Wir sind 50! - Ja, und? - Silvia Götschi - E-Book

Wir sind 50! - Ja, und? E-Book

Silvia Götschi

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Beschreibung

Vier fünfzigjährige Frauen, vier verschiedene Charaktere, vier unterschiedliche Schicksale – ein Problem!  Wie werden sie mit dem Gedanken und der Tatsache fertig, dass sie offensichtlich älter werden?

Der Umbruch in der Lebensmitte, von allen vier Frauen auf ihre ganz persönliche Art erlebt. 

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Silvia Götschi

Wir sind 50! - Ja, und?

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

Prolog

Am Morgen des siebten Tages schuf Gott den Adam und stellte ihn ins Paradies. Als Gott sah, dass Adam alleine sehr traurig war, entnahm Gott Adam einen Knochen aus seiner linken Körperseite und formte daraus Ivo. Ivo sah aus wie Adam. Als Adam sah, dass er nicht mehr alleine war, war er sehr glücklich und er beschloss, Ivo aus ganzem Herzen zu lieben.

Gott sah, dass ihm da ein Fehler unterlaufen war und dachte nach, wie er diesen beheben konnte. Da schuf  Gott eine Frau und nannte sie Eva. Adam aber beachtete die Frau nicht, denn sie kam ihm fremd vor. Da beschloss Gott, Eva eine Gefährtin zu schenken.  Er entnahm Eva einen Knochen aus ihrer linken Körperseite und formte daraus Ina. Als Eva dies sah, war sie sehr glücklich und beschloss, Ina aus ganzem Herzen zu lieben.

Gott war zufrieden, denn er sah, dass sich Adam und Ivo, sowie Eva und Ina verstanden. Am Abend des siebten Tages aber merkte Gott, dass da noch etwas zur Vervollkommnung der Schöpfung fehlte: die Kinder. Und da sich Gott fortan zur Ruhe setzen und die Arbeit den Menschen überlassen wollte, überlegte er, wie er dieses Problem lösen konnte.

Er beschloss, ein Gartenfest in Eden zu machen und lud seine Leute dazu ein. Adam und Ivo trafen gemeinsam ein. Auch Eva und Ina begaben sich zu dieser fröhlichen Feier. Unter dem Baum der Erkenntnis liessen sie sich nieder und assen von den köstlichen Früchten. Sie lachten miteinander und kamen sich näher. Es entstanden gegenseitige Sympathien, die ihnen vorerst noch fremd waren. Doch Adam verliebte sich alsbald in Eva. Da erkannten sie, dass sie körperlich ineinander passten und so für den von Gott gewünschten Nachwuchs sorgen konnten.

Da sah Gott, dass auch das gut war und zog sich zufrieden zurück.

(Silvia zum Thema Gleichberechtigung)

Eins

 Es gibt keine so grossen Gehirne,

             um das Wesen der Frau zu begreifen. (Shaleh)  

 

Der Tag, der Annie Millers Leben grundlegend verändern sollte, begann wie jeder andere Tag. Es war ein Mittwoch im März. Zwei Tage nach Frühlingsanfang. Niemand schien ihn zu spüren.  

Kurz bevor der Alarm losging, stellte Annie den Wecker ab, wie sie das immer tat, als hätte sie noch im Tiefschlaf davon geträumt, dass sie um punkt halb sechs aufstehen musste. Aber sie besass so etwas wie einen sechsten Sinn. Annie nannte es ein sensorisches Gespür für die kleinen Alltäglichkeiten.

Leise, damit sie ihren Mann nicht weckte, schlüpfte sie aus dem Bett, tappte barfuss ins Badezimmer und stellte sich dort unter die Dusche. Frühmorgens   dauerte es eine Ewigkeit bis das warme Wasser vom Boiler im Keller in den zweiten Stock hinaufgepumpt war. So setzte sich Annie täglich unfreiwillig einem kühlen Schauer aus. Dies, behauptete sie, mache sie unumstritten gegen jegliche Krankheitskeime resistent.

