Wir Kinder der Kriegskinder - Anne-Ev Ustorf - E-Book

Wir Kinder der Kriegskinder E-Book

Anne-Ev Ustorf

4,5

Beschreibung

Ihre Eltern waren Kinder im Zweiten Weltkrieg. Bombenhagel, Zerstörung und Flucht haben viele erlebt. Fast alle hatten sie Hunger und vor allem Angst, große Angst. Das wirkt nach - auch auf ihre eigenen Kinder, die heute zwischen 30 und 50-jährigen: Da ist das Gefühl, sich nicht verwurzeln zu können, die eingeimpfte Sparsamkeit oder das übergroße Sicherheitsbedürfnis der Eltern – Familiengeschichte wirkt lange weiter. Der Bericht über das Lebensgefühl einer ganzen Generation, die im langen Schatten des Krieges aufwuchs.

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Anne-Ev Ustorf

Wir Kinderder Kriegskinder

Die Generationim Schatten des Zweiten Weltkriegs

überarbeitete und erweiterte Neuausgabe 2016

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2008

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlagkonzeption & -gestaltung: R • M • E Eschelbeck / Hanel / Gober

Umschlagmotiv: © Keystone / Keystone Pressedienst

Foto: privat

Datenkonvertierung eBook: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN (E-Book) 978-3-451-33432-0

ISBN (Buch) 978-3-451-06879-9

Für meine Familie

Vorwort

„Wird jemals ein Gott genug Linderung haben, um diese ungeheure Wunde zu heilen, zu der ganz Europa geworden ist?“, fragte Rainer Maria Rilke im Sommer 1915. Der Dichter war erschüttert von den Materialschlachten des Ersten Weltkrieges und überzeugt, dass dieser Krieg im europäischen Gedächtnis tiefe Spuren hinterlassen würde. Er sollte Recht behalten: Der Erste Weltkrieg wurde zum Nährboden für den Nationalsozialismus in Deutschland und damit zum Vorläufer des Zweiten Weltkrieges. Rilke selbst sollte das sogenannte „Dritte Reich“ allerdings nicht mehr miterleben, er starb im Dezember 1926 an Leukämie. Er wäre absolut entsetzt gewesen. Bis heute ist die Anzahl der Menschen, die infolge der kriegerischen Politik der Nationalsozialisten ihr Leben lassen mussten, unübertroffen: Insgesamt fanden 55 bis 60 Millionen Menschen den Tod, politisch und ethnisch Verfolgte, Zivilisten, Soldaten. Von einer Linderung der „ungeheuren Wunde“, die Rilke im Sommer 1915 in Europa diagnostizierte, konnte also nicht die Rede sein. Und auch heute, siebzig Jahre später, ist der Krieg in den Leben vieler Menschen noch präsent. Immer noch sind viele Kriegskinder geprägt von frühen Verlusten und entsetzlichen Kriegs-, Gewalt- und Vertreibungserfahrungen, die bis ins Alter Spuren hinterlassen. Nicht wenige sind aufgrund dieser Erfahrungen stark beeinträchtigt in ihrer Liebes- und Beziehungsfähigkeit. Und auch ihre Kinder, die heute Vierzig- bis Sechzigjährigen, haben an den Folgen des Krieges zu tragen, obwohl sie ihn doch selbst nie erlebt haben. Viele von ihnen mussten sich intensiv um seelisch beschädigte Mütter oder Väter kümmern und dem Leid ihrer Eltern quasi als „Container“ zur Verfügung stehen. Die Folgen können bis heute Ängste, Identitätsprobleme und ein grundlegendes Gefühl der Lebensverunsicherung sein.

Als mein Buch „Wir Kinder der Kriegskinder“ im Herbst 2008 erschien, war unklar, ob es überhaupt Leser finden würde. Zwar hatte Sabine Bode bereits im Jahr 2004 einen Erfolg mit ihrem wegweisenden Buch über die Kriegskinder, „Die vergessene Generation“, gefeiert. Dennoch schien der Gedanke, dass auch die Kinder der Kriegskinder noch an den Erlebnissen der Eltern zu tragen haben, vielen Menschen bestenfalls esoterisch und schlimmstenfalls revisionistisch. Die Beschäftigung mit dem Leid der deutschen Kriegskinder hatte vor zehn Jahren noch etwas beinahe Anrüchiges, viele werteten sie als Versuch, die Deutschen ihrerseits zu Opfern zu stilisieren und somit den Unterschied zwischen den Tätern und Opfern des Nationalsozialismus zu nivellieren. Ein Vorwurf, gegen den ich mich – wie viele Autorinnen und Autoren von Büchern ähnlicher Themenbereiche – stets wehre, geht es doch nicht darum, Leid mit Leid zu vergleichen, sondern zu schauen, wie die Vergangenheit auf einer individuellen, gesellschaftlichen und politischen Ebene noch in die Familien hineinwirken kann. Schließlich haben viele psychologische und soziologische Studien in den vergangenen Jahrzehnten gezeigt, dass unbearbeitete Anteile der Familiengeschichte sich mit zunehmendem Abstand nicht von selbst auflösen, sondern erst reflektiert werden müssen, um ihre Wirkmacht zu verlieren. Der israelische Psychologieprofessor und Holocaust-Forscher Dan Bar-On (2008 verstorben) sah in der aktuellen Auseinandersetzung der Deutschen mit den eigenen Kriegs- und Fluchterfahrungen also einen wichtigen Schritt im Heilungsprozess der deutschen Gesellschaft: „Die eigenen Verluste durchzuarbeiten und zu trauern ist enorm wichtig“, erklärte er mir in einem Interview im Jahr 2007, „nachdem dies in Deutschland geschehen ist, wird vielleicht wieder die Energie da sein, um einen genaueren Blick auf die Involvierung deutscher Familien in den Holocaust zu wagen.“ Die Zeit spielt uns dabei nicht in die Hände: Umso größer der zeitliche Abstand zum Geschehenen ist, umso schwieriger wird es, die familiäre Vergangenheit zu rekonstruieren.

