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Die Idee mit der Kinderwohnung ist absolut super, finden Pia und Jonas! Sollen ihre zerstrittenen Eltern sich doch jeder eine neue Wohnung suchen, wenn sie sich schon trennen müssen – die Geschwister bleiben jedenfalls, wo sie sind. Ab jetzt wohnt eine Woche ihre Mutter Juliane bei ihnen, in der nächsten Woche Vater Linus – immer abwechselnd. Eine Zeitlang geht das tatsächlich auch richtig gut, aber seitdem Juliane einen neuen Freund und Linus sogar eine neue Familie hat, klappt so gar nichts mehr! Es hakt an allen Ecken und Enden in der Kinderwohnung. Dabei hat Pia doch echt Wichtigeres zu tun, denn zusammen mit ihren Freunden bietet sie ahnungslosen Touristen Stadtführungen an. Und ›Berlin für starke Nerven‹ ist gerade ein richtig großer Renner! Als plötzlich eine neue Vermieterin samt Rechtsanwalt im Reuterkiez 7 auftaucht und die Geschwister zu allem Übel auch noch Fred, den Neuen ihrer Mutter, kennen lernen sollen, gibt es richtig Ärger. Das kann kein gutes Ende nehmen, fürchten Pia und Jonas. Oder etwa doch? Von der Erfolgsautorin Anne C. Voorhoeve!
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Seitenzahl: 219
Anne Voorhoeve
Wir 7 vom Reuterkiez
FISCHER E-Books
Für Nesrin
Jonas und ich waren die Letzten, die davon erfuhren – wenn du Rifat nicht mitzählst, der damals erst fünf war, oder das Gespenst im Erdgeschoss, Herrn Schnuck, der Tag und Nacht die Rollos unten lässt und niemandem die Tür aufmacht. Nach Anbruch der Dunkelheit kannst du ihn zum Spätkauf schlurfen sehen, in Jogginghose, Unterhemd und Pantoffeln und mit langen, in alle Richtungen abstehenden Haaren, als hätte er sie mit dem Staubsaugerrohr geföhnt.
Jonas und ich waren erst mal nur froh, dass die Streiterei aufgehört hatte. Das Große und das Kleine Brüllen, wie mein Bruder es nannte, der zwei Jahre älter ist als ich und tiefer nachdenkt.
»Also, für mich ist das immer ein großes Brüllen«, hatte ich erklärt.
»Nein, sieh doch mal«, entgegnete er. »Es gibt riesige Unterschiede! Gestern zum Beispiel hat es nur elf Minuten gedauert, das ist fast eine Stunde weniger als am Sonntag.«
Jonas hielt mir das Heft unter die Nase, das er im Spalt zwischen Bettrahmen und Matratze versteckte und in dem er gewissenhaft dokumentierte, wann und wie lange unsere Eltern stritten. Neben Datum und Uhrzeit konnten wir nachlesen, ob Juliane anschließend geweint oder das Haus verlassen hatte, oder wie lange Linus mit seinem Kopfhörer rumgelaufen war und so getan hatte, als existierten seine eigenen Kinder nicht.
Aber ehrlich gesagt, guckte ich mir nur Jonas zuliebe hin und wieder seine Eintragungen an. Die Feinheiten des Brüllens interessierten mich überhaupt nicht, ich wollte nur, dass es endlich aufhörte.
Deshalb war ich auch so froh, als Jonas fast drei Wochen nichts eintragen musste. Wir wussten es noch nicht, aber das letzte Datum in seinem Heft würde für immer der 11. Mai 2012 bleiben. Wenngleich aus völlig anderen Gründen, als wir dachten.
Seit diesem Tag herrschte eine komische Stille bei uns. Jeder Schritt, jeder Ton, jedes Wort, das meine Eltern miteinander redeten, war wie in Watte gepackt. Total höflich, als lernten sie sich gerade erst kennen, und vielleicht hatten sie ja genau das beschlossen: noch mal von vorn anzufangen, warum schließlich auch nicht?
Linus ging mit uns ins Spaßbad, ins Kino und in den Zoo, lauter Sachen, die er normalerweise zu teuer findet, und Juliane schlüpfte vor dem Zubettgehen unter meine Bettdecke und wollte wissen, ob ich sie lieb habe und ob es mich je gestört hat, dass wir nicht Papa und Mama zu unseren Eltern sagen wie die meisten Kinder.