Mit noch feuchten Haaren kurbelte Annie die Rollläden hoch und genoss den Anblick des violetten Himmels, der sich wolkenlos über die Landschaft bog. Noch dämmerte es um diese Zeit. Aber die Tage wurden wieder länger, die Temperaturen milder. Der Frühling war ins Land gekehrt und mit ihm eine neue Lebenslust.  Annie schloss das Fenster wieder und ging zurück zum Waschbecken, um ihre Haare zu gelieren. Seit sie diesen rassigen Kurzhaarschnitt trug, liess sie ihren grauen Strähnen freien Wuchs. Helmut, ihr Mann, hatte die neue Frisur  erst schweigend akzeptiert, später aber den Kommentar nicht lassen können, dass er es schade finde, dass sie nun auch zu den grauen Mäusen da draussen gehöre. „Warum meint ihr Frauen eigentlich immer, nach fünfundvierzig die Haare schneiden zu müssen?“, hatte er gefragt, als sie wieder einmal gemeinsam das Badezimmer benützten und er ihr beim Zähneputzen  zwangsläufig auf dem Spiegel ins Gesicht sehen musste.

„Mir ist es einfach wohler dabei“, hatte Annie geantwortet. 

„Schweissausbrüche?“

„So kann man das auch nennen.“

„Aha, du kommst also in die Wechseljahre!“ Und wie er das gesagt hatte, als würde sie von einer heimtückischen Krankheit heimgesucht.

„Es wird Zeit, dass du dir eine Jüngere anlächelst“, hatte Annie ironisch gesagt, was Helmut überhaupt nicht lustig fand.

Annie zog sich Hose und Pullover an. Der flüchtige Blick in den Spiegel reflektierte  eine Wahrheit, die sich schon lange nicht mehr verbergen liess.    Ihre Augen gefielen ihr noch immer. Die schwarzen schönen Kirschenaugen, deretwegen ihr früher die Männer zu Füssen gelegen hatten. Aber das war schon eine Ewigkeit her. Um ihren Mund und über der Nase spielten nicht bloss Fältchen. In letzter Zeit waren daraus Furchen geworden. Tiefe Spuren  gelebten Lebens und von einem Leben, das sie trotzdem nicht gelebt hatte. Die Schminkdose, Lippenstifte und Augenfarben hatte sie jedoch schon längst entsorgt und an ihrer Stelle eine billige Pflegecreme gestellt. Mit fünfzig, fand Annie, müsse sie niemandem mehr gefallen. 

Ihr Haushalt war mit einem Territorium zu vergleichen, auf dem sie ihr tägliches Scharmützel bestritt. Vier Stockwerke gehörten zu ihrem Revier. Helmut mischte sich nie in ihre häusliche Angelegenheit und als Gegenzug hielt sie ihm den Rücken frei. Helmut hatte als selbständig erwerbender Elektriker kaum Zeit, und  am Abend oder übers Wochenende war er froh, wenn man ihn in Ruhe liess, falls er seine Freizeit ausnahmsweise zuhause verbrachte.

Üblicherweise weckte Annie ihre Tochter Nadja um ein Viertel nach sechs auf, eine halbe Stunde später ihre beiden Söhne Kay und Lars und um punkt sieben   Helmut. Auch dies gehörte zum sich immer wiederholenden Trott.

Während sich die Kinder anzogen, bereitete Annie das Frühstück vor, denn es lag ihr sehr daran, dass ihre Familie den Tag mit einem ausgiebigen Morgenessen startete. „Das aktiviert nicht nur den Körper sondern auch den Geist“, sagte sie dann. Doch niemand frühstückte so ausgiebig wie sie.

An diesem Morgen schien alles ein wenig anders zu verlaufen. Es fing damit an, dass sie Nadja noch einmal wachrütteln musste, worauf sich die Tochter lauthals beschwerte, dass sie zu spät zur Busstation komme und das Frühstück werde sie sich irgendwohin stecken.

