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Die Geschichte der Familie Boysen »All das Kommen und Gehen in unserer Familie begann mit einem angekündigten Tod und einem unangekündigten Sturm. Mond und Flut, Schnee und Sturm, Brüder und Schwestern, Geliebte und ungeborene Kinder trafen ohne Vorwarnung aufeinander. Über Nacht verwandelte sich unser Haus in eine Insel im Eismeer und unsere Sippe in eine Gemeinschaft Schiffbrüchiger.« Die Nachricht von Inge Boysens Tod war ein Fehlalarm. Doch da haben sich Kinder und Kindeskinder bereits in dem kleinen Haus hinter dem Deich versammelt. Kurz vor dem Jahreswechsel schneidet ein Schneesturm Haus Tide und seine Bewohner von der Außenwelt ab. Während draußen die Welt vereist, kochen im Innern alte Feindseligkeiten und neue Sehnsüchte hoch. Drei Generationen in einem eingeschneiten Inselhaus – in wenigen Tagen entfaltet sich zwischen ihnen das Leben in seiner ganzen Tragik, Komik und Magie. Die Geschichte der Boysens geht in ›Die Glücksreisenden‹ weiter!
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Seitenzahl: 552
Sybil Volks
Wintergäste
Roman
dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
Für meine Mutter Hannah und meine Brüder
Thomas und Jan
Und für Anne, meine ganz persönliche
glückliche Insel
Wintergäste nennt man Vögel, die in einem Gebiet, in dem sie nicht brüten, überwintern – weil es dort wärmer ist und sie mehr Nahrung finden. Manche Wintergäste befinden sich auf der Durchreise, andere bleiben bis zum Frühjahr. Die einen kommen alle Jahre wieder, andere nur, wenn es unbedingt sein muss. Es gibt Winterflüchter und Invasionsscharen, Nahrungsgäste, Irrgäste und Ausnahmegäste – gerade so wie bei den Menschen.
Inge, Mutter und Großmutter der Familie Boysen, die mit einem Augenzwinkern eine wahrhaft stürmische Geschichte in Gang setzt
Enno, der älteste Sohn, den erst ein Hirngespinst richtig in Fahrt bringt
Kerrin, Ennos Frau, die tut, was getan werden muss, damit nicht immer einen Blumentopf gewinnt (und ohnehin Gemüse vorzieht)
Boy, der zweite Sohn, der nur tut, was er will, doch am Ende für alle Kopf und Kragen riskiert
Gesa, die älteste Tochter, in deren Brust zurzeit zwei Herzen schlagen
Jochen, Gesas Mann, der wenigstens eines davon zurückgewinnen möchte
Matteo, Gesas Geliebter, der zu betörend ist, um bereut zu werden
Berit, die zweite Tochter, die vom Lügen Pickel kriegt, sich jedoch für ihr Leben gern etwas ausdenkt
Inka, Adoptivtochter von Enno und Kerrin, die neuerdings von Kopf bis Fuß in Schwarz geht und dabei knallbunte Träume hat
Marten und Kaija, Kinder von Gesa und Jochen, die einen Schatz suchen, während die Erwachsenen sinnlos küssen und streiten
das Kind von Gesa und Matteo, das sich im Bauch über den Trubel da draußen nur wundern kann und schließlich von Neugier gepackt wird
Kater Ahab, einäugiger schwarzer Kater, der voll den Durchblick hat
Heide und Schnucke, Heidschnucken, welche die Geschichte von A-Z bezeugen könnten, jedoch Wichtigeres zu schafen haben
All das Kommen und Gehen in unserer Familie begann mit einem angekündigten Tod und einem unangekündigten Sturm. Mond und Flut, Schnee und Sturm, Brüder und Schwestern, Geliebte und ungeborene Kinder trafen ohne Vorwarnung aufeinander. Über Nacht verwandelte sich unser Haus in eine Insel im Eismeer und unsere nichts ahnende Sippe in eine Gemeinschaft Schiffbrüchiger.
Das Kommen und Gehen, das Hin und das Her, der Stein, der ins Rollen kam, und das Schicksal, das seinen Gang ging, sprang und stolperte: All das begann, als wir herbeigerufen wurden aus unseren Dörfern und Städten, Plänen und Leben, als wir mit Kindern und Koffern kamen, weil Mutter von uns gegangen war. Vorübergehend zumindest, zur Probe. Vielleicht, um das Sterben auszuprobieren, so wie sie für ihr Leben gern das Essen probiert hatte, in fremden oder eigenen Töpfen, in die sie mit dem nächstbesten Löffel fuhr, bevor sie mit geschlossenen Augen die Beute ableckte. Vielleicht war das Sterben ihr noch zu heiß erschienen oder der Tod versalzen; jedenfalls öffnete sie, anstatt den Löffel abzugeben, auf dem vermeintlichen Totenbett noch einmal die Augen. Womöglich war das die Probe, Inges eigentliche Probe aufs Exempel: Mal sehen, was die Mischpoke im Ernstfall wert ist.
Denn in jenem Augenblick, als die Tote die Augen aufschlug, hatte sie sich bereits auf den Weg gemacht, die Karawane der Kinder und Kindeskinder, im Auto, im Flugzeug, in der Bahn und im Bauch.
Sonniger Tag,
wintermilchblauer Himmel,
beinahe windstill.
Kleine, kurze Wellen
mit glasigen Kämmen.
»Dort, weit draußen, brauen
sich die Unwetter … zusammen,
werden die Wellen mit
Energie aufgeladen.«
Kristine von Soden
Dann muss ich wohl tot sein, denkt sie. Soeben hat Inge die Augen aufgeschlagen und Schwarz gesehen. Gegenüber ihrem Bett, dort, wo ihr gewöhnlich ihr Gesicht im Wandspiegel begegnet – ein weißer Haarschopf, hellblaue Augen –, erblickt sie nichts als unergründliches Schwarz. Dieses Tuch sagt mehr als tausend Engelszungen. Höllenfeuer. Oder Schmeißfliegen. In den Zimmern der Toten werden seit jeher die Spiegel verhängt, um nicht vom Sog des Jenseits erfasst zu werden und ihnen schlafwandlerisch durch die geöffnete Pforte zu folgen. Wer als Erster hineinblickt, bevor der Verstorbene unter die Erde gebracht ist – versenkt und versiegelt auf Nimmerwiedersehen –, den wird der Tod als Nächsten holen.
Viele Male hat der Spiegel schon Trauer getragen. Die Schwester hat aufgebahrt in der guten Stube gelegen, später Mutter und Vater einträchtig nebeneinander wie selten im Leben, im dämmrigen Schein der Kerzen, im Dunstkreis verwelkender Blumen und ihres Totengeruchs. Die Vorhänge waren fest zugezogen, kein Lichtstrahl störte ihre Ruhe. Nun ist die Welt vor ihr verschlossen, der Spiegel verhüllt worden. Nur ein schmaler Streifen Licht fällt durch den Spalt zwischen den Gardinen. Doch keine Kerze brennt und keine welkende Blume verströmt Trauergeruch. Wahrscheinlich hat noch niemand die Zeit gefunden, sich um Kerzen und Blumen zu kümmern. Sie ist ja noch nicht einmal kalt. Oder? Inge versucht die Hand zu heben, ihren Arm zu befühlen, ein Stück Haut. Die Hand ist zu schwer, der Arm bleiern.
Zu gerne würde sie jetzt einen Blick in den Spiegel werfen, den großen Wandspiegel mit dem wurmstichigen Holzrahmen und den blinden Flecken, der hier hing und die Dinge spiegelte, seit sie in Haus Tide lebte, dem Haus ihrer Eltern, Großeltern, Urgroßeltern, Ururgroßeltern … Seit ihrem ersten Tag auf der Welt. Was hat sie schließlich zu verlieren? Gegen die Todesstrafe ist sie nun immun. Doch sie kann weder Tuch noch Geheimnis lüften, nicht einmal den kleinen Finger bewegen.
Es muss Tag sein. Mittag. Ein wintermilchblauer Himmel liegt jenseits des Vorhangs, der kurze Tag geht seinem Höhepunkt entgegen, eine hellgelbe Wintersonne, entschlossen, ihr Letztes zu geben, lässt die durchscheinenden Blätter an den Zweigen leuchten. So war es jedenfalls zuletzt, als sie noch lebte. Als sie mit ihren löchrigen Gartenhandschuhen Tannenreisig in die Zweige des Rosenstocks gehängt hat, um ihn gegen Wind und Frost zu schützen. Sie solle sich die Mühe sparen, haben alle gesagt, von Eis und Schnee keine Spur. Selbst viele Gänse aus dem hohen Norden, die sonst nur Rast machten im Wattenmeer auf ihrem Zug nach Süden, sind in diesem Jahr hiergeblieben. Wie so oft an der Küste und auf den Inseln sind die Weihnachtstage lauwarm gewesen, feucht und nieselig. Aber sie spürte etwas in den Knochen, kommenden Frost und noch etwas anderes, Unbekanntes, gegen das kein Kraut und kein Tannenreisig gewachsen war. Und heute Vormittag hat sie eine Schar Gänse hoch am Himmel gesehen, die sich in einem langen Zug auf den Weg machten, verspätete Winterflüchter nach Süden.