»Nein, aber ich kann mich sicher noch umgewöhnen, wenn du willst«, bot ich an.
»Nicht nötig, Schätzchen, solange es dir nichts ausmacht«, erwiderte meine Mutter.
Je mehr ich mich in die Idee des Neuanfangs hineinversetzte, desto besser gefiel sie mir. Wenn meine Eltern noch mal von vorn anfingen, dann war es doch nur logisch, dass auch Jonas und ich etwas Neues ausprobierten!
Jonas war auch dafür. Gleich am nächsten Tag beim Abendessen legten wir los und nannten die beiden bei ihren neuen Namen, hängten Mama und Papa praktisch an jeden Satz. Das Ganze wurde ein wenig dadurch erschwert, dass Linus beziehungsweise Papa im Wohnzimmer vor dem Fernseher aß und nicht bei uns in der Küche, aber wir trabten unbeirrt zwischen unseren Eltern hin und her und taten unser Möglichstes, um sie bei ihrem Neustart zu unterstützen.
Dabei holten sie in Wirklichkeit bloß tief Luft für ihre Nachricht.
Wenn du in unserem Haus Neuigkeiten verbreiten willst, hängst du sie entweder an die Magnettafel neben den Briefkästen oder du erzählst sie Frau Gries. In diesem Fall sind sie schneller unterwegs, als du die Treppe zwischen unseren Wohnungen hoch und runter laufen kannst.
Am 19. Mai, einem Samstag, fing Frau Gries Nesrin und mich vor ihrer Tür ab, als wir gerade eine Babybadewanne voller fleischfressender Pflanzen vom dritten Stock nach unten schleppten. Die fleischfressenden Pflanzen stammten aus der Sachkunde-Projektwoche im letzten Schulhalbjahr, die einige Stubenfliegen das Leben gekostet hatte. Unser Lehrer hatte keinen Schimmer, dass Nesrin und ich den Topf, den er zu Anschauungszwecken angelegt hatte, aus dem Kompost geklaut hatten, aber natürlich wollten wir wissen, wie es weiterging und ob die kleine Pflanze, die wir Audrey getauft hatten, wirklich groß, größer und immer hungriger werden würde wie in Der kleine Horrorladen.
Man kann sagen, dass das Experiment uns ein wenig über den Kopf gewachsen war. Audrey war nicht größer geworden, sie hatte sich vermehrt wie verrückt und langsam wussten wir nicht mehr, wie wir ihren Appetit stillen sollten. Deshalb hatten wir an diesem Morgen beschlossen, Audrey mitsamt ihren Kindern und Enkeln am Teich in der Hasenheide auszusetzen, wo es von Mücken nur so wimmelt. Ich hatte etwas Bedenken wegen der kleineren Hunde, die in dem Teich baden, aber Nesrin behauptete, es würde bestimmt rechtzeitig eine Meldung in der Abendschau geben.
Frau Gries wohnt im zweiten Stock zwischen Kemals und uns. Sie war schon da, als unsere Wohnung noch eine WG war und mein Zimmer das von Julianes Freundin Frida.
»Wie geht es dir, Pia?«, fragte sie und blickte mir tief in die Augen.
Ich stellte mich direkt vor die Audreys und setzte einen möglichst unverfänglichen Gesichtsausdruck auf, damit Frau Gries nicht auf den Gedanken kam, die Badewanne näher zu untersuchen. Von der anderen Seite rückte Nesrin dichter an mich heran, zweifellos in derselben Absicht. Das Tolle an besten Freundinnen ist, dass man immer gleich kapiert, was die andere vorhat, vor allem wenn man sich schon ein Leben lang kennt wie Nesrin und ich.
»Mir geht es bestens«, gab ich zur Antwort und setzte rasch hinzu: »Und Ihnen?«, weil Kinder, die gerade etwas ausfressen, immer besonders höflich sind.
Doch zu meiner Überraschung murmelte unsere Nachbarin: »Meine arme Kleine«, kam einen Schritt auf mich zu – und im nächsten Moment fand ich mich auch schon an ihren sofakissenweichen Bauch gedrückt.