Annie blickte zum wiederholten Mal auf die Armbanduhr, als hätte sie damit die Zeit anhalten können, die ihr täglich davonzueilen schien. Wie jeden Tag musste sie ihre Söhne mehrmals ermahnen, endlich aus dem Bett zu steigen.  Später rannte Annie zurück ins Schlafzimmer, welches sich im Dachgeschoss befand,  und weckte ihren Mann zehn Minuten zu spät, was er mit einem grimmigen Unterton quittierte. Seit Annie so früh aufstand, verliess sich Helmut ganz auf sie.

An der Tür zur Küche musste sich Annie zum ersten Mal abstützen. Es wurde ihr schwarz vor den Augen. Einen Moment lang liess sie geschehen, als ihr der Boden unter den Füssen zu entgleiten drohte. Ihr Hals schmerzte ein wenig. Sie hatte sich wohl erkältet. 

Ich hätte mich gestern Abend früher zum Schlafen legen sollen, ermahnte sie sich.   Den Stich unterhalb ihrer Brust nahm sie nur am Rande wahr. Helmut, der an ihr vorbei ins Badezimmer schlurfte, riet ihr, sich nach dem Frühstück noch einmal hinzulegen. „Du siehst blass aus!“

Annie registrierte mit einem Anflug von Enttäuschung, dass er keine Zeit hatte, um näher auf sie einzugehen.  In  den Jahren ihres Zusammenlebens war sie nur einmal wirklich krank gewesen. Annie galt als robuste Frau. Unwohlsein ignorierte sie einfach. Kranksein war in ihren Augen ein Zustand, den sie sich nicht leisten konnte. 

Die Kinder, inzwischen am Frühstückstisch eingetroffen, stritten sich wie jeden Morgen um den grössten Buttergipfel. Und wie jeden Morgen versuchte Annie, die Streithähne auseinander zu bringen, was ihr meistens nach dem dritten Anlauf gelang.

„Der Zug fährt in sieben Minuten“, mahnte sie Nadja. „Willst du dich nicht beeilen?“  Und um ihrem Unmut noch eines darauf zu geben, fragte sie, ob sie ihr Zimmer aufgeräumt habe.

„... Vielleicht sollte ich mir auch eine Wohnung suchen“, provozierte Nadja mit einem giftigen Seitenblick auf ihre Mutter. 

„Womit denn?“, fragte Helmut aus dem Badezimmer kommend, während er sein hellblaues Hemd in die Hose stopfte. Er zog die Wolke eines penetranten Parfums hinter sich her, worauf Nadja demonstrativ die Nase rümpfte.

„Helena hat es auch geschafft! Ich werde mir halt wie sie einen reichen Mann angeln ...“

„... der dich gleich am ersten Abend schwängert ...“ meinte Kay mit vollem Mund und unterstrich das Gesagte mit eindeutigen Handzeichen. 

Nadja blieb der Mund offen. Eine Weile schwieg sie.

„Ihr solltet euren Sohn nicht die späten Nachtsendungen ansehen lassen“, empörte sie sich an ihre Eltern richtend. „Das ist ja widerlich!“

Helmut sprach jetzt ein Machtwort, und augenblicklich kehrte Ruhe ein. Annie hatte noch nie begriffen, warum ihre Kinder vor Helmut einen solchen Respekt bekundeten, wo er doch stets nur am Morgen und erst wieder nach Feierabend zugegen war. Und sie war nicht eine von den Müttern, die mit dem Vater drohten. Aber manchmal brauchte Helmut seine Kinder nur anzuschauen, um sie in Lämmchen zu verwandeln.

Er trank seinen Kaffee im Stehen, während er die Schlagzeilen der Tageszeitung überflog. Er murmelte Unverständliches über einen Politiker, zog vor dem Spiegel im Korridor die Jacke an und strich mit kritischem Blick über seine Haare. Annie musste zugeben, dass er mit seinen fünfzig Jahren noch immer gut aussah. Er hatte sogar an Profil gewonnen. Aber das ist bei den meisten Männern so, dachte sie und half Kay beim Suchen seiner Mütze, die er wie  üblich verlegt hatte.