Also hat sie Mulch angehäufelt, Reisig gehängt, sich danach für ein kurzes Nickerchen hingelegt, wie sie glaubte. Tja, so schnell kann’s gehen, denkt Inge, da fällt ihr Blick auf das halb volle Glas Himbeersaft auf dem Nachttisch, und sie verspürt ein unwiderstehliches Verlangen, das Glas in einem Zug zu leeren. Sie weiß, wie dieser Saft schmeckt, Wasser mit Sirup gemischt, den sie selbst aus den Beeren gekocht hat. Nach Juli schmeckt er, dem vergangenen und, wie es aussieht, dem letzten in einer langen und doch endlichen Reihe von Julis. Köstlich. Vor allem zusammen mit den Schokodrops, die sie in der Nachttischschublade aufbewahrt. Himmlisch. Wäre da nicht die unerreichbare Schublade. Vielleicht war das die Hölle? Ein Glas Himbeersaft und Schokodrops vor der Nase, und du kannst weder die Arme noch den Kopf heben. Nur sehen und hören, zusehen und zuhören, denken und nachdenken.
Keinesfalls hätte sie gedacht, dass man als Tote immer noch denken würde. Dieser nie versiegende Fluss von Unsinn, der einem durch den Kopf rauschte, wenn der Tag lang war. Und lang würden die Tage werden, wenn das hier alles sein sollte. Über den unerreichbaren Schokodrops und neben dem unerreichbaren Himbeersaft liegt ein aufgeklapptes und nun ebenfalls unerreichbares Buch. Nein, denkt Inge, so geht das wirklich nicht. Ihr Leben mit einem Knall zuzuklappen, gerade, als es so spannend wurde. Das Buch. Und ihr Leben? Mit jedem Tag auf der Welt, nach beinahe achtzig Jahren, schien es ihr bemerkenswerter, das Leben, zart und grausam wie eine Katze. Im Licht betrachtet glatt und geschmeidig, doch ein einsamer Jäger bei Nacht.
Nein, sie, Inge Boysen, wollte noch nicht zugeklappt und beiseitegelegt werden. Wenn auch viele ihrer Tage sich glichen, so wehte doch täglich ein anderer Wind. Und selbst wenn die paar Handvoll Tannenreisig gegen den Frost ihre letzte Tat gewesen sein sollten, wollte sie lieber hier liegen und dem Seewind lauschen, der das an- und abschwellende Brausen der Wellen ins Haus trug, als sich in irgendeinem Himmel in Luft aufzulösen. Würde es vorziehen, als Schemen den Dingen beizuwohnen, die vor sich gingen hinter dem jahrhundertealten Gemäuer, unter dem tragenden Balken aus dem Mast eines von ihren Vorfahren eigenhändig geplünderten Schiffs.
Dieselben Vorfahren, die das fremde Unglück des gestrandeten Schiffs in das Glück eines eigenen Hauses verwandelten, hatten Haus Tide weit abseits des Dorfes errichtet. Gleich hinter dem Deich an der Seeseite der Insel anstatt im Hafenort an der Wattenseite oder inmitten der Insel auf einer Warft, wie vernünftige Zeitgenossen es taten. Es ging das Gerücht, dass es aufbrausende, eigenbrötlerische Menschen waren, die sich nicht einfügen konnten in die Gemeinschaft. Und dass der Fluch des geraubten Schiffsmasts eines Tages auf die Sünder zurückfallen würde. Bis heute gab es, vielleicht zur Strafe für den Eigensinn, nicht einmal eine befestigte Straße zu ihrem Haus, nur einen staubigen Feldweg.
Doch trotz des Fluchs hat der tragende Balken, der durch die Decke des Erdgeschosses verläuft, ihre Familie bis zum heutigen Tag nicht erschlagen. Aufgehängt soll sich daran einst jemand haben, zweimal vergeblich, bis endlich beim dritten Mal das Seil sein Versprechen hielt. So hat es Engelline erzählt, wenn sie als Kinder zusammen im Alkoven in der Stube lagen, hinter den geschlossenen Holztüren des Schrankbetts. »Immer schnell hindurch unter dem Balken«, hat die Schwester im Dunkeln geflüstert, »und niemals, niemals darunter stehen bleiben!« Denn wenn sie auf der Stelle verweile, wo noch immer, sachte, sachte im Nachtwind der Geist des Erhängten baumle … Bei Tageslicht wollte Engelline davon nichts wissen, ging Fuß vor Fuß setzend unter dem Holzbalken entlang, verharrte mit triumphierendem Lächeln darunter und sagte »siehste«.
Ach, Engelline. Auch das hast du mir versprochen, bevor du mich alleine hast sitzen lassen im Leben: dass wir uns wiedersehen da oben, im himmlischen Alkoven mit den hellblauen Türen, den dicken weißen Wolkenkissen und tausendundeiner Sturm- und Schauergeschichte. Aber nur im Dunkeln hast du es geschworen und niemals bei Tageslicht.
Der Alkoven ist noch da, der Balken, der Spiegel. Doch Engelline ist fort, die im Alkoven träumte, und Großmutter, die sich unter dem Balken des geplünderten Schiffs bekreuzigte, und Mutter, die einst den Spiegel für beide verhüllte. Wohin sind sie entschwunden, die Menschen, die über die Jahre durch diese Räume gingen, und wohin die Spiegelbilder der wechselnden Bühnen und Ensembles? Und wo, wenn man mal fragen durfte, steckten eigentlich die jetzigen Bewohner? Sie hat genug von der Totenstille.
Da dringt die Stimme ihrer Schwiegertochter durch die Wand. Schritte nähern sich, Kerrin geht im Flur auf und ab. »… plötzlich und unerwartet«, sagt sie, »einfach nicht mehr aufgewacht!«
Das Klappern der Absätze auf den Fliesen entfernt sich, kommt zurück. »Jochen«, ruft Kerrin atemlos, »gut, dass ich dich erreiche! Gesa geht nicht ans Telefon.«
Gesa! Auf keinen Fall durften sie Gesa erschrecken, herausreißen aus ihrer aberwitzigen Glückseligkeit, in der sie wie das Kind in ihrem Bauch schwamm. Jung und funkelnd, wie frisch koloriert sah sie aus, ihre Tochter, trotz des Schlamassels, in dem sie steckte und in das sie ihre ganze Familie hineingeritten hatte. Lasst sie doch weiterträumen, unsere Traumwandlerin, die noch früh genug erwachen wird. Sie muss Kerrin zum Schweigen bringen! Aber wie, da sie hier auf Erden keine Stimme mehr hat?
Viel schlimmer als der Durst angesichts des unerreichbaren Himbeersaftes ist die Sorge um ihre unerreichbaren Kinder. Was soll aus ihnen allen werden? Enno, mit dem sie all die Jahre unter diesem Dach gelebt und der so vieles hineingesteckt hat in sein Elternhaus, Geld und Geduld, Zeit und Liebe und so manchen ungelebten Traum. In dessen Augen neuerdings Panik aufschien, die er ausknipste, sobald man seinem Blick begegnete. Und ihre Jüngste, Berit, die es vorzog, fern von ihnen ganz für sich zu leben, in einer Straße, in der man die meisten Menschen, denen man begegnete, nicht verstand – genau wie Berit. Und nicht zuletzt Boy, weit draußen auf dem Ozean – erst Haus Tide, dieser Hafen, in den er jederzeit zurückkehren konnte, hatte ihn frei gemacht.
»Wer sagt eurem Bruder Bescheid?«, hört sie Kerrin hinter der Tür. »Auf welchem Meer treibt der sich zurzeit herum?«
Sie alle werden bald kommen, sich im Haus versammeln. Die vier Kinder, die Schwieger- und Enkelkinder, ausnahmslos und ohne die üblichen Lücken, so wie es seit Jahren, vielen Jahren nicht mehr vorgekommen ist, obwohl sie es sich so oft gewünscht hat. Dass sie das noch erleben darf! Unsinn. Darf sie ja gar nicht. Bloß in der Nebenrolle als Leiche. Ach was, eben nicht, auf diese Rolle ist sie nicht vorbereitet, es gab bislang keinerlei Proben. Sie ist noch gar nicht richtig alt und gebrechlich gewesen, und dann gleich tot, die Reihenfolge war ja völlig verkehrt! Immer gab es so viel zu tun, im Haus und im Garten, im Kunstverein, und für jedes halb gelesene Buch wuchsen drei ungelesene nach auf dem wackligen Nachttisch. Sie ist einfach noch nicht dazugekommen, die Dinge zu regeln.
Wie bitte? Du meinst, ich soll mir nicht in die Tasche lügen, Engelline? Weil die Tasche ein Loch hat und die Lüge mir auf die Füße fällt? Na schön. Wenn du es unbedingt wissen musst: Nach all den Nächten des Grübelns sehe ich noch immer keinen Hoffnungsschimmer am Horizont. Und damit meine ich nicht das ewige Leben, Engelline, mir würde es vollkommen reichen, wenn ich wüsste, dass unser Haus weiterlebt. Nicht den Schimmer einer Hoffnung habe ich, dass man es vierteilen und dabei heil lassen kann. Erst gestern Nacht hatte ich wieder diesen Traum. Am Ende hing ein Schild »Zu verkaufen« im Fenster zum Feldweg. Schließlich wich das Schild bemalten Holzmöwen, die Scheune einem Carport, unser Alkoven einer Wohnlandschaft und der Bilegger einem Flachbildfernseher. Und es sollen doch alle Träume, die wir in der Zeit zwischen den Jahren träumen, im neuen Jahr in Erfüllung gehen. Nein, habe ich im Traum geschrien, nur über meine Leiche! Und das habe ich nun davon.
