Wir Unterdorfkinder - Horst Heckendorn - E-Book

Wir Unterdorfkinder E-Book

Horst Heckendorn

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Beschreibung

Sind Sie auch als Kind in den Siebzigerjahren aufgewachsen? Wenn ja, herzlichen Glückwunsch! Ein Wunder, dass Sie überlebt, haben so ganz ohne Handy, Helmpflicht und Internet. Begleiten Sie mich ein Stück auf meiner Zeitreise zurück in eine komplett andere Welt als wir sie heute kennen. Vielleicht erkennen Sie sich an der einen oder anderen Stelle wieder und stellen verblüfft und mit einem Schmunzeln fest, dass früher nicht alles besser aber auf jeden Fall vieles anders war als heute.

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Für Mama und Papa

Hilde Ernestine Kurz

Geb. Bieselin

1929 - 2004

und

Erwin Alfred Kurz

1928 - 2002

Kapitelverzeichnis

Vorwort zur zweiten, vollständig überarbeiteten und erweiterten Neuauflage

Prolog

01. Einer ist immer der Horst

02. Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?

03. Milch macht müde Männer munter

04. Haare schneiden tut nicht weh

05. Mutti, Mutti, er hat überhaupt nicht gebohrt!

06. Kinderlähmung ist grausam - Schluckimpfung ist süss!

07. Glückauf!

08. Pack den Tiger in den Tank

09. Blauer Dunst

10. Geha oder Pelikan?

11. Kleine Fluchten und grosse Dummheiten

12. Bachblüten

13. Fundstücke

14. TV Total

15. Es kann der frömmste nicht in Frieden leben...

16. Feuer unterm Dach

17. Erwin

18. Hilde

19. Erste Liebe

20. Du bist was Du isst

21. Kalter Krieg

22. 1984

Epilog

Vorwort zur zweiten, vollständig überarbeiteten und erweiterten Neuauflage

...Liebe Leserin, lieber Leser

Im Frühjahr Zweitausendneunzehn erblickten meine Unterdorfkinder zum ersten Mal das Licht der Welt.

Die vielen positiven Rückmeldungen erfüllten mein Herz mit grosser Freude und nicht wenige meiner Leser bedankten sich sogar persönlich bei mir mit den Worten:

«Du hast mir ein Stück meiner Kindheit zurückgegeben».

Die Resonanz auf meine Kindheitserinnerungen war riesig und diese liefen sogar im Rennen für einige Buch,- und Literaturpreise.

Letzten Endes schafften sie es aber nicht bis ins Ziel und gingen leider leer aus.

Immerhin kam ich so jedoch in den Genuss an der Verleihung des Schweizerischen Literaturpreises in der Nationalbibliothek Bern teilzunehmen und dort einmal echte Stars der Literaturszene hautnah kennenlernen zu dürfen.

Warum jetzt also nach so kurzer Zeit schon eine komplett überarbeitete Neuauflage?

Letztlich ausschlaggebend für diese zweite, völlig überarbeitete und erweiterte Neuauflage war ein inoffizielles kleines Klassentreffen, welches trotz der Coronakrise mitten im Sommer Zweitausendeinundzwanzig stattfand.

Dort gab es dann endlich ein langes ersehntes Wiedersehen mit einigen ehemaligen Unterdorfkindern die ich grösstenteils seit über vierzig (!) Jahren nicht mehr gesehen hatte.

Einige waren zwar schon vorher aus der Versenkung aufgetaucht und im Zuge der Erstveröffentlichung dieses Buches mit mir in Kontakt getreten.

Allein schon dafür hatte sich die monatelange Arbeit an diesem Projekt gelohnt.

Die ersten Stunden unseres Klassentreffens fand ich noch sehr erfrischend und stellte mit grosser Genugtuung fest, dass die früheren Eigenarten und Charaktereigenschaften noch genau dieselben waren wie früher.

Nur das optische Erscheinungsbild hatte sich zum Teil gravierend verändert und passte nun so gar nicht mehr zu den abgespeicherten Bildern in meinem Kopf.

Wir tauschten uns gegenseitig aus und frischten unsere gemeinsamen Erinnerungen wieder auf.