Es war also nicht ganz leicht für mich, einen Verlag zu finden, der dieses heiße Eisen anfassen wollte. Als „Wir Kinder der Kriegskinder“ schließlich im Herbst 2008 im Verlag Herder erschien, gab es bezeichnenderweise wenig Medienresonanz. Einige Radiosender interessierten sich zwar für das Thema, doch in den vielen Print-Redaktionen des Landes herrschte großes Schweigen. Dennoch fand das Buch quasi über Nacht seine Leser: Kinder schenkten es ihren Müttern, Schwestern ihren Brüdern und Tanten ihren Nichten. Es machte in den Familien die Runde, und ich erhielt viele berührende Briefe und E-Mails von Leserinnen und Lesern aus Deutschland, Großbritannien, Holland, den USA, sogar Australien. Inzwischen beschäftigen sich sehr viele Deutsche mit dem Thema Weitergabe von Kriegstraumata und Kriegserlebnissen in den Familien. Ich freue mich, dass die Reaktion auf mein Buch nach wie vor rege ist.

Gleichzeitig zeigt mir die starke Resonanz aber auch seine Schwachstellen auf: Viele Leserinnen und Leser beschwerten sich, dass ich mich in „Wir Kinder der Kriegskinder“ zu sehr um die Geschichten von Flüchtlings- und Vertriebenenfamilien kümmere und nicht genug um diejenigen Familien, die ihre Heimat zwar nicht verloren hatten, aber dennoch unter vielfältigen Folgen des Krieges litten – etwa unter dem Bombenkrieg, unter traumatisierten Kriegsheimkehrer-Vätern, unter alleinerziehenden, überforderten Müttern. Das stimmt. Zwar stammen bei weitem nicht alle meine Gesprächspartner aus Flüchtlingsfamilien, und die oben genannten Punkte sind wichtige Themen in den meisten Lebensgeschichten meines Buches, dennoch liegt mein Fokus überwiegend auf Flüchtlingsfamilien. Warum? Weil sich bei meiner Suche nach Gesprächspartnern fast nur Menschen aus Flüchtlingsfamilien meldeten, deren Eltern als Kinder aus Schlesien, Ostpreußen, Pommern, dem Sudetenland, Donau-Schwaben oder Siebenbürgen fliehen mussten. Mein Buch war das erste Sachbuch zum Thema, ich hatte lediglich eine Ahnung vom Ausmaß der transgenerationalen Weitergabe von Kriegserfahrungen innerhalb der Familien. Doch bis heute scheint mir, dass sich bei vielen Kriegskindern das Leid durch die Vertreibung noch multiplizierte: Der Heimatverlust, die Flucht, der schwierige Neuanfang im Westen und das Gefühl, in der „Fremde“ zu leben. All das sind Erfahrungen, die viele Familien in Nachkriegsdeutschland insgesamt nicht gut bewältigen konnten und die in den Generationen mitunter besonders schmerzliche Spuren hinterließen.

Würde ich das Buch heute nochmal schreiben, würde ich bei der Auswahl der Gesprächspartner allerdings auf eine größere Vielfalt an biographischer Erfahrung achten. Ich würde mir auch den Umgang mit familialen Kriegserfahrungen in der DDR genauer anschauen. Die meisten meiner Gesprächspartner wuchsen in der BRD auf, wo die NS-Vergangenheitsbewältigung lange ein umstrittener Prozess war und spätestens ab den 1970er Jahren klar als negatives Bezugsereignis zum Dreh- und Angelpunkt der westdeutschen Identität wurde. Im Osten Deutschlands hingegen war die Situation eine ganze andere: Im Gründungsmythos der DDR hatten deutsche Antifaschisten an der Seite der Sowjetunion die Hitler-Diktatur besiegt und dann das neue Deutschland geschaffen. Für eine Trauer über individuelle Flucht- und Vertreibungserfahrungen, über die traumatischen Erlebnisse des Bombenkrieges, über sexuelle Gewalterfahrungen oder familiäre Verluste blieb zwar in beiden Ländern bis in die frühen 1990er Jahre wenig Raum, doch in der DDR war diese Auseinandersetzung auch politisch explizit nicht erwünscht! Was macht das mit Familien? Es befördert das Schweigen und die Verdrängung.