Inges Blick wandert durch den Raum und bleibt am Klavier neben dem Fenster hängen. Wenn bloß Boy rechtzeitig gekommen wäre, vor ihrem Tod. Wie er es ihr immer versprochen und sie es ihm immer geglaubt hat. Ihr seefahrender Sohn ist der Einzige von ihnen, dem sie zutraut, das Zauberwort zu kennen, den Schlüssel im entscheidenden Moment aus der Tasche zu ziehen. Kaum hat sie diesen Gedanken zu Ende gedacht, öffnet sich die Zimmertür, und noch einmal sieht Inge schwarz.
Kater Ahab springt auf ihre Bettdecke und starrt sie mit seinem einzigen Auge an. Auf Ahab folgt Kerrin, die ins abgedunkelte Zimmer huscht. Warum schleichen eigentlich alle um die Toten herum, denkt Inge. Das nervt. Fürchten sie vielleicht, uns aufzuwecken?
Zögerlich nähert sich Kerrin dem Bett, wedelt mit der Hand, um Ahab zu verscheuchen, ohne Inge ins Gesicht zu sehen. Inge jedoch sieht Kerrin ins Gesicht, und endlich wendet ihr auch Kerrin den Blick zu. Erstarrt. Reißt Mund und Augen auf.
Keine Panik, Kerrin. Inge zwinkert ihr zu.
Kerrins Gesicht kippt aus ihrem Blickfeld, dann die ganze Kerrin, und im selben Moment, als Inge aufgeht, dass sie keineswegs tot ist, ertönt ein lauter Knall.
Gesa holt ein Plätzchen aus der Tasche des Wintermantels, der sich über ihrem dicken Bauch nicht mehr schließen lässt. Unter dem dunklen Mantel blitzt ein kirschrotes Sommerkleid hervor. Gesa steckt sich eine Plätzchenhälfte in den Mund und bröselt die andere den Vögeln hin, den Rotdrosseln, Singdrosseln und Staren, die das kalte Land und die kühle Stadt nicht verlassen haben. Die in Hamburg weiterleben und singen, in Matteos Straße, in Matteos Hinterhof, der an einem sonnigen Dezembertag von Gezwitscher erfüllt ist. Ein Jahr geht zu Ende, das außerordentlichste Jahr ihres Lebens, und sie sind immer noch da, die Zugvögel, die Singvögel. Alles kann wieder gut werden.
Laut pfeift sie die Melodie, die sie immer als Klingelton ihres Handys einstellt, bevor sie hierherkommt. »When the moon hits your eye like a big pizza pie, that’s …« Vielleicht hat er das Fenster geöffnet und hört ihr Pfeifen. Matteo hasst diesen Italo-Schmalz. In sich hineinlächelnd fasst Gesa in die Manteltaschen und streut Futter unter der Linde aus, deren Wurzeln den Asphalt im Hof aufsprengen und deren Äste bis zum fünften Stock reichen. Bis zu ihm. Weiß gepunktete Stare hüpfen von den Ästen der Linde, stolzieren zu den Futterhäufchen, picken Samen und Beeren auf. Es können Wintergäste aus dem Norden sein, überlegt Gesa, oder auch heimische Vögel, die in diesem Jahr hiergeblieben sind, weil der Winter so mild war. Sie blickt hoch zu Matteos Fenster, wünscht sich, dass er herausschaut und winkt, wünscht sich, dass er nicht herausschaut und vor Freude umfällt, wenn sie gleich vor der Tür steht. 88 Stufen, es geht langsam jetzt, mit dem Bauch. Anfangs, da hat sie die Treppe von unten bis oben im Laufschritt genommen. Nur wieder hinunter ging es schleppend.
Die schwere Haustür des Seitenflügels ist nur angelehnt. Im Treppenhaus fällt Gesas Blick auf den Briefkasten mit seinem Namen. Durch das Gitter im Kasten sieht sie ein Kuvert mit ihrer Handschrift, den Brief, den sie ihm geschrieben hat auf der Wäschetruhe hinter der abgeschlossenen Badezimmertür, in der Atempause zwischen dem Schmücken des Baums und Begießen des Bratens, bevor die Kinder hereinstürmten und die Bescherung begann. Sie würde den Brief gerne herausfischen, ihm in die Hand drücken, ihm beim Lesen zusehen. Ob es ihr gelungen ist, ihn zum Lachen zu bringen und vielleicht auch zum Weinen.
Es gibt keinen Aufzug in dem alten Haus, nur steile Stufen. Vielleicht haben hochschwangere Frauen, als es gebaut wurde, ihre Wohnungen nicht mehr verlassen. Sicher war damals wie heute nicht vorgesehen, hochschwangeren, verheirateten Frauen den Weg zu ihrem Liebhaber zu erleichtern. Womöglich würde sie aber, selbst wenn es einen Aufzug gäbe und trotz der fahrlässig hohen Absätze, die sie heute trägt, noch immer die Treppen wählen, um es auszukosten. Das Glück, wieder hier zu sein nach so langer Zeit.
Schon auf halbem Weg holt sie den Schlüssel heraus. Sie hatte es nicht fassen können, als Matteo ihn ihr eines trüben Herbstmorgens beiläufig gab, bevor er zur Arbeit fuhr. Bis dahin hatte sie jede Minute mit ihm aufgesogen in der Erwartung, dass im nächsten Moment der Vorhang fallen würde. Licht an und aus der Traum. Bitte den Saal zu verlassen. Lange hatte sie den Schlüssel angestarrt, der auf dem Küchentisch lag zwischen Brötchenkrümeln und einer Zeitung voller plötzlich belangloser Neuigkeiten, und zu zittern begonnen. Sie hatte alles missverstanden. Nicht ein schöner Traum war ihr angeboten worden, sondern die Möglichkeit eines brandneuen Lebens.
Kaum hat Gesa die Tür zu Matteos Wohnung geöffnet, stolpert sie über die Schwelle in seine Arme. Als hätte er, seit er sie das letzte Mal zum Abschied geküsst hat, dort gestanden und gewartet, fünf Tage und Nächte lang. In dem Augenblick, als seine Arme sie umschließen, fühlt Gesa sich wie aufgehoben. Angekommen, zu Hause. Nicht in einem Zuhause, in dem man den Hausrat versichert und den täglichen Staub wischt, sondern an einem Ort, den es gar nicht geben kann und der doch immer schon da gewesen ist. Als ihre Lippen sich berühren, fährt ein heißer, süßer Strom in ihren Körper, rieselt von Kopf bis Fuß und kreist schwindelerregend durch die Adern. In Matteos Armen atmet Gesa seinen Geruch ein, vertraut und fremd. Immer von Neuem verwirrend.
»Du riechst nach Familie«, sagt Matteo. »Familie unterm Weihnachtsbaum.«
»Marten hat mir nichts geschenkt dieses Jahr.« Gesa sitzt in einer Ecke des Sofas in Matteos Wohnküche, mit ineinander verkrampften Händen. »Und mein Geschenk hat er gar nicht erst ausgepackt. Tiefer kannst du nicht sinken, oder? Als wenn dein eigener Sohn …«
Matteo steht auf und gießt sich und Gesa Espresso ein. Trotz der Schwangerschaft besteht sie darauf, ihn schwarz zu trinken. Lieber nur ein paar Tropfen, verlangt sie, aber pur. »Meine Eltern haben mich wieder ausgeladen«, sagt er, faltet Gesas Hände auseinander und nimmt sie in seine. »Mamma hat Migräne bekommen bei der Aussicht, neben einem Ehebrecher in der Christmette zu sitzen.«
»Tut mir so leid.« Sie streicht ihm durchs Haar. Sicher hat er wieder eine halbe Stunde gebraucht, um es so beiläufig verwuschelt aussehen zu lassen wie nach einer frischen Brise. »Aber wo warst du dann an Heiligabend?«
»Das willst du nicht wissen, Gesamia«, sagt er, ohne sich im Geringsten gegen die Zerstörung seiner Frisur zu wehren. Es muss wirklich trostlos gewesen sein.
Nein, sie wird ihn nicht weiter fragen. Und Matteo braucht nicht zu wissen, dass Jochen ihr die Rubinohrringe geschenkt hat, nicht ahnend, wie oft sie diese im Schaufenster bewundert hat, wenn sie auf dem Weg zu ihrer Praxis daran vorbeikam. Die Zeit für solche Geschenke war doch eigentlich für immer vorbei. Aber getragen hat sie die Ohrringe, am Weihnachtsabend, als die Kinder im Bett waren und Jochen und sie im Wohnzimmer standen, leere Weingläser in den Händen, zwischen ihnen der Couchtisch und die Sofaecke, Leselampen und Bücher, die sie im Laufe der Jahre gemeinsam ausgesucht hatten. Die Elektrokerzen am Baum strahlten und ihrer beider Lieblingsaufnahme der Goldberg-Variationen erfüllte den Raum. Es war so still, dass sie Glenn Gould am Piano leise mitsummen hörte, und es kostete sie alle verbliebene Kraft, ihre Tränen zurückzuhalten. Wenn einer von ihnen ein Recht auf Tränen hatte, war es mit Sicherheit nicht sie.
Gesa schließt die Augen und vergräbt die Nase in Matteos Haar. Jetzt ist sie hier. Seine Haare riechen so gut. Und der Hals. Die Wangen. Noch viel besser als zu Anfang. Etwas Süßes mischt sich in das Fremde.
Sie hat das Dachfenster über dem Bett geöffnet, um sie wieder zu hören, die Rotdrosseln, Singdrosseln und Stare, die in diesem Winter den Süden haben sausen lassen, um weiterhin auf der Linde im Hof zu zwitschern. Den ganzen Tag, nein, das ganze bald anbrechende neue Jahr möchte sie hier liegen, im zerwühlten Bett ihres Liebsten, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, und in dasselbe Stück Himmel schauen wie er.
