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Natalya Nepomnyashcha

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Beschreibung

Natalya Nepomnyashcha ist soziale Aufsteigerin und Gründerin von »Netzwerk Chancen«. In ihrem Buch erzählt sie offen von ihrem zähen Weg nach oben. Sie berichtet, wie sie aufgrund ihrer Hartz-IV-Herkunft immer wieder diskriminiert wurde – bis ihr nach vielen Jahren der Karrieredurchbruch gelang. Heute fördert sie selbst über 2.000 Erwachsene auf ihrem beruflichen Weg.  Nepomnyashcha zeigt, wie stark unsere Gesellschaft davon profitiert, wenn Menschen unterschiedlicher sozialer Herkünfte auf allen Ebenen zusammenarbeiten. Sie empowert Aufstiegswillige, denn nachdem der Schritt bis zum Abitur oder an die Uni trotz der vielen Hürden geschafft ist, folgt im Job oft die gläserne Decke. Deshalb muss soziale Herkunft als Diversity-Faktor in Unternehmen endlich anerkannt werden. Es braucht aber in den Vorstandsetagen und Personalabteilungen überhaupt erst ein Bewusstein für die Problematik. Anhand ihrer eigenen Geschichte, von Fallbeispielen und der Lage in Unternehmen zeigt sie, wie wir Platz für Aufsteiger*innen in Unternehmen, Politik und Gesellschaft schaffen können – und warum das gut für alle ist.

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Wir von unten

1989 in Kyiv geboren, wuchs Natalya Nepomnyashcha in einem sozialen Brennpunkt in Bayern auf. Ohne jemals Abitur erworben zu haben, machte sie 2012 einen Masterabschluss in Großbritannien. Nach dem Studium der Internationalen Beziehungen war sie u.a. im gemeinnützigen Sektor und in der Unternehmensberatung tätig.

2016 gründete sie nebenberuflich Netzwerk Chancen. Das soziale Unternehmen bietet ein ideelles Förderprogramm für soziale Aufsteiger:innen und arbeitet mit Arbeitgebenden zusammen. Gleichzeitig setzt sich die Initiative dafür ein, dass soziale Herkunft als Diversity-Faktor anerkannt wird.

Natalya ist gefragte Speakerin zu Themen rund um sozialen Aufstieg und wurde für ihre Arbeit mehrfach ausgezeichnet, u.a. als Social Entrepreneurin des Jahres und LinkedIn Top Voice.

»Auch ein Hartz-IV-Kind muss DAX-Vorstand werden können«, sagt Natalya Nepomnyashcha. Die soziale Aufsteigerin und Gründerin von »Netzwerk Chancen« erklärt, wie stark soziale Herkunft Karrieren beeinflusst. Trotz Umwegen und vielfältiger Hürden schaffte sie es nach oben und kämpft nun für Chancengerechtigkeit im Arbeitsleben. Diskriminierung aufgrund sozialer Herkunft muss verboten werden – damit Herkunft nicht über Zukunft entscheidet.»Dieses Buch zeigt überzeugend, wie Unternehmen für den Einfluss der sozialen Herkunft ihrer Beschäftigten sensibilisiert werden können, warum sie davon profitieren und wieso dies dringender denn je ist.«MARCEL FRATZSCHER, PRÄSIDENT DES DEUTSCHEN INSTITUTS FÜR WIRTSCHAFTSFORSCHUNG»Mich hat dieses Buch gefesselt und an meinen eigenen steinigen Weg erinnert. Menschen von ganz unten bringen Leadership-Eigenschaften mit, die wir dringend benötigen!«RÜDIGER GRUBE, EX-VORSTANDSVORSITZENDER DER DB, MITGLIED VERSCHIEDENER AUFSICHTSRÄTE