Heute, nach über siebzig Jahren Frieden, haben wir endlich – in Ost und West – die Möglichkeit, eine Auseinandersetzung mit den Spuren, die der Krieg im Leben der Eltern und auch in unseren Leben hinterlassen hat, zu führen. Für mich steckt die Chance dieser Auseinandersetzung aber nicht nur in der persönlichen Durcharbeitung, sondern vielleicht auch in den gesellschaftlichen Erkenntnissen, die wir daraus ziehen können. Denn aus etwas „Schlechtem“ wie eigenen Kriegserlebnissen erwächst leider nicht immer etwas „Gutes“ wie Empathie mit anderen Betroffenen oder der Wunsch nach Frieden. Gerade die Bundesländer, die nach dem Zweiten Weltkrieg besonders viele Vertriebene aufnahmen – allen voran Mecklenburg-Vorpommern und Bayern – haben Studien zufolge bis heute die höchsten Anteile an von Vorurteilen belasteten Menschen. Der Sozialpsychologe Dr. Oliver Decker von der Universität Leipzig, der über politische Einstellungen in der Bundesrepublik forscht, erklärte mir jüngst in einem Interview, dass gerade die eigenen Flucht- und Vertreibungserfahrungen häufig besonders anfällig für Vorurteile machen. Er sagt: „Flucht und Vertreibung sind per se schlimme Erlebnisse. Um daraus etwas Gutes im Menschen hervorzubringen, braucht es oft noch andere Erfahrungen: Identifikation mit guten Menschen, die einem selbst geholfen haben, an denen man sich orientieren kann. Oder dass man als Kind in einer fremden Umgebung die Erfahrung machte, dass man aufgefangen wurde. Diese Bedingungen führen dann eher dazu, dass Betroffene im Erwachsenenalter ohne Vorurteile Menschen mit ähnlichen Erfahrungen unterstützen“.

Seit Erscheinen des Buches 2008 hat sich die Welt weitergedreht. Wir erleben die größte Flüchtlingskrise seit dem Krieg, laut UNHCR mussten im vergangenen Jahr etwa sechzig Millionen Menschen ihre Heimat verlassen. Ungefähr eine Million Flüchtlinge haben wir in Deutschland aufgenommen. Viele von ihnen sind Kinder, aus Syrien, Afghanistan oder Somalia. Sie haben – wenn auch unter anderen Vorzeichen – das erlebt, was unsere Kriegseltern durchmachen mussten. Die meisten von ihnen sind traumatisiert. Eine Folge der Auseinandersetzung mit unseren eigenen Kriegserfahrungen könnte also auch sein, diesen Kindern zu helfen, bei uns in Sicherheit zu leben. Vielleicht können wir alle dazu beitragen, dass sie ihre traumatischen Erfahrungen nicht an die nächste Generation weitergeben müssen. Denn wir wissen aus der Geschichte, dass der Wunsch nach einer Bewältigung von Ohnmachtserfahrungen und Verletzungen nur allzu schnell im Bedürfnis nach Vergeltung münden kann. Ihnen zu helfen wäre also Friedensarbeit – vielleicht die beste, die wir leisten können.

Anne-Ev Ustorf

im Mai 2016

Einleitung

Als Günter Grass im Jahr 2002 sein Werk Im Krebsgang veröffentlichte, brach er ein Tabu: In seiner Novelle schilderte Grass den Untergang des Kraft-durch-Freude-Passagierschiffes Wilhelm Gustloff und richtete den Blick erstmals explizit auf das Leid der deutschen Bevölkerung während des Krieges. Damit schnitt der Literat ein Thema an, das bis dahin in der Öffentlichkeit kaum diskutiert worden war. Grass, 1927 in Danzig geboren und selbst in Kriegszeiten aufgewachsen, hatte dies stets verurteilt: „Niemals hätte man über so viel Leid, nur weil die eigene Schuld übermächtig und bekennende Reue in all den Jahren vordringlich gewesen sei, schweigen, das gemiedene Thema den Rechtsgestrickten überlassen dürfen“, ließ er in seiner Novelle den Erzähler reflektieren. Mit dieser Einstellung traf der Schriftsteller offensichtlich einen Nerv: Innerhalb weniger Wochen waren 300.000 Exemplare von Im Krebsgang verkauft.

