu erforschen und zu erkunden. All mein Streben galt der Weisheit, denn mit ihrer Hilfe wollte ich ergründen, was in der Welt geschieht: Es ist eine mühsame Arbeit, und Gott hat sie den Menschen auferlegt, damit sie sich damit quälen. Ich habe die Menschen bei ihrem täglichen Tun beobachtet. Es ist alles sinnlos und gleicht dem Versuch, den Wind einzufangen. Was krumm ist, kann nicht gerade werden, und was nicht vorhanden ist, kann auch nicht gezählt werden. (Prediger 1,13–15)

Lange habe ich mit Elisabeth zusammengesessen und zugehört. Sie, die so viel mit Hilfe ihres Verstandes erforscht und erkundet hat, fühlt sich von etwas überwältigt, was fern ihrer Vorstellungskraft lag. Die Wucht der Emotionen scheint sie – die doch in so gewohnten und sicheren Bahnen zu laufen schien – aus der Spur zu werfen. Sie will verstehen, was da geschieht, in ihrer kleinen Welt, die auf einmal kopfsteht. Ihren Mann zu verlassen steht nicht zur Debatte, ebenso wenig alles aufzugeben, was sie sich aufgebaut hat. Nur wenige wissen von ihrer Situation.

Ihr auffallend jüngerer Geliebter drängt sie nicht zu einer Entscheidung. Robert ist in einem anderen Milieu zuhause als Elisabeth, bevorzugt andere Freizeitaktivitäten, betrinkt sich schon mal und hat einen anderen Tag-Nacht-Rhythmus als sie. Er lebt ein anderes Leben. Er sieht gut aus und könnte viele Frauen seines Alters haben. Aber er liebt Elisabeth. Er zeigt sich ihr gegenüber schamlos, ohne Scham, in einer Vertrautheit, die Elisabeth fasziniert. Diese Leidenschaft.

Das alles zu begreifen gelingt beiden nicht, was für Robert kein Problem darstellt, wohl aber für Elisabeth. Die Situation quält sie. Die erfahrene Ärztin kennt sich selbst nicht wieder. Was sind das für romantische, animalische, egoistische Anwandlungen, die sich da ihrer bemächtigen? Muss sie sich schämen? Sündigt sie gegen Gott? Gegen ihren Mann, der nichts ahnt … oder doch? Die Lust zwischen beiden kühlte ziemlich ab in den letzten Jahren. Vielleicht schweigt er in stillem Einverständnis? – Diese Fragen nagen an ihr.

Was Elisabeth mir offenbart, beschließt sie mit dem Satz: „Es ist doch alles sinnlos, was da läuft!“

Ist Sinn hier die passende Kategorie? Ihr wird etwas gefehlt haben, was sie nun genießt. Allerdings hat dieser Genuss seinen Preis. Selbstverständlich ist ihr bewusst, diese Geschichte wird nicht ewig dauern. Doch jetzt prägt sie ihre Realität. Das Verhältnis mit Robert ist nichts für die Ewigkeit. Es ist vergänglich, doch jetzt schön. Und problematisch. Zumal für eine Frau, die ihr Leben – wie sie sagt – in Gottes Hand gelegt hat.

Kohelet kommentiert: Es bleibt krumm und kann nicht gerade werden. Doch Paul Claudel tröstete: „Gott schreibt auf krummen Linien gerade.“

Rom im November

Sie gleicht einer Verführerin, für die man alle heiligen Grundsätze aufzugeben bereit ist: Rom betört! Ich bin der Stadt hörig, folge mindestens einmal im Jahr ihrem Lockruf und frage mich dann jedes Mal, was ich in diesem lauten, teuren und schmutzigen Moloch suche. Immer mich selbst.

In jedem Monat war ich schon da, in glühender Hitze und im Schnee (dem Rom hilflos ausgeliefert scheint). Ohne Lieblichkeit zeigt sich Rom im November. Das Wetter trüb, zum Draußen-Sitzen zu kühl, auch das warme Licht fehlt, das die Ewige Stadt in ihren unvergleichlichen Glanz hüllt.