»Mund auf, Augen zu«, befiehlt Matteos Stimme.
Glatt und kühl liegt die Weintraube auf der Zunge. Noch eine und noch eine, jede süßer und saftiger als die andere, frisst sie ihm aus der Hand. Lutscht an ihnen, zerbeißt sie und schluckt sie schließlich mit Haut und Kernen. Verlangt nach mehr.
»Schluss jetzt.« Matteo nimmt die restlichen Trauben und wirft sie in hohem Bogen durchs Fenster in den Hof. »Sonst werd ich noch eifersüchtig auf das blöde Obst.«
Er beugt sich zum Frühstückstablett, das auf dem Boden vor dem Bett steht, hält die Plastikflasche mit Honig über Gesas Bauch und öffnet sie. Gesa zieht die Luft ein, als der erste Tropfen dunklen Honigs ihren Bauchnabel trifft. Ein feiner Strahl tropft auf sie herab, sammelt sich im Nabel, fließt die abschüssige Rundung ihres Bauchs hinunter, nimmt Fahrt auf, bahnt sich seinen Weg über ihren Venushügel und rinnt weich und klebrig durch ihre leicht geöffneten Lippen. Matteo folgt jedem Millimeter des Honigflusses mit Augen und Zunge.
Sie weiß inzwischen, dass er versessen auf Süßes aller Art ist. Dabei hatte zwischen ihnen alles mit Zitronen begonnen. Noch immer kann Gesa nicht fassen, wie es ihr gelungen ist, sich so rettungslos zum Narren zu machen. Auch Matteo muss verrückt sein, ebenso vernarrt wie sie, das ist die einzige Erklärung.
Vor einem und einem Vierteljahr, das ihr wie ein Jahrzehnt erscheint, war sie zum Hamburger Flughafen gefahren, um eine Reise für ihre Familie zu buchen. Wie immer im Herbst hatte sie, angesichts der Vogelschwärme, die über sie hinweg nach Süden zogen, eine tiefe Melancholie erfasst, gefolgt von wachsender Unruhe. Zweifellos gehörte sie zu den Winterflüchtern. Ohne zu einer Entscheidung zu kommen, hatte sie im Internet die halbe Welt umrundet, Kataloge durchforstet und war schließlich durch das Flughafengebäude gehetzt, um bei den dortigen Reiseveranstaltern den »perfekten Urlaub für die ganze Familie« zu finden. Doch für ihre Familie schien es einen solchen nicht zu geben. Kaija und Marten wollten wie jedes Jahr zu Omi auf die Insel. Jochen sehnte sich nach verschneiten Berggipfeln, sie selbst nach einer sonnigen Küste. Warum blieben sie nicht einfach zu Hause? Auf dem Balkon. Sie jedenfalls würde jetzt dorthin zurückkehren.
Dann war da plötzlich diese Stimme in ihrem Kopf, die ihr einflüsterte, dass sie dreimal hintereinander erst nach rechts und dann nach links gehen sollte, um mit der Nase auf den Stein der Weisen und die Pforte zum letzten unentdeckten Paradies zu stoßen. Sie war dreimal hintereinander erst nach rechts und dann nach links gegangen und gegen den Last-Minute-Counter geprallt.
»Wo soll es denn hingehen?«, hatte der junge Mann mit höflichem Lächeln gefragt.
»Keine Ahnung«, hatte sie geantwortet. »Irgendetwas … Neues. Unbekanntes.«
»Und was ist Ihnen noch unbekannt?«, fragte der junge Mann mit charmantem Lächeln. »Welcher Kontinent, welche Region?«
Was für eine Stimme, hatte sie gedacht. Was für eine Melodie. Und dann hörte sie ihre eigene Stimme antworten: »Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn? Im dunkeln Laub die Goldorangen glühn?«
»Immer eine gute Wahl«, sagte der junge Mann mit bezauberndem Lächeln. »Für wie viele Personen möchten Sie buchen?«
»Für mich. Nur für mich.«
»Manchmal eine gute Wahl«, sagte der junge Mann, ganz ohne zu lächeln. »Aber wissen Sie auch, wie die erste Strophe endet?«
Inzwischen wusste sie es. »Kennst du es wohl? Dahin! Dahin möcht ich mit dir, o mein Geliebter, ziehn.« Sie hatte die Reise mit ihm, ihrem Geliebten, angetreten. Eine Reise, für die sie weder Ticket noch Bordgepäck benötigte, nur einen unerschöpflichen Vorrat an Mut und Übermut. Der Trip ihres Lebens, der sie nichts gekostet hatte, außer vielleicht ihr bisheriges Leben. Ja, sie hatte eine neue Welt entdeckt, ohne dass sie Hamburg dafür einen Tag verlassen musste. Das Frühjahr sei regnerisch gewesen, der Sommer wechselhaft, stand in der Zeitung, Herbst und Winter das übliche Schmuddelwetter, wurde ringsum geklagt, doch sie war Tag und Nacht, sommers wie winters von prickelndem Glühen erfüllt. So auch in jener stürmischen Nacht im April, als sie in Sommerkleid und Sandalen zu Fuß aus dem Haus ging und morgens blau vor Kälte und berauscht von Glück nach Hause kam.
Das war der Morgen, als Jochen zum ersten Mal weinte. Nicht nur um sich weinte, auch um sie. Das war der Tag, an dem sie Jochen und sich selbst schwor, die Rückreise anzutreten. Doch da hatten sie sich schon eingenistet in ihr, um zu wachsen und Blüten zu treiben: das Baby, die Liebe, die bescheuerte Hoffnung, die berechtigte Angst, der unvermeidliche Schmerz. Nur nicht die Reue. Die kam nicht zu ihr, so sehr sie auch darum bat.
Matteo legt ihr eine Hand auf den Bauch, auf der Stelle wird ihre Haut durchlässig und warm. Ernst sieht er sie an, gar nicht mehr wie der Mann, der eben noch Trauben aus dem Fenster geschleudert hat, ohne an die Nachbarn zu denken. Oder an Mülltrennung. »Was wird aus uns?«, fragt er. »Wie soll es weitergehen?«
»When the moon hits your eye like a big pizza pie, that’s amore. When the world seems to shine like you’ve had too much …« Matteo steht auf, nimmt ihr Handy aus der Handtasche neben dem Bett und legt es oben auf den Kleiderschrank. Da, wo eben noch seine Handfläche auf ihrem Bauch gelegen hat, wird es kalt. In ihrem Bauch macht jemand eine Rolle rückwärts, so fühlt es sich an. Als würde sie selbst mit umgedreht, von außen nach innen und von innen nach außen. Es gluckert, pulsiert und pocht. »Zwei Herzen schlagen, ach, in meiner Brust«, ist ihre ehrliche Antwort auf seine Frage. Weiter weiß sie nicht. Sie weiß nicht weiter.
Dabei hätte sie es wirklich besser wissen müssen. Es war so peinlich. Seit zwanzig Jahren gab sie als Frauenärztin anderen Frauen schlaue Ratschläge, versorgte sie mit Rezepten, Broschüren und Lebensweisheiten. Ja, verdammt, sie wusste, wie man eine ungewollte Schwangerschaft verhütete. Aber sie wusste nicht, wie man eine ungewollte Liebe verhütete, einen Blitzschlag, der einen aus heiterem Himmel traf und die Sicherungen durchschmoren ließ von Kopf bis Fuß.
Der Himmel war blauer als zuvor, die Luft war luftiger, und die Lust war lustiger. Die Schiffssirenen sangen a cappella und die U-Bahnen ratterten taktvoll. Die Holzbänke im Park erinnerten sich ihrer Herkunft und trieben hellgrüne Blätter. Das Morgenlicht ließ sich trinken wie Milchshake, der Wind kämmte ihr das Haar, der Regen wusch sie, es war, als sei sie frisch geschlüpft, ein dottergelbes Küken von sechsundvierzig Jahren. Der Sex mit Matteo hat ihr neue Türen geöffnet. Und das, denkt Gesa, liegt nicht daran, dass Matteo jünger ist als sie oder Blut mit Migrationshintergrund durch seine Adern kreist, ich schwör’s dir, Alter. Vermutlich hat es diese Türen schon immer gegeben, nur ist sie bisher daran vorübergelaufen. Und dann ist sie im entscheidenden Augenblick Matteo begegnet, der im halb geöffneten Türflügel stand und die Flügel weit für sie öffnete.
Gemeinsam mit ihm war sie hindurchgegangen. Und durch die weit geöffnete Tür war eines Tages das Kind hereingesegelt. Sie hatte sich gewappnet, in Matteos entsetztes Gesicht zu sehen, von ihm zu hören, dass ein Kind das Allerletzte sei, was er von ihr wollte. Stattdessen fand er ihren immer runder werdenden Bauch göttlich. Auch sie selbst fand sich göttlich, vor allem wenn sie sich liebten und, so fühlte es sich an, eins wurden, er und sie und dieses Wesen aus ihr und ihm und einer unbekannten Alchemie. Zu denken, dass aus Matteos und ihrem Körper etwas Gemeinsames, Lebendiges entstehen würde, war so überwältigend schön. Nach tausenden Ultraschallbildern in ihrer Praxis, ungezählten dicken Bäuchen und Babys, die daraus hervorkamen, hatte sie zum ersten Mal das Gefühl zu begreifen, was mit dem Gerede vom Wunder des Lebens gemeint war. Sie jedenfalls konnte nicht aufhören, sich zu wundern.