Seitdem sind viele Autoren seinem Beispiel gefolgt und haben die Erlebnisse der Deutschen während Flucht, Vertreibung und Bombenkrieg in Sachbüchern, Artikeln und Fernsehsendungen geschildert. Inzwischen ist das Thema sogar spielfilmtauglich: TV-Produktionen wie Die Flucht und Die Gustloff belegen dies. Auch der israelische Psychologieprofessor Dan Bar-On sieht die aktuelle Auseinandersetzung mit den eigenen Kriegs- und Fluchterfahrungen als wichtigen Schritt im Heilungsprozess der deutschen Gesellschaft: „Die eigenen Verluste aufzuarbeiten und zu trauern ist enorm wichtig“, erklärt er mir in einem Interview. „Nachdem dies in Deutschland geschehen ist, wird vielleicht wieder die Energie da sein, um einen genaueren Blick auf die Involvierung deutscher Familien in den Holocaust zu wagen.“

Erst durch diese Auseinandersetzung schien es möglich, auch das Leid der deutschen Kriegskinder ins Blickfeld zu nehmen. Geboren zwischen 1927 und 1947, wuchsen die Kriegskinder in einer Zeit auf, die eine Vielzahl potenziell traumatisierender Erfahrungen für sie bereithielt: Gerade in den letzten Jahren des Krieges bestimmten Bombenangriffe, Flucht, Vertreibung und Hungersnot den Alltag der Kinder. Vor allem in emotionaler Hinsicht kamen viele Kriegskinder zu kurz: Angesichts der harten Zeiten blieben ihre kindlichen Bindungs- und Geborgenheitsbedürfnisse oft nur unzureichend beantwortet. Und auch in den ersten Nachkriegsjahren ging es in vielen Familien vorrangig darum, irgendwie zu überleben. Heute sind die Kriegskinder 60 bis 80 Jahre alt und leiden an den Folgeerscheinungen ihrer Kindheitserfahrungen. Sie klagen über Flashbacks (ein blitzartig wiederkehrendes Erleben früherer Gefühlszustände), Ängste, psychosomatische Beschwerden, Depressionen und Beziehungsschwierigkeiten. Psychologischen Studien zufolge leiden 30 Prozent von ihnen an einer posttraumatischen Belastungsstörung. Viele haben ihre Erfahrungen nie aufarbeiten können – erst jetzt füllen sich die psychologischen Praxen mit Kriegskindern, die Hilfe suchen und ihre Erlebnisse mitteilen wollen. Forschungsprojekte über die Langzeitwirkungen kindlicher Kriegserfahrungen sollen nun Aufschluss darüber geben, wie genau sich die kindlichen Kriegserfahrungen auf die Biographien der Betroffenen ausgewirkt haben.

Doch was haben die Kinder der Kriegskinder mit den Erfahrungen der Eltern zu tun?

In der Forschung ist längst bekannt, dass traumatische oder belastende Erfahrungen, wenn sie nicht aufgearbeitet wurden, auf die nächste Generation übertragen werden können – man nennt diesen Prozess „transgenerationale Weitergabe“. Bereits 1913 beschrieb Sigmund Freud in Totem und Tabu dieses Phänomen: „Wir dürfen annehmen, dass keine Generation imstande ist, bedeutsamere seelische Vorgänge vor der nächsten zu verbergen.“

In den 1970ern und 1980ern stellten Holocaust-Forscher fest, dass auch die Kinder der KZ-Überlebenden an seelischen Problemen litten, die unmittelbar mit den traumatischen – dabei aber oft verschwiegenen – Erfahrungen der Eltern zusammenhingen. Ähnliche Modelle der transgenerationalen Weitergabe erkannten Psychologen später bei den Kindern der Vietnam-Krieg-Veteranen und den Kindern von Kriegsflüchtlingen, zum Beispiel aus dem Kosovo. Es liegt nahe zu vermuten, dass auch die deutschen Kriegskinder ihre Traumata mitunter unbewusst an ihre Kinder weitergegeben haben. Denn auch die Kriegskinder konnten ihre Erfahrungen meist nicht aufarbeiten – die schwierigen Nachkriegsjahre, Schuld- und Schamgefühle und auch das noch nicht ausgebildete Langzeitgedächtnis der besonders jungen Kriegskinder verhinderten eine konkrete Beschäftigung mit dem Erlittenen.

Als ich mit Mitte 20 eine Psychoanalyse begann, setzten bei mir wiederkehrende Träume mit immer gleichen Inhalten ein: Ich träumte von zerbombten Städten und brennenden Ruinen, von fünfköpfigen Familien, die inmitten der Trümmer saßen und am ganzen Körper Kriegsverletzungen aufwiesen. Und ich entwickelte eine Obsession: Als Journalistin begann ich, über die Schicksale in Deutschland lebender Flüchtlingskinder zu arbeiten, wieder und wieder, bis ich kaum noch in der Lage war, andere Aufträge anzunehmen. Meine unablässigen Versuche, Anerkennung für die Leidenserfahrungen der Kinder aus Afghanistan oder Serbien zu erlangen, brannten mich aus. Zu verstehen begann ich erst ein paar Jahre später. Die Debatte um das Leid der deutschen Bevölkerung während des Krieges und die Erfahrungen der Kriegskinder ließen mich auch über die Geschichte meiner Eltern nachdenken. Wenige Tage nach Kriegsende geboren, waren auch ihre Kindheiten von Hunger, Armut, Zukunftsängsten und Unsicherheit geprägt. Hinzu kam in der Familie meiner Mutter kurz vor dem Mauerbau noch eine traumatische Flucht von Ostnach Westdeutschland mit monatelangen Aufenthalten in Flüchtlingslagern und anschließendem mühsamen Neuanfang in der Nachkriegs-BRD. Erst in meiner Analyse begann ich zu spüren, welch materielle und emotionale Entbehrungen meine Eltern hatten hinnehmen müssen – und wie sich diese wiederum auf uns drei Kinder ausgewirkt hatten. Hinter der emotionalen Unerreichbarkeit meiner Eltern, hinter ihrem unbedingten Leistungswillen und ihrer offensichtlichen Stärke verbargen sich Ängste und Bedürftigkeit. Wir Kinder hatten eine Menge davon auffangen müssen – obwohl wir doch selbst stets gefordert waren zu funktionieren. In der Psychotherapie lernte ich, meine eigenen Gefühle besser spüren und mitteilen zu können. Erst als ich begann, mich bewusst mit der Geschichte meiner Eltern, speziell der meiner Mutter, auseinanderzusetzen, ließ der innere Zwang nach, mich mit den Schicksalen der in Deutschand lebenden Flüchtlingskinder zu beschäftigen.