Mittwochmorgen. Ein ganz gewöhnlicher Wahnsinn bei der Familie Miller. Ein Szenario, ohne das sich Annie ihr Leben nicht mehr vorstellen konnte.

Sie setzte sich wieder an den Tisch. Seufzend stützte sie den Kopf in die Hände und spürte wieder diese Übelkeit.  Lars leistete ihr noch ein wenig Gesellschaft wie er das jeden Morgen tat, als wollte er sich an die fünf Minuten klammern, die er mit seiner Mutter alleine war. 

Annies Zuhause glich einem Hotel, die tägliche Arbeit der Arbeit eines Zimmermädchens. Annie erledigte sie mit der Apathie einer Frau, für die das Leben kaum mehr Höhepunkte bereitgestellt hatte und die auch nicht mehr zu erwarten waren. 

Um neun Uhr zog Annie ihre Strickjacke über und verliess die Wohnung, um bei der Schwiegermutter, die im Anliegerappartement wohnte, nach dem Rechten zu sehen. Renate Miller litt an Multiplexsklerose und seit ihr Mann gestorben war, kam sie allein nicht mehr zurecht. Wenigstens besass sie noch genügend Kraft, um ihre Körperpflege selbst zu bewältigen. Für den Haushalt jedoch fühlte sie sich zu schwach.

Annie bereitete ihr  das Frühstück zu und hielt sie auf dem Laufenden über die täglichen Neuigkeiten.

Mit ihr zu diskutieren war für Annie eine echte Herausforderung, denn sie spürte instinktiv, dass ihr Renate trotz ihres Gebrechens um Nasenlängen voraus war. Sie hatte früher als Buchhändlerin gearbeitet und selber Bücher geschrieben, die sie nun auf ihrem nussbraunfarbenen Gestell ausstellte. Und wehe dem, der danach griff.

„Das ist eine berufliche Deformation“, sagte Helmut, wenn ihn Annie darauf ansprach.

„Du weisst, wie sehr mir deine Mutter  am Herzen liegt“, sagte dann Annie. „Aber sie gibt mir immer wieder zu verstehen wie ungebildet ich bin.“

„Du leidest unter Verfolgungswahn!“ Helmut hatte noch nie anders geantwortet.        

„Deine ständigen Versuche, mich angemessen unterhalten zu wollen, ist doch schon recht müssig, findest du nicht auch?“ Renate tunkte eine Brioche im Kaffee und blickte dabei ihre Schwiegertochter mit glasig starrem Blick an, welcher von ihrem grauen Star herrührte. Renate wehrte sich vehement gegen eine Operation. „In meinem Alter ist es manchmal gut, man sieht nicht alles“, war ihre immer gleiche Ausrede.

„Ist es wirklich so schlimm?“, fragte Annie mit einem Anflug an Enttäuschung.

„... und versuchst dabei die konventionellen Dinge zu sezieren“, fuhr Renate unbeeindruckt  fort. „... Du hättest Philosophin werden müssen. Ich frage mich überhaupt, weshalb du mit deinem Wissensdurst und dem Drang, jede etablierte Kleinigkeit auf ihre Beständigkeit zu überprüfen, nicht eine geistig-intellektuelle Ausbildung angestrebt hast ...“ Annie entging der ironische Unterton ihrer Schwiegermutter nicht. Sie kannte ihre übertriebenen Formulierungen und nahm sie aus purem Selbstschutz nicht ernst. Trotz ihrer Krankheit  verfügte Renate noch immer über einen reichlich ausgeprägten Wortschatz, den sie nicht nur im Schreiben beherrscht hatte, sondern bis jetzt auch verbal zu äussern vermochte. Neben ihr zu bestehen, forderte eine grosse Portion Selbstbewusstsein, die  Annie ganz einfach fehlte. Doch selten war ihr dies so bewusst wie in Renates Gegenwart.