So hatte sie es mit Jochen nicht empfunden, obwohl beide Babys Wunschkinder waren und Jochen genau der Richtige für sie, um mit ihm zu leben und Kinder zu haben. Doch mit Matteo war es anders. Dass aus den Stunden, in denen sie Liebe machten, nicht nur Liebe entstand, sondern etwas, das über diesen Augenblick und sie beide hinausging, schien ihr ebenso folgerichtig wie das Sprießen des Grüns, wenn das Eis schmolz, oder die Entstehung der Welt nach dem Urknall. Eine Kleinigkeit dieser Dimension etwa. Und so wusste sie bald, dass sie diese Schwangerschaft, gegen die alles sprach und alle sprachen, sehr wohl wollte – aber nicht, ob sie am Ende auch ein Kind wollte. Ein Kind, das ein ganz eigener Mensch war mit einem ganz eigenen Leben und ihr Leben für immer verändern würde.
Matteo und Gesa liegen nebeneinander auf dem Rücken, ihre Hand in seiner, beide ganz warm. Im Raum ist nur ihr Atmen zu hören. Das Gezwitscher der Vögel, das den Hof erfüllt hat, ist leiser geworden. Durch das Fenster hört Gesa noch schwach das Flöten der Singdrosseln heraus.
»Nun werden sie uns doch verlassen, nicht wahr?«, flüstert sie.
»Wer weiß«, sagt Matteo. »Vielleicht bleiben sie dieses Jahr.«
Ja, warum nicht, denkt sie und dreht sich zu ihm. Jetzt, da in Hamburg die Zitronen blühen, am dunkeln Elbstrand Goldorangen glühen. Der Süden ist zu ihr gekommen. Kein Grund mehr, vor dem Winter zu fliehen, Vorräte zu sammeln, Socken zu stricken und sich auf das Schlimmste gefasst zu machen.
»Lass uns tanzen!« Sie stützt sich auf dem Bett ab und kommt beim zweiten Anlauf auf die Beine. Gar nicht so einfach, miteinander zu tanzen, wenn die Tänzerin eine solche Kugel vor sich herschiebt. Matteo muss den Oberkörper vorbeugen, den Hintern herausstrecken und sich verbiegen, um mit den Füßen so ungefähr in ihre Nähe zu gelangen. Doch Matteo schafft es, diesen Tanz zu dritt in eine taktvolle Angelegenheit zu verwandeln. Und singen kann er auch. Dabei ist er gar kein Italiener.
Er ist Deutscher, in Deutschland geboren, Besitzer eines deutschen Passes. Deutscher mit Migrationshintergrund, genau genommen, wie sie oft genug versucht hat, ihren Mitmenschen beizubringen. »Gesa und ihr junger Italiener.« – »Gesa geht am liebsten zum Italiener.« Haha, wie lustig. Für alle anderen.
»When the moon hits your eye like a big pizza pie, that’s amore. When the world seems to shine like you’ve had too much wine, you’re in love. Bells will ring, ting-a-ling-a-ling, ting-a-ling-a-ling …«, singt es nun oben vom Kleiderschrank. Einen Augenblick sieht es aus, als wollte Matteo ihr Handy den Trauben durchs Fenster hinterherschicken. Und einen Moment überlegt sie, ob sie nicht doch einmal nachsehen soll, wer ihr an diesem Mittag kurz nach Weihnachten so dringlich etwas mitzuteilen hat. Aber da hat Matteo sie schon weiter durch die Wohnung geschwenkt, im Dreivierteltakt über den Flur und zur Tür hinaus in den ausgebauten Speicher, unter den Wäscheleinen hindurch. Wie immer flattern hier Ober- und Unterhemden, Hosen und Unterhosen, Geschirrtücher und Bettbezüge. Vielleicht ist das mit dem Italiener doch nicht so weit her, denkt Gesa, als sie sich in einem weißen Laken verfangen.
Matteo steht still, Gesa steht still, die Welt dreht sich weiter um sie im Dreivierteltakt. Matteo hört auf zu singen, Gesa hört auf zu summen, beide schauen sich an. Ganz wie beim ersten Mal würde sie alles tun in diesem Moment, alles geben und hergeben, versprechen und verraten, um diesen Mund zu küssen. Und als ihre Lippen seine berühren und seine Lippen sich ihren öffnen, ist es, ganz wie beim ersten Mal, ein Sprung von der Klippe, kopfüber – fallen und eintauchen, dass Hören und Sehen vergehen, strudeln und endlich atmen unter Wasser.
Auch Matteo ist gesprungen und abgetaucht. Gesa überlässt sich der Strömung, nur eine Hand umklammert die Wäscheleine. Ihre Zungen betasten, umspielen einander, stoßen tief hinein in die warme, feuchte Mundhöhle. Ihr sich vermischender Atem geht schneller, ihre Atemzüge kommen und gehen, steigen und sinken. Die Leine reißt. Weiße Hemden und Laken segeln auf den ungefegten Dachboden. »Bells will ring, ting-a-ling-a-ling, ting-a-ling-a-ling and you’ll sing, vita bella. Hearts will play tippy-tippy-tay, tippy-tippy-tay …«
Matteo flucht. Irgendjemand scheint es ernst zu meinen. Vielleicht ist es ernst. Gesa windet sich aus seinen Armen, geht in die Wohnung zurück und sieht nach. Das Display zeigt mehrere entgangene Anrufe von Kerrin. Typisch, dass die es nicht lassen kann, sie im entscheidenden Augenblick zu stören. Wahrscheinlich, um ihr mitzuteilen, dass Mutter in letzter Zeit schwächer und Enno neuerdings seltsam sei, sie im Fernsehen gestern gesagt hätten, dass aus Scheidungskindern Schulversager und Drogendealer würden, aus Scheidungsmännern Islamisten und Serienkiller – und wie es übrigens Jochen und den Kindern gehe? Nicht auszudenken, wenn sie abgenommen und schwer atmend »Halloho« geschnauft hätte wie ein Exhibitionist. Oder wie diese Leute hießen, die sich vor Sprechmuscheln nackig machten. Aber sie denkt es sich doch aus. Stellt sich Kerrins Gesicht vor, während sie »Jaha, ich komme schon« keucht, und hält sich vor Lachen den Bauch, in dem mit ihr das Baby gluckst.
Plötzlich vergeht ihr das Lachen. Vielleicht ist etwas mit Mama, fährt es ihr durch den Kopf, vielleicht ist sie krank geworden, weil wir sie dieses Jahr zu Weihnachten nicht besucht haben. Sofort ist das schlechte Gewissen zur Stelle. Und doch: Es ist richtig und wichtig gewesen, dieses Weihnachtsfest zu Hause mit Jochen und den Kindern zu feiern. Und es ist falsch, aber lebenswichtig, dass sie jetzt hier ist. Bei Matteo. Wie ein kurzes Atemholen nach einem langen Tauchgang – und vor dem nächsten. Wenn man sie jetzt gleich wieder wegholt, wird sie untergehen.
»Denke nicht an das Gewinnen, doch denke darüber nach, wie man nicht verliert.« Wie ein Handkantenschlag hat Jochen die Weisung getroffen, Karateregel 12, die ihnen der Meister gestern mit auf den Weg gegeben hat, bevor sich alle verneigten und die Halle verließen. Ja, er hat darüber nachgedacht, die halbe schlaflose Nacht lang die Worte stumm im Kopf wiederholt: »Katsu kangae wa motsu na, makenu kangae wa hitsuyo.« Nebenan schläft Gesa, die heute das Haus verlassen und zu ihrem Liebhaber zurückkehren wird. Es gibt für ihn nichts zu gewinnen.
Jochen steht vor dem Spiegel und fährt mit der Klinge über Kinn und Wangen. Noch liegt Gesa in ihrem früheren gemeinsamen Schlafzimmer, lebt und atmet mit ihm unter einem Dach. In einer Stunde wird sie aufstehen, mit den Kindern frühstücken, sie für heute bei seiner Schwester in Bahrenfeld abliefern. Sein Schwager wird gar nicht erst an die Haustür kommen, seine Schwester die Kinder umarmen und Gesa die kalte Schulter zeigen. Weihnachten ist vorbei, ein Wunder ist ausgeblieben, und er muss zusehen, dass er zur Arbeit kommt. Er prüft sein Gesicht im Spiegel, alles glatt und unversehrt, kein noch so kleiner Schnitt zu sehen.
Gesa hat Weihnachten immer geliebt und auch dieses Mal alles gegeben, um das Fest für ihn und die Kinder glanzvoll und fröhlich zu gestalten. So fröhlich, wie unter den Umständen möglich. Das elegante, schlichte Kleid, das er ihr zum vorherigen Fest geschenkt hat, passte ihr nicht mehr und passte nicht mehr zu ihr. Sie sprengte jeden Rahmen. Ihre Geschenke waren dieses Jahr zu üppig, ihr Gesang zu munter und ihr Parfüm zu blumig. Schöner denn je ist sie gewesen. Es tat ihm weh, ihr zuzuschauen, wie sie sich an den unsichtbaren Gitterstäben ihres Zuhauses wund rieb. Ihrer Ehe. Wie lang ihr diese paar Tage geworden sind! Nein, es gibt für ihn nichts mehr zu gewinnen. Aber wie kann er verhindern, alles zu verlieren?
In der vergangenen Nacht ist er aufgestanden und ins Kinderzimmer geschlichen, in dem Marten und Kaija in ihrem Etagenbett schliefen. Kaija lächelte im Schlaf, er hat ihr über das hellblonde Haar gestrichen. Das würde er nie verstehen: Wie konnten aus einem solchen Dickkopf so seidenweiche Haare sprießen? Marten hatte die Fäuste geballt und die Zähne aufeinandergepresst. Je länger er seinen Sohn betrachtete, desto stärker wurde sein Wunsch, ihm die Fäuste zu öffnen und die verbissenen Kiefer, den großen Jungen in die Arme zu nehmen und hin und her zu wiegen in einen leichteren Schlaf. Doch er wagte es nicht einmal, ihn zu berühren. Was sollte er Marten sagen, wenn er wach würde: Alles wird gut?