Die Kriegsverletzungen, die mir im Traum so deutlich erschienen waren, hatten bei meinen Eltern und auch bei uns Kindern deutliche Spuren hinterlassen.

Inzwischen weiß ich, dass es auch anderen Kindern von Kriegskindern so geht. Ich begann zu recherchieren und stellte schnell fest, dass auch andere Männer und Frauen der „dritten Generation“, geboren etwa zwischen 1955 und 1975, geprägt sind von den kindlichen Kriegserfahrungen ihrer Eltern. Auch sie haben Gefühle übernommen, Ängste geerbt, Rollen eingenommen, die in Bezug stehen zu den Kriegserlebnissen ihrer Eltern. „Die Eltern zu erlösen, das war meine Aufgabe“, erklärt einer meiner Gesprächspartner.

Wir sind eine Generation, deren Lebensgefühl geprägt ist von emotionalen Erfahrungen, die gut 60 Jahre zurückreichen: die Heimatlosigkeit, das Gefühl, sich nirgends verwurzeln zu können, die eingeimpfte Existenzangst, Bindungsschwierigkeiten, Identitätsverwirrungen und vor allem das Gefühl, bei den Eltern etwas wieder gutmachen zu müssen ... all das sind oft Folgen der elterlichen Kriegs-, Flucht- und Vertreibungserfahrung.

Doch mehr als alles andere hat uns wohl die emotionale Sprachlosigkeit in unseren Familien geprägt. In der emotionalen Fremdheit zwischen den Generationen erkennen die Psychoanalytiker Hartmut Radebold und Werner Bohleber einen der wichtigsten Gründe dafür, dass heute so viele Kinder von Kriegskindern in Psychotherapie sind:

„Die Kinder der Kriegskinder repräsentieren mittlerweile die dritte ( jetzt indirekt) kriegsbetroffene Generation. Viele von ihnen befinden sich zurzeit in psychotherapeutischer Behandlung. Sie vermitteln inzwischen zunehmend deutlicher, welche Folgen diese – ihnen allerdings oft unbekannte – Kriegskindheit ihrer Eltern hatte und noch hat.“ (Radebold / Bohleber / Zinnecker: Transgenerationale Weitergabe kriegsbelasteter Kindheiten). Insbesondere der Widerspruch zwischen materieller Verwöhnung und psychischem Desinteresse der Eltern sei für die Kinder belastend, schreiben die Autoren.

In diesem Buch möchte ich anhand einer Reihe von – namentlich anonymisierten – Lebensgeschichten zeigen, auf welch unterschiedliche Art und Weise die Kriegserfahrungen der Eltern noch heute im Leben ihrer Kinder Gestalt annehmen. Meine Gesprächspartner, alle zwischen 1955 und 1975 geboren, berichten von ihrem Bemühen nach Abgrenzung zur Geschichte der Eltern und der Suche nach der eigenen Identität. Sie beschreiben ein Gefühl der Wurzellosigkeit, das in Flüchtlings- und Vertriebenenfamilien mitunter bis in die dritte Generation wirkt und auch bei ihnen eine Identifikation mit der neuen Heimat im Westen verhinderte. Sie schildern ihr Bemühen, ein Leben zu führen, das für die von Verlust geprägten Eltern möglichst wenig belastend ist, aber gleichzeitig ihrem Bedürfnis nach Selbstverwirklichung entgegenwirkt. Sie berichten von der emotionalen Unerreichbarkeit der Eltern und erklären, wie sie erst nachträglich lernten, die eigenen Gefühle wahrnehmen und mitteilen zu können. Auch die Folgen sexueller Übergriffe während Flucht und Vertreibung sind ein Thema – meine Gesprächspartnerinnen erzählen, wie die Erlebnisse der Eltern und deren Einstellung zu Sexualität allgemein noch das Beziehungsleben ihrer Kinder prägten. Und sie sprechen darüber, welche Kreise die Verstrickung eigener Familienmitglieder in die Taten der Nationalsozialisten noch bei den kommenden Generationen zog.