Uff! Jeder von uns kennt Erwachsene, die gern knutschen, aber Frau Gries gehört nicht dazu und augenblicklich befiel mich dieses komische Gefühl. Dieser leichte Schwindel, wenn irgendwo tief in dir eine Alarmglocke in Schwingung gerät.
Mein gefürchteter Zahnarztbesuch lag zwei Wochen zurück. Meine Versetzung war nicht gefährdet. Keiner meiner Eltern hatte seinen Job verloren – oder?
Wovon in aller Welt redete sie?
Ich stemmte beide Hände gegen die weiche Masse ihres Bauches und erkämpfte eine Armlänge Abstand, um Nesrin einen hilfesuchenden Blick zuwerfen zu können – als ich etwas noch Alarmierenderes entdeckte als die Umarmung von Frau Gries.
Meine Freundin Nesrin schaute mich traurig an. Eine Sekunde nur, dann studierte sie so aufmerksam die Schrammen auf unseren hundertzweijährigen Treppenhausdielen, als hätte jemand eigens für uns eine Botschaft eingeritzt. Aber die Sekunde gab mir den Rest. Die Alarmglocke gongte los wie verrückt.
Denn Nesrin sieht nie traurig aus. Nie! Warum auch? Sie hat die schönsten schwarzen Locken und das hübscheste Gesicht von allen in der Klasse, sie hat Eltern, die sich nach jedem Streit einen Kuss geben, und ist mit dem halben Kiez verwandt. Um die Badewanne in die Hasenheide zu schaffen, würden wir sie bloß ein paar hundert Meter zur Kottbusser Brücke schleppen müssen, wo uns ganz sicher einer ihrer Onkel mit seinem Taxi auflesen würde.
Nesrin ist genau zwei Monate älter als ich. Wir wohnen schon immer im selben Haus, wir waren zusammen bereits im Kindergarten und in Quarantäne wegen Mumps. Es gibt nichts, was wir nicht miteinander bequatschen.
Bis zu diesem Samstag, als ich den Mund aufklappte, um zu fragen, was los war – und kein Wort herausbekam. Ich brachte es einfach nicht fertig, zu fragen. Nicht einmal meine beste Freundin.
»Was habt ihr denn da in der Badewanne?«, fragte Frau Gries und reckte den Hals.
»Fleischfressende Pflanzen«, erklärte Nesrin. »Wir haben sie in Pias Zimmer gezüchtet, aber langsam werden sie gefährlich und deshalb müssen sie in den Park umziehen.«
Frau Gries wackelte anerkennend mit dem Kopf. »Kinder!«, meinte sie. »Ihr habt Phantasie. Wie ihr es schafft, noch in der traurigsten Lage eure Witze zu reißen, davon können wir Erwachsenen uns eine Scheibe abschneiden. Kopf hoch, Pia! Bestimmt wird alles wieder gut.«
Sie klopfte mir aufmunternd auf die Schulter und wir machten, dass wir mitsamt den Audreys das Weite suchten.
Direkt vor unserer Haustür schoben sich Menschenmassen vorbei, wie immer an Markttagen, so dass wir nur langsam vorankamen. Unsere Straße liegt auf der Schattenseite des Landwehrkanals, der quer durch Berlin von der Spree in die Spree fließt. Eine Seite der Straße besteht aus mehrgeschossigen Altbauten mit kleinen Läden und Restaurants im Parterre, auf der anderen Seite liegt hinter einem niedrigen Zaun der Kanal. Drüben, auf der Sonnenseite, liegt Kreuzberg, sind die teureren Häuser, die grüneren Bäume und breiteren Uferwege, aber die Leute, die auf den Ausflugschiffen vorbeifahren, gucken auf diesem Streckenabschnitt meist zu uns rüber, weil auf unserer Seite einfach mehr los ist.