Bei dieser Gelegenheit wurde mir schlagartig bewusst, dass jeder und jede von uns seine ganz eigene Sicht der Dinge mitbrachte und oftmals eine völlig andere Wahrnehmung der damaligen Ereignisse abgespeichert hatte als ich.

Häufig genügte schon ein blosses Stichwort, um bei mir für komplettes Kopfkino zu sorgen.

Vieles von dem, was bisher noch ganz tief in meinem innersten verborgen geblieben war, trat plötzlich wieder ans Tageslicht und erwachte zu neuem Leben.

Leider kippte dann irgendwann die Stimmung als einige begannen von ihrer Gallenblasenoperation und ihren neuen Hüftgelenken zu erzählen.

Auch beim Thema Enkelkinder und deren ersten Schritten konnte ich beim besten Willen nicht mithalten und machte mich deshalb alsbald aus dem Staub.

Nichtsdestotrotz stand es für mich nach diesem äusserst amüsanten und aufschlussreichen Treffen ausser Frage, dass die neu hinzugewonnenen Erkenntnisse und Erinnerungen unbedingt in dieses Manuskript mithineinfliessen mussten.

Nur so konnte ich endlich zu einem (hoffentlich) befriedigenden Endergebnis gelangen.

Ich glaube es ist mir gelungen.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen spannende Unterhaltung und viel Vergnügen mit meinen Unterdorfkindern 2.0.

Prolog

Wir alle sind doch mehr oder minder nur das Produkt unserer Erziehung, sofern wir, denn überhaupt eine solche genossen haben.

Die Erlebnisse und Erfahrungen unserer Kindheit prägen uns ein Leben lang und lassen einen oft lebenslang nicht mehr los.

Gezeugt in einem unachtsamen Akt der Begierde und durch die Kraft zweier Lenden wurde ich rein zufällig in die wilden und stürmischen Sechzigerjahre hineingeboren.

Einer Phase, die gemeinhin als eine Zeit des gesellschaftlichen Aufbruchs und der Veränderung gepriesen wird, die aber weitgehend spurlos an meinem eher konservativ geprägten Elternhaus vorüberging.

Diesen fehlte nämlich schlichtweg die Zeit, um sich mit der Revolution des Proletariats und anderen politischen Veränderungen zu befassen.

Stattdessen waren sie vollauf damit beschäftigt vier hungrige Mäuler zu stopfen und zuzusehen, wie sie halbwegs über die Runden kamen.

Das ging im Übrigen wohl allen hart arbeitenden Normalbürgern nicht anders und so ist die viel gepriesene

«68er Revolution» wohl eher ein Sturm im Wasserglas geblieben, welche sich vor allem in pseudointellektuellen studentischen Zirkeln vollzog.

Im normalen Alltag der meisten Menschen hatte diese kaum Auswirkungen.

Die ersten bewussten Kindheitserinnerungen erlebte ich dann in den schrillen Siebzigerjahren, um dann schliesslich in den coolen und durchgestylten Achtzigern des vorangegangenen Jahrhunderts zum Teenager und jungen Erwachsenen heranzureifen.

Meine ersten Lebensjahre waren geprägt von Armut, Aggression und Alkoholismus.

Wenn man der sozialen Prognose einiger sogenannter Experten folgen würde, dann hätte ich als gesellschaftlich benachteiligtes Unterdorfkind zwangsläufig eine steile Karriere als Drogendealer oder Kleinkrimineller einschlagen müssen, der alten Damen die Handtasche raubt.

Stattdessen helfe ich ihnen heute lieber über die Strasse und diene somit als lebender Beweis dafür, dass die These von der angeblich schlechten Kindheit nicht immer als Ausrede für asoziales und kriminelles Verhalten herhalten kann.

Das es mir als Sohn eines sprichwörtlich armen Schluckers dennoch gelang ein halbwegs anständiger und normaler Mensch zu werden gleicht demnach fast schon einem Wunder.

Doch vieles von dem, was ich als kleines Kind und heranwachsender Teenager erlebt und erfahren habe, verfolgt mich auch heute noch und so manches davon begleitet mich jede Nacht in den Schlaf hinein.