„Seit Jahren bist du Hausfrau und Mutter“, sagte Renate. „Ich habe das Gefühl, dass du nicht so zufrieden bist, wie du das gegen aussen demonstrierst ... „ 

„Doch, doch, mir geht es gut“, erwiderte Annie, obwohl sie sich manchmal fragte, ob Zufriedenheit nicht anders aussehen musste, als sich ständig um das Wohlergehen anderer zu kümmern.  Und seit Helmut in letzter Zeit alle möglichen Ausreden erfand, um  nicht früh abends nach Hause kommen zu müssen, grübelte sie darüber, ob der Grund letztendlich nicht bei ihr zu suchen war.

„Warum versuchst du es immer allen recht zu machen, Annie? Ist das dein ganzer Lebensinhalt? Morgens in aller Herrgottsfrühe aufzustehen, im Dienste deiner Familie zu stehen, um am Abend als letzte von allen kaputt ins Bett zu fallen? Hast du dir einmal überlegt, ob es nicht noch andere Perspektiven für eine Frau in deinem Alter gibt?“

Annie griff nach dem Zigarettenpäckchen, das sie mit sich trug, klopfte eine Zigarette heraus und steckte sie zwischen die Lippen ohne sie anzuzünden. „Habe ich denn eine andere Wahl?“ Mit fahrigen Bewegungen schob sie das Päckchen wieder zurück in die Jackentasche.

„Ja, man hat immer eine Wahl“, rechtfertigte Renate ihre Meinung. „Die Kinder können sehr gut einmal ohne dich auskommen. Du nimmst ihnen zuviel ab. Mit deiner Bemutterung hinderst du sie an ihrer Selbständigkeit. Meinst du, ich sehe nicht, wie sie dich alle um den kleinen Finger wickeln? Mami da, Mami dort … und du rennst, bevor sie selber nach ihren Dingen suchen, welche sie aus Bequemlichkeit verloren haben.“ Renate hielt inne und schenkte sich Tee ein. Annie suchte nach Streichhölzern, die sie nicht auf Anhieb fand.

„Du weisst, dass ich Rauchen in meiner Wohnung nicht dulde“, tadelte Renate, worauf Annie kopfschüttelnd abwinkte. Sie wusste, dass sie nicht rauchen sollte. Ihr Arzt hatte schon geschimpft mit ihr, Helmut und die Kinder rümpften die Nase und Renate tat es gerade eben.

„Ich werde in die Wohnung zurückkehren. Muss heute noch fertig waschen, bügeln, Staub saugen und die Fenster muss ich auch wieder einmal reinigen.“

„Du lernst also nichts aus gut gemeinten Ratschlägen“, empörte sich Renate und schlürfte vom heissen Tee.  „Schau ein bisschen mehr auf deine Gesundheit. Ich weiss, dass du pro Tag ein Päckchen rauchst. Das ist einfach zuviel für eine Frau vor der Menopause ...“ Renates Blick erstarrte, „ ... oder steckst du etwa schon drin?“

„Jetzt fängst du auch noch damit an.“ Annie erhob sich. „Es reicht schon, wenn mich Helmut darauf aufmerksam macht. Ich weiss, woran ich bin.“

Annie verabscheute Renates Geschwätz. Immer wieder erzählte sie von früher, von ihrer gesundheitsbewussten Einstellung, dass Annie manchmal in Versuchung geriet, sie nach der Ursache ihrer Krankheit zu fragen. Doch es lag nicht in ihrem Naturell, etwas heraufzubeschwören, was der Beziehung zu Helmuts Mutter  geschadet hätte.