Auch jetzt schallte wieder ein Lautsprecher übers Wasser und begleitete uns die Straße hinunter. »Dienstags und freitags ist Türkenmarkt, ein orientalischer Straßenbasar«, quakte eine Männerstimme, »samstags finden Sie hier den Neuköllner Stoffmarkt mit völlig anderem Publikum und Angebot. Dinkelpfannkuchen und Granatapfelcreme statt Döner und Falafel! Und wenn Sie Ihren Blick bitte kurz auf die Ecke Liberdastraße/Maybachufer richten, können Sie zwei achtjährige Mädchen sehen, die eine Babybadewanne schleppen. Erkennen Sie die dunkle Wolke über dem Kopf der kleinen Blonden? Pia Metternich ahnt nicht einmal, aus welcher Richtung das Unheil kommt, das sich gerade über ihr zusammenbraut …«
Ich blinzelte erschrocken und muss wohl stehen geblieben sein, weil von hinten auf einmal Leute gegen uns prallten. Erst als Nesrin: »Was ist los?« fragte, wurde mir klar, dass ich mir die Stimme diesmal nur eingebildet hatte. Bei uns kann es nämlich jederzeit vorkommen, dass wir zu Sehenswürdigkeiten werden, kaum dass wir vor die Haustür treten. Als ich mit Nesrin, ihren Brüdern und Cousins vor zwei Tagen auf der anderen Uferseite gewesen war, hatte es keine fünf Minuten gedauert, bis es vom Panoramadeck der Spreeperle schallte: »Zu Ihrer Rechten sehen Sie einen Boule-Platz und eine Gruppe türkischer Kinder beim Spiel.«
»Nichts ist los, was soll denn sein?«, erwiderte ich rasch, packte den Badewannengriff fester und ging weiter. Aber es gab kein Entrinnen. Ich kann nämlich immer am besten nachdenken, wenn ich mich bewege, und dies selbst wenn ich es gar nicht will. Und so fielen mir gleich mehrere Antworten auf meine nicht gestellte Frage von vorhin ein.
Antwort A
Einer von uns Vieren war schwer krank. (Unwahrscheinlich. Keiner war in letzter Zeit beim Arzt gewesen.)
Antwort B
Wir zogen in eine andere Stadt. (Nie im Leben!)
Antwort C
Meine Eltern ließen sich scheiden.
»Was sind denn das für interessante Pflanzen?«, drang die Stimme einer Frau an mein Ohr. »Ist das ein Lauchgewächs? Kann man die essen?«
»Lieber nicht«, sagte Nesrin. »Ich glaube, sie würden versuchen, Sie in die Lippe zu beißen.«
»Das ist kein Lauch-, das ist ein Schlauchgewächs«, mischte sich Kalle ein, der Pfarrer unserer katholischen Kirche. »Eine wunderschöne, kräftige Züchtung. Stellen Sie sie auf Ihr Fensterbrett und Sie haben das ganze Jahr Ruhe vor Mücken und Fliegen.«
Sofort fragte die Frau: »Wie ist es mit Kleidermotten?«
»Kleidermotten mögen sie am liebsten«, behauptete Nesrin.
Die Frau warf einen neuerlichen langen Blick in unsere Badewanne, der alle, die sich auf dem engen Bürgersteig hinter uns stauten, automatisch zwang, dasselbe zu tun. Dann erklärte sie: »Fünf Euro für zwei Stück. Habt ihr eine Tüte?«
»Augenblick!«
Nesrin rannte los, um an einem der Stände Tüten zu schnorren. Bis sie zurückkehrte, hatte ich bereits vier weitere Pflanzen verkauft. Kalle hatte sich an meiner Seite positioniert und sagte an den passenden Stellen: »Herzlichen Glückwunsch, Kinder, es ist wirklich eine sehr schöne, kräftige Züchtung.«
Es war wie im Werbefernsehen. Nach einer halben Stunde war unsere Wanne leer. Flüsternd berieten wir, ob wir nicht eine Audrey behalten und von vorn beginnen sollten, aber wir waren uns einig, dass wir die Schnauze voll hatten vom Fliegenfangen.
Der Tag, an dem Nesrin und ich die Audreys verkauften, war einer der schönsten, abwechslungsreichsten Tage seit langem. Eigentlich.
An diesem Abend sagte Jonas zum ersten Mal: »Irgendetwas stimmt nicht.«
Die Köpfe von Kindern und Erwachsenen müssen völlig unterschiedlich funktionieren. Wenn du deinen Kindern sagen willst, dass du dich scheiden lässt, dann tust du das doch nicht bei eurem Lieblingsitaliener! Dann suchst du dir einen, wo dir die Pizza schon vorher nicht geschmeckt hat und wo dich der Besitzer, den du kennst, seit du kauen kannst, danach nicht dauernd auf der Straße anhält und fragt, warum keiner von euch mehr kommt.