Einiges davon werde ich wohl bis zum Ende meiner Tage mit mir herumtragen.

Selbstverständlich habe ich aber auch sehr viele schöne und angenehme Erinnerungen an diese Zeit, die ich unter keinen Umständen missen möchte.

Nicht wenige meiner Zeit-, und Altersgenossen werden nicht müde zu behaupten, dass früher alles besser gewesen sei.

Das mag zum Teil durchaus stimmen.

Doch wer dieses Mantra vehement und gebetsmühlenartig wiederholt, macht sich meines Erachtens nur selbst etwas vor und verschliesst die Augen vor der Realität.

Die Frage nämlich, ob damals tatsächlich alles besser war oder ob es sich im nach hinein durch die nostalgisch verfärbte rosa Brille betrachtet, vielleicht nur so anfühlt, muss letzten Endes jeder für sich selbst beantworten.

Unbestritten waren es definitiv andere Zeiten und Zustände als heute.

Doch jede Epoche in der Menschheitsgeschichte hatte ihre Licht-, und Schattenseiten.

Gute Zeiten - schlechte Zeiten gab und gibt es eben nicht nur im Fernsehen, sondern auch im wahren Leben.

Das Drehbuch für die eigene «Daily Soap» schreibt sich jeder jeden Tag selbst.

Die viel zitierten und überstrapazierten «Guten alten Zeiten» hatten eben auch viele Schattenseiten und zum Glück verklärt die Geschichte alles irgendwann ins Positive.

Unser Gehirn erinnert sich lieber an die schönen Dinge des Lebens und so kommt mir heute retrospektiv betrachtet vieles gar nicht mehr so schlimm vor wie damals.

Spätestens nach der Lektüre dieses Buches wird so mancher seine Ansichten diesbezüglich revidieren müssen.

Die Wahrheit liegt bekanntlich irgendwo in der Mitte und obwohl mein Vater jahrelang in einer Bonbonfabrik gearbeitet hat, war meine eigene Kindheit alles andere als ein Zuckerschlecken.

Dennoch betrachte ich diese heute, mit dem Abstand von mehreren Jahrzehnten, als frei und relativ unbeschwert.

Ich, wir, die Gesellschaft, ja die ganze verdammte Welt, waren eine völlig andere als heute.

Ob nun besser oder schlechter liegt allein im Auge des Betrachters und ist wohl auch eine Frage der jeweiligen Perspektive.

Jeder von uns hat seine individuelle Wahrnehmung der Dinge und lebt in seiner eigenen Realität.

Wenn man zum Beispiel vier verschiedene Leute, vier Wochen lang, gemeinsam in die Ferien schicken würde und exakt das gleiche unternehmen liesse, kämen hinterher garantiert vier völlig unterschiedliche Geschichten dabei heraus.

Im direkten Vergleich zur heutigen selbsternannten letzten Generation «Z» mit ihren Smartphones, Tablets und Spielekonsolen, einem rigid getakteten Terminplan, und oftmals völlig überforderten und paranoiden Helikoptereltern, war meine eigene Kindheit geradezu paradiesisch.

Wir Kinder der «Generation X» also alle, die zwischen 1965 und 1980 geboren wurden, durften nämlich noch Kinder sein und hatten sicher weit weniger Stress und Leistungsdruck, als die voll digitalisierten und komplett kontrollierten Kids von heute.

Ich für meinen Teil möchte heutzutage jedenfalls kein Kind mehr sein.

Da ich zum Glück keine habe, bekomme ich zwar nur am Rande mit was so abläuft, doch wenn ich mir die ganzen gestressten Eltern um mich herum so anhöre und zum Beispiel mitbekomme, dass man von der Schulbehörde sogar schon den Belag für das Pausenbrot vorgeschrieben bekommt, frage ich mich allerdings ernsthaft in welche Richtung das noch alles gehen soll.

Eine Erziehung hin zu eigenverantwortlich und selbstbestimmt handelnden Erwachsenen sieht definitiv anders aus, vom heutigen Bildungsniveau mal ganz zu Schweigen.