Er hat leise die Tür zum Kinderzimmer geschlossen, ist in sein Arbeitszimmer zurückgekehrt, in dem er seit Monaten schläft. Allein. Ein Gutes hat es, allein zu schlafen. Er kann nachts die Tür auflassen. Dem zerwühlten Bettzeug auf dem Ausziehsofa den Rücken kehrend, hat er sich an den Schreibtisch gesetzt. Sein eigener Kiefer schmerzte, auch seine Hände hatten sich wie die seines Sohnes zu Fäusten geballt. Das kalte Licht seiner Schreibtischlampe fiel auf weißes Papier. Er atmete tief durch, schüttelte die Hände aus, tauchte die Feder in die Tusche und begann zu schreiben. Katsu kangae wa motsu na, makenu kangae wa hitsuyo.
Ein ums andere Mal hat er das Blatt zerrissen. Immer wieder ist ihm ein Strich verrutscht, der präzise Schwung eines Bogens misslungen. So oft setzte er die Schriftzeichen aufs Papier, bis sie, für ihn zumindest, richtig aussahen. Denn so viel wusste er: Irgendwo in diesen Bögen und Strichen verbarg sich die Rettung.
Jochen schließt sein Rennrad im Hof an, nimmt den Schlüsselbund aus der Jackentasche und dreht den Schlüssel im Schloss. Er grüßt den Pförtner, geht durch den langen Gang, der immer nach Putzmitteln riecht, als müsste hier ständig etwas desinfiziert werden. Die Türen zu den Büros und zur Küche des Wohnheims stehen halb offen, wie von der Leitung gewünscht. Aus dem geschlossenen Heim von früher ist ein halb offenes geworden. Oder ein halb geschlossenes, je nach Sichtweise, ganz wie bei jenem viel zitierten Glas.
Es hatte wie üblich Anwohnerprotest gegeben. Niemand wollte Straftäter in der Nachbarschaft, und wenn, dann hinter Schloss und Riegeln. Auch wenn es minderjährige Straftäter waren. Ihm jedenfalls kommen die offenen Türen entgegen, denn geschlossene Türen erinnern ihn nun mal an einen ganz bestimmten Raum seiner Kindheit. Einen Raum, in den er nie mehr zurückmuss. Es ist ein gutes, ein sehr gutes Gefühl, nun selbst derjenige zu sein, der den Schlüssel in der Tasche hat.
In der Küche sitzt Alex vor einer Kaffeetasse und sieht aus, als würde er jeden Moment wegpennen. Jochen klopft an den Türrahmen. »Moin, Alex!«
Sein Kollege schaut auf und begrüßt ihn mit einem müden, doch erfreuten Lächeln.
»Alles klar?«, will Jochen wissen. »Gab’s was Besonderes über die Feiertage?«
»Das Übliche.« Alex gähnt. »Eine Klopperei zwischen Dennis und Onur. Ach ja, und Sven hat ein bisschen gezündelt, aber zum Glück ist nichts weiter passiert. Unruhig war’s, brenzlige Stimmung. Ist halt nicht leicht für die Jungs, die Weihnachten nicht nach Hause können.« Er trinkt den letzten Schluck vermutlich lauwarmen Kaffees und schaut Jochen an. »Wenn du nicht da bist, wird keiner mit denen fertig.«
»Apropos, danke dir!« Jochen setzt sich zu Alex an den Tisch und fasst ihn am Arm. »Dass du für mich Dienst geschoben hast dieses Jahr. Es war mir sehr wichtig.«
Alex brummt etwas, steht auf und trägt die Tasse zur Spülmaschine.
Jochen hat seine Runde gedreht und nach seinen Jungs geschaut, in der Werkstatt, im Sportraum oder im Therapiegespräch. Während er am Computer sitzt und Mails beantwortet, fällt ihm auf, dass niemand von den Kollegen gefragt hat, wie es Weihnachten bei ihm war. Alex und ein anderer Kollege sind so nett gewesen, die unbeliebten Feiertagsdienste zu übernehmen, damit er – ein letztes Mal, wie alle annahmen – Weihnachten in Familie machen konnte. Denn mehr oder weniger wussten alle Bescheid. Aber niemand wagte es, ihn darauf anzusprechen.
Immer noch besser als ein Desaster wie bei Gesa. Nie wird er den Tag vergessen, als er sie zum letzten Mal in der Praxis abgeholt hat. Er stand im Eingangsbereich, links das Wartezimmer voller Frauen, rechts der Empfangstresen, und geradeaus öffnete sich eine Tür, aus der Gesa mit einer Patientin heraustrat. Beide schoben einen dicken Bauch vor sich her. Gesa kam auf ihn zu und begrüßte ihn mit einer Umarmung. Da schoss die Patientin auf ihn los, streckte ihm die Hand entgegen und rief voller Begeisterung durch die Praxis: »Gratuliere! Herzlichen Glückwunsch dem werdenden Vater!« Keine Ahnung, was für ein Gesicht er machte. Gesa jedenfalls sah aus, als würde sich der Boden unter ihr auftun. Selbst die beiden Arzthelferinnen hinter dem Empfangstresen erstarrten.
Die Mails sind alle bearbeitet, mal sehen, was sonst auf dem Tisch liegt. Eine Ladung vor Gericht für Sven, den er zum Prozess begleiten soll. Jochen tippt den Termin in sein Smartphone. Ach ja, und übermorgen ist Dennis dran. Das wird ein wichtiger Tag für ihn, von dem vieles abhängt. Da kann der Junge jede Unterstützung gebrauchen, zumal er sonst überhaupt keine hat. Kein einziges Mal hat sich jemand von seinen Leuten hier oder im Gerichtssaal blicken lassen. Und dann ist da noch ein Kuvert mit handgeschriebener Adresse inmitten der Behördenpost, an Jochen Boysen-Mohr (persönlich). Eine Weihnachtskarte mit Reh und Schnee und Tannenbäumen und einem goldenen Stern. Die Schrift ist krakelig, die Rechtschreibung eigenwillig. Wie sich sein Leben geändert habe, schreibt Ahmed, dass er eine Lehrstelle gefunden habe und wahre Freunde statt der Gang, und dass die Zukunft ihm zum ersten Mal als etwas erscheine, auf das man sich freuen kann. Dass er es ohne ihn niemals geschafft hätte.
Jochen vergräbt den Kopf in den Händen. Man soll hier jederzeit für die anderen ansprechbar sein, physisch und emotional offen stehen wie sämtliche Türen. Und er sitzt da und wird von Schluchzern geschüttelt wie ein labiles Weichei! Vielleicht ist die Rührung über diesen Brief, vielleicht sind Reh und Schnee und goldener Stern schuld, dass ganz gegen seine Abmachung mit sich selbst sein häusliches Elend ihn nun auch auf der Arbeit einholt. Dankbar sein kann er den Kollegen, dass sie ihn nicht nach Weihnachten fragen! Hätte er ihnen erzählen sollen, dass seine Frau sich zwischen Baumschmücken und Bescherung im Bad eingeschlossen hat? Dass er mit seinem Geschenk für sie ins Schwarze getroffen hat, weil er Gesa in den Wochen zuvor heimlich gefolgt ist? Mehrmals hat er sie vor dem Juwelierladen stehen sehen, und eigentlich ist es nicht Gesas Art, an Schaufensterscheiben zu kleben. Beinahe hat er in seiner Zerrüttung geglaubt, es ginge ihr um den Juwelier. Als sie weg war, hat er kurz die Auslage in Augenschein genommen, ist in den Laden spaziert und hat, ohne zu zögern, die Rubinohrringe verlangt, Granatapfelrot, ihre Farbe. Und damit offenbar einen Volltreffer gelandet. Einen Volltreffer mit Widerhaken.
Beinahe wünscht er nun, Gesa hätte sie ihm zurückgegeben und nicht getragen. Am Weihnachtsabend, als die Kinder im Bett waren und Gesa und er sich im Wohnzimmer gegenüberstanden, inmitten all der Dinge, die sie im Laufe der Jahre gemeinsam ausgesucht hatten. Und es waren ja nicht nur Dinge. Gemeinsame Zeit steckte darin, geteilte Interessen und Vorlieben oder auch unterschiedliche Geschmäcker, wie die Spionagethriller und Serienmordkrimis, die nur er verschlang und für die Gesa ein Extraregal aufgestellt hatte, versehen mit einem »Schundliteratur«-Schild samt Totenkopf. Dieses Totenkopfregal hatte sich im Nu gefüllt, dank Gesas nie versiegendem Schundliteraturnachschub für ihn, Bier- und Chipsvorrat inklusive. Sie liebte seinen, wie sie es nannte, »proletenhaften Geschmack«. Eine perfekte Balance, wie er gedacht hatte, aus Gemeinsamkeiten und Unterschieden, geteiltem und eigenständigem Leben. Gemeinsame Kinder, Wunschkinder alle beide. Sie hatten miteinander alt werden wollen!
Ja, sollte ihn nur einer nach Weihnachten fragen! Er würde ihm erzählen, dass die Rubine wie Blutstropfen an ihren Ohren hingen und dass sie, als im Halbdunkel ein Lichtstrahl auf Gesa fiel, eine feine rote Spur auf ihren Hals warfen.