Dabei wussten Jonas und ich schon so gut wie Bescheid, als Juliane und Linus uns am 31. Mai endlich einweihten. Die mitfühlenden Blicke und das Getuschel hinter unserem Rücken konnten ja keiner Fledermaus entgehen. Ich unternahm noch einen letzten Rettungsversuch, indem ich mir eine Pizza Salami bestellte und nicht die gute mit dem Spiegelei, aber irgendwie ahnte ich schon, dass es nichts nützen würde. Luigi, das war’s.
Jonas hatte behauptet, dass alles besser sein würde als der ewige Streit. Da mochte er recht haben, aber so ein Satz war keine Antwort auf die vielen Fragen, die mir im Kopf herumschwirrten. Wie würde unser künftiges Leben aussehen? Mussten wir womöglich selbst entscheiden, bei wem wir wohnen wollten?
Das war meine größte Angst, während ich in der Pizza Salami stocherte. Ich hoffte, dass sie diesen Teil schon ohne uns beschlossen hatten – mich für einen meiner beiden Eltern entscheiden zu müssen, lag völlig außerhalb meiner Vorstellung. Aber viel Hoffnung machte ich mir nicht. Ich wette, es gibt keine Familie in der ganzen Straße, in der so viel abgestimmt wird wie bei uns.
»Hände hoch, wer für Pudding ist und nicht für Eis!«
»Haben wir eine Mehrheit für Rummykub oder Uno?«
Hand aufs Herz – wer liebt Juliane vielleicht ein bisschen mehr als Linus?
Und was, wenn wir beide zum selben Elternteil wollten? Würden sie auf die Idee kommen, uns aufzuteilen? Meine Eltern sind stark gerechtigkeitsempfindlich und mit einem Mal spürte ich, dass sie uns genau dies aufschwatzen würden: ich zu Juliane, Jonas zu Linus. Und an den Wochenenden würden mein Bruder und ich uns kurz begegnen, wenn wir einander die Klinke in die Hand gaben.
Während ich mir all das ausmalte, bekam ich plötzlich größte Lust, die Pizza Salami wie ein Frisbee Richtung Vorspeisenvitrine zu schleudern. Dabei waren meine Eltern noch immer bei der Eröffnung. Sie hatten erst den Teil hinter uns gebracht, in dem sie dir erzählen, wie sehr sie dich lieben, dass du genau das Kind bist, das sie sich gewünscht haben, und dass sie es schon deinetwegen nicht bereuen, einander kennengelernt zu haben.
Oscar und Lilly zwei Häuser weiter mussten sich ein paar Monate später genau dasselbe anhören. Das hat Lilly mir erzählt. Da unsere Eltern sich nie begegnet sind, sind sie wohl auf derselben Ratgeberseite im Internet gelandet.
»Eure Mutter und ich kennen uns nun seit zwölf Jahren«, erinnerte uns Linus, »und ich lüge nicht, wenn ich sage, dass ich ein Glückspilz war, als sie mich geheiratet hat. Aber zwölf Jahre sind eine lange Zeit und da kann es schon passieren, dass einer plötzlich andere Ideen und Wünsche hat als der andere.«
»Dass euer Vater und ich seit einiger Zeit ziemlich unterschiedliche Vorstellungen haben, ist euch bestimmt aufgefallen«, fiel Juliane ein und machte eine kleine Pause, um uns Gelegenheit zu geben, »Ja« oder zumindest »Ach« zu äußern. Als keiner etwas sagte, fuhr sie einen Gang schneller fort: »Das ist nicht nur seine oder nur meine Schuld, und auf gar keinen Fall ist es eure Schuld! Im Gegenteil, ihr könnt überhaupt nichts dafür. Das dürft ihr nie vergessen!«
Ich schätze, wenn ich nicht ohnehin gewusst hätte, was uns erwartete, hätte ich spätestens an dieser Stelle vor Angst angefangen zu heulen. So merkte ich nur, wie es am Bauch direkt über meinem Gürtel ganz kalt und hart wurde, als ob ich eine Panzerhaut bekäme.