Es ist mir wichtig zu betonen, dass es in diesem Buch nicht um Schuldzuweisung oder Anklage der Kriegskindergeneration geht, sondern um ein tieferes Verständnis der Erfahrungen und Verhaltensweisen unserer Eltern – und gleichzeitig um ein besseres Verständnis für die eigene Lebensgeschichte. Denn wenn es uns gelingt, eine Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte zu führen und so die eigenen Prägungen zu erkennen, dann müssen wir sie nicht an unsere Kinder weiterreichen. Schließlich wären die Enkelkinder der Kriegskinder dann nämlich bereits die vierte indirekt kriegsbetroffene Generation. Schon vor den Kindern der Kriegskinder (ca. 1955–1975) und den Kriegskindern (ca. 1927–1947) gab es eine kriegsbetroffene Generation: Die Eltern der Kriegskinder, selbst Kriegskinder des Ersten Weltkrieges (1914 –1918). Auch sie waren möglicherweise bereits geprägt von kindlichen Verlust-, Trauer- und Mangelerfahrungen, die ihrerseits Schatten auf die kommenden Generationen geworfen haben mögen. Die Zeit heilt eben nicht alle Wunden.

Heute, nach gut 60 Jahren Frieden, können wir uns daranmachen, die seelischen Folgen der Kriegsjahre aufzuarbeiten. Genug Zeit ist verstrichen, um frei von ideologischen Debatten einen Blick auf das eigene erlittene Leid und dessen Bedeutung auch für die nachfolgenden Generationen zu werfen. Vielleicht können wir so auch den „Graben zwischen den Generationen“, den viele meiner Gesprächspartner so deutlich spüren, besser verstehen. Es ist mein Wunsch, dass dieses Buch dazu beiträgt, einen Dialog zwischen den Kriegskindern und ihren Kindern in Gang zu setzen. Besser früher als später, denn viel Zeit bleibt unter Umständen nicht mehr: Die ältesten Kriegskinder haben die 80 bereits überschritten. Es lohnt sich, miteinander ins Gespräch zu kommen. Denn bevor wir uns versöhnen können, müssen wir einander erst verstehen lernen.

den viele meiner Gesprächspartner so deutlich spüren, besser verstehen. Es ist mein Wunsch, dass dieses Buch dazu beiträgt, einen Dialog zwischen den Kriegskindern und ihren Kindern in Gang zu setzen. Besser früher als später, denn viel Zeit bleibt unter Umständen nicht mehr: Die ältesten Kriegskinder haben die 80 bereits überschritten. Es lohnt sich, miteinander ins Gespräch zu kommen. Denn bevor wir uns versöhnen können, müssen wir einander erst verstehen lernen.

1. Die KriegskinderStarke Eltern, schwache Eltern

Das „Tosen des Krieges“

Die Sonne scheint, fröhlich singend sitzen mein Bruder und ich auf dem Rücksitz des Opel Kadett meiner Großeltern. Wie so oft haben wir gemeinsam ein Wochenende auf dem Land verbracht, in einem kleinen Holzhäuschen am Rande eines Rapsfeldes in der Nähe von Bad Segeberg. Schon seit Jahren genießen meine Großeltern dort ihre freien Tage, oft mit meiner Uroma im Schlepptau, und entfliehen so der Enge ihrer Hamburger Stadtwohnung. Wir lieben diese Wochenenden in der Natur. Hinter dem Häuschen baut meine Großmutter Kartoffeln, Karotten und Salat an, und nichts begeistert uns Kinder mehr, als ihr zu helfen, das Gemüse zu ernten und es anschließend gemeinsam zu essen. Am Ende des Grundstücks, zur kleinen Landstraße hin, dann das Revier meines Großvaters: Zwei Bienenstöcke in einem kleinen Kiefernwäldchen. Stundenlang sitzt mein Opa dort auf einem Hocker, raucht Zigarillos und beobachtet seine Bienen. Schon als Kind frage ich mich oft, worüber genau der schweigsame Mann die ganze Zeit nachdenkt.

Nachdem meine Großeltern uns zu Hause abgeliefert haben, summen mein Bruder und ich die Lieder, die wir während der Autofahrt gesungen hatten, noch weiter: „Schwarz-braun ist die Haselnuss“ und „Heho, spannt den Wagen an“ sind unsere Favoriten. Als meine Mutter uns hört, bringt sie uns sofort zum Schweigen. „Singt das nie wieder!“, weist sie uns an und murmelt dann kopfschüttelnd. „Dass Mutti immer noch ihre Lieder aus dem Arbeitsdienst singen muss.“ Mein Bruder und ich haben das Gefühl, uns für etwas schämen zu müssen – nur wofür, das wissen wir nicht genau. Erst ein halbes Jahrhundert später begreife ich, dass für meine Großeltern in den Kriegsjahren, den Jahren ihrer Jugend, der wohl schönste und gleichzeitig auch fürchterlichste Abschnitt ihres Lebens stattfand. Beim Auflösen ihrer Wohnung finde ich Tagebücher, Fotoalben, Ahnenpässe, Verwundetenabzeichen und Soldbuch-Auszüge aus NS-Zeiten, sorgfältig in Ordnern archiviert. Von der Zeit „unter Adolf“, wie sie oft sagten, hatten sie sich offensichtlich nie ganz verabschiedet.