Natalya Nepomnyashcha

Wir von unten

Warum wir mehr soziale Aufsteiger:innen in Wirtschaft & Politik brauchen

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de

Ein Buch der Ullstein-Reihe Wie wir leben wollen, herausgegeben von Silvie Horch

Ullstein ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH

1.   Auflage 2024

ISBN: 978-3-8437-3184-3

 

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2024

Covergestaltung: semper smile, München

Covermotiv: © Daniel Hardge

Lektorat: Claudia Cornelsen

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Inhalt

Das Buch

Titelseite

Impressum

KINDHEIT»Was ist falsch an mir?«

SCHULE»Lassen Sie doch einfach los!«

AUSBILDUNG»Ein Studium ist eine Eintrittskarte«

BERUFSEINSTIEGExtra-Wege

KARRIERE»Nur die Harten kommen in den Garten«

POLITIK UND GESELLSCHAFT»Die Zukunft, zum Greifen nah«

NACHWORTKlarer sehen – auch Kara, Cathy und all die anderen

Autorinnen

Anmerkungen

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

KINDHEIT»Was ist falsch an mir?«

Widmung

Für alle, die aufgrund ihrer sozialen Herkunft noch nicht da sind, wo sie sein könnten

KINDHEIT»Was ist falsch an mir?«

November 1989. Kaum war die Mauer gefallen, öffnete ich zum ersten Mal den Mund und schrie. Am 30. November kam ich auf die Welt. In einem Krankenhaus in Kyiv, der Hauptstadt der Ukraine. Es war sonnig, erzählen meine Eltern. Ganz ungewöhnlich. In Kyiv habe es sonst zu dieser Jahreszeit immer geschneit. Doch an jenem Tag sei der Himmel blau und klar gewesen. Daran können sie sich gut erinnern. Die Erinnerungen danach werden immer düsterer.

Während ich die Welt kennenlernte, wurde sie zu einer anderen. Im Juli 1990, gerade als ich anfing zu sprechen – sehr früh, sogar bevor ich laufen konnte –, erklärte die Ukrainische Republik ihre Souveränität. Ungefähr ein Jahr später folgte der Austritt aus der Sowjetunion und kurz darauf ihr Zerfall. Wie in den meisten anderen postsowjetischen Staaten brach die Wirtschaft in den 1990er Jahren zusammen. Das Bruttonationaleinkommen betrug am Ende des Jahrzehnts nur rund 40 Prozent des Stands von 1989, der Monatslohn im Durchschnitt nur noch 67 Euro.1 Die Bundeszentrale für politische Bildung schreibt dazu: »Ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung, vor allem ältere Menschen, Behinderte und Jugendliche, lebten in bitterer Armut und litten große soziale Not.«2

So war das. Und wir gehörten zu den Ärmsten. Denn meine Eltern hatten nicht mal einen Monatslohn. Bis ich in die Schule kam, hatten sie ihre Jobs verloren. Ihre Arbeitgeber und fast alle anderen waren verschwunden. Meine Mutter hat zuvor in einer Fabrik gearbeitet. Sie hatte die Arbeitenden koordiniert und sich um Arbeitsmaterialien gekümmert. Mein Vater war Buchbinder gewesen, hatte aber auch als Reinigungskraft gearbeitet und gejobbt. Doch in den Neunzigern konnten sie nicht einmal solche Beschäftigung auftreiben. Sie waren orientierungslos, verloren, zogen sich zurück.

Ich war die Ärmste in meiner Schulklasse. All meine Klamotten waren zuvor schon von anderen Kindern getragen worden, das Essen im Lunchpaket war immer das billigste. Zu Hause gab es selten Fleisch, wir sättigten uns mit Kartoffeln. Alles, was andere damals feierten, wie die Öffnung der Märkte und die plötzliche Präsenz von westlichen Produkten in den Regalen, war für mich eine einzige Quälerei.