Jonas setzte seine Sonnenbrille auf, obwohl es bei Luigi so schummrig ist. Jonas und Panzer, das klappt nie.
»Dass zwei Erwachsene sich im Laufe der Jahre anders entwickeln, ist jedenfalls völlig normal«, nahm Linus den Faden wieder auf, und Juliane nickte ihm lächelnd zu und ich dachte, komisch, dass das plötzlich wieder funktioniert, und vielleicht haben wir uns doch getäuscht und sie wollen uns etwas anderes mitteilen, etwas Schönes.
»Wenn das passiert, kann man sich Rat holen, aber manchmal hilft das auch nicht, dann muss man sich eben damit abfinden und versuchen, wie erwachsene Menschen …«
»Könnt ihr bitte einfach zur Sache kommen?«, unterbrach Jonas.
Julianes Unterlippe begann zu zittern. Es war der Moment, in dem meinen Eltern ein Licht aufging und sie merkten, dass ihre ganzen Ratgeber und Begleitansprachen nichts, was sie uns zu sagen hatten, besser machen konnten. Nicht eine Spur.
»Wir haben das nicht gewollt, das müsst ihr uns glauben«, bat Juliane.
»Schon klar, Mama«, murmelte Jonas.
»Vielleicht hätten wir uns früher Hilfe holen sollen …«
Ich sagte nichts. Ich mochte meine Eltern nicht einmal ansehen. Ich drückte die Spitze meiner Gabel in Luigis Tisch und beobachtete, wie sie ein Loch ins Holz grub.
»Moment, Moment!«, rief Linus. »Leute, so schlimm ist das alles gar nicht, ihr werdet sehen! Eure Mutter und ich bleiben selbstverständlich Freunde, und wir bleiben beide eure Eltern und ihr bleibt unsere Kinder! Wir werden höchstens … keine Familie mehr sein.«
Peng. Nach den letzten Worten wurde es so still, dass du eine Spinne die Wand hättest hochkrabbeln hören können. Keine Familie mehr. Weder Jonas noch ich hatten daran gedacht.
Juliane holte tief Luft und warf Linus einen gereizten Blick zu. »Das heißt doch nicht, dass ihr keine Familie mehr haben werdet! Euer Vater und ich werden nach wie vor für euch da sein, nur der äußere Rahmen wird sich ein klein wenig ändern.«
»Woran es bei uns gehapert hat, ist ja wohl eher der innere Rahmen«, schnappte Linus.
Das war genau die Art von Satz, mit der bei uns so oft das Große Brüllen begann, und bevor alles zu spät war, riss ich mich zusammen und erklärte: »Jonas und ich bleiben aber zusammen!«
Mein Bruder nickte. Was er dachte, konnte ich nicht sehen, weil er immer noch die Sonnenbrille auf hatte.
»Bei wem wir wohnen, müsst ihr bestimmen, nicht wir«, setzte ich hinzu.
»Genau«, bekräftigte Jonas. »Bloß keine Abstimmung. Und wir sind nicht bereit, die Schule zu wechseln.«
Meine Eltern nickten. Sie wirkten mit einem Mal ziemlich fertig, obwohl ich fand, dass wir es ihnen ganz schön leicht machten. Einige Sekunden vergingen.
»Kommt schon, ist das alles?«, fragte Linus und schlug Jonas auf den Rücken. »Das ist die Gelegenheit, uns aufzufordern, euer Taschengeld zu erhöhen.«
Juliane kicherte. Sie war die Einzige. »Nicht komisch, Linus«, sagte sie, als sie es merkte.
Das ist das letzte Mal, dass wir vier zusammen sind, dachte ich und stellte mir den Möbelwagen vor dem Haus vor, die Kisten, die herausgeschleppt wurden und die Familienfotos, die wir nun alle durchschneiden mussten.
»Pia und ich bleiben in unserer Wohnung«, hörte ich meinen Bruder sagen.
Und meine Mutter, zu meiner Überraschung: »Wir bleiben alle in unserer Wohnung. Das ist schon geregelt. Die Hausverwaltung weiß Bescheid und ist einverstanden, und alle Nachbarn werden uns unterstützen.«
»Wie jetzt …?«, fragte Jonas misstrauisch.