Mein Großvater, 1918 in Mecklenburg geboren, hatte 14 Jahre lang Tagebuch geführt, von 1928 bis 1943. Seine Einträge reichen von seinen Sommer- und Winterlagerfahrten mit verschiedenen nationalen Jugendgruppen als zehnjähriger Knirps bis hin zu seinen Luftwaffeneinsätzen in Russland und Rumänien im Jahr 1943 und dokumentieren eindrucksvoll, wie die nationalsozialistischen Jugendorganisationen ihre jungen Mitglieder zu prägen vermochten. Im Tagebuch meines halbwüchsigen Großvaters dominieren eingeklebte Schwarz-Weiß-Drucke, die Jungen in kämpferischen Positionen zeigen, darunter handschriftlich sorgfältig kopierte Zeilen wie „Weil wir sterben müssen, sollen wir tapfer sein“. Ab 1938 finden sich auch Hakenkreuze in seinem Tagebuch, parallel zu seinem beginnenden Landdienst in Mecklenburg, während dessen er inbrünstig hofft, endlich zur Wehrmacht einberufen zu werden: „Nun muss die Entscheidung fallen“, schreibt er 1939. „Nach unserem vergeblichen Harren, nach Ostpreußen oder nach Oberschlesien zu kommen, muss jetzt eine Klärung kommen.“ Kurze Zeit später wird er zur 22. Staffel des Flieger-Ausbildungsregiments in Güstrow einberufen. Zeilen über Zeilen von nationalsozialistischen Gedichten und Liedertexten dokumentieren diesen neuen Lebensschritt. In den kommenden drei Jahren führt ihn seine Position als Mechaniker der Transportstaffel des IV. Fliegerkorps monatelang nach Brüssel und Paris. Diese Jahre scheinen für ihn voller Abenteuer zu sein: Sauftouren mit seinen Kumpels und humorvolle Beschreibungen des Fliegeralltags dominieren seine Erinnerungen. Kein kritischer, besorgter Gedanke findet Eintrag in sein Tagebuch – oder vielleicht behält er solcherart Reflexionen lieber für sich? Andere Aufzeichnungen scheinen dagegen zu sprechen. Als er in Brüssel beobachtet, wie die Bevölkerung angesichts der deutschen Besatzer panisch die Stadt verlässt, schlussfolgert er: „Noch immer strömen Flüchtlinge durch die Straßen. Oh, welch ein Elend. Wieder hat die Bevölkerung der feindlichen Propaganda das Wort Barbaren geglaubt.“ Auch während seines einjährigen Dienstes in Paris von Juni 1940 bis Juni 1941, „der schönsten Stadt der Welt“, findet mein mittlerweile 23-jähriger Großvater nichts dabei, einer aggressiven Besatzungsmacht anzugehören. Wie ein Tourist zieht er mit seinen Kameraden durch die Straßen der Stadt, bewundert die Architektur, kehrt in Kneipen und Restaurants ein, besucht Kinos, das Theater oder die Oper. „An uns zieht das Leben der Franzosen vorbei“, schreibt er. „Wie viel Spaß macht es uns, in diesen Zeiten uns hier zu tummeln.“ Vom Leiden der Zivilbevölkerung, den Judenverfolgungen, der Willkür und Gewalt der deutschen Besatzer – kein Wort. Er ist überzeugt von seiner Mission: „Oft wird mir das Herz groß, wenn wir über die Schlachtfelder von 1914 –1918 fliegen“, schreibt er 1941. „Dieser Krieg hat alles wieder gut gemacht. Zur Heimat könnte uns dieses Land nie werden, es fehlen die Seen und Wälder. Der Atlantik dagegen ist anders.“

Nach Paris werden die Einträge sporadischer, für meinen Großvater geht es weiter nach Rumänien und wenig später nach Russland. Manchmal klingen vorsichtige Klagen über die bittere Kälte im Osten an, über Ratten in den Zelten und Verluste unter den Kameraden. Im Jahr 1943 enden die Tagebucheinträge mit dem Gedicht: „Niemand weiß, wie lange das Tosen dieses Krieges noch dauern wird / Drum will ich den Sang beschließen / Niemand wird heut schon wissen, was die Zukunft gebiert / Aber: Trotzdem blühen Rosen.“

Aus seinem Soldbuch geht hervor, dass er in den kommenden zwei Jahren an drei Gefechten teilnimmt und in der rechten Brust durch einen Granatsplitter verwundet wird – doch er hat Glück, der Großteil des Splitters bleibt in einem Fotobüchlein mit Familienbildern stecken, welches er stets in seiner rechten Brusttasche aufbewahrt. Seine letzten Kriegsstationen sind das Lazarett Bad Bramstedt und Elmendorf im Ammerland, wo er an aussichtslosen Kämpfen gegen die Alliierten teilnimmt. Im Mai 1945 wird er von den Briten verhaftet und als Kriegsgefangener zum Arbeitsdienst auf einem Hof in der Nähe von Stade verurteilt.