Es riecht nach Schweiß und Adrenalin. Für das tägliche Karatetraining mit den Jungs hat Jochen lange um einen improvisierten Trainingsraum gekämpft. Je länger sie trainierten, desto besser lernten sie, ihre Aggressionen in konstruktive Bahnen zu lenken. Regel Nummer 2: »Im Karate gibt es keinen ersten Angriff.« Darum ging es: friedfertig zu bleiben und nicht anzugreifen, doch in der Lage zu sein, sich selbst zu schützen, wenn es notwendig war. Nicht umsonst hieß Regel Nummer 1: »Karate beginnt mit Respekt und endet mit Respekt.«
Heute allerdings scheint es mit Respekt und Disziplin nicht weit her zu sein. Er ist nicht der Einzige, der auf eine Reihe beschissener Tage zurückblicken kann. Ein Zweikampf zwischen Dennis und Onur kommt nicht infrage. Alex hat ihm erzählt, worum es bei der Klopperei zwischen den beiden gegangen ist. Onur hat Dennis die Freundin ausgespannt und vor den anderen damit angegeben. Was Alex aber nicht wusste und er selbst auch nur, weil er es vorhin zufällig mitgehört hat, als er am Fenster stand, unter dem Onur mit zwei Kumpels eine Kippe rauchte: Der gute Onur hat dem Mädchen unverzüglich ein Kind gemacht, um die Sache zu besiegeln. Jochen kennt das Mädchen, das bis vor Kurzem Dennis hier besucht hat. Eine zarte Sechzehnjährige aus dem nahe liegenden Mädchenwohnheim. Keine straffälligen Minderjährigen wie seine Jungs lebten dort, sondern solche, die die Mädchenversion praktizierten: sich Arme und Schenkel ritzten, sich mit Drogen ruinierten und prostituierten. Viele haben schon als Kinder sexuelle Gewalt erlebt, und dieses Mädchen ist vermutlich eine von ihnen. Jedenfalls heißt es heute, Dennis und Onur hübsch auseinanderzuhalten. Doch er selbst wird mit beiden kämpfen und sehen, was für Fortschritte sie gemacht haben, in welcher Verfassung sie sind.
Dennis kämpft defensiv und ohne jeden Schwung, Onur dagegen bewegt sich aufreizend lässig. Und während dieser große Kerl vor ihm herumhampelt, hallen in Jochens Kopf Onurs Worte wider, laut und triumphierend wie vorhin unter dem Fenster: »Alter, beim ersten Schuss ’n Kind gepflanzt – Volltreffer!«
Jochen kniet vor Onur und hilft ihm, sich aufzusetzen. »Tief durchatmen!«, befiehlt er. »Tut beim Atmen etwas weh?«
Onur reibt sich die Brust. »Schon gut, Mann. Ich hab’s überlebt.«
Jochen, noch immer vor dem Jungen kniend, sucht dessen Blick. »Onur, ich möchte mich bei dir entschuldigen. Auch wenn es mir bewusst ist, dass ich einen unverzeihlichen Fehler begangen habe.«
Onur weicht seinem Blick aus und steht auf. Auch Jochen erhebt sich. »Wenn du so weit okay bist, gehen wir jetzt zum Chef«, sagt er. »Du wirst ihm berichten, was passiert ist. Und er wird entscheiden, welche Konsequenzen das hat.«
»Alter, komm runter.« Onur grinst. »Ich hab noch nie jemanden verpfiffen. Werd auch nicht deinetwegen damit anfangen.«
»Es geht hier nicht um verpfeifen. Gleiches Recht für alle, das ist es. Wenn du dasselbe mit mir gemacht hättest …«
Onur winkt ab. »Vergiss es. Dir ist die Hand ausgerutscht und fertig. Mann, wir wissen doch, dass du zu Hause Stress hast. Also, wenn meine Frau mit ’nem anderen vögeln würde …«
Jochen kann sich so eben davon abhalten, ein zweites Mal zuzuschlagen. Er lässt Onur und die anderen stehen und macht sich allein auf den Weg durch den langen Gang. Selbstverständlich wird er sein Verhalten melden, dem Chef auf der Stelle und dem Meister beim nächsten Training, das ist er sich und den Jungs schuldig. So wird er niemals einen höheren Dan erreichen. Er hat die Kampfkunst missbraucht. »Karate beginnt und endet mit Respekt!« Selbstbeherrschung, Achtsamkeit, darum geht es. Viel wichtiger ist das als Gewinnen und Verlieren. Er hat völlig versagt. So wie damals, als er angefangen hat, das Kämpfen zu lernen. Er wollte sich den ersten K.o.-Schlag für seinen Vater aufheben. Tausendmal hat er sich ausgemalt, wie dieser große, starke Mann mit verblüfftem Ausdruck zu Boden geht, wenn sein Sohn das erste Mal im Leben zurückschlägt. Stattdessen hat er, als er wieder einmal auf dem Schulhof vermöbelt werden sollte, im Zorn einen jüngeren Mitschüler so hart geschlagen, dass er ihn verletzte.
Was gäbe er jetzt für eine Zigarette! Aber damit wird er nicht wieder anfangen, nach all den Qualen, die ihm das Aufhören damals bereitet hat. Ein Ausdruck von Schwäche ist das, weiter nichts. Und außerdem schlecht für die Kondition. Schnellen Schrittes geht Jochen an den vielen Türen vorbei durch den Flur, immer geradeaus. Es gibt augenblicklich nur einen Weg. Er wird die Konsequenzen seines Handelns tragen, was auch immer der Chef und der Meister für richtig halten. Und zu Hause muss er endlich aufräumen. Wenn Gesa nicht in der Lage ist, diesem Drama ein Ende zu setzen, wird er es tun. Sie muss ausziehen, und zwar bald und endgültig. Höchste Zeit, dass ihre Wege sich trennen. Besser ein sauberer Schnitt … Kurz vor der Tür zum Chefbüro lässt ihn das Klingeln seines Smartphones zusammenfahren.
»Jochen«, ruft ihm atemlos Kerrins Stimme ins Ohr, »gut, dass ich dich erreiche! Gesa geht nicht ans Telefon.«
»Mit einem weinenden und einem lachenden Auge erinnern wir uns an die Tage und Stunden, die wir mit ihr erleben durften.« Bei jedem Wort aus Berits Mund bildet sich ein Atemwölkchen. Und mit den weißen Wölkchen ihres Atems, die sich zu einer Wolke verdichten, ballen sich auch die Worte zu Satzgebilden und stehen für einen Augenblick still in der Winterluft.
Die Wasserstoffmoleküle des warmen Atems werden in der kalten Luft zu Wasserdampf, hat Berit irgendwo gelesen, aber was, fragt sie sich, wird aus den in die Luft gesprochenen Wörtern. Lösen sie sich in Nichts auf, sind sie für immer verhallt und verschwunden? Oder gehen die einzelnen Silben und Laute ebenfalls in einen anderen Aggregatzustand über, verwandeln sich in ein neues Element? Vielleicht, denkt sie mit Blick auf den Erdhügel neben der Grube, sinken sie zu Boden und bilden hier und da einen Wortschatz, der darauf wartet, gehoben zu werden. Und mit jedem Windstoß fliegen Buchstabenwolken umher, unsichtbar wie Pollen, und setzen sich in den Gehirnen nichts ahnender Passanten fest.
Lieber nicht an Pollen denken, sagt sich Berit und lässt den Blick über den winterlichen Friedhof schweifen. Noch ist die Welt schön kahl und kühl, von einer Schicht glitzernden Raureifs überzogen. Sicher ist es mühsam gewesen, im gefrorenen Boden das Grab auszuheben, auch wenn es nur klein ist. Plötzlich wird Berit die Stille bewusst, seit ihre letzten Worte verklungen sind. Jemand räuspert sich, jemand hustet. Die Pause war schon viel zu lang. Konzentrier dich.
»Sie hat uns geliebt, wie wir sind – nicht weil wir klug oder schön, erfolgreich oder reich wären. Auf ihre eigene, aparte Art hat sie uns geliebt und hatte auch sonst stets ihren eigenen Kopf.«
Ein Schluchzen kommt aus dem Kreis der Trauernden. Auch Berits Augen haben sich mit Tränen gefüllt, sie muss schniefen, die Gesichter der Trauernden verschwimmen. Von Angehörigen konnte man kaum sprechen in diesem Fall. Eine Gratwanderung war es, die treffenden Worte zu finden. Menschlich sollten sie klingen – oder eben nicht zu menschlich.
»Für ihre Lieblingsspeisen ließ sie alles stehen und liegen.« Berit legt ein leises Lächeln in ihre Stimme. »Wenn wir friedlich in den Kissen lagen, entschwand sie in abenteuerliche Nächte, und unsere geschäftigen Tage verbrachte sie auf ihrem abgewetzten Sessel in unerreichbaren Traumwelten.«
Ein paar Köpfe im Gegenlicht nicken, leises Lachen erklingt in Erinnerung an heitere Stunden mit der Entschlafenen. Doch Berit muss wieder schniefen. Eine Frau löst sich aus der Trauergruppe, reicht ihr ein Taschentuch und drückt ihr tröstend die Hand. Berit schnäuzt sich. Sie schämt sich. Ihre Augen jucken und tränen, das Kribbeln in Rachen und Nase nimmt von Minute zu Minute zu. Es wird höchste Zeit, dass die vor ihr aufgebahrte Aimee Semiramis in die Grube gesenkt wird. Samt rotem Samtkissen, Goldhalsband und Gummibeißmaus. Und vor allem samt ihrem Fell.