Meine erste »Kinder-Überraschung« werde ich nie vergessen. Jahrelang hatte ich das geheimnisvolle Schoko-Ei im Laden immer nur sehnsüchtig betrachtet, befeuert durch die allgegenwärtige Fernsehwerbung. Nichts wünschte ich mir mehr, als dass meine Eltern mir eine in meine Hand legten. Endlich bekam ich eine geschenkt. Aber nicht von meinen Eltern, sondern vom Vater einer Schulkameradin. Auch der erste nagelneue Pullover, den nicht schon ein anderes Kind getragen hatte, war das Geschenk einer anderen Mutter. Was war ich darauf stolz! Bis zu dem Tag, an dem ich in der Schule angesprochen wurde, ob der Pullover wirklich neu sei. Es war ein Witz. Eine Botschaft, die ich sofort verstand: Ich bin arm. Ich bin unten. Ich gehöre dorthin und nirgendwohin anders.

Über psychische Gesundheit oder Depression redet in meinem familiären Umfeld bis heute niemand. Ich vermute, dass meine Eltern depressiv waren, es vielleicht immer noch sind. Jedenfalls haben sie nie wieder Arbeit gefunden. Sie haben alles verloren und keine Kraft mehr gehabt, sich im neuen System zurechtzufinden. Wissenschaftlich ist der Zusammenhang zwischen Armut und psychischen Erkrankungen gut belegt: Menschen mit niedrigem Einkommen erkranken zwischen anderthalb- und dreimal häufiger an Depression oder einer Angststörung als jene mit hohem Einkommen.3

Eins haben meine Eltern aber doch noch geschafft, vielleicht war es ein allerletzter Kraftakt. In jedem Fall war es das größte Geschenk, was sie mir je hätten machen können: 2001, ich war elf Jahre alt, wanderten wir nach Deutschland aus. In Kyiv stiegen wir zusammen in einen großen Reisebus. Und in Nürnberg stiegen wir wieder aus. Rückblickend war dies wohl eher dem besten Freund meines Vaters zu verdanken. Er half, die Formulare auszufüllen, fuhr mit meinem Vater geduldig wieder und wieder zur Deutschen Botschaft, wenn sie immer neue Dokumente sehen wollten, und er besorgte uns die Bustickets.

So oder so war ich damals gar nicht dankbar für das »Geschenk«. In Kyiv war ich gern zur Schule gegangen, hatte gute Noten, fühlte mich frei und herausgefordert. Würde ich in der deutschen Schule weiterhin so gute Noten schreiben? Gegenüber unserem Wohnhaus in Kyiv wurde außerdem gerade ein neues Jugendzentrum gebaut. Anfang der 2000er ging es in der Ukraine wirtschaftlich bergauf. Vor der Abreise sagte ich meinem Vater, dass ich es in der neuen Schule im neuen Land zwar ausprobieren, aber nach den Sommerferien auf jeden Fall wieder zurückkommen würde – um mich dann im Jugendzentrum für einen Kurs anzumelden, entweder Malen oder Tanzen.

Meine Befürchtungen waren nicht ganz unbegründet. Das gute Leben in Deutschland erwies sich mal wieder eher als etwas für die anderen, aber nicht für uns. Wir waren »Kontingentflüchtlinge«. Das Wort kennen Sie vielleicht aus den Medien. Wir sollten eigentlich etwas ganz Besonderes sein, die besonderen Flüchtlinge, jüdische Flüchtlinge aus der ehemaligen Sowjetunion, die nun in Deutschland Zuflucht finden und das jüdische Leben hierzulande gewissermaßen wiederbeleben sollen. Jüdisch zu sein wurde in der sowjetischen Geburtsurkunde als »Nationalität« festgehalten. So konnten auch die deutschen Behörden feststellen, wer dazugehörte. Insgesamt sind so zwischen 1991 und Ende 2004 etwa 220 000 Menschen eingewandert.4 Sie wurden jeweils von einem bestimmten Bundesland aufgenommen. In unserem Fall war es der Freistaat Bayern – ein bürokratischer Zufall, der mein Leben in vielerlei Hinsicht prägen würde.