Wie mag es meinem Großvater ergangen sein, als er im Februar 1946 endlich nach Schwerin zurückkehrte? Vermutlich war er froh, den Krieg überlebt zu haben. Wie seine Heimatstadt mag aber auch sein Weltbild in Trümmern gelegen haben. Er kam zurück als Besiegter – und blühende Rosen waren nirgends zu sehen. Stattdessen seine junge Frau Käthelies mit seiner Erstgeborenen auf dem Arm, meiner Mutter Annegret, die am 21. Mai 1945 zur Welt kam und ein dünnes Baby war. Auch meiner Großmutter, 1922 geboren, wird es in dieser Zeit vermutlich nicht besonders gut gegangen sein. Abgesehen von den existenziellen Nöten der Nachkriegszeit im besetzten Schwerin, dem als traumatisch erlebten Einmarsch der Russen und dem langen Bangen um ihren Mann, von dem sie seit Kriegsende kein Wort gehört hatte, war es vermutlich auch für sie nicht leicht, zu den Besiegten zu gehören. Sie hatte im BDM als Jungführerin mit Begeisterung in diversen Ernte- und Arbeitsdienstlagern gedient. Ein Fotoalbum belegt diese Zeit: Meine junge Großmutter beim Kartoffelsammeln, beim Heuernten und bei Sommerfesten, uniformiert, meist gut gelaunt inmitten einer Schar gleichaltriger Mädchen. Im Hintergrund fast immer: Die Hakenkreuzflagge. Wie eine ausgedehnte, fröhliche Klassenfahrt wirken die Bilder dieser Jahre auf mich. Vom Grauen des Nationalsozialismus keine Spur. Doch auch dieses Album endet im Jahr 1943. Danach: Nichts mehr.

Im Krieg geboren

Als das „Reich“ in Trümmern lag, war mein Großvater 27 und meine Großmutter 23 Jahre alt. Wie mag es in ihnen ausgesehen haben? Waren sie erschüttert vom Zusammenbruch des nationalsozialistischen Regimes, von der Enttarnung der Helden ihrer Jugend als millionenfache Kriegsverbrecher? Oder waren sie einfach nur froh, überlebt zu haben?

Der Sozialwissenschaftler Stephan Marks beschreibt in seinem Buch Warum folgten sie Hitler? den Nationalsozialismus als kollektiven Rauschzustand, der eine suchtartige Abhängigkeit auf seine Anhänger ausübte – und erklärt so das „schwarze Loch“, in das viele „Berauschte“ nach der Niederlage fielen.

Ob auch meine Großeltern in so ein „schwarzes Loch“ fielen, werde ich nie erfahren – inzwischen sind beide verstorben. Sicher ist jedoch, dass für sie eine mühsame Zeit der Neuorientierung begann. Mein Großvater besuchte eine Lehrerfortbildung und erhielt Ende 1946 eine Anstellung an einer Dorfschule in der Nähe von Schwerin. Bezahlt wurde er überwiegend in Naturalien, so dass die Familie zumindest keinen Hunger leiden musste. Nutzten meine Großeltern aber die langsam einkehrende Ruhe, um sich kritisch mit ihrer unmittelbaren Vergangenheit auseinanderzusetzen? Wenn wir ihren nostalgischen Erzählungen über die Zeit „unter Adolf“ glauben schenken dürfen, dann taten sie dies weder zu diesem Zeitpunkt noch später.

Der 1928 geborene Journalist Heinrich Jaenecke beschreibt die so genannte Stunde Null nach Kriegsende als „den großen Schlussstrich, den die Mehrheit der Deutschen unter das Kapitel Hitler zog – eine Amputation des Bewusstseins, die die ‚Vergangenheit‘, wie die Umschreibung für das ‚Dritte Reich‘ lautete, aus dem Gedächtnis löschte. Man glaubte, sie damit los zu sein wie ein krankes Glied, das der Chirurg entsorgt“ ( Jaenicke: „Die Stunde Null“, in: GEO EPOCHE, Nr. 9). Die Psychoanalytiker Alexander und Margarete Mitscherlich widmeten sich diesem Phänomen in ihrem Buch Die Unfähigkeit zu trauern und beschrieben, wie es den Deutschen nach dem Krieg weder gelang, um das Leid ihrer Millionen Opfer noch um die eigenen Schmerzen und Verlusterfahrungen zu trauern. Diese doppelte Unfähigkeit zu trauern führte sogar zu „einer Panzerung gegen Gefühle überhaupt“, glaubt der Bremer Psychoanalytiker und Publizist Hans-Jürgen Wirth (Wirth: Kriegskinder an der Macht).

Auch bei meinen Großeltern mag dies der Fall gewesen sein. In den Jahren nach dem Krieg arbeiteten sie hart, um mit ihren drei Töchtern überleben zu können – aber über Emotionen wurde in dieser Familie, wie in so vielen anderen deutschen Familien, kaum mehr gesprochen. Reflexion, Auseinandersetzung, Innehalten: Das sind und waren Fremdworte. Es galt, stets zu funktionieren.