Wir alle wissen doch inzwischen, dass aus Kindern, die nichts dürfen und denen man alles Unangenehme abnimmt, Erwachsene werden, die nichts können.

Willkommen im Ponyhof.

Die Initialzündung zur Realisierung dieses Projekts lieferten meine Ferien am Gardasee im Sommer Zweitausendsiebzehn.

Ich lag völlig entspannt auf meinem Badetuch in der oberitalienischen Sonne und döste gerade sorgenfrei vor mich hin.

Während der Wind in den Blättern rauschte und ich dem Plätschern des Wassers lauschte, fuhr in der Ferne gerade irgendwo ein Zug vorbei.

Ein bis dato lange nicht mehr gehörtes Geräusch, welches mir jedoch nur allzu vertraut erschien.

Das monotone «Da...Damm...Da... Damm» der über die Schienen rollenden Räder bohrte sich tief in meine Gehörgänge hinein und trug mich hinfort an einen wohlvertrauten Ort.

Plötzlich war ich wieder zuhause in der Eisenbahnstrasse

32 in Frohen Hausen und lag in meinem Kinderzimmer auf dem Bett.

Bei offenem Fenster war das nämlich Original die Geräuschkulisse meiner Kindheit.

Nacht für Nacht hörte ich auf der nahegelegenen Bahnlinie die Züge vorbeirattern und das Rauschen der Blätter klang wie der Wind, der die Kronen der mächtigen Kastanienbäume vor meinem Fenster hin und her bewegte.

Das Plätschern des Wassers erinnerte mich an den kleinen Bach, der direkt vor unserem Haus gemächlich dahinfloss.

Zudem roch es in Bella Italia haargenau so, wie meine Kindheit im Deutschland der Siebzigerjahre.

Bei diesem Potpourri der Düfte handelte es sich um eine unvergleichliche Mischung aus delikat duftendem Essen, beissendem Rauch und stinkender Scheisse.

Ein akustischer und olfaktorischer Overkill sozusagen, welcher mich augenblicklich in meine früheste Kindheit zurückkatapultierte.

Wie ich da nun so leicht entrückt, fast schon wie in Trance da lag, liefen ganze Episoden meiner Kindheit wie ein Film vor meinem geistigen Auge vorüber.

Einem innerlichen Drang folgend, begann ich gleich nach den Ferien damit, mir meine Kindheitserinnerungen buchstäblich von der Seele zu schreiben.

Das Ergebnis halten sie gerade in ihren Händen.

Ich lade Sie hiermit herzlich dazu ein mich ein Stück auf meiner persönlichen Zeitreise, zurück in die siebziger und achtziger Jahre, zu begleiten.

Tauchen Sie ein in eine Welt, die so völlig anders war als die heutige und erleben sie mit mir zusammen noch einmal die Abenteuer meiner Kindheit mit.

Falls Sie selbst ein Kind dieser Epoche sind, erkennen sie sich vielleicht sogar an der einen oder anderen Stelle wieder.

Sollten Sie jedoch der jüngeren Generation angehören, werden sie hinterher vielleicht ein klein wenig verstehen, warum wir so geworden sind, wie wir sind.

So oder so wünsche ich ihnen jedenfalls viel Vergnügen und spannende Unterhaltung bei dieser Reise in eine fast vergessene Welt.

Zum Schutz der beteiligten Protagonisten aber auch zu meinem eigenen, habe ich Namen und Orte bewusst verfremdet.

Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder gar toten Personen ist jedoch kein Zufall, sondern pure Absicht.

1

Einer ist immer der Horst

Der dritte Dezember Neunzehnhundertsechsundsechzig war ein gewöhnlicher Samstag, wie jeder andere auch.

Über Nacht hatte es noch einmal kräftig geschneit und die Temperaturen lagen deshalb nur wenige Grad über dem Gefrierpunkt.

Die Leute gingen ihren üblichen Geschäften nach und da die allgemeine Fünf Tage Woche noch nicht überall eingeführt worden war, war dieser Samstag für die meisten Lohn,- und Gehaltsempfänger ohnehin ein ganz normaler Arbeitstag.

Die Vereinigten Staaten von Amerika befanden sich gerade mal wieder im Krieg gegen ein kleines, unschuldiges Land mit Namen Vietnam und in der damaligen Bundeshauptstadt ohne nennenswertes Nachtleben, besser bekannt als Bonn, regierte eine grosse Koalition aus CDU und SPD unter dem Vorsitz von Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger.

So gesehen, war also alles fast wie immer.

Für mich hingegen sollte dieser Tag ein ganz Besonderer werden, denn meine eigene Geburt stand unmittelbar bevor.

Im städtischen Krankenhaus der südbadischen Kleinstadt Frohen Hausen, lag meine Mutter Hilde schon seit Stunden in den Wehen.

„Pressen Hilde, immer feste pressen!“ rief ihr Frau Auermann, die Hebamme, laut zu und versuchte damit meine Mutter zum Pressen zu animieren und gleichzeitig deren Schmerzensschreie zu übertönen.

Die beiden Frauen kannten sich bereits von den letzten drei Geburten und waren daher fast schon so etwas wie ein eingespieltes Team.

Nun hatte die Austreibungsphase eingesetzt und es würde jetzt sicherlich nicht mehr lange dauern, bis ich endlich als jüngster Ableger das Licht der Welt erblicken würde.

Dabei war ich gar nicht mehr geplant gewesen, sondern vielmehr so etwas wie ein «Verkehrsunfall».

Das passte auch gerade hervorragend zu der Tatsache, dass meine liebe Frau Mama, mit ihren siebenunddreissig Lebensjahren zum vierten Mal in anderen Umständen war und zum allerersten Mal eine Geburt allein, ohne ihren Ehemann Erwin, meinen Vater und Erzeuger, durchstehen musste.

Der war nämlich nur wenige Tage zuvor sturzbesoffen mit seiner Zündapp in eine nur spärlich beleuchtete Baustelle hineingedonnert.

(Kleine Anmerkung für die jüngeren unter uns: Bei Zündapp handelt es sich um eine Moped Marke und keine Handy App.)

Jetzt lag er mit einigen bösen; aber nicht lebensgefährlichen Blessuren ebenfalls im Krankenhaus.

Allerdings in einem anderen, nämlich dem rund zehn Kilometer entfernt gelegenen grossen Kreiskrankenhaus und konnte daher meiner Ankunft nicht persönlich beiwohnen.

Bei den Geburten meiner drei Geschwister war er immer zugegen gewesen, doch nun glänzte er verletzungsbedingt durch Abwesenheit.

Ein wahrhaft schlechtes Omen gleich zu Beginn.

Wer weiss, vielleicht wäre sonst doch noch alles ganz anders gekommen?!

Zu jener Zeit gab es noch keine Ultraschalluntersuchungen zur Geschlechtsbestimmung wie das heutzutage selbstverständlich der Fall ist.

Damals hiess es einfach: Geht der Babybauch ringsum, wird es ein Mädchen, ist der Babybauch eher spitz, wird es ein Junge.

Meine Mutter hatte einen Ringsum Babybauch und deshalb sollte ich Sabine heissen.

So ging man felsenfest davon aus, dass ich ein Mädchen werden würde, und niemand hatte mit meiner Ankunft gerechnet.

Doch jetzt gab es kein Zurück mehr.

Mich hielt es nicht mehr länger in meiner engen und dunklen Behausung und so bahnte ich mir schliesslich den Weg durch den schmalen Geburtskanal nach draussen.

Um acht Uhr und vierzig Minuten an diesem winterlich kalten Samstagmorgen ertönte dann plötzlich mein gellendes Babygeschrei durch den Kreissaal.

Geboren zu werden hatte ich mir Irgendwie ganz anders vorgestellt.

Das grelle Licht schmerzte mich in den Augen und bitterkalt war es zudem auch noch.

Da war es auch nicht weiter verwunderlich, dass beim Anblick meines verschrumpelten Pillermanns meiner Mutter augenblicklich der blanke Schrecken in die Glieder fuhr.