Dabei waren wir nicht die Ersten in unserer Familie, die auswanderten. Schon sechs Jahre zuvor hatte meine Tante mütterlicherseits samt Mann und Kindern Kyiv in Richtung Deutschland verlassen. In der Sowjetunion hatte sie bereits studiert. Und zwar nicht irgendwas, sondern Informatik. In Deutschland angekommen, fand sie ziemlich schnell einen gut bezahlten Job als Software-Entwicklerin und arbeitet bis heute im selben Unternehmen. Glaube ich zumindest. Denn wir haben kaum Kontakt. Wir waren zwar alle in Augsburg, doch unsere Leben entwickelten sich schnell auseinander.

An den ersten Tag in Deutschland erinnere ich mich gut. In Nürnberg stiegen wir aus dem Bus, ich starrte hoch auf den Wolkenkratzer und blickte ehrfürchtig auf das Schild in Großbuchstaben obendrauf: GRUNDIG. Das Unternehmen hatte wohl mal Büros in dem Haus, in dem jetzt Hunderte Geflüchtete ihre Erstunterkunft fanden. Gemeinsam mit anderen Familien wurden wir auf Zimmer mit Stockbetten verteilt. Auf der Toilette gab es Mäuse, vielleicht waren es sogar Ratten. Ich hatte Angst. Meine Eltern behaupteten, wir würden bald wieder nach Hause fahren. Aber dann holten uns meine Tante und mein Onkel ab und luden uns in der Stadt zum Italiener ein. Wir aßen Pizza, und der Kellner schenkte mir am Ende einen Lolli.

Der nächste Tag begann mit einer ärztlichen Untersuchung. Dann fuhren wir mit der Bahn nach Augsburg. Dorthin hatten uns die deutschen Behörden vermutlich aufgrund unserer familiären Verbindungen eingeteilt. Mein Onkel und mein Cousin holten uns vom Bahnhof ab und brachten uns in das Wohnheim für Kontingentflüchtlinge. Es war ein Einfamilienhaus, in dem nun nicht eine, sondern mehrere Familien zusammenlebten. Die armen Flüchtlinge im wohlhabenden Augsburg-Haunstetten voller »richtiger« Einfamilienhäuser. Jede Familie hatte ein Zimmer für sich. Küche und Bad mussten wir teilen. Auch alle anderen Familien waren russischsprachig, kamen aber aus unterschiedlichen Ländern. Wir hatten kaum etwas gemeinsam. Alle waren verunsichert, alle hatten alles zurückgelassen. Es war nicht einfach, Freundschaften zu schließen.

Wir zogen aus, als wir nach zweieinhalb Monaten eine eigene Wohnung fanden. Und zwar in Augsburg-Oberhausen. Weiter weg von den Reichen hätte es nicht sein können. Viele würden wahrscheinlich vom »Brennpunktviertel« sprechen, die Menschen dort »sozial schwach« oder »asozial« nennen. Dort leben meine Eltern bis heute. Es ist trist. Keine Restaurants, keine Cafés. Nur Wohnhäuser. Viele leben von Hartz IV oder Bürgergeld, wie es mittlerweile heißt. Auch meine Eltern taten das und tun das noch. Die Welt, in der ich leben wollte, existierte für mich nur im Fernseher. Ich wusste zwar und hatte es sogar selbst erlebt, dass es Menschen gab, die in Restaurants essen oder ein eigenes Haus besitzen. Aber zunehmend erschien mir diese Welt wie ein anderer Planet. Sie war nicht meine. Der Lolli war schon längst gierig abgeleckt, doch an der Erinnerung hielt ich noch ewig fest.

Meine Eltern gaben mir Liebe. Aber keinen Halt. Wie soll man Halt geben, wenn man selbst keinen hat?