»Wir haben eine ganz wunderbare Regelung gefunden, Schatz. Eine Regelung, die nicht auf eurem Rücken ausgetragen wird. Ihr könnt schließlich nichts dafür, dass es mit eurem Vater und mir nicht mehr klappt.«
Plötzlich bekam Juliane ihr Lächeln gar nicht mehr aus dem Gesicht. Es war wie damals an Weihnachten, als wir den Welpen bekamen – als hätte sie eine Riesenüberraschung für uns, die sie vor lauter Freude kaum für sich behalten konnte.
»Ihr könnt eure Zimmer behalten, eure Freunde und eure Schule. Keiner von euch beiden braucht umzuziehen. Für euch ändert sich eigentlich überhaupt nichts.«
Jonas verzog das Gesicht und ich konnte ihm ansehen, dass er auf das große Aber wartete. Genau wie ich. Den Welpen hatten wir auch nach vier Wochen wieder abgeben müssen, wegen Linus’ Allergie.
Es war Linus, der die Katze aus dem Sack ließ. »Eine Woche wohnt eure Mutter bei euch, die nächste Woche ich, und so weiter. Samstag bis Samstag, und die Ferien teilen wir auf.«
»Na, was sagt ihr jetzt?«, fragte Juliane triumphierend. »Eine Kinderwohnung!«
Junge, das mussten wir erst mal sacken lassen. Nicht, weil wir es uns nicht vorstellen konnten – das konnten wir auf der Stelle. Aber eine so fabelhafte Idee hatten wir unseren Eltern gar nicht mehr zugetraut. Bei uns wurde über alles gestritten: von der Sorte der Cornflakes über die Geräusche beim Essen, vom offenen Klodeckel bis zur Lautstärke der Telefongespräche. Wegen eines einzelnen Haares an Linus’ Mantel hatten meine Eltern sich im Winter wochenlang angeschrien. Und jetzt das. Eine Lösung. Eine echte, durchdachte, verdammt geniale Lösung. Wie hatten sie das bloß hinbekommen?
Ich schob meinen Teller zurück, sprang vom Stuhl und fiel meiner Mutter um den Hals. Ich drückte sie, so fest ich nur konnte, damit all die schlechten Gefühle, die sich in meinem Bauch angesammelt hatten, endlich herauskonnten. Schon merkte ich, wie sie einer Mischung aus Freude, Erleichterung und Stolz Platz machten, lauter glücklichen Dingen, die ich meinen Eltern gegenüber schon lange nicht mehr verspürt hatte.
Jonas übernahm Linus. Die Leute an den anderen Tischen schmunzelten und stießen sich gegenseitig an; sie glaubten bestimmt, wir bekämen ein Geschwisterchen.
Als ich mich wieder setzte, war ich ganz außer Atem und Jonas’ Gesicht krebsrot, als hätten wir einen Dauerlauf hinter uns. Juliane richtete ihr Haar und zog den Lippenstift nach, Linus nahm seine Brille ab und putzte sie umständlich. Ohne Brille sieht er mit seinen dunklen Wuschelhaaren aus wie Jonas, nur dreißig Jahre älter, während ich das glatte blonde Haar, Augen, Nase und Mund meiner Mutter geerbt habe. Jeder, wirklich jeder erkennt auf den ersten Blick, dass wir zusammengehören, und du kannst dir nicht vorstellen, wie froh mich das auf einmal machte.
Meine Eltern ließen sich scheiden, wie befürchtet. Aber wir würden es schaffen, dennoch eine Familie zu bleiben! Alles Gute würden wir behalten, alles Schlechte loswerden. Das Kleine und das Große Brüllen und die langen Gesichter. Die Tage, an denen sie gar nicht miteinander redeten und an denen du nur auf Zehenspitzen durch die Wohnung laufen mochtest.
Unser ganzes Leben würde so viel schöner werden, dass ich noch gar nicht wusste, wo ich anfangen sollte, es mir vorzustellen.
»Wir werden uns natürlich einschränken müssen«, sagte Juliane unterdessen wieder ziemlich geschäftsmäßig. Meine Mutter arbeitet in einer Anwaltskanzlei und ist diejenige, die bei uns die Ergebnisse der Abstimmungen verkündet. »Drei Wohnungen, das wird teuer. Ich fürchte, der Sommerurlaub ist gestrichen, Kinder.«
»Das macht überhaupt nichts«, erwiderte ich großzügig. »Dann holen Jonas und ich uns eben einen Ferienpass.«
»Was ist mit meinen Fechtstunden?«, fragte Jonas besorgt.