Renate fuhr mit zittriger Hand in ihr schlohweisses Haar. „Scheinbar nicht.“

„Mutter, bitte ...“

Renate liess nicht locker. „Nimmst du irgendwelche Medikamente gegen Nachtschweiss?“

„Ich schwitze auch tagsüber“, sagte Annie zynisch. Was ging das denn ihre Schwiegermutter an? „Ich habe während meiner Pubertät auch nichts eingenommen. Und das, was jetzt mit meinem Körper geschieht, ist doch nichts anderes als das Gegenteil davon.“

„Das ist nicht nur naiv“, sagte Renate erregt, „das ist grobfahrlässig.“ Laut meinte sie: „Du könntest doch im Minimum Nachtkerzenölkapseln einnehmen oder etwas Pflanzliches. Denke an deine Knochen!“, was Annie veranlasste ihrer Schwiegermutter widerwillig über die Hände zu streichen. „Die sind stark genug. Mach dir deswegen keine Sorgen. Bis jetzt hat mich noch nichts umgehauen ...“ Sie dachte an die weissen Kügelchen, die ihr ihre Freundin Carla letzthin hatte aufschwatzen wollen, wohl deshalb, weil sie diese selber nicht benötigte.

„Ich mache mir aber Sorgen.“ Renate war noch lange nicht am Ende angelangt. „Sieh dich an. Du bist spindeldürr ...“

„Mutter, jetzt reicht es aber! Wir haben in unserer Generation vielleicht eine etwas andere Vorstellung vom Körpervolumen als ihr es zu eurer Zeit noch gehabt habt, aber schlank heisst nicht zwangsläufig krank ...“ Sie lächelte und tätschelte erneut Renates Hände, welche sie sogleich zurückzog.

„Das musst du selber wissen. Es hat keinen Zweck, mit dir darüber zu diskutieren ...“ Renate formte ihre schmalen Lippen zu einem einzigen Strich.

„Gut, dann wären wir uns ja wieder einmal einig. Soll ich dir noch etwas mitbringen, wenn ich einkaufen gehe?“

Renate winkte beleidigt ab.

Bevor Annie in die Wohnung zurückging, trat sie eine Zigarettenlänge ins Freie. Helmut war ihr schon lange auf der Pelle gesessen und hatte mit geharnischter Begründung, dass Rauchen des Teufels sei und er es nicht erdulde, dass in seinem Haus geraucht würde, versucht, ihr die Nikotinsucht auszutreiben. Seit sich Annie ins Freie zurückzog, auch im Winter, wurde ihr Laster schweigend akzeptiert. Zigarettenrauchen bewirkte für Annie das gleiche was für andere der exzessive Verzehr von Schokolade oder eine Konsumorgie taten. Danach war sie wohlig entspannt und der Ärger über Belangloses verflogen.

Ihr Haus lag etwas abseits der Stadt in einem Quartier, wo es fast nur Einfamilienhäuser gab.  Die meist mehrstöckigen Gebäude standen in abgemessener Symmetrie nebeneinander. „Wir wohnen in einer modernen Schrebergartengemeinschaft“, fand Annie, wenn man sie nach ihrem Daheim befragte. 

Ihr Gebäude trug eine hellrosa Farbe und hatte weisse Fensterläden. Beim Bau vor bald zwanzig Jahren hatten sie sich zumindest den Luxus der freien Farbwahl leisten können. Später hatte man sich ausnahmslos auf hellgrau beschränkt. Mit der Zeit war die Farbe verblasst, die Fassaden bröckelten, wie alles, was auch dahinter auseinander zu fallen drohte. Gegen die Strassenseite lagen der Eingang und nebenan die Garage, die genügend Platz bot, um zwei Autos hineinzustellen. Millers besassen nur einen Wagen, einen Japaner mit sieben Sitzplätzen und genügend Ladekapazität; dazu sechs Fahrräder und ein Motorrad. Eine auf Hochglanz polierte Harley Davidson, Helmuts ganzer Stolz und offensichtliche Leidenschaft, überwinterte unter einer Plane.  Kaum waren die letzten Schneereste im Frühling von den Strassen gefegt, zog es Helmut  hinaus in die Natur; Annie wusste, dass er über die Pässe fuhr, manchmal durch das halbe Land.  Ausgerechnet er, der sich immer wieder lauthals über die spiessigen Sonntagsfahrer ausliess

Annie sah ihn dann wochenendenlang nicht mehr.