»Es heißt, eine Katze hat sieben Leben«, bringt Berit mit belegter Stimme hervor. »Aimee Semiramis hat aus allen sieben das Beste gemacht. Doch heute sind wir hier versammelt, um ihr ›Auf Wiedersehen‹ zu sagen.« Sie räuspert sich. »Bevor sie in die ewigen Jagdgründe …«
Das Kribbeln wird unerträglich, ein gigantischer Niesanfall braut sich zusammen. Genau in dieser Sekunde rettet sie der Hund. Die Dogge ist herangepirscht, baut sich vor dem Kissen mit Aimee Semiramis auf und kläfft die Wehrlose an. Pietätlos ist das, ungezogen, ja hundsgemein. Genau das geben die Hinterbliebenen der Katze, die sich mutig zwischen diese und die Dogge werfen, dem Hundebesitzer zu verstehen. Jenem Herrn mit gerötetem Gesicht, der sich aus dem Trauerzug mit totem Hund gelöst hat, um dem lebenden Tier hinterherzueilen.
»Tölen an die Leine!«, faucht dieselbe Frau ihn an, die Berit noch eben sanft das Taschentuch gereicht hat.
»Unser Hund hat seinen Kameraden verloren«, blafft der Mann mit einer Geste in Richtung des ins Stocken geratenen Tölentrauerzuges. Dann winkt er seine Dogge heran. »Komm, Marschall! Was verstehen diese Muschis schon von Kameradschaft.«
Einen Moment sieht es aus, als wollten sich die versammelten Muschis auf Marschalls Herrchen stürzen. Doch sie besinnen sich auf den würdigen Anlass und wenden ihm wortlos eine Front von Rücken zu. Berit hat die Gunst der Stunde genutzt, um etwas abseits herzhaft zu niesen. Kurz darauf wird Aimee Semiramis endlich im Grab versenkt, und Berit ist dankbar für jede Schaufel Erde, die zwischen sie und das Katzenhaar geworfen wird. Schönes schwarzes Katzenhaar übrigens. Sie hat gar nichts gegen Katzen. Jedenfalls ist ihr nichts dergleichen bewusst. Vielleicht sollte sie mal eine Therapie machen, da käme bestimmt etwas zutage.
Die Trauergemeinde hat sich aufgereiht und kondoliert den hinterbliebenen Katzenmüttern. Eine von beiden ist eine Exfreundin von Johanna – ihrer eigenen Exfreundin seit ein paar Monaten. Was für ein hässliches Wort, und irgendwie traf es die Sache auch nicht. Befreundet waren sie ja noch, Johanna und sie, nur die Liebe war gegen die Wand gefahren und heillos verbeult. Vielleicht rührten daher ihre Kopfschmerzen und schlimmen Träume, die Folgen eines Schleudertraumas sozusagen. Wegen ihrer Ex jedenfalls wollte Johanna heute nicht für Berit einspringen und an ihrer Stelle die Rede halten. Obwohl es abzusehen war, dass Berit Rotz und Wasser heulen würde, an den verkehrten Stellen und aus den falschen Gründen. Doch Johanna war hart geblieben und wiederholte das gleiche Mantra wie seit Jahren: Sie, Berit, müsse sich dringend desensibilisieren lassen. Wenn sie in dieser Welt bestehen wolle, könne es nicht angehen, dass sie von jedem Furz Ausschlag und Pickel bekomme.
Natürlich war es blöd gewesen, muss Berit zugeben, unvorteilhaft nicht zuletzt für sie selbst, ihren Kontostand, ihre Nacht- und Seelenruhe, dass sie die gut bezahlten Reden zu Parteitagen und Firmenjubiläen aufgegeben hatte. Mit dem Wort »nachhaltig« hatte alles angefangen. Gefühlte fünfzig Mal kam dieses Wort in der Jubiläumsrede eines Energiekonzerns vor, der die Umwelt seit Jahrzehnten nachhaltig mit Atommüll zumüllte – einer Jubiläumsrede, die sie selbst nach Vorgaben aus der Chefetage verbrochen hatte. Und während sie die Rede schrieb, breitete sich hartnäckiger, um nicht zu sagen nachhaltiger Ausschlag auf ihren Händen aus. Es juckte sie so lange auf und in den Fingern, bis sie die Löschtaste drückte. Später kamen andere Wörter hinzu. Als sie sich laut die frisch verfertigte Rede für eine Politikerin vorlas, wie sie es immer tat, bevor sie einen Text ablieferte, ploppte bei jeder »Integration« ein Bläschen an ihren Lippen auf. »Gelungene Integration« – plopp. »Integrationsbereitschaft« – plopp-plopp. Weiter im Text mit »Assimilation«, »Toleranz« und »Akzeptanz« – plopp-plopp-plopp. Unschön war das, unschön und schmerzhaft.
Also hatte sie fortan nur noch Reden zu privaten Anlässen verfasst: runden Geburtstagen, goldenen Hochzeiten, Trauerfeiern. Trauerreden brachte sie in der Regel bläschenfrei über die Bühne. Doch, Trauerreden lagen ihr ganz besonders. Das sollte ihr zu denken geben, meinte Johanna. Ebenso wie der jährliche Rentenbescheid, seit sie nur noch Privatmenschen ihre Worte lieh. Überhaupt: Sie, Berit, müsse sich dringend desensibilisieren lassen. Ansonsten würde sie unweigerlich in Altersarmut enden, trotz ihrer Titel und Talente. Und warum?, fragte Johanna. Bloß weil ihr Heucheln und Lügen Herpes verursachten, antwortete Johanna. Jeder Mensch lüge, statistisch gesehen, achtzig Mal täglich, wusste Johanna, und allein ihrer Anpassungsfähigkeit verdanke die menschliche Spezies ihr Überleben. Doch der einzelne Mensch, entgegnete Berit, verdanke es nicht selten seiner Halsstarrigkeit. Aber was half es, bring mal geschwollene Worte über ebensolche Lippen. Ganz abgesehen vom Küssen, das Johanna den überreagierenden Mundschleimhäuten – das Wort »hysterisch« hatte sie nur einmal verwendet – verweigerte. Wahrscheinlich hatte Johanna ganz recht mit dem Überreagieren. Das Problem war, dass Berit von Johannas Rechthaben ebenfalls Pickel bekam.
»Danke!« Ihre Hand wird ergriffen. Eine der beiden Katzenmütter steht vor ihr und lächelt sie mit geröteten Augen an. »Danke für die bewegende Rede.«
Katzenmutter zwei ergreift die andere Hand. »Das werden wir dir nie vergessen.«
Berit denkt an ihren stockenden Redefluss, den nicht gerade professionellen Auftritt und schaut zu Boden.
»Dass du Tränen geweint hast«, setzt die Frau enthusiastisch hinzu, »um eine dir fremde Katze!«
Die Trauergesellschaft ist gegangen, Berit spaziert über das nun menschenleere Gelände des »Tierhimmels«. Ganz ähnlich wie ein Menschenfriedhof sieht die Anlage aus, mit Bäumen, Hecken und Rasenflächen, Grab- und Urnenfeldern, Blumen und Grablichtern, nur dass die Gräber und Grabsteine kleiner sind, die Tiere in der Regel keine Nachnamen haben und keinen freien Platz neben sich, der auf den Ehepartner wartet. Auf einem Feld mit winzigen Gräblein und bunt bemalten Steinen drehen sich Windräder wie auf Kindergräbern. Zu Weihnachten sind Wellensittich Hansi Strohsterne und Hirse spendiert worden; den Ratten Sexpistol und Teenspirit wurden zwei Totenköpfe aus Marzipan beschert.
Ihre erste Tiertrauerrede ist das heute gewesen, und Berit ist nicht sicher, ob sie diesen Berufszweig ausbauen möchte. Das Honorar war noch geringer als bei Menschen, weil auch die Tiere und die Trauer kleiner waren. Vielleicht würde sie besser entlohnt, wenn sie mehr große Worte verwendete? Andererseits musste man sich hier nicht gegen maßlose Verzweiflung wappnen, gegen Ausbrüche untröstlicher Trauer am Grab, die allerdings auch bei Menschen erstaunlich selten vorkamen. Doch die stille Trauer ging ebenfalls ans Herz, und die Rednerin musste vor allem eines wahren: die Fassung. Eben darum gab sie das Redenhalten gerne an ihre Freundin und nun Exfreundin ab, auch wenn dadurch noch weniger Geld für sie übrig blieb. Denn Johanna konnte immer und überall reden und bewahrte zuverlässig die Fassung. Sie war in der Lage, jedes gefragte Gefühl in ihre samtige Stimme zu legen, und zwar an den passenden Stellen, wurde nicht wie Berit grundlos rot, verhaspelte sich oder lächelte, wenn es weiß Gott nichts zu lächeln gab.
Berit war glücklich damit, die Reden als unsichtbarer Geist zu schreiben. Überhaupt wäre sie liebend gerne öfter als unsichtbarer Geist unterwegs. Menschen waren so überaus spannend – aber sie redeten zu laut, fragten zu viel und rückten zu nahe. Verströmten durchdringende Gerüche, Ansichten und Stimmungen. Kurz und gut, die Nähe der Mitmenschen bot einigen Anlass zur Pickelbildung. Stundenlang mit einer Gruppe Unbekannter in einem Aufzug stecken zu bleiben oder tagelang in einer Berghütte eingeschneit zu sein, das wäre ihre ganz persönliche Hölle, denkt Berit. Obwohl, noch schlimmer wäre es womöglich mit einer Gruppe Bekannter. Oder mit der eigenen Verwandtschaft.