Rom im November – das könnte auch als poetische Umschreibung dienen für den Zustand jener Religion, die sich nach der Metropole benennt. Die römisch-katholische Kirche möchte den Eindruck erwecken, alles sei ganz wunderbar und laufe prima wie immer. Der Prunk lässt kaum vermuten, dass sich diese größte Glaubensgemeinschaft der Welt in einer schweren Krise befindet. In Deutschland ist das allerdings sehr offensichtlich.

Die Veränderungsprozesse innerhalb der katholischen Kirche betrachte ich aus einer heilsamen Distanz. Ich leide mit den katholischen Schwestern und Brüdern unter ausbleibenden Reformen. Das II. Vatikanische Konzil ließ von einer anderen Kirche träumen. Doch die Bewegung erlahmte wieder in den letzten Jahrzehnten. Unter Papst Franziskus hat zwar ein kirchlicher Klimawandel eingesetzt, man darf über vieles diskutieren. Nur, substantielle Fortschritte sind nicht wahrnehmbar. Eigentlich ist das nun wirklich nicht mein Thema. Allein, die fortschreitende Entfremdung meiner katholischen Familienangehörigen und Freunde von ihrer Institution bedrückt auch mich.

Sich als Nicht-Katholik klammheimlich an den Schwierigkeiten der römischen Variante zu ergötzen wäre dumm. Von einer starken und lebendigen katholischen Kirche profitieren auch Protestanten und Orthodoxe.

Ich versuchte auch zu verstehen, wo der Unterschied zwischen Weisheit und Dummheit liegt. Aber ich begriff: Auch diese Mühe ist so sinnlos wie der Versuch, den Wind einzufangen. Denn je größer die Weisheit ist, desto größer ist auch die Mutlosigkeit, und je größer die Erkenntnis wird, umso mehr steigert sich auch die Enttäuschung. (Prediger 1,17–18)

Elmar, ein katholischer Diakon, verheiratet und Vater zweier Kinder, gehört durch sein Amt zur kirchlichen Hierarchie. Er ist ein sympathischer Offizieller seiner Kirche: kommunikationsfreudig, intelligent, engagiert und von tiefer Frömmigkeit. Der Mann ist beliebt.

Dann passiert etwas, das einfach nicht vorgesehen ist. Elmar verliebt sich in eine andere Frau. Die Ehe wird geschieden, und da er mit seiner Freundin zusammenlebt, muss er sein Amt ruhen lassen. Die Ehe wird nach einigen Jahren annulliert. Heißt in der Lesart seiner Kirche: Diese Ehe hat nie bestanden. (Die Kinder behalten allerdings den Status „ehelich“.) Nun kann Elmar seine Freundin heiraten und seinen Dienst als Diakon wieder aufnehmen, die Kirche braucht Leute wie ihn. … Zu früh gefreut! Da seine erste Ehe nie bestand, ist er unverheiratet Diakon geworden. Wer verheiratet geweiht wird, darf verheiratet bleiben. Wer ledig Diakon wird, muss den Zölibat versprechen. Elmar hat sich also zu entscheiden: sein Diakonenamt wieder aufzunehmen oder die Ehe mit seiner neuen Liebe einzugehen.

Storys dieser Art erzähle ich ohne Schadenfreude, sondern mit großem Bedauern für Elmar und für seine Kirche. Die bringt sich aufgrund ihrer speziellen Rechtsauffassung um gute Leute, die sie den Gläubigen vorenthält. Wie Elmar berichten mir auch andere Amts- und Funktionsträger tief bedrückt vom Leiden an ihrer Institution. Ihre detaillierte Kenntnis der Realität steigert ihre Enttäuschung. Sie sehen Stagnation, ja Rückschritt. Sie nehmen eine Verweigerung der Wirklichkeit wahr, ein Versagen aufrichtiger Kommunikation. Es liegt dann (ausgerechnet) an mir, sie zu trösten und zu ermutigen durchzuhalten.

Der Katholizismus verdient eine differenzierte Betrachtung. Unter dem Begriff „Katholische Kirche“ wird ein buntes Sammelsurium an Kirchen und Gemeinschaften, Theologien und Liturgien, Kulturen und Philosophien zusammengefasst. Diese Buntheit hat etwas Faszinierendes. Damit dieses hochkomplexe Gebilde irgendwie zusammengehalten wird, drängt die Kirchenleitung auf die Einhaltung bestimmter Regeln, die dem Kirchenvolk oft genug abstrus vorkommen.