Bitterer Beigeschmack. Ich gelte als exotisch

»›Ich wollte unbedingt raus‹« – Wie Natalya Nepomnyashcha vom Hartz-IV-Kind zur Unternehmerin wurde.« Diese Überschrift stammt aus dem Handelsblatt. Sie ist typisch und leitet in dieser oder ähnlicher Form so gut wie alle Zeitungsartikel über mich ein, egal, ob Interviews oder Porträts. Die Redaktionen von Spiegel, taz, Zeit und anderen interessieren sich für mich und ihre Leserschaft scheinbar auch. Was an mir so spannend ist? Immer geht es um die Kombination von »Hartz-IV-Kind« und »erfolgreiche Karrierefrau«. Dass diese beiden Identitäten als spannungsvoller Kontrast zusammengebracht werden, zeigt eins: Es ist außergewöhnlich. Ich gelte als exotisch. Es ist nicht zu erwarten, dass eine, die so weit unten anfängt, oben ankommt.

Wären Kinderarmut und späterer beruflicher Erfolg nicht Paradoxien, würde sich keiner für mich interessieren. Die Tatsache, dass sie es tun, hat einen bitteren Beigeschmack. Denn indem sich die Scheinwerfer auf mich richten, werden andere durch den Schatten verdeckt. Und es sind viele.

Bis vor ein paar Jahren stand auch ich im Schatten. Ungesehen und ungehört. Weil ohne beruflichen Erfolg. Eine von ganz vielen, die es mit aller Kraft probieren und trotzdem nicht schaffen. Die aufgeben oder besser gesagt: die aufgegeben werden. Und das ist das eigentliche Drama. Statt darüber zu schreiben, dass Menschen sich auf den Weg machen, dass sie versuchen, sich und ihre Kinder aus finanzieller Not und materieller Abhängigkeit zu befreien, statt diesen Menschen, die Aufmerksamkeit und Unterstützung dringend brauchen, eine Stimme zu geben – stattdessen werde ich ins Rampenlicht gestellt. Und zwar jetzt, da die härtesten Zeiten für mich vorbei sind.

Deshalb will ich diese Aufmerksamkeit auf die anderen umlenken, den Blick auf mein früheres Ich lotsen, damit Verständnis dafür entsteht, was Karriere im heutigen Deutschland bedeutet und warum so viele daran scheitern.

Und überhaupt: Sind die härtesten Zeiten für mich vorbei? Bin ich wirklich angekommen? Oder bin ich nur eine kurze Erzählung, die so gut ins Fernsehen passt: Das Aufstiegsversprechen ist echt!Alle können es schaffen, wenn man sich nur genug anstrengt.

Ehrlich gesagt fühlt es sich nicht so an, als hätte ich es geschafft, als wäre ich angekommen, als dürfe ich dauerhaft bleiben. Ich habe eine riesige Angst vor dem finanziellen Ruin. Immer noch. Jetzt, obwohl ich für meinen Job bei einer großen Unternehmensberatung ein sehr gutes Gehalt bekomme. Diese Angst, die mich seit meiner Kindheit begleitet, überwiegt jeglichen Wohlstand, den ich inzwischen erreicht habe. Diese Angst ist präsent bei allen Lebensentscheidungen.

Angst. Ich kann mir staatliches Geld nicht leisten

Dabei habe ich sogar ein Unternehmen gegründet, ein soziales Unternehmen: Netzwerk Chancen. Wir begleiten Erwachsene kostenfrei beim sozialen Aufstieg – mit Workshops, Coachings, Mentoring oder Job-Angeboten. Eine Unternehmensgründung gilt als mutig. Aber ich hatte Angst. Ich konnte mir nicht vorstellen, das Risiko einzugehen, mein komplettes oder auch nur einen Teil meines Einkommens von dem Unternehmen abhängig zu machen. Kann ich immer noch nicht. Deswegen habe ich nebenberuflich und ehrenamtlich gegründet. Und obwohl ich mittlerweile sechs hauptamtliche Mitarbeitende habe, beziehe ich immer noch kein Gehalt und keine Dividende. Ich engagiere mich bei Netzwerk Chancen neben meinem Vollzeitjob – abends und am Wochenende. Und wenn ich einen Vortrag halte, fließt mein Honorar in die Organisation.