Auf der Vorderseite spross ein Flecken Rasen, der spärliche Rest einer einst grosszügigen Grünanlage. Unter dem überhängenden Dach gab es einen gedeckten Gartensitzplatz und als Abgrenzung eine dichte Hecke aus Kirschlorbeer, welche die neugierigen Blicke der Nachbarn abhielt. Denn mit den unmittelbaren Nachbarn sprach Annie kein Wort mehr. Seit sich die ältliche Frau Winkelmann darüber ausgelassen hatte, dass sie Helmut mit einer jungen Frau auf dem Sozius gesehen habe, und dies nicht zum ersten Mal, wie sie betonte, brach Annie jegliche Verbindung zu ihr ab. Ob aus verletzter Eitelkeit oder aus Angst, die Nachbarin könnte noch mehr solcher Nettigkeiten zutage befördern. 

Annie steckte die Zigarette in den Mund und suchte erneut nach Streichhölzern.  Während sie rauchte, sah sie versonnen dem Zigarettendunst nach, der in kleinen Wirbeln gegen den blauen Himmel zog. Weiter oben machte sie die verblassenden Kondensstreifen eines Linienjets aus, welche sich in Wolken auflösten. Am Horizont verlor sich ein weisser Punkt in der Weite, ein Flugzeug, dessen Motorengeräusch sie vage vernahm.

Oftmals harrte Annie, wie gerade eben, Zigaretten rauchend vor der Haustür, dachte darüber nach, dass sie in ihrem Leben vielleicht noch etwas bewegen sollte. Jetzt war sie fünfzig, eine biedere Hausfrau, Mutter und seit   kurzem Grossmutter. 

Ausser dem jährlichen vierzehntägigen Urlaub, den sie immer in der Toskana in einer gemieteten Bodega verbrachten, gab es kaum nennenswerte Höhepunkte in ihrem Leben. Und von Entspannung konnte da wohl keine Rede sein. Mit den Ferien in Italien verschob sie bloss ihren Haushalt, denn vor dem Kochen, Aufräumen und ihre Familie bewirten blieb sie auch unter der südlichen Sonne nicht verschont.

„Jeder ist seines Glückes eigener Schmied“, hatte ihr Vater gesagt, als er noch lebte.

Annie hatte sich ihr kleines Glück geschmiedet, aber niemals den Gedanken verschwendet, dass man sich nicht auf den Lorbeeren ausruhen sollte. So hold einem das Glück erscheinen mag,  so schnell verflüchtigt es sich, wenn man sich nicht für dessen Erhalt anstrengt.  Heirat, Geburten, Grosskinder. Niedliche kleine Höhepunkte, über die Annie liebend gerne sprach. Ihre Welt war nie gross gewesen. Sie blieb  auch weiterhin klein. Kaum Zeit und Musse für ein gutes Buch, nie gewecktes Interesse für Kunst oder Kultur. Ihr Auftrag bestand in der Selbstaufgabe und dem beinahe krankhaften Bestreben, die Menschen um sich herum zufrieden zu stellen.

Immerhin blieb ihr Carla erhalten und die wenigen Stunden im Jahr, in denen sie  ihre Freundin sah.  

Annie warf den Zigarettenstummel auf den Boden und drückte ihn mit dem Schuh aus.  

 

Zwei

Man kann den ganzen Körper neu erschaffen lassen.

Solange man die Seele durch die Augen sieht, nützt der beste Chirurg nichts. (Hanny) 

 

Marion Neumann stand ratlos vor ihrem offenen Schrank und  zog die Kleiderbügel auseinander. Jeden Tag wiederholte sich das gleiche Ritual. Was sollte sie anziehen? In der Flut von Röcken, Kleidern, Blusen, Hosen und Jacken fiel es ihr nie leicht, die passenden Teile zu finden. Meistens griff sie nach den gleichen wie am Vortag.

Um elf hatte sie eine Besprechung mit dem Juniorchef des Pharmakonzerns, dessen Interessen sie vertrat. Allein der Gedanke an den gut aussehenden Italiener erregte sie, obwohl sie sich schon bei ihrer ersten Begegnung vorgenommen hatte, sich nicht mit ihm einzulassen. Geschäftliches musste vom Privaten getrennt sein.

Vielleicht sollte sie sich für den hellbraunen Zweiteiler entscheiden. In hellbraun sah sie gut aus, und es unterstrich das Feminine an ihr und die blonden Wellen, die noch immer üppig über die Schultern fielen. Was hatte sie nicht alles getan, um diese Haarpracht zu erhalten.

Marion sah Silvio oftmals nur von weitem, weil sie vorwiegend mit Tomasini senior zu tun hatte.  Und wenn sie einander  begegneten, war Marion die erste, die ihren guten Vorsatz vergass. Dieser Mann besass etwas, das sie aus der Fassung brachte.

Er hatte sie am Wochenende angerufen. Ausgerechnet am Samstagabend, nachdem sie über eine Stunde in der Badewanne verbracht und  alsdann ihren bequemsten Trainer angezogen hatte.   Silvio Tomasini. Wie angenehm sie seine Stimme empfunden hatte. Diese sonorweiche Vibration, die den Italienern wahrscheinlich schon in die Wiege gelegt wird, und Mama das ihrige dazu beiträgt, ihre Bambini im Kindesalter mit süssem Honig zu versorgen, damit sich die Stimmbänder ja gut entwickeln. Wie dem auch  sei. Marion mangelte es nicht an Fantasie, wenn sich ein annehmbar potenzieller Liebhaber abzeichnete. Sie wusste, dass kein Mann ihr jemals widerstehen konnte. Sie war mit all jenen Attributen gesegnet, die wenig an verbalen Ausdruckmöglichkeiten gebrauchten, um beachtet zu werden. Sie fiel schon auf, wenn sie sich schweigend in der Masse bewegte. Die zweiundfünfzig Jahre sah man ihr nicht an, das wusste sie und sonnte sich in den neidischen Blicken ihrer Altersgenossinnen. Marion hatte die Grösse eines Models und ihre Figur liess daraus schliessen, dass sie regelmässig Sport betrieb, um sie in Form zu halten. „Von nichts kommt nichts“, war ihre Standartantwort, wenn man sie auf ihr perfektes Aussehen ansprach.

Auch mit ihrem Beruf konnte sie mithalten. Marion hatte in Wirtschaftsrecht  promoviert und  anschliessend eine Dissertation über den Zerfall der europäischen Machtansprüche gegenüber der dritten Welt geschrieben, welche ihr das Tor zu internationalem Terrain öffnete.    Dennoch hatte  sie es   vorgezogen, sich in heimischen Gefilden zu bewegen. Ihr Mann hatte sich nicht aufraffen können, die Heimat wegen der Karriere seiner Frau zu verlassen. Und weil eine Katastrophe selten alleine kommt, war Marion auf einer Reise an die mittlere Westküste Indiens ungewollt schwanger geworden. Der Name ihrer Tochter Tara Goa  widerspiegelte nicht nur Marions Hang zum Exzentrischen, sondern auch die Tatsache, dass nicht ihr Angetrauter, sondern ein indischer Arzt der Vater war.       

Zehn Uhr fünfzehn.

Marion entschied sich trotz ihrer anfänglichen Euphorie für den schwarzen Hosenanzug. Die Haare formte sie zu einer Banane und knotete sie so nach hinten, dass ein paar Strähnen in ihr  Gesicht fielen und  das Markante ihrer Physiognomie durchbrachen. Denn auch für Marion, so makellos sie scheinen mochte, hatte das Alter seine untrüglichen Spuren gezeichnet.