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Der Held des 20. Jahrhunderts: Er hat Hitler aufgehalten Unter den herausragenden Politikern des 20. Jahrhunderts ist Churchill der schillerndste. Hollywood hat den Adeligen mit der Zigarre längst zu einer Film- und Heldenfigur überhöht. Seine Sätze, dass er etwa »außer Blut, Schweiß und Tränen« nichts zu bieten habe, sind geflügelte Worte. Churchill gilt als einer der größten Redner der Geschichte, hat seinen aufwendigen Lebensunterhalt als Schriftsteller und Journalist bestritten und wurde mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. Er galt in den dreißiger Jahren als politisch erledigt, doch da er unermüdlich vor der Bedrohung durch Deutschland gewarnt hat, wurde er über Nacht Premierminister während deutsche Truppen in Frankreich einmarschierten und war Hitlers härtester Gegner.
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Unter den herausragenden Politikern des 20. Jahrhunderts ist Churchill der schillerndste. Hollywood hat den Adeligen mit der Zigarre längst zu einer Film- und Heldenfigur überhöht. Seine Sätze wie etwa der, dass er »außer Blut, Schweiß und Tränen« nichts zu bieten habe, sind geflügelte Worte. Churchill war einer der größten Redner der Geschichte. Seinen aufwendigen Lebensunterhalt hat er als Schriftsteller und Journalist bestritten und wurde mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. Er galt in den 1930er Jahren als politisch erledigt, doch da er unermüdlich vor der Bedrohung durch Deutschland gewarnt hat, wurde er über Nacht Premierminister, während deutsche Truppen in Frankreich einmarschierten. Er war Hitlers härtester Gegner.
Diese so kundige wie unterhaltsame Biographie bettet Winston Churchill in seine Zeit ein, gibt ein farbiges Panorama der englischen Oberschicht, zeichnet nüchtern die Kolonialkriege um 1900 und Churchills Lust auf Heldentum und Geltung. Franziska Augstein schildert die britische Innenpolitik und die sich wandelnde Stellung Großbritanniens im internationalen Gefüge zwischen 1874 und 1965. Dieses grandiose Porträt des Menschen und seiner Zeit ist literarisches Bildungsfernsehen im besten Sinne.
Franziska Augstein
WINSTON CHURCHILL
Biographie
To the memory of Professor John Burrow
Vorwort
1. Kapitel Eine Familie, ihr Haus und ihr Land
Die Eltern: Sturm der Liebe~Die oligarchische Demokratie~Lord Randolph Churchill, der Papa~School Days: Früchtchen für das Empire
2. Kapitel Ehrgeiz und Vorlieben: Das Kriegshandwerk
Militärische Schulung~Ausflug ins Gefecht – Kuba~Beschäftigungen in Indien~Religionsfragen~Omdurman – Die letzte große britische Kavallerieattacke~Das »splendide Spiel« geht weiter: Südafrika
3. Kapitel Das große Pfauenrad: Einstieg in die Politik
Wahlkämpfe und Wahlversprechen~Die Mobilisierung der englischen Sprache~Churchill verlässt das sinkende Schiff~Rassefragen~Whitehall, der Maschinenraum des Empire & Churchills Sozialpolitik~Störende Elemente: Die Iren und die Suffragetten
4. Kapitel Die Familie: Pug und Cat und ihre Kinder
Clementine~Die Kinder: Puppy-Kitten, Chumbolly, Bumblebee, Duckadilly und Mary~Diana, die Unglückliche~Sarah, die Tänzerin~Randolph, der Nichtsnutz~Mary, die Registratorin
5. Kapitel Der Aufmarsch: Die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg
Churchill als Innenminister~Großbritanniens Sicht auf die Welt~Churchills A und O: das Empire~Die Weltmeere – Britannia rule the waves!~Churchill und »The Kaiser«, die Royal Navy und die Hochseeflotte
6. Kapitel Churchills Niederlagen 1914 und 1915
Der »Amateur« im Marineministerium~Das Desaster bei Antwerpen & die Erfindung neuer Waffen~Churchill und die Wissenschaften~Churchills »Zirkus« und seine »Privatarmee«~Das Desaster von Gallipoli
7. Kapitel Churchills »Schwarzer Hund« und andere Begleiter
»Gelegentlich deprimiert«~Lesen und malen~Fünf Monate an der Front~Guter oder schlechter Umgang
8. Kapitel Der Krieg und sein Ende– und was nun?
Asquiths Sturz – Churchills Aufstieg~Wider den Bolschewismus~Der Schuldenberg~Der Duce~Chartwell – das Refugium
9. Kapitel Die 1930er Jahre: In der Wüste
Eine Reise nach Deutschland~Faschismus in EnglandGandhi, der »halb nackte Fakir«~Der Duce will ein Imperium~Appeasement~Kotau vor Franco~Der König und Mrs.Simpson
10. Kapitel Appeasement und der Beginn des Zweiten Weltkriegs
Hitler fühlt sich enttäuscht~Mit Hut und Regenschirm: Neville Chamberlain~Der Krieg beginnt~»Winston ist wieder da«~Der Blitzkrieg und Churchills Blitzkarriere
11. Kapitel Krieg in Frankreich und England
Der »einzelgängerische Elefant«~Heroische Logistik: Dünkirchen~Die Luftschlacht um England~Der General: Charles de Gaulle~Von der »Spannung zwischen Autobiographie und Historie«: eine Anmerkung
12. Kapitel Britannien in Bedrängnis
»Ungentlemanly Warfare«~Das Leih-und-Pacht-Gesetz~Roosevelt: die Greta Garbo im Weißen Haus~Nebenkriegsschauplätze: »der weiche Bauch des Krokodils«
13. Kapitel Gemeinsam mit der Sowjetunion
Stalin – der Paranoiker~1942 – Annus horribilis~Stalin – »Uncle Joe«~Stalingrad und die Schlacht am Kursker Bogen
14. Kapitel Der Weg zum Sieg
Blumen in Casablanca~Missgelauntheit in Washington, Misstrauen in Quebec~Stalin in Teheran~D-Day – die Invasion in der Normandie~Der Bombenkrieg in Europa~Die Konzentrationslager~Planungen für die Nachkriegsordnung~»Little Boy« und »Fat Man«
15. Kapitel Die Nachkriegsunordnung
Das schwierige Paar: Wirtschafts- und Sozialpolitik~Auf dem internationalen Parkett~Das ungefüge Gebilde: Europa~Von der Korrektur der Geschichte~Eine neue Regierung und neue Zeiten~Churchills Lust und Churchills Tragik
16. Kapitel Krisen, Kräche, Kalamitäten: die 1950er Jahre
Der Forsche und der Feine: Churchill und Eden~Anthony Eden und das Suezabenteuer~Das Empire und/oder Europa~Konrad Adenauer, der letzte Karolinger
17. Kapitel Tod und Verklärung
Die Apotheose zu Lebzeiten~Das Ende – »ein Triumph«~In Wirklichkeit, doch besser noch im Film~Das hässliche Zusammenspiel: Rassismus und das Empire~Ansätze der Entzauberung~Coda
Dank
Anhang
Anmerkungen
Literatur
Personenregister
Winston Churchill mit 24, in der Uniform eines Offiziers des South African Light Horse Regiments, 1899. Den Draufgänger sieht man dem jungen Mann auf diesem Bild gar nicht an.
Winston Churchill war großartig. Er war großartig darin, seine Meinung zu ändern. Er war großartig in seiner Sprunghaftigkeit, in seiner Ungeduld und in seinem Opportunismus. Er war großartig in der Art und Weise, seinen persönlichen politischen Vorteil zu suchen und zu finden. Er war ein guter und ein mutiger Reiter, und eine Partei war für ihn wie ein Pferd, das ihn zu seinen Posten und Positionen trug. Daher sprang er aus dem Sattel der Konservativen in den der Liberalen und wieder zurück in den der Konservativen. So kam er, der opportunistische Karrierist, in fast alle Regierungsämter, die sein Land zu vergeben hatte. Und ausgerechnet dieser Mann war es, der sich als britischer Premierminister im Zweiten Weltkrieg den Ruf erwarb, Tugenden zu personifizieren, die ein Durchhalten seines Landes möglich machten: Beständigkeit, Unbeirrbarkeit, Stehvermögen, Zielstrebigkeit, Entschlossenheit, mit einem Wort: Verlässlichkeit.
Amt und Würden waren Churchill wichtig, sie verschafften ihm Einfluss und Diäten. Er lebte immer über seine Verhältnisse. Anstatt zu sparen, entwickelte er sich zu einem der produktivsten und bestbezahlten Journalisten und Schriftsteller seiner Zeit. Darauf war er stolz. Gegenüber den verhassten Sozialisten gab er gern damit an, dass er kein Ausbeuter sei, sondern sein Auskommen mit der eigenen Arbeit verdiene.
Geld verdienen: Das war nötig. Obgleich Churchill einem Herzogsgeschlecht entstammte, hatte sein Vater nichts zu vererben. Randolph Churchill war der zweitgeborene Sohn des 7.Herzogs von Marlborough. Die britischen Erbfolgeregeln wollten es, dass er kein Schloss, keine Ländereien und keinen Titel besaß. Deshalb musste sein Sohn Winston selbst für sich sorgen. Er besaß nicht viel mehr als eine hohe Meinung von seiner Familie. Als er im Internat regelmäßig blutig geprügelt wurde, blieb er standhaft, weil er sich seiner Abkunft von dem seinerzeit berühmten Feldherrn John Churchill bewusst war, der für seine Verdienste zum 1. Herzog von Marlborough erhoben wurde. Mit diesem Selbstbewusstsein versehen, reüssierte der junge Winston Churchill beim Militär und im Journalismus. Einmal sagte er: »Als ich 25 Jahre alt war, hatte ich schon so viele Bücher geschrieben wie Moses [fünf im Alten Testament], und seither bemühe ich mich, nicht nachzulassen.«1
So bemerkenswert sein Selbstwertgefühl, so gut bestückt war das Sortiment seiner Unarten: sein aufbrausendes Temperament, sein bärbeißiges, nicht selten ordinäres Gehabe, seine Freude daran, nur sich selbst reden zu hören, und sein unerschütterlicher Glaube, das meiste am besten zu wissen. Mit diesen Eigenarten war er mehr als sechzig Jahre lang Mitglied des britischen Unterhauses, von 1901 bis 1964 – egozentrisch und wortgewaltig. Mit seiner Rhetorik berauschte er sein Publikum ebenso wie sich selbst.
Er war ein Arbeitstier und ein Genießer, Zigarren und dem Alkohol war er mit Gusto zugetan. Ein Frauenheld war er nicht. Clementine Hozier, die er 1908 heiratete, blieb er treu bis ans Ende seines Lebens. Befriedigende Erregung fand er im Krieg, sei es in Kolonialkriegen, sei es im Ersten, sei es im Zweiten Weltkrieg. Einer Freundin erzählte er im Jahr 1915, als er Marineminister war: »Ich glaube, ein Fluch muss auf mir liegen – denn ich liebe diesen Krieg. Ich weiß, es ist ungeheuerlich & scheußlich, Tausende von einer Stunde auf die nächste in den Tod zu schicken – & ich kann mir nicht helfen – ich genieße jede Sekunde.«2 Churchill wusste, wie monströs das war. Und doch: Einerlei wie er an einem Krieg beteiligt war, es gefiel ihm. In seinen jüngeren Jahren ritt er zu Pferd in die Schlacht. Später drängte er dem Kabinett, den Generalen und Admiralen seine strategischen Vorstellungen auf. Und er hielt sich für einen ausgezeichneten Strategen – hatte er doch als Junge die Schlachten seines Vorfahren, des 1.Herzogs von Marlborough, mit Heerscharen von Zinnsoldaten nachgestellt. Die meiste Zeit seines Lebens verbrachte er als Politiker, in seiner Phantasie aber sah er sich als General, als Anführer einer stolzen Kavallerie. Zu seinem großen Leidwesen kam er im Feld nicht über die Position eines Bataillonskommandeurs hinaus. Wenn er den Obstsalat von Orden an seiner Brust betrachtete, fiel ihm vor allem die gähnende Lücke auf: Das Victoria-Kreuz für herausragende Tapferkeit hat er nie erhalten.
Nicht nur hielt er sich für einen exzellenten Strategen, zudem meinte er der Einzige zu sein, der jeweils das große Ganze im Blick hatte. Bezogen auf das globale Große war das nicht ganz falsch, allerdings war das Große für ihn auch das Kleine: Als Marineminister und als Kriegspremier legte er etwas nachgerade Hausfrauliches an den Tag und beschäftigte sich mit kleinsten Details zum Beispiel bei der Beschaffung; er verzettelte sich in Fragen, die wahrlich nicht von London aus entschieden werden konnten. Wenn seine Strategien scheiterten, und sie scheiterten oft, suchte er die Schuld daran bei allen anderen, nur nicht bei sich selbst. Ein Hasardeur war er freilich nicht, denn nicht dem günstigen Schicksal vertraute der selbstgewisse Mann, sondern dem eigenen Können.
Beliebt war er zu fast allen Zeiten bei den wenigsten seiner Parlamentskollegen. Aber an seiner überragenden rhetorischen Begabung kamen weder die Fraktionschefs noch die Premierminister vorbei. Wenn Churchill im Unterhaus jemanden aufs Korn nahm, dann fand er oftmals Worte, die das ganze Haus zum Lachen brachten – das Opfer mochte noch so gute Argumente haben, es war entwaffnet. Diese Gabe half ihm übrigens auch dabei, die Moral der Briten im Kampf gegen Nazi-Deutschland zu bestärken. Wenn er in der BBC gegen Hitler polemisierte, lachte die Nation. Zwar hatte er Wutanfälle ohne Zahl und las seinen Mitarbeitern, die gar nicht wussten, wie ihnen geschah, lautstark die Leviten. Eines aber tat er nur selten: fluchen.3 Er hatte es nicht nötig. Wozu ein Schimpfwort bellen, wenn man dem Ärger in gehobenem Englisch – viel effektiver, weil viel langwieriger – Luft machen kann!
Neville Chamberlain, Churchills Vorgänger im Amt des Premierministers, stellte fest: »Winston ist ein sehr interessanter, aber sehr unangenehmer Partner. Mit ihm hat man keinen Moment der Ruhe, und man weiß nie, wann er explodieren wird […] Seine Entscheidungen beruhen nie auf genauen Kenntnissen oder der Abwägung des Für und Wider. Instinktiv wählt er immer die große und bevorzugt die neue Idee.«4 Harold Macmillan, der später selbst Premier wurde, sagte über Churchill: »Er ist ein wirklich herausragender Mann, obgleich er so nervenaufreibend und halsstarrig sein kann. Seine Hingabe an die Arbeit und die Pflicht ist bemerkenswert.«5 Herbert Asquith, der Anfang des 20.Jahrhunderts Premierminister war, urteilte: »Winston denkt mit seinem Mund«, womit Asquith meinte, dass Churchill seine Politik danach ausrichtete, ob sie rhetorisch gut ankomme.6
Als Churchill 1940 zum Premierminister ernannt wurde, war Großbritannien in existenzieller Bedrängnis. Das Commonwealth stand allein gegen Nazi-Deutschland. Stalin und Hitler hatten einen Pakt geschlossen; die USA wollten sich in den europäischen Krieg nicht einmischen. Die britische Aufrüstung war unvollkommen. Die Invasion der britischen Inseln schien absehbar. Die Aussichten waren denkbar schlecht. Und genau deshalb hatte Churchill das Gefühl, vor der Herausforderung zu stehen, für die er gemacht war. Es war ihm, als sei sein gesamtes bisheriges Leben auf die Aufgabe zugelaufen, die er nun hatte: Großbritannien siegreich durch den Krieg zu bringen. In dieser schier aussichtslosen Lage dachten manche Kabinettskollegen darüber nach, ob man nicht einen Ausgleich mit Hitler suchen solle, damit die britischen Inseln verschont blieben – Churchill jedoch blieb stur. Viele Bürger drohten zu verzagen – Churchill fand Mut machende Worte.
Churchill, der anfänglich Hitler als energischen Führer bewundert hatte, wurde als Premierminister zur Personifikation des britischen Widerstands und er ließ keinen Zweifel daran zu, dass dieser Widerstand gegen die Nazis erfolgreich sein werde. Mit differenzierten Kriegszielen gab er sich nicht ab, er proklamierte nur ein einziges: Sieg. Er war ein Genie der nationalen Selbstbehauptung. Ohne ihn wäre Großbritannien vielleicht an die Nazis gefallen, ohne ihn wäre der Zweite Weltkrieg anders verlaufen.
1953 erhielt er den Literaturnobelpreis. Von seinen 43 Büchern wurden sieben vom Zeremonienmeister eigens erwähnt, darunter seine Geschichte des Ersten Weltkriegs, sein autobiographisches – das eigene Wirken beschönigendes – Werk »Der Zweite Weltkrieg«, seine Biographie des 1.Herzogs von Marlborough und seine Erinnerungen »My Early Life«. Er selbst konnte bei der Preisverleihung in Oslo nicht anwesend sein: Seine unermüdlichen diplomatischen Bemühungen führten ihn, den Freund des persönlichen Austauschs unter Staatslenkern, nach Bermuda zu einem Treffen mit dem amerikanischen Präsidenten Eisenhower. Für seine Standhaftigkeit während des Zweiten Weltkriegs hätte er noch mehr als den Literaturnobelpreis den Friedensnobelpreis verdient. Unter seiner Führung hat Großbritanniens beharrlicher, unbeugsamer Widerstand das Ende des Nationalsozialismus vorbereitet.
Auf dem Gebiet der Sozialpolitik war Churchill unbegabt. Als traditioneller Konservativer brachte er dafür kein Interesse auf und witterte hinter allem, was in Richtung eines Wohlfahrtsstaats lief, linksradikales Gedankengut. So war es kein Wunder, dass er gleich nach Kriegsende abgewählt wurde. Der marxistische Historiker Eric Hobsbawm hat gesagt: Alles, was Churchill in seiner politischen Karriere und auf seinen vielen Ministerposten angestellt habe, sei schlecht gewesen. Nur eines habe er ordentlich gemacht: Er habe die Nation gut durch den Zweiten Weltkrieg geführt.
Diesem harten Urteil kann ich nicht ganz zustimmen: Es war für mich ein Stimulans, vor allem nach Churchills Stärken Ausschau zu halten. Mit seiner rechtzeitigen Ablehnung der Appeasementpolitik und seinem Widerstand gegen Hitler wurde Churchill jedenfalls zum Superstar der britischen Geschichte. So apodiktisch gegen jede Besänftigungspolitik war Churchill im Übrigen nur im Hinblick auf den Faschisten Hitler; mit Spaniens faschistischem Diktator Franco ging er ganz anders um, den umgarnte er geradezu. Aber das ist wenig bekannt. Wer der größte Brite aller Zeiten sei, fragte die BBC im Winter 2002. Damals wählte eine Mehrheit von fast fünfhunderttausend Zuschauern Churchill auf den ersten Rang und pries ihn so für seinen »Mut und seine Entschlossenheit«. Die Briten gaben ihm den Vorzug vor Shakespeare, Queen Elizabeth I. und Admiral Nelson.7
Seither hat sich das hehre Bild eingetrübt. Viele halten den zweimaligen britischen Premierminister für einen Rassisten, Kolonialisten und Imperialisten. Das war er auch. Er war das als ein Kind seiner Zeit, und er hat seine Zeit unter anderem damit verbracht, die Zeit aufzuhalten. Besonders deutlich zeigte sich das in seiner Indienpolitik und in seinem Urteil über Gandhi. Als die britische Regierung, es war in den 1930er Jahren während Churchills Hinterbänklerzeit, Indien ein gewisses Maß an Selbstbestimmung einräumen wollte, hielt er das für einen gedankenlosen Verrat am Empire. Gandhi war für ihn ein »halbnackter Fakir«, der quasi »gottgleiche Fürsprecher all jener Kräfte, die daran arbeiten, uns aus Indien zu vertreiben«.8 Jawaharlal Nehru, der dann der erste Premierminister Indiens wurde, war Churchill weniger fremd, mit ihm kam er am Ende sogar ganz gut zurecht; Nehru hatte, das stimmte Churchill versöhnlich, in Cambridge und in London studiert.
Churchill war ein Mann des 19.Jahrhunderts, der die Geschichte des 20.Jahrhunderts prägte. Er war ein politischer Romantiker. Er hielt an der Idee des Empire fest, als er schon ahnte, dass das Empire nicht mehr zu halten war. Er hat diesen Gedanken aber nicht an sich herangelassen und ist der Herr geblieben, als die imperiale Herrlichkeit schon verblasste. Als Queen ElizabethII. 1952 im Alter von 25 Jahren Königin wurde, war er 77 Jahre alt und zum zweiten Mal Premierminister. Seine Lebensspanne war lang, mehr als ereignisreich und epochenumfassend. Er kam 1874 zur Welt, erlebte fünf britische Könige und starb 1965 als ergebener Verehrer von Queen ElizabethII. In seiner Jugend wurden die ersten Flugmaschinen konstruiert, als er das Zeitliche segnete, war die Passagierluftfahrt mit Düsenflugzeugen zur Normalität geworden. Er wuchs auf mit Kutschen, dann kamen die Autos – sein Fahrstil soll zum Fürchten gewesen sein – und Anfang des 20. Jahrhunderts die Flugzeuge.
Bis zum Ersten Weltkrieg war die gesellschaftliche Ordnung in England stabil. Zum herrschenden, noch feudalistisch geprägten Patriarchalismus gehörte die Mildtätigkeit, nicht aber das Anrecht auf ein menschenwürdiges Auskommen. Die Töchter und Söhne armer Eltern hatten nur die Wahl, sich mit der Obrigkeit anzulegen, worunter diese auch Streiks in den Bergwerken und Fabriken verstand – oder sich ihrer Klasse gemäß unterzuordnen. Die meisten fügten sich. Das war die Welt, aus der Churchill kam.
Eine junge Dame, um die Churchill Anfang des 20.Jahrhunderts auf der Suche nach einer Ehefrau vergeblich geworben hatte, sagte über ihn: »Wenn man Winston das erste Mal trifft, sieht man nur seine Fehler, den Rest des Lebens verbringt man damit, seine Tugenden zu entdecken.«9 So erging es auch mir bei meiner Arbeit an der Biographie über Churchill. Ich habe entdeckt, wie harmoniebedürftig dieser Winston Churchill bei all seiner Rabauzigkeit war. Ich habe entdeckt, wie sehr er litt unter seiner geprügelten Jugend im Internat und an der Einsamkeit der frühen Jahre. Ich habe entdeckt, wie er um Freundschaft und um Anerkennung warb und welchen liebevollen Respekt er seiner Frau entgegenbrachte, mit der er mehr als ein halbes Jahrhundert lang verheiratet war. Ich habe mich amüsiert über seine skurrilen Angewohnheiten, über seine Baderituale, über seine Nachmittage im seidenen Drachenbademantel, darüber, wie er als alter Herr mit seinen Pantoffeln spielte, und darüber, wie er mit seinen Katzen, Hunden und Vögelchen sprach.
Als Frau habe ich über einen Mann aus einer patriarchalen Welt geschrieben, über einen Gentleman, der erst im Jahr 1927 akzeptierte, dass auch Frauen wählen dürfen, obwohl er kluge Frauen als Gesprächspartnerinnen außerordentlich schätzte. Mit der Zeit habe ich ein fast töchterliches Verhältnis zu ihm entwickelt. Und ich habe ihn studiert, wie eine jüngere Sekretärin ihren Chef beobachtet, den Politiker Winston Churchill, der schnell einmal explodiert, aber kurz darauf um Entschuldigung bittet. Die historiographische Formel dafür ist »einfühlendes Verstehen«. Und so habe ich ihn verstanden: Ein phantasievoller Mann wie Churchill war nicht in der Lage, einen »-ismus« konstant beizubehalten, nicht den Kolonialismus, nicht den Rassismus; ja das galt sogar für seinen Antibolschewismus beziehungsweise Antikommunismus.
Rudolf Augstein hat einst in seinem Buch »Jesus Menschensohn« die Frage gestellt, wer Jesus wirklich war und wie sich die historische Figur von dem Bild unterscheidet, das die Christen von ihm zeichnen. In den Himmel habe ich nicht gegriffen; der liegt mir eher fern. Es genügte, auf der Erde zu bleiben: Die Annäherung an Churchill fiel mir umso leichter, als ich einige Jahre in England gelebt habe, einem Land, das ich auch für viele der Dinge mag, die nicht funktionieren. Ich habe mich mit einem Politiker befasst, der mit Gott nicht viel am Hut hatte, dessen Überzeugungen weltzugewandt waren und auf drei Säulen ruhten: dem Empire, der Krone und dem Parlamentarismus. In diesem Buch wird erzählt, wie Churchill auf die Welt sah und wie die Welt auf ihn. Ob mir das gut gelungen ist, mögen die Leserinnen und die Leser entscheiden.
Blenheim Palace: Churchills Urahn, John Churchill, gewann 1704 die Schlacht bei Höchstädt. Zum Dank ernannte Queen Ann ihn zum Herzog und ließ ihm das Schloss erbauen.
John Churchill, 1. Herzog von Marlborough (1650 bis 1722)
Lord Randolph Spencer-Churchill, trotz Titel ein Bürgerlicher
Winston Churchill. Biograph seines Vaters und des Herzogs
Jennie Churchill und ihre zwei Söhne. Jack war fünf Jahre jünger als Winston. Wenn die Eltern diesen tadelten, betonten sie, wie aufmerksam und brav der Bruder sei, ganz anders als er. Obwohl Winston stets das Risiko suchte, während Jack nach einem geordneten Leben strebte, waren die beiden einander innig zugetan.
Kein Baldachin wölbte sich über dem Bett in Schloss Blenheim, in dem Winston Leonard Spencer-Churchill am 30.November 1874 zur Welt kam. Das Zimmer war nicht herrschaftlich groß, es war im Gegenteil verblüffend bescheiden: Darin befanden sich ein Messingbett mit Pfosten, ein paar Möbel und der zu viktorianischen Zeiten übliche Schnickschnack. Hätte Churchills Mutter sich weit aus dem Fenster gelehnt, was hochmögende Damen jener Zeit nicht machten, wäre ihr Blick auf ein paar hundert Quadratmeter Fassade gefallen, auf Erker und Türme, und dann hinaus ins Weite, in einen englischen Landschaftsgarten.
Churchills Mutter kam aus New York. Reiche Amerikanerinnen waren im 19.Jahrhundert beliebt bei englischen Aristokraten, die um den Erhalt ihrer Schlösser besorgt waren. Geldmangel brachte damals etliche britische Adelshäuser in Unruhe. Die Rettung, gleichsam eine dea ex machina, war die Braut aus Amerika. In den Vereinigten Staaten gab es viele Mädchen, deren Väter als Industrielle oder an der Wall Street zu großem Reichtum gekommen waren. Ihren Status als Neureiche wollten diese Amerikaner verbessern, indem sie ihre Töchter auf die britischen Inseln in ein adeliges Geschlecht vermittelten, eine exorbitante Mitgift im Gepäck. Bei Winston Churchills Eltern war echte Romantik im Spiel: Kaum, dass Lord Randolph sein Auge auf die schöne Amerikanerin Jennie geworfen hatte, war er verliebt.
Jeanette Jerome (1854 bis 1921) stammte aus Brooklyn. Die Fortune ihres Vaters folgte dem Auf und Ab der New Yorker Börse. Im Großen und Ganzen war Leonard Jerome so erfolgreich, dass er sich seiner Leidenschaft, dem Pferdesport, ausführlich widmen konnte: Er gründete den New Yorker Jockey Club, und die Eröffnung der »Jerome Park«-Rennbahn im September 1886 machte Schlagzeilen.1 Er schätzte seine drei Töchter und ließ ihnen eine mindestens so gute Erziehung angedeihen wie seinen Vollblütern. Was die Mädchen anging, gehörte dazu ein monatelanger Aufenthalt in Paris. Jennie erlernte das Französische. Ihr liebender Sohn Winston hat sich späterhin gern in dieser Sprache versucht – das allerdings vor allem zum Amüsement seiner Zeitgenossen, die Churchills Franglais recht komisch fanden.
Jennie war, was auf Englisch »a stunner« genannt wird: zum Staunen anziehend. Sie hatte ein hübsches Gesicht, ihre Haare waren üppig und ihre Lippen von natürlichem Rot,2 was ihr umso besser stand, da damals lediglich Frauen von Halbwelt sich schminkten. Spröde war sie nicht, sondern une femme à homme: für Flirts mit Männern wie gemacht. Als das Mädchen 1873 mit ihren 19 Jahren, geschmückt mit frischen Blumen am Tüllkleid, dem Prince of Wales, dem späteren König EdwardVII., vorgestellt wurde, war dieser sogleich von ihr eingenommen. Lord Randolph lernte Jennie kurz darauf anlässlich der königlichen Segelregatta in Cowes kennen. Drei Tage später trug er ihr die Ehe an.
Randolphs Mutter, Herzogin Frances (1822 bis 1899), liebte ihren zweiten Sohn zwar sehr, brachte aber deshalb erst recht nicht die Weichherzigkeit auf, ihm zu seiner Wahl zu gratulieren, ganz im Gegenteil.3 Dass ihre zukünftige Schwiegertochter gerüchteweise eine Irokesin zu ihren Vorfahren zählte, machte die Sache nicht besser. Randolphs Vater John, der 7.Herzog von Marlborough (1822 bis 1883), seinem Stand entsprechend und weil er ein frommer Mann war, hatte etwas gegen Börsenspekulanten, zumal gegen amerikanische. Außerdem hielten Herzogin und Herzog diese Art der Heiratsplanung der jungen Leute für, gelinde gesagt, überstürzt. Darin immerhin waren sie mit Jennies Eltern einig.4
Zwei Theorien gibt es, warum Randolphs Eltern in die Ehe einwilligten: Der einen zufolge war Jennie schon mit Winston schwanger, weshalb die Eheschließung zur moralischen Flurbereinigung nötig gewesen sei. Der anderen zufolge soll der Sohn sich nun bereit erklärt haben, dem väterlichen Wunsch gemäß in des Herzogs Fußstapfen zu treten und auch in die Politik zu gehen. Keiner von beiden Vermutungen müssen wir folgen: Winston kam zwar bereits sieben Monate nach der Hochzeit zur Welt; aber sein Bruder John Strange Spencer-Churchill (1880 bis 1947), genannt Jack, war auch ein Frühchen.5
Vater Randolph konnte ewige Freizeit im Kreis von Freunden genießen, womit gesagt sein soll, dass er als junger Mann, Absolvent von Eton und Oxford, keine besonderen beruflichen Ambitionen hegte. »Sein Instinkt«, so schrieb Winston Churchill in seiner Biographie des Vaters von 1906, »warnte ihn vor den Gefahren, die ihm in einem arbeitsreichen Leben drohten.«6 Das war übrigens nicht ironisch gemeint. Churchill hielt das Archiv seines Vaters unter Verschluss und flöhte die Papiere, bevor er sie der Öffentlichkeit zugänglich machte.7 Seine Biographie Lord Randolphs ist Hagiographie vom Feinsten.
Allerdings sah Randolph Churchill ein, dass er einen Beruf ergreifen musste, und sei es um des schnöden Mammons willen. Die anderen für jüngere Söhne aus hohem Hause üblichen Entfaltungswege – Kirche und Militär – kamen für ihn, der für Gehorsam vor Gott oder einem General nichts übrighatte, nicht in Frage. Hingegen reüssierte Randolph als überzeugender Redner. Nicht beim Tanzen, sondern mit seiner charmanten Konversation hatte er Jennie Jeromes Herz erobert.8 Also ging er in die Politik.
So konnte denn die Hochzeit mit Jennie in der britischen Botschaft in Paris am 15.April 1874 begangen werden. Die Ankunft auf Schloss Blenheim ging einer alten Tradition gemäß vonstatten: An der Einfahrt spannten Bedienstete die Pferde aus und zogen das Hochzeitspaar selbst vors Portal. So gehörte es sich, so war es seit Jahrhunderten üblich gewesen.
Unter den vielen Schlössern Britanniens ist Blenheim Palace fast das größte.*1 Nur das britische Königshaus ist mit Großbauten besser versehen. John Churchill (1650 bis 1722), von Beruf Soldat, Feldherr und Diplomat, hatte 1704 im Spanischen Erbfolgekrieg einen so großen Sieg errungen, dass Queen Anne ihm – auf Kosten der Steuerzahler – ein Anwesen von rund elfhundert Hektar Land samt Geld für den Bau eines Schlosses spendierte und ihn zum Herzog von Marlborough machte.
Queen Anne (1665 bis 1714) fühlte sich dem Feldherrn nahe – seine Gemahlin Sarah war ihre innige Vertraute – und belohnte reichlich den Triumph, den John Churchill mit seinen Truppen gegen die Franzosen und die Bayern errang. Die Schlacht wurde ausgetragen bei einer Ortschaft namens Blindheim nahe der Donau.9 Damit englische Zungen bei der Aussprache nicht stolperten, wurde das Schloss als »Blenheim Palace« errichtet. Der Architekt John Vanbrugh legte das Gebäude grandioser an als alles, womit andere Aristokraten in jenen Tagen protzten.10 Winston Churchill nannte es »ein italienisches Schloss«,11 Spötter nannten es das »größte Kriegerdenkmal aller Zeiten«.12
Die Wohnfläche von Schloss Blenheim umfasst 28000 Quadratmeter, unterteilt in 187 Zimmer.13 Die Dachflächen sind noch viel ausschweifender. Auf die genaue Größe der Dächer kommt es im Übrigen weniger an denn auf die Zahl der Löcher darin, die seit jeher Wind und Regen einladen, sich im Gebäude geltend zu machen.
Den Park schuf, in englischer Manier, ohne die phantasiefremde Akkuratesse der französischen Gärten, der berühmte Landschaftsarchitekt Capability Brown. Winston Churchill kannte sich in Blenheim aus und liebte es. Er, seine Eltern und sein kleiner Bruder waren dort lediglich auf Besuch. Der Schlossherr war zunächst Winstons Großvater, der 7.Herzog von Marlborough, und nach dessen Tod 1883 sein Onkel, der 8.Herzog von Marlborough, George Spencer-Churchill (1844 bis 1892). Zu dem Bindestrichnamen, nebenbei gesagt, war die Familie gekommen, weil ein Spencer eine Tochter des ersten Herzogs von Marlborough heiratete und den Herzogstitel übernahm, womit der Name der Familie fürderhin Spencer-Churchill lautete.
Die idyllische Aura dieses Parks, der scheinbare Wildwuchs prägten Winston Churchill. Sein Leben lang war er ein Gartenfreund im Sinne Capability Browns. Mochten Kinder auf der Schule gequält werden, mochten Politiker der normativen Kraft des Faktischen unterliegen, so sollten Bäume und Büsche ihrer Natur gemäß blühen. »Grüner Rasen und funkelndes Wasser, Lorbeerböschungen und Farn, Grüppchen von Eichen und Zedern, Brunnen und Inselchen kommen zusammen in kunstvoller Unordnung und bieten allenthalben schattige Orte zum Verweilen«,14 mit dieser Schilderung der Parkanlagen von Blenheim beginnt Churchills Biographie seines Vaters.
So wenig Winston Churchill darauf gab, selbst ein Herzog zu sein, so wichtig waren ihm seine Vorfahren: An ihnen rankte sein Selbstbewusstsein sich empor. Wenn es Schläge hagelte, sei es im wörtlichen Sinn auf seinen Schulen, sei es später während seiner Laufbahn als Politiker und Kriegsherr, dann half der Stolz auf seine Vorväter ihm durch die Unbill.
Der einigermaßen vergessene schottische Aufklärungsphilosoph James Dunbar (1742 bis 1798) gehörte zu jenen, die zur Zeit des Feudalismus nicht mehr so recht glaubten, dass ein Mensch bloß wegen seiner hohen Geburt anderen überlegen sei. Als Mann des 18.Jahrhunderts, der die Gegebenheiten zu begründen suchte, fand er eine für seine Zeit pfiffige Erklärung, warum Aristokraten ihren Status letztlich verdienten: Das Umfeld, in dem junge Männer heranwachsen, gebe ihnen ein Gespür für ihre späteren Aufgaben. Indem sie aufgezogen würden in der Erinnerung daran, was ihre Vorfahren taten, so Dunbar, »werden sie, was sie zuvor nicht waren«.15 Kriegshelden zum Beispiel. Als Churchill schon lange erwachsen war, hat er in einer Rede, ohne es zu wissen, den Kern von Dunbars Gedanken aufgegriffen. Bezogen auf Schloss Blenheim sagte er: »Wir gestalten uns unsere Häuser, und später gestalten unsere Häuser uns.«16
Blenheims Grandiosität, die Gloria, die ausgedehnten, von Pächtern bewirtschafteten Ländereien boten Winston eine kleine Welt, bestens geeignet zur Ausbildung eines kindlichen Super-Egos. Von Onkel George frühzeitig mit elektrischem Licht versehen, war das Schloss kein Dunkellabyrinth mehr: Bewohner und Gäste konnten des späten Abends durch die langen Korridore laufen, ohne mit einem Möbelstück zu kollidieren, oder, wenn sie torkelten, mit einer porträtierten Dame an der Wand in unziemlichen Kontakt zu treten.
Churchills Onkel George, der 8.Herzog von Marlborough, wird als ein freudloses, mit allem unzufriedenes Kind geschildert, was er als Mann auslebte, indem er für heller gestimmte und auf Spaß erpichte Gemüter ungenießbar war.17 Er fummelte gern an elektrischen Apparaten, erfand für Blenheim eine Telefonanlage und bedrängte die Dienstmägde auf verschiedene Weise, nicht zuletzt mit meterlangen Kabeln auf den Fußböden, um die sie herumputzen mussten. Auch ließ er installieren, was er sich als Zentralheizung vorstellte. Nicht dass sie funktioniert hätte. Finanziert wurde das mit dem Geld seiner zweiten Ehefrau, einer reichen Erbin aus den USA. Churchills Mutter Jennie war nicht die erste Amerikanerin, die auf Blenheim ankam.18
Die meisten Nachfahren des 1.Herzogs von Marlborough, den 7.Herzog ausgenommen, hatten ein legeres Verhältnis zum Geld: Sie wollten genussreich leben. Der Premierminister William Gladstone (1809 bis 1898) fasste 1882 zusammen, was er von diesem Geschlecht hielt: »Seit John von Marlborough hat es keinen einzigen Churchill gegeben, der Moral oder Prinzipien besessen hätte.«19 Auf die Worte des als Moralapostel bekannten liberalen Politikers Gladstone gab man auf Blenheim nichts. Die Gäste waren zu allen Zeiten immer gern gekommen. Aus Sicht mancher war Schloss Blenheim allerdings so vollgerammelt mit Kunstwerken, dass man sich kaum mehr durchfand.20 Dieser Kalamität, falls man sie als solche bezeichnen will, wurde abgeholfen: Das allmähliche Abflauen feudalistischer Verhältnisse, die anhebende Industrialisierung und die mit beidem einhergehende Minderung der Einkünfte aus der Landwirtschaft, zusammen mit ungeminderter Freude am Geldausgeben, führten dazu, dass viele Kunstwerke verkauft werden mussten. Die beste Partie der Bibliothek wurde veräußert sowie eine Sammlung herrlicher Edelsteine. Onkel George verscherbelte Ölbilder von Anton van Dyck, von Raffael, Rembrandt, Gainsborough, Watteau, Stubbs und Reynolds.21
Als im 19.Jahrhundert der Tourismus in Schwung kam, mussten die um Liquidität verlegenen Schlossherren ihre Empfangsräume fremden Besuchern öffnen. Lord Alfred Spencer-Churchill, zu Gast auf Blenheim, beschwerte sich: Dreimal pro Woche für zwei Stunden müsse er sich nach oben in sein Schlafzimmer zurückziehen, während Ungebetene unten herumliefen. Es versteht sich, dass Dienstboten die Möbel abdeckten, wenn Touristen angesagt waren. Damit war Lord Alfreds Abscheu gegenüber den schausüchtigen Eindringlingen natürlich nicht besänftigt.22
Zu Lord Randolphs Zeiten wurden Nachrichten per Postkutsche oder Telegraphie übermittelt, Letztere benötigte Kabel zur Übersendung der Morsezeichen. Die drahtlose Telegraphie wurde erst 1896 erfunden. Die Wahlen zum britischen Unterhaus fanden damals nicht an einem Tag statt; sie zogen sich über sechs Wochen hin. Die Politiker reisten von Ort zu Ort; in Zeitungen, auf Plakaten und in Vereinsversammlungen war ihre Ankunft angekündigt worden. Und nun mussten sie aus der Leibeskraft ihrer Stimme, oftmals im Freien – von Podesten oder einem herbeigeschafften Karren aus – den Leuten erklären, warum ihre Partei die richtige sei.
Zu Beginn des Jahres 1874 war Lord Randolph erstmals ins Unterhaus gewählt worden, als Vertreter der konservativen Partei für den Wahlbezirk Woodstock in Oxfordshire. Dortselbst liegt Blenheim Palace. Trotz der Ausweitung des britischen Wahlrechts im 19.Jahrhundert war die Zahl der Wahlberechtigten relativ gering; nicht bloß Frauen waren ausgeschlossen, sondern auch viele Bauern, Arbeiter und Angestellte. Wahlberechtigt waren männliche Haushaltsvorstände, die Steuern entrichteten. Wer noch bei den Eltern wohnte, was recht üblich war, durfte nicht wählen. Die Marlboroughs standen in hohem Ansehen: Sie gängelten die Pächter nicht über Gebühr; die einfachen Leute waren noch darin geübt, den Herrschaften mit der vom Feudalismus gewohnten Unterwürfigkeit zu begegnen; und viele Wahlberechtigte wünschten keine Veränderung der gegebenen Verhältnisse.
Der Tory-Kandidat Lord Randolph gewann die Wahl gegen den Kandidaten von William Gladstones Liberal Party, 512 Stimmen genügten.23 Die Wähler waren es gewohnt, dass Ämter vom Vater auf den Sohn übergingen. »Die paar Hundert großen Familien«, schrieb Churchill, »die England seit Generationen geführt und seinen Aufstieg bis zum Gipfel seiner Glorie begleitet hatten, waren per Heiraten vielfältig miteinander verwandt.«24 In der Tat waren Ende des 19.Jahrhunderts viele Mitglieder des Unterhauses mit Angehörigen des Oberhauses verbrüdert oder verschwägert, eine übliche briefliche Anrede war »lieber Cousin«. Eine kleine Oberschicht hatte das Parlament im Griff.25 Im politischen Gefüge wurde es bis ins 20.Jahrhundert hinein als ein bisschen ungewöhnlich wahrgenommen, wenn Außenseiter ohne verwandtschaftliche Beziehungen und die damit einhergehende Protektion ein hohes Amt erlangten.
Der Historiker David Thomson hat in den 1960er Jahren ein Standardwerk über »England im 20.Jahrhundert« geschrieben; es wurde noch in den 1980er Jahren jungen Studenten zur Lektüre empfohlen.26 Darin stellte er dar, was auch Winston Churchills Auffassung war: Britannien stehe in der Welt als Garant für »die Fortführung und Ausweitung des großen demokratischen Experiments des 19.Jahrhunderts«. Bei diesem Unterfangen seien das Mutterland und seine Dominions »bemerkenswert erfolgreich« gewesen: »Die besondere Errungenschaft bestand darin, im Einklang mit den Institutionen der verfassungsmäßigen repräsentativen Demokratie eine Form von Staatsführung einzurichten, die Willkürherrschaft nicht zulässt, rechtsstaatliche Einrichtungen samt unabhängiger Gerichtsbarkeit respektiert und eine starke Regierung ermöglicht, die der öffentlichen Meinung über ihr Tun Rechenschaft ablegen muss.«27
Das alles ist ganz richtig und ist trotzdem falsch. Nicht bloß, dass diese hehren Ideen in der imperialen Praxis gegenüber beherrschten Völkern vielfach grausam ignoriert wurden, sie leiteten auch nicht das politische Ethos der Machthabenden in Britannien.
Im Vereinigten Königreich verloren die Könige ihren Einfluss im Lauf der Zeiten allmählich, langsam und unaufhaltsam. 1649 war als Ergebnis eines Bürgerkriegs König CharlesI. enthauptet worden. Ein zweiter König – JamesII. – war in der Glorreichen Revolution von 1688/89 aus dem Weg geschafft worden. Die starke Stellung des britischen Parlaments erwuchs in der Frühen Neuzeit aus einem Machtkampf der Aristokraten gegen die Monarchie. Die Krone unterlag, womit England sich zu einer konstitutionellen Monarchie entwickelte. Anders als in vergleichbaren europäischen Staaten gab es keine festgeschriebene Verfassung, weshalb das Parlament mit seiner gewieften Auslegung alter Statuten sich langsam und allmählich immer mehr Rechte zusprechen konnte. Die friedliche Übernahme Schottlands 1707 half: Ein neuer Bürgerkrieg war so schnell nicht zu erwarten. Die Obrigkeiten erstickten jegliche Versuche hungernder, revoltierender Arbeiter, an ihrer miserablen Lage etwas zu ändern, zur Not mit Waffengewalt. Die übrige Bevölkerung nahm es hin, zumeist billigend. Allmählich wurde das Wahlrecht erweitert, das aber nicht, weil die Herrschenden ihren Sinn für Demokratie entdeckten, sondern aus parteitaktischen Gründen.
Das britische Wahlrecht im 19.Jahrhundert war simpel im Hinblick auf Frauen: Sie durften natürlich nicht wählen: Es lag an ihrer Natur. Sie galten als zum Gebären geboren, zentriert auf ihren Bauch, für Arbeit mit dem Kopf ungeeignet. Sie galten als emotionale Wesen, leicht beeinflussbar und folglich zum unabhängigen Denken nicht in der Lage. Aus heutiger Sicht besonders perfide war das Argument, Frauen seien zu verehren, seien hochzuhalten, zu schade für die matschigen Niederungen des politischen Lebens und benötigten deshalb das Wahlrecht nicht. Nebenbei: Letzteres entsprach Winston Churchills Ansicht. Als er in den 1920er Jahren seine Meinung änderte, lag es an der Argumentation seiner Tochter Sarah, die ihm zuredete: Er sei beliebt bei Frauen.28 Dieser Konzession an den Zeitgeist ungeachtet, plädierte er noch in den 1930er Jahren in einigen Zeitungsartikeln für Britanniens teilweise Rückkehr zum traditionellen Wahlrecht, das Haushaltsvorständen und Vätern, den »verantwortlicheren Elementen« der Gesellschaft, mehrere Stimmen zubilligte.29
Im Übrigen war das britische Wahlrecht im 19.Jahrhundert äußerst komplex. Erst in jüngster Zeit ist man sich in der historischen Zunft einigermaßen einig geworden, wer mitstimmen durfte: Nach den Wahlrechtsreformen von 1867 und 1884/85 waren immer noch vierzig Prozent der Männer nicht wahlberechtigt. Laut einer zeitgenössischen, nicht ganz zuverlässigen statistischen Erhebung gaben knapp 2,5Millionen Wähler 1874 ihre Stimme ab, als Randolph Churchill erstmals ins Unterhaus gewählt wurde.30 Die Bevölkerung der britischen Inseln wurde damals auf ungefähr 31 Millionen Menschen geschätzt.
Ende des 19.Jahrhunderts war das britische Parlament eine oligarchische Versammlung. Politische Kommentatoren verglichen Britannien gern mit dem antiken Athen, übersahen dabei aber, dass es in Athen mehr Basisdemokratie gab als bei ihnen. Rücksicht nehmen mussten die Politiker auf die Meinungen von Königin Victoria und – mehr noch – die Meinungen der Presse.
Anders als ihre Nachfahren hatten Queen Victoria (1819 bis 1901) und – schon schwächer – EdwardVII. (1841 bis 1910) ein bisschen Einfluss auf die Staatsführung. Anders als zuvor war es zu deren Zeiten den Vorsitzenden der Parteien überlassen, ihren Anhängern Posten in der Politik zuzuschanzen.31 Jeder Abgeordnete konnte seine Stimme abgeben, wie ihm der Sinn stand. Die Meinung der Wähler spielte kaum eine Rolle. Die führenden Köpfe beider Parteien – Tories und Liberale – kungelten miteinander aus, wer der nächste Premierminister werden solle, wobei die Königin miteinbezogen wurde. Wenn eine Regierungspartei eine wichtige Abstimmung gar nicht oder lediglich knapp gewann, trat der Premierminister zurück, und die wichtigen Vertreter der beiden Parteien bestimmten in Absprache mit Queen Victoria, wer der neue Premierminister werde.
In dem Maße, wie der Einfluss der Parteien stieg, verloren die Monarchen an politischer Bedeutung. Mittels der Geschäftsordnung des Parlaments wurden die Abgeordneten Ende des 19.Jahrhunderts zunehmend domestiziert: Die Regierung gewann immer mehr Einfluss, die Fraktionsdisziplin kam auf.
Der Politbetrieb war damals nicht über Gebühr anstrengend: Die Premierminister verzogen sich am Wochenende auf ihre Landsitze; sie verbrachten zwei freie Tage bei der Jagd oder beim Fischen, beim Krocket und bei Kartenspielen wie Bézique (ein Spiel für zwei Personen, das Winston Churchill besonders mochte)32 im Kreis von Familie, Freunden und Bekannten, sorgsam umhegt von Bediensteten, die an Zahl einer militärischen Kompanie entsprachen. Je nach Größe des Anwesens waren es mitunter mehr als hundertfünfzig Angestellte, die im Großen Haus auch wohnten. Butler, Hausdamen, Valets, Footmen und Unterdiener, Dienstmägde, Köchinnen und deren Gehilfinnen, Kutscher, Stallburschen, Gärtner und Förster taten ihre Arbeit zum Wohl der Herrschaft. Die Butler (zuständig unter anderem für die Kleidung der Herren) und die Ladies-in-waiting (zuständig für das Ankleiden der Damen) sorgten dafür, dass dreimal am Tag Herren und Damen in ihre komplizierte Kleidung kamen: zum Frühstück, zum Tee und in voller Abendgarderobe zum Dinner. Ging es zur Jagd, kam ein weiterer Wechsel der Kleidung hinzu.
Diesen Lebensgewohnheiten entsprechend wurden die Sitzungszeiten im Londoner Unterhaus im 19.Jahrhundert anberaumt: Man begann spät am Morgen; am Nachmittag gab es eine lange Pause, damit die Abgeordneten sich stärken konnten mit Essen und, wenn gewünscht, dem je nötigen Quantum an Gin, Wein, Brandy oder Whisky; dann wurde, kleine Abendessen nicht ausgeschlossen, bis spät in die Nacht hinein palavert. Anschließend gingen alle erschöpft zu Bett, weshalb es durchaus vernünftig war, den Beginn der Parlamentssitzungen nicht frühmorgens anzuberaumen.
Von den 1880er Jahren an brachten irisch-patriotische Abgeordnete dieses eingespielte Gefüge in Unruhe: Sie konterkarierten den normalen Verlauf der Unterhaussitzungen, indem sie über völlig unwesentliche Themen stundenlang und ohne Ende monologisierten – bis alle anderen Parlamentarier in ihrer Aufregung über diese Frechheit allein im Wegdösen Ruhe fanden. Die Vertreter der Irish Parliamentary Party, der dritten Partei im Parlament, unter ihrem Führer Charles Stewart Parnell (1846 bis 1891), machten den englischen Polit-Oligarchen das Leben schwer. Das beförderte auf Seiten der jeweiligen Regierung das Verlangen nach Fraktionsdisziplin im Parlament. Wenn schon die Iren – eigensinnig auf Selbstbestimmung erpicht – das eingeübte Gefüge störten, sollten wenigstens die eigenen Leute bei den Abstimmungen im Parlament nicht auf Abwege gehen. Die Position des »Whip« wurde geschaffen, der die Abgeordneten seiner Partei im Sinne der Parteiführung zur Raison ruft – so wie bei Fuchsjagden der whip die Hundemeute zusammenhält. Damit einher ging »die Konzentration der tatsächlichen und rechtlichen Staatsmacht in einem und demselben Organ: im Kabinett«.33 Alles zusammen war es, was Winston Churchills Verständnis von Parlamentarismus prägte. Hinzu kam, was er sich von seinem Vater abschaute.
Noch in den 1960er Jahren hatte der überragend kluge und freidenkende deutsche Journalist Sebastian Haffner (1907 bis 1999) Gutes über Lord Randolph zu sagen. Er dürfte einer der Letzten gewesen sein. Haffner kannte sich aus in England: Der promovierte Jurist war in den 1930er Jahren nach London emigriert; sein Englisch war ausgezeichnet, die angesehene Zeitung »Observer« nahm ihn gern als Mitarbeiter an. Einige Jahre nach dem Krieg kehrte er nach Deutschland zurück und machte sich in den Medien einen großen Namen. Er hatte Nazi-Deutschland als konservativ Denkender verlassen und fand sich in England auf Seiten der Tories. Seine englische Prägung machte ihn zu einem Verehrer des konservativen Premierministers Winston Churchill.
In der Biographie Churchills, die Haffner 1967, drei Jahre nach dessen Tod, publizierte, schrieb er über Lord Randolph, der sei »weitblickend« gewesen: »Er sah, was heute jeder sieht (…), dass die proletarischen, ungeschulten, ausgelieferten Massen, denen er das Wahlrecht gab, in Wahrheit leicht zum Wählerreservoir einer selbstbewussten Herrenpartei zu machen waren.« Bestenfalls kurios ist es, wie Haffner jenen beipflichtete, die Ende des 19.Jahrhunderts die Idee des allgemeinen freien Wahlrechts für abwegig hielten. Haffner lobte Randolph über die Maßen: »In nur sechs Jahren, zwischen 1880 und 1886, seinem eigenen dreißigsten und 36.Lebensjahr, machte Lord Randolph Churchill die Konservativen wieder zur Regierungspartei (…) und sich selbst zum berühmtesten, populärsten, meistkarikierten und bestgehassten Politiker Englands.« Haffner krönte seine Eloge mit der Bemerkung, Lord Randolph sei ein besserer Politiker gewesen als Bismarck.34
Winston Churchill wäre mehr als erfreut gewesen, hätte er das noch lesen können. In Wirklichkeit war sein Vater mehr ein Selbstdarsteller denn ein Bismarck. Er trat auf mit dem Gestus des Harlekins: Da bin ich! Und spielerisch war auch seine Politik. Ihm kam es darauf an, sich selbst in Szene zu setzen. Das machte er besser als andere, mit Aplomb und Eifer: Die Schriften, die ihm für die Ausübung seiner wechselnden Posten zugereicht wurden, hat er studiert. Fleißig war er, aber unstet. »Das wahre Problem mit Randolph Churchill«, schrieb der Politiker Roy Jenkins (1920 bis 2003) in seiner Biographie Winston Churchills, »bestand darin, dass fast alle seine politischen Ansichten dem Opportunismus entsprangen, nicht irgendwelchen festen Überzeugungen.«35
Weil Randolph Churchills Phantasie und Tatendrang in der Politik nicht ausgelastet waren, mischte er sich in private Angelegenheiten. Zu seiner Zeit pflegte die britische Oberschicht ein ausschweifendes Sexualleben, über das getuschelt, aber nicht geredet wurde. Die folgende Geschichte könnte man in einem Kostümfilm erzählen, wir machen es kurz: Eine Lady Aylesford hatte eine Liaison mit Randolphs Bruder, dem 8.Herzog von Marlborough. In der Hitze der Verliebtheit wollten die beiden sich stehenden Fußes von ihren Gesponsen scheiden lassen: Ein gesellschaftliches Desaster wäre das geworden. Lord Randolph war ziemlich unfähig zu Empathie und auf sich selbst zentriert, ein wenig Familiensinn hatte er freilich und bemühte sich deshalb, diese Eskapade zu verhindern. Die Art, wie er sich einmischte, war leider ihm gemäß und also völlig unpassend: Lady Edith Aylesford hatte weniges zuvor eine Liaison mit dem Kronprinzen Edward gehabt. Die Liebesbriefe des Prinzen hatte sie Lord Randolph gegeben, der nun den Prince of Wales wissen ließ, der müsse die Heirat von Lady Aylesford mit seinem Bruder verhindern, anderenfalls er die Briefe veröffentlichen werde.36
Es dauerte Jahre, bis Edward diese Unverschämtheit verziehen hatte. 1876 wurde Lord Randolph als Vizekönig nach Irland entsandt: Mit Irland mochte das Kabinett in London sich nicht gern beschäftigen, mit dem ebenso wortgewaltigen wie unberechenbaren Churchill auch nicht, weshalb er in Irland gut aufgehoben schien. Winstons früheste Erinnerungen datieren aus der Zeit in Dublin.
Zurück in London war Randolph Churchill vom Parlamentsgesums immer noch oder schon wieder gelangweilt, sofern er selbst nicht im Vordergrund stand. 1880 gründete er zusammen mit drei anderen die als satirische Kleinteufelei angelegte »Fourth Party«. Diese »vierte Partei« – nach den Konservativen, den Liberalen und der Irish Paliamentary Party – machte sich einen Spaß daraus, die Parlamentssitzungen mit Fragen und Eingaben aufzuhalten, die zum Stand der jeweiligen Debatte nicht passten. Erstaunlicherweise war der spätere konservative Premierminister Arthur Balfour (das Amt übernahm er 1902 von seinem Onkel Robert Salisbury) einer von diesen vier spätpubertären Angebern. Zurückblickend sagte Balfour über Randolph Churchill: »Er hatte die Manieren eines Piraten und die Durchsetzungskraft einer Gouvernante.«37
Winston Churchills Vater suchte sich seine Themen ohne Rücksicht auf eigene politische Überzeugungen, wobei ihm half, dass er – wie so viele seiner Parlamentskollegen – dergleichen in der Tat nicht hatte: Seine Meinung bildete er sich nach Taxierung der Frage, was ihm am meisten Publizität verschaffen würde. 1880 knöpfte er sich den Liberalen Charles Bradlaugh vor, der frisch ins Parlament gewählt worden war. Bradlaugh war ein Antimonarchist, ein Sozialist und zudem ein Atheist, weshalb er sich weigerte, bei der Vereidigung auf die Bibel zu schwören. Lord Randolph machte das Beste daraus: Seine fulminanten Reden fanden größten Anklang.
Nachdem dieser Skandal die Presse nicht mehr elektrisierte, wandte er sich Irland zu. Die nordirischen Protestanten wollten von London aus regiert werden. Die Katholiken im Rest des Landes, im Unterhaus vertreten von der Irish Parliamentary Party, strebten nach partieller Selbstbestimmung: »Home Rule«. Gladstone und ein Teil seiner Parteifreunde waren dafür. Randolph Churchill sprach dagegen. Als er aber merkte, dass er damit bei den Konservativen offene Türen einrannte, lief er sofort aus diesen Türen hastig wieder hinaus und gab sich fortan als Fürsprecher von Home Rule. Auch an Ägypten versuchte er sich: Gladstones Liberale würden dort bloß Unfug anrichten. 1882 hatte die britische Regierung nach einem kleinen, zu diesem Zweck anberaumten Krieg Ägypten einer vorgeblich befristeten Besatzung unterworfen. Regierung und Admiralität in London wollten sicherstellen, dass der 1869 eröffnete Suezkanal, der schnelle Weg nach Indien, für die Schiffe unter der Flagge des Union Jack passierbar bleibt, einerlei wie die Zerwürfnisse zwischen ägyptischen Machthabern sich entwickeln mochten. Englische Spekulanten, die in Ägypten investiert hatten, konnten nunmehr gut schlafen. Lord Randolph regte sich mächtig auf – als Konservativer und Imperialist hätte er das Vorgehen an sich gutheißen können.38
1883 gründete Randolph die »Primrose League«, eine Lobbygruppe für die Tories. Den Namen gab die Lieblingsblume des bedeutenden Premierministers Benjamin Disraeli, der 1881 gestorben war: die Primel.39 Der Primel-Bund gewann viele Wähler für die Tories; noch nützlicher war für sie indes, dass sich die Liberalen wegen der Home Rule in innerparteilichen Kämpfen verausgabten. Überraschend für alle, plädierte Lord Randolph nun – entgegen vorherigen Einlassungen – für die Ausweitung des Wahlrechts,40 wie sie ja dann 1884/85 auch stattfand, allerdings unter dem liberalen Premierminister Gladstone. Der Primel-Bund verbreitete Lord Randolphs Slogan »Tory Democracy«. Was damit gemeint war, hat kein Zeitgenosse und kein Historiker je verstanden, auch er selbst hatte keine Ahnung; einmal versuchte er sich an einer Definition: Es gehe um »Demokratie auf Seiten der Tories«.41 Allein der Slogan war wichtig, und der wirkte.
1884 wurde Lord Randolph Führer der Konservativen im Unterhaus. 1885 gelang es den Tories, die Liberalen bei den Wahlen auszustechen. Der unberechenbare Politiker wurde Staatssekretär für Indien. Nachdem Gladstone – wie gesagt: Wer Premierminister war, wurde zwischen den Parteien ausgehandelt – 1886 nochmals für einige Monate das Amt übernommen hatte, gab es an Lord Randolph kein Vorbeikommen mehr: Seine Auftritte im Unterhaus, seine provokanten Reden, die in den Zeitungen abgedruckt wurden, bewogen, ja zwangen den Premierminister Robert Salisbury, ihn zum Finanzminister zu ernennen, dem wichtigsten Mitglied des Kabinetts neben dem Außenminister und nach dem Premierminister. Damals war Randolph 37 Jahre alt. Nur der Stern von William Pitt (1759 bis 1806), der mit 24 Jahren Finanzminister und Premierminister wurde, stieg schneller. Queen Victoria, altersweise, hielt nichts von diesem Churchill. Salisbury meinte, das »mentale Alter« seines neuen Chancellor of the Exchequer liege deutlich unter dem, was dessen Geburtsurkunde ausweise.42
Lord Randolphs politischem Tod ging eine Rücktrittsdrohung voraus. Dergleichen war bis weit ins 20.Jahrhundert hinein üblich. Der Finanzminister Churchill wollte möglichst wenig ausgeben. Damit stand er in alter Tradition: Seit den napoleonischen Kriegen, die Britanniens Steuerzahler teuer zu stehen kamen, forderten die Einflussreichen, die Besitzenden und ihre Vertreter im Parlament, der staatliche Leviathan möge nicht zu beleibt werden – sie wünschten sich, was heute als »schlanker Staat« bezeichnet wird. Je mehr er dem britischen Haushalt erspare, dachte Lord Randolph, desto besser werde er dastehen. Wie üblich überschätzte er seine Bedeutung und stellte ein Ultimatum: Sofern seine Vorschläge für die Kürzung des Militärbudgets nicht angenommen würden, müsse er zurücktreten.43 Bei der Lektüre dieses Schreibens Ende 1886 mag der Premierminister Salisbury sich zufrieden den üppigen Bart gekrault haben, bevor er ohne Zaudern das Rücktrittsgesuch unterschrieb. Von da an hatte Winston Churchills Vater nie mehr eine Position im Kabinett. Er starb schleichend, zum Grausen aller, die ihn miterlebten: Der Tod saß Lord Randolph im Nacken, während er im Unterhaus darbot, was nur mehr er allein für durchschlagende Reden hielt.
Winston Churchill hatte als Kleinkind schon begriffen, wer er war; dass er zum Führen bestimmt war, lernte er spielend. Damit einher ging, dass er sein Aufgebot an Zinnsoldaten, die er mit steten Betteleien bei den Erwachsenen rekrutierte, zu eindrucksvoller Stärke brachte. In der Beharrlichkeit liegt die Kraft: Winston gebot über 1500 Mann und starke Kavallerie. Munition war ausreichend vorhanden: Die Nachschublinien für Erbsen und Kieselsteinchen waren gesichert.44 Im Alter von sieben Jahren wurde er auf ein Internat expediert. Von nun an lebte er in Schmerz und Unglück: unter der Fuchtel der Lehrer, gegen die Lehrer und gegen das ganze Schulsystem.
Der gefeierte englische Schriftsteller und Dichter Wystan Hugh Auden (1907 bis 1973) lehnte den Faschismus »schon deshalb« ab, »weil ich auf der Schule in einem faschistischen Staat lebte«. Diese unpatriotische Äußerung konnte Auden sich erlauben, weil er 1939 in die Vereinigten Staaten übersiedelte, was in den Augen mancher Landsleute wohl erst recht vaterlandsvergessen war. Der zu seiner Zeit vor allem mit Reisebeschreibungen bekannt gewordene Schriftsteller Augustus Hare (1834 bis 1903) erklärte: »Ich kann ehrlich sagen, nichts Nützliches in Harrow gelernt zu haben.« Ebendiese Schule sollte als Teenager auch Winston Churchill besuchen; und auch er hegte Zweifel an der Sinnhaftigkeit des ihm verabreichten Unterrichts.45
Die Angehörigen der englischen Oberschicht betrachteten ihre männlichen Kinder als kostbares lebendes Inventar des Hauses, so wertvoll, dass die Eltern beim Verfolg ihrer gesellschaftlichen und amüsierlichen Verpflichtungen es sich geraten sein ließen, den Nachwuchs in erfahrene Hände zu geben. Für die Mädchen wurde Hausunterricht meistens als ausreichend erachtet; erwartet wurde, dass sie musizieren oder singen lernten, ja sogar fremde Sprachen, womit sie für Gäste und mögliche Ehegatten präsentabel waren. »Das war das britische Pendant zu der chinesischen Sitte des Füßebindens.« Queen ElizabethII. zum Beispiel hat in ihrer frühen Kindheit nicht mehr als siebeneinhalb Unterrichtsstunden pro Woche genossen. Ihre erste Reitstunde hingegen hatte Elizabeth, als sie gerade einmal dreieinhalb Jahre alt war. Reiten können war wichtig, weil Ausritte in Gesellschaft zur Heiratsanbahnung dienten. Bildung wurde Elizabeth nicht zuteil, weil das Mädchen (das bis zur Abdankung ihres Onkels, EdwardVIII., im Jahr 1936 als Thronfolgerin nicht vorgesehen war) gar nicht erst die intellektuelle Fähigkeit bekommen sollte, einem Mann zu widersprechen.46 Für die spätere Queen war Heimunterricht gut genug. Ganz anders verfuhr man mit Buben: Die waren für Größeres bestimmt, sie sollten das Empire am Laufen halten. Jungen kamen auf Privatschulen.
Diese »public schools« waren die Schmieden, wo der Stahl gehärtet wurde, bis ins 20.Jahrhundert hinein in ziemlich grässlicher Manier. Es gab viele verschiedene phantasievolle Initiationsrituale. Der Schriftsteller Denton Welch (1915 bis 1948) hat eines beschrieben: Die Decke des Schlafsaals war von Balken gestützt, auf einen war ein Paar Lippen gemalt. Rote Lippen muss man küssen: Die Neulinge mussten per Klimmzug mit dem Mund an die Malerei gelangen. Wenn sie nicht die Kraft hatten, wurden sie von den älteren Schülern zur »Aufmunterung« mit nassen Handtüchern geschlagen, bis sie fielen und zusammengekrümmt am Boden lagen.47 Damit waren sie reif für das System des Fagging: Ein junger Schüler musste einem älteren zu Diensten sein: ihm die Schuhe putzen, seine Kleidung in Ordnung halten, ihm das Frühstück servieren und anderes erledigen, was dem Unterdrücker gerade einfiel. Aus Sicht der Schulleiter, die bei der Züchtigung der Brut ihre Lehrer nicht über die Maßen beanspruchen wollten, war das in rechter Ordnung, schließlich galt es, aus den von Nannys im Zweifelsfall verzärtelten Früchtchen Männer zu machen.
Winston Churchill hat das Fagging-System durchgemacht, mochte davon indes nicht viel erzählen. Zum einen hätte er seinen Lesern wenig Neues gesagt. Zum anderen stopfen sehr viele Menschen Erfahrungen von Demütigung, die sie erdulden und einigermaßen überstehen, ganz nach hinten auf den Dachboden ihres Gedächtnisses, auf dass wie unter Spinnweben das Leid zu ein paar Anekdoten eintrockne. Das ist heutzutage nicht mehr üblich, im 19.Jahrhundert gehörte es zum Komment. In seinen 1930 publizierten Erinnerungen »Meine frühen Jahre« hat Churchill verbucht, dass er nach drei Jahren auf Harrow nicht mehr fag für einen älteren Schüler habe sein müssen.48 Der head boy, dem er zu Diensten war, erteilte ihm Hiebe, wenn er seine Aufträge nicht zufriedenstellend erledigte. Einmal begehrte Winston auf: Eines Tages werde er viel wichtiger sein als der Ältere. Die Replik des anderen: »Dafür gibt’s zwei weitere Hiebe mehr.«49
Einige meinen, das britische Internatssystem habe auf Konformismus abgezielt: Der Sinn für Hierarchie habe den Jungs eingeprügelt werden sollen, sodass sie später gute Offiziere, Verwaltungsbeamte des Empire oder Politiker abgäben.50 Mag sein. Allerdings kam es den besten Schulen, Eton, Winchester, Harrow, auf die Bildung von Charakterstärke an. Wie der Widerspruch zwischen zwei unvereinbaren Vorstellungen von Erziehung – konformes Männermaterial fabrizieren und gleichzeitig Persönlichkeiten heranbilden – aufgelöst wurde, lässt sich mit einem Wort Friedrich Nietzsches beschreiben: »Was mich nicht umbringt, macht mich stärker.«51 Es lag an den Zöglingen, wie gut sie ihre Schule überstanden.
So war die furchteinflößende Welt beschaffen, die Winston erwartete, als er kurz vor seinem achten Geburtstag der Fürsorge seiner Nanny, Mrs.Everest, entrissen und am 3.November 1882 in ein teures Internat verfrachtet wurde: StGeorge’s School, Ascot, in der südwestlich von London gelegenen Grafschaft Berkshire gelegen.52 Wie es da zuging, hat Churchill in »Meine frühen Jahre« geschildert. Die damaligen Lehrmethoden luden nicht eben zum Lernen ein. Nachdem Winston brav die Deklination des Wortes Tisch – mensa – auswendig gelernt hatte und der Lehrer zufrieden schien, fragte der Kleine: »Aber was soll das heißen, Sir?« Er meinte den Vokativ »O Tisch«, lateinisch »mensa«. Der Lehrer verstand nicht. Winston erklärte ihm, dass man doch mit einem Tisch nicht spreche. Der Lehrer beschied ihn, »mensa« sei die Anrede für einen Tisch, wenn man mit ihm sprechen würde. Winston darauf: »Aber das mache ich doch nie!« Nun war der Lehrer mit seinem Latein am Ende und griff auf das bewährte Argument zurück: Wenn der Junge weiterhin so widerspenstig sein wolle, werde es Prügel setzen.53
In »Meine frühen Jahre« hat Churchill manches aufgezeichnet, was sich vermutlich anders zugetragen hat. Das 1930 publizierte Buch schrieb er, immer in Geldnot, damit es sich gut verkaufe. Ob jede einzelne auf die Pointe hin verfasste Reminiszenz sich tatsächlich so zugetragen hat, spielt keine Rolle: In diesem von Zutraulichkeit zu den Lesern durchdrungenen Buch schilderte er, wie er sich Jahrzehnte zuvor gefühlt hatte.
Verbürgt ist: Der Schulleiter von StGeorge’s war ein Sadist, der den Jungen wegen geringfügiger Vergehen den nackten Hintern blutig schlug. Ja, mitunter schlug er so ausführlich, dass ein Kind unter dem Schmerz und der Angst seinen Schließmuskel nicht mehr unter Kontrolle hatte. Die infernalische Behandlung überstand Winston, weil er sich sowieso am falschen Ort fühlte und folglich nicht die geringste Absicht hatte, den Lehrstunden mit Eifer zu folgen, womit aus Sicht seiner Lehrer die Schule und er einigermaßen quitt gewesen sein dürften. Der Schulleiter verstand sein neu gegründetes Etablissement als eine Vorbereitungsschule für Eton. In einer Hinsicht hatte er Erfolg: Die Auspeitschungen in StGeorge’s, so Churchill, hätten überboten, was in Eton oder Harrow üblich gewesen sei: »Zwei- oder dreimal pro Monat waren alle Schüler in die Bibliothek beraumt; ein oder mehr Delinquenten wurden von den headboys in einen Nebenraum geführt und dort geschlagen, bis das Blut nur so floss, während alle übrigen bibbernd dasaßen und die Schreie anhörten.«54
Weil Winston sich nicht kleinmachen lassen wollte, nahm er die Schläge hin. Erschütternd sind die Briefe, die er seiner Mutter sandte. Die begannen – wie es sich gehört – mit der Frage, ob es der Mutter gut gehe. Niemals schrieb er – das hätte sich nicht gehört –, dass er nur unter Schmerzen sitzen könne, weil er verdroschen worden war. Er sprach sie an als »Mama« oder »Mamma«. Die Betonung – Freunde britischer Kostümfilme wissen das – liegt auf dem zweiten »a«. »Meine liebe Mamma … vergiss nicht, mich zu besuchen …« (Dezember 1882, da war Churchill eben acht Jahre alt geworden). So ging es weiter, Woche um Woche, Monat um Monat. »Komm mich bald besuchen, liebe Mamma«; »Warum bist Du nicht gekommen?«; »Bitte erlaube Everest, mich zu besuchen«. Zwischen 1885 und 1892 schrieb Churchill an seine Eltern 76 Briefe. Von seinen Eltern erhielt er in derselben Zeit sechs.55
Als 1884 Winston in den Ferien im Haushalt der Eltern weilte, gewann »Womanny«, Mrs.Everest, den Eindruck, dass der Kleine von Prügeln über das akzeptable Maß lädiert war. Die Eltern gaben ihn daraufhin in eine andere Schule: auf ein Internat in Hove nahe Brighton, von zwei Schwestern geführt, die keine heimlichen homosexuellen Lüste hegten. Als Winston Churchill ein alter Mann war, hat seine Großcousine Anita Leslie (1914 bis 1985) ihn zusammen mit ihrem acht Jahre alten Sohn besucht. Da das Kind dabei war, drehte sich die Unterhaltung auch um Schulen. Churchill erinnerte sich an die Zeit, als er selbst klein gewesen war, und sagte laut Leslie: »Wenn meine Mutter nicht auf Mrs.Everest gehört und mich von dieser Schule genommen hätte, wäre ich gebrochen worden. Kannst du dir das vorstellen: ein Kind, das komplett gebrochen wird?«56
Auf der Schule bei Brighton wurde die körperliche Züchtigung der Schüler natürlich ebenfalls praktiziert, wenngleich viel weniger brutal. Auch auf dieser Schule hatte Winston keine rechte Lust auf Dinge, die Lehrer ihm vermitteln sollten: Latein, Griechisch, Algebra, Geometrie und dergleichen. Dass er den richtigen Geschmack hatte, wurde ihm mehr als ein Jahrhundert später attestiert: Der Historiker Arthur Herman, Spezialist für das britisch-indische Verhältnis, bemerkte maliziös: Eton, Harrow und andere Schulen hätten Massen von Absolventen produziert, »die sich gut auf Latein und Griechisch verstanden, nutzlos waren für jede Arbeit in der modernen Gesellschaft«, aber bereit, auf irgendeinem entlegenen Posten auf dem indischen Subkontinent stationiert zu werden.57 Hätte der junge Churchill dieses herabwürdigende Urteil gehört, es wäre ihm vielleicht ein Ansporn gewesen zu beweisen, dass auch gute Latein- und Griechischkenntnisse das Empire stützten. In seiner Jugend schien das Erlernen dieser Sprachen Churchill tatsächlich nicht mehr zu sein als eine für das Leben sinnlose Übung. Geschichte hingegen interessierte ihn, in dem Fach war er meistens gut. Seine Beherrschung des Englischen wurde in Brighton sowie später auf Harrow vielfach bemängelt. Lesern seiner Kinderbriefe muss das Urteil unverständlich erscheinen; wie dem auch sei, das Englische wurde ihm ganz genau beigebracht: »Mr.Somervell – ein wunderbarer Mann, dem ich zu großem Dank verpflichtet bin – hatte die Aufgabe, den dümmsten Jungs das unbedeutendste von allem beizubringen: Englisch schreiben […] Das lernte ich ausführlich. Seither sitzt die Grundstruktur normaler britischer Sätze mir in den Knochen – was eine feine Sache ist.«58
Winstons Fortschritte beim Schreiben »normaler« Sätze zeigten sich auch in seiner Übung darin, die Briefe an seine Eltern konventionellen Standards gemäß abzufassen. Nachdem er steif seine Hoffnung zum Ausdruck gebracht hatte, Vater oder Mutter möge es wohl ergehen, gab er einen kurzen Bericht über die Wetterverhältnisse. Im Mai 1887, da war er zwölf Jahre alt, schrieb er seiner Mutter, weil er »bösen Husten« gehabt habe, sei er nicht im Freien gewesen und könne deshalb über die Wetterverhältnisse nichts sagen.59
Das Wetter ist seit jeher von großer Bedeutung: Das Gespräch über das Wetter erlaubt die kurze, unverbindliche Unterhaltung auf der Straße, dies umso mehr, als es in England grundsätzlich »wenig Wetter« gibt: Orkane, Hurrikane, wilde Überflutungen und Schneestürme kommen »auf den britischen Inseln so gut wie nicht vor«.60