»Das kriegen wir hin. Vielleicht in Zukunft nur noch einmal pro Woche, Schatz …«
Jonas’ Mundwinkel zogen sich nach unten. Fechten ist sein Ein und Alles.
»Wozu brauchen wir drei Wohnungen?«, protestierte er. »Reicht nicht eine Extrawohnung für den, der gerade nicht bei uns ist?«
»Nein, das reicht nicht«, erwiderte Juliane kurz angebunden und vermied es, Linus anzusehen.
Der sagte lahm: »Ich glaube, das waren für heute genug Neuigkeiten.«
»Feigling«, murmelte unsere Mutter, und ich fühlte jäh, wie irgendetwas aus der Nähe meines Herzens eine Etage tiefer sackte und einen Teil des Glücks, das ich eben noch gefühlt hatte, mit sich riss.
Erschrocken blickte ich zu Jonas hinüber. »Ich hab’s doch gewusst«, stand meinem Bruder auf die Stirn geschrieben. »Es gibt einen Haken!«
Das alles ist jetzt genau drei Jahre her.
Mein Therapeut heißt Dr. Rüdiger Engels und ich treffe ihn jeden Freitag um 14 Uhr. Mein Patenonkel spendiert ihn mir, seit meine Schulnoten im Herbst 2012 anfingen, den Bach runterzugehen. Da die schlechten Noten in etwa denselben Zeitraum fielen, als ich auf die Idee kam, zwei verschiedene Schuhe zu tragen, kann es aber sein, dass das in Wahrheit der Grund ist. Obwohl ich mich frage, was daran so schlimm sein soll. Juliane kann sich schließlich selbst nie entscheiden, was sie morgens anzieht, und während ihre Klamotten wie nach einer Schlacht im ganzen Zimmer herumfliegen, wenn sie aus dem Haus hetzt, stehen bei mir nur zwei übrig gebliebene, unterschiedliche Schuhe im Regal. Wo ist das Problem?
Da Dr. Engels nie mit mir über Schuhe redet, denke ich, dass er es ähnlich sieht wie ich. Eigentlich ist bei mir alles in Ordnung, wir haben uns nur sehr aneinander gewöhnt.
Gleich bei unserem ersten Treffen erklärte mir Dr. Engels, was ein Arztgeheimnis ist und dass er nichts, was ich ihm erzähle, weitersagen würde: nicht meinen Eltern, nicht meinen Lehrern, selbst meinem Patenonkel nicht, der ihn bezahlt. Da hätte ich mir beinahe an die Stirn getippt. Für wie blöd hielt er mich …? Zumal ich anfangs überhaupt nichts erzählen, sondern nur malen sollte.
Als ich endlich auf seine Couch umsteigen und etwas sagen durfte, tischte ich ihm zur Probe erstmal ein paar Lügengeschichten auf und machte mich darauf gefasst, dass sie über meine Eltern in Kürze zu mir zurückkamen.
»In Papas Woche sind wir nachts immer allein, weil er nach dem heute journal heimlich zu Vicky schleicht und erst zum Frühstückmachen zurückkommt.«
»Vicky ist eine Betrügerin. In ihrem Pass steht, sie ist sechsunddreißig und nicht erst neunundzwanzig!«
»Dauernd bekommen wir anonyme Anrufe. Jonas und ich glauben, das ist der Vater von Max, Vickys Sohn, und dass er neulich unten auf der Straße stand und zu uns hochguckte. Er macht mir Angst. Ich träume sogar schon von ihm.«
Kein Wort kam zurück, kein einziges. Dr. Engels hält tatsächlich dicht und inzwischen bin ich ein totaler Fan des Arztgeheimnisses. (Dr. Engels sowieso, denn wie die Dinge liegen, würde er auch bezahlt werden, wenn er die ganze Stunde WhatsApp-Nachrichten verschicken und keinen Ton mit mir reden würde, sodass die Möglichkeiten des Arztgeheimnisses auch für ihn ziemlich angenehm sein müssen.)
Jonas trifft Wiebke Schmidt, Kinderpsychologin