Völlig entsetzt rief sie durch den Kreissaal:

«Jesses Maria! Das ist Ja ein Bub! Jetzt haben wir keinen Namen für ihn!“

Woraufhin die Hebamme spontan meinte:

«Nennt ihn doch einfach Horst».

So war mein Schicksal besiegelt und nahm nun unaufhaltsam seinen Lauf. Vielen Dank an dieser Stelle!

Das Dumme an diesem dämlichen Vornamen war nämlich, dass Mitte der sechziger Jahre noch kein Mensch in Süddeutschland so hiess.

Deshalb war und blieb ich auch für lange Zeit der einzige Horst weit und breit und war mit diesem Vornamen schon bald so exotisch wie heutzutage die ganzen Kevins, Jaquelines oder Chayennes.

Erschwerend kam noch hinzu, dass hier unten, im Dialekt sprechenden Süden, niemand meinen Namen so richtig aussprechen konnte, ja nicht einmal ich selbst.

Wenn man mich in meinen ersten Lebensjahren nach meinem Namen fragte, antwortete ich immer mit «Hurscht».

Gottlob wurde ich deswegen aber nicht gleich zum Logopäden geschleift, sondern man wartete erst einmal geduldig ab, und hoffte das sich das von selbst auswachsen würde.

So wurde aus dem hochdeutschen Horst mit einem spitzen S im Handumdrehen der südbadisch eingefärbte «Horscht» mit einem breiten SCH.

«Wir können alles, ausser Hochdeutsch», lautete nicht umsonst der Werbeslogan fürs «Muschterländle» Baden - Württemberg.

Kaum dem Uterus entwichen, entwickelte ich schon bald einen kräftigen und gesunden Appetit.

Innerhalb kürzester Zeit wurde aus mir ein richtiger Brocken und so dauerte es auch nicht mehr lange bis aus Hurscht schliesslich Wurscht wurde.

Doch mit den Attributen einer Wurst verglichen zu werden, war auch nicht sonderlich schmeichelhaft.

Mein obendrein auch noch unglücklicher Familienname, nämlich «Kurz» gab mir dann endgültig den Rest.

(Jetzt mal ganz ehrlich, welcher kleine Junge oder später auch erwachsene Mann, möchte schon gerne «Kurz» heissen?!)

Schon bald kam es wie es kommen musste.

Als ich dann im zarten Alter von drei Jahren in den Kindergarten eintrat, hatte ich auch schon gleich meinen Spitznamen vorneweg.

Was glauben Sie wohl reimt sich gut auf Kurz? Na?

Richtig geraten: Furz! So wurde aus Horst Kurz im Handumdrehen Wurscht Furz.

Auf der Strasse und im Kindergarten riefen mir die anderen immer:

«Kurz-Furz, Kurz-Furz“ hinterher.

Das fand ich zwar nicht sonderlich prickelnd aber mit der Zeit gewöhnte ich mich daran, als Flatulenz betitelt zu werden.

Zudem wurden diese hämischen Hänseleien nahezu gleichmässig auf alles und jeden verteilt und so kam früher oder später jeder mal an die Reihe.

Beim einen waren es die weit abstehenden Segelohren, beim anderen die krummen X -Beine, und beim nächsten wieder irgendetwas anderes, was gerade die Sticheleien der anderen Kinder auf sich zog.

Geteiltes Leid ist halbes Leid und einer war halt immer der Horst.

Auf Neudeutsch würde man das heutzutage wohl Mobbing nennen.

Wir nannten das schlichtweg Abhärtung fürs Leben.

Auf diese, zugegebenermassen oft sehr schmerzliche Art und Weise, lernten wir jedoch allmählich mit unseren Frustrationen umzugehen und uns im Alltag zu behaupten.

Kinder können grausam sein.

Liebe Eltern, was habt ihr euch nur dabei gedacht?

Als jüngstes von vier Kindern waren die Zutaten nicht mehr so frisch und unverbraucht wie bei meinen drei älteren Geschwistern.

Anders konnte ich mir meine körperlichen Defizite jedenfalls nicht erklären.

So schaffte ich es zum Beispiel nicht mit den Fingern zu zählen, da sich an jeder Hand nur drei meiner fünf Finger öffnen liessen.

Alle Fünf Finger zusammen ging aber hintereinander eins, zwei, drei, vier, fünf zu zählen funktionierte einfach nicht.

Genauso wenig konnte ich mit der Zunge rollen oder das rechte Auge zusammenkneifen.

So zwinkere ich bis heute halt nur mit dem linken und behalte dafür den vollen Durchblick und dank meiner Senkplattfüsse habe ich immer festen Bodenkontakt.

Sie finden das nicht weiter schlimm?

Als kleines Kind ist das vernichtend!

Dank dieser negativen Erfahrungen bin ich nie sonderlich an meinen Namen gehangen und war somit auch gerne bereit bei meiner Hochzeit den Familiennamen meiner Frau anzunehmen.

Die ist nämlich mit ihren Ein Meter einundachtzig Körpergrösse definitiv zu gross, um «Frau Kurz» zu heissen.

Seither heisse ich schlicht Horst Heckendorn und „Kurz-Furz“ gehört nun hoffentlich für alle Zeiten der Vergangenheit an.

Ein weiterer, nicht zu unterschätzender Vorteil dieses Namenswechsels ist die Tatsache, dass ich offensichtlich der einzige Mensch auf dieser Kugel bin, der so heisst.

Im ganzen World Wide Web scheint es jedenfalls keinen zweiten Horst Heckendorn zu geben.

Sollte also tatsächlich irgendwo da draussen jemand mit diesem Namen existieren, so lade ich ihn hiermit herzlich dazu ein sich bei mir zu melden.

Ich gebe einen aus.

Kleiner Fun Fact am Rande: Nach meiner Hochzeit brauchte ich dennoch noch eine ganze Weile, bis ich mich endlich an meinen neuen Nachnamen gewöhnt hatte.

Als ich zum Beispiel in meiner beruflichen Eigenschaft als Notfallsanitäter ein krankes Kind von einer Klinik zur anderen verlegen sollte, stellte ich mich dem anwesenden Vater mit den Worten vor:

«Guten Tag, mein Name ist «Kurz», äh quatsch ...ich meine natürlich Heckendorn», worauf mich dieser skeptisch von Kopf bis Fuss musterte und meinte:

«Äh...SIE fahren aber nicht, oder?»

Inzwischen habe ich mich aber längst an meinen neuen Namen gewöhnt und trage ihn nicht ohne Stolz.

Ein «Horst» hingegen werde ich wohl für den Rest meines Lebens bleiben.

Auch, oder gerade deshalb, weil dieser Vorname akut vom Aussterben bedroht ist.

Hand aufs Herz, wer möchte sich heutzutage schon gerne zum «Vollhorst» machen und als Elternpaar seinem Sohn diesen Vornamen mit auf den Lebensweg geben?

Ein Name, der mittlerweile zum Synonym für sämtliche menschlichen Unzulänglichkeiten geworden ist.

Dabei war Horst einmal voll im Trend und wurde vor allem im Mittelalter gerne in Ritter,- und Adelskreisen vergeben.

Horst bedeutet in etwa so viel wie «Mann aus dem Gebüsch», was vermutlich nicht nur bei mir augenblicklich Assoziationen zu einem auf der Lauer liegenden Sittenstrolch hervorruft.

Doch nicht nur der Gedanke an einen Exhibitionisten, sondern auch die nahe Verwandtschaft zum englischen Wort für Pferd, nämlich Horse, machen das Ganze auch nicht besser.

Ach ja, wohin fliegt der schwule Adler?

Richtig, zu seinem Horst.

Man(n) kann es drehen und wenden, wie man will, als Horst in man einfach immer der «Horst».

Das städtische Krankenhaus von Frohen Hausen, in dem ich damals geboren wurde, ist derweil in ein Alten-, und Pflegeheim umgewandelt worden.

Vielleicht schliesst sich ja eines Tages der Kreis und ich trete dort ab, wo einmal alles begann?

Doch wer rettet in der Zwischenzeit den Horst vorm Aussterben?

Klein Horst auf Papis Arm (1967)