In der Corona-Krise hätten wir wie jedes andere Unternehmen staatliche Corona-Hilfe beantragen können. Ich habe mich stundenlang damit auseinandergesetzt, alle Vorschriften und Regelungen dazu gelesen. Am Ende habe ich mich dagegen entschieden, das Geld zu beantragen. Ich hatte Sorge, ich könnte nicht nachweisen, dass die fehlenden Einnahmen tatsächlich auf die Pandemie zurückzuführen waren. Wir würden uns durchkämpfen müssen, kommunizierte ich an mein Team. Denn die Vorstellung, irgendwann das Geld zurückzahlen zu müssen, führte bei mir zu Schweißausbrüchen. Wenn ich heute mit befreundeten Menschen, die selbstständig sind oder ein Unternehmen leiten, darüber spreche, schauen mich alle an, als wäre ich ein Alien. Alle, wirklich alle haben die Corona-Hilfe beantragt, scheinbar ohne eine Sekunde darüber nachzudenken.

Für mein Business staatliches Geld anzunehmen, damit tue ich mich grundsätzlich schwer. Ich vermeide jegliches Abhängigkeitsverhältnis mit dem Staat. Obwohl Netzwerk Chancen ein gemeinwohlorientiertes Unternehmen ist, dessen Wirkung sehr wohl dem Staat zugutekommt, haben wir dafür nie staatliche Fördermittel beantragt. Stattdessen haben wir ein Non-Profit-Geschäftsmodell entwickelt, in dem wir für konkrete Leistungen bezahlt werden. Wir beraten Unternehmen dazu, wie sie als Arbeitgebende für soziale Aufsteiger:innen attraktiv werden, wir matchen ihre Führungskräfte mit Mentees aus unserem Netzwerk oder veröffentlichen ihre Jobausschreibungen. Außerdem können Unternehmen und Privatpersonen auch spenden.

Bei staatlichem Geld habe ich einfach zu viel Angst, dass es mir irgendwann auf die Füße fällt. Dabei laden Ministerien und andere staatliche Organisationen uns sogar ein, Anträge zu stellen, weil sie unsere Arbeit sehr schätzen. Deswegen könnten wir davon ausgehen, dass es gute Chancen gibt, das Geld zu bekommen. Doch wenn ich versuche, mir die undurchschaubaren Voraussetzungen im Detail durchzulesen und die Worst-Case-Szenarien von meinem Anwalt höre, lehne ich ab.

Ich gehe immer vom Worst Case aus. Ich weiß, wie sich Worst Case anfühlt. Ich will das nicht. Die Vorstellung, wir könnten einen Fehler machen, irgendein Förderkriterium im Nachgang doch nicht erfüllen und müssten dann alles zurückzahlen, nachdem wir es schon für Gehälter ausgegeben haben? Niemals. Daran merke ich, dass solche Ausschreibungen weder für noch von Menschen wie mich gemacht wurden. Ich kann mir staatliches Geld nicht leisten.

Verdiene ich genug? Absolut. Fühle ich mich finanziell abgesichert? Keinesfalls. Ich arbeite noch nicht so lange in der Unternehmensberatung, bin im Gegensatz zu vielen nicht direkt nach der Uni eingestiegen. Damals hätte ich mich niemals getraut, mich im Consulting zu bewerben. Vermutlich wäre ich auch nicht genommen worden. Ich bin erst mit Anfang dreißig und einigen Jahren Berufserfahrung in der Tasche dort gestartet.

Im Vergleich zum deutschlandweiten Durchschnittseinkommen verdiene ich unglaublich viel, merke aber, wie ich schleichend anfange, meine Gehaltsvorstellungen nach oben zu vergleichen anstatt nach unten. Ich finde es befremdlich, wenn Bekannte in ähnlichen Jobs meckern, dass sie nicht genug verdienen würden. Mir läuft ein Schauer über den Rücken, wenn ich an eine im Web gefundene Grafik denke. Sie zeigt mir, dass ich zu den Top-Verdienenden in der Bevölkerung gehöre. Dass ich einmal in diesem High-Society-Club sein würde, hätte ich mir nie im Leben träumen lassen. Darüber werde ich ganz sicher nicht klagen. Doch das Geld ändert nichts an meiner Angst, alles zu verlieren.

Ich konnte bisher kaum Rücklagen bilden. Ich werde nicht erben. Meine Eltern leben immer noch vom Bürgergeld und wohnen in der selben Mietwohnung im Norden von Augsburg. Bei meinen seltenen Besuchen fahre ich nicht zu ihnen nach Hause, wir treffen uns irgendwo in der Stadt. Ich halte es in ihrer Wohnung in dieser Gegend nicht aus. Schon als Kind habe ich es kaum ausgehalten. Meine Eltern haben sich irgendwann daran gewöhnt. Sie haben keine großen Erwartungen mehr. Außer, dass es mir gut geht. Sie sind immer mit wenig zurechtgekommen. Sie haben keine Schulden und wollen von mir auch nichts. Kann man Angst vor Altersarmut haben, wenn man sein ganzes Leben lang arm war?

Welches Szenario gäbe es, in dem ich mich finanziell abgesichert fühle? Was bräuchte ich, um einmal durchatmen zu können? Was gäbe mir die Freiheit, Entscheidungen zu treffen, ohne den möglichen finanziellen Ruin im Nacken zu haben? Vielleicht wäre es ein eigenes Haus, das abbezahlt ist. Das meinem Mann und mir zu gleichen Teilen gehört. Aber auch das scheint mir unglaublich weit weg. Und um dorthin zu kommen, müsste eigentlich alles glatt laufen. Ich dürfte mir keine großen Fehler erlauben, müsste noch viele Jahrzehnte in Vollzeit arbeiten und mindestens genauso viel verdienen wie jetzt. Ich zweifle daran, dass ein Haus mir innere Freiheit geben würde. Eher denke ich, die Angst bleibt für immer ein Teil von mir.

Habitus. »Sie gehört nicht wirklich dazu!«

Wie groß ich denken kann, wie viele Risiken ich eingehen kann, welche Entscheidungen ich treffe, hängt stark mit meiner Kindheit zusammen. Aber das ist nur eine Seite der Medaille. Was in meinem Lebenslauf steht und wie das von anderen bewertet wird, kommt auch noch dazu. Meine Eltern hatten keine Bekannten, die der Tochter selbstverständlich ein Praktikum besorgen konnten. Oder die mir unterschiedliche Berufsmöglichkeiten aufzeigen konnten. Und wo ich mir abgucken konnte, wie ich am besten auftrete, wie ich spreche, was ich sage, wie ich mich anziehe, wie ich die Haare trage, wie und wo ich wohne, ob und wo ich Urlaub mache, welche Sportarten ich treibe oder Hobbys ich habe, ob ich Wein trinke. Es gibt Tausende kleine Hinweise im alltäglichen und beruflichen Leben, die mich einordnen als »eine von unten«. Vielleicht heute weniger als früher, denn ich habe mich ganz sicher angepasst. Doch irgendwas wird fast immer sein, was mein Gegenüber wissen lässt: »Sie gehört nicht wirklich dazu!« Bewusst oder unbewusst werden diese Kleinigkeiten das Verhalten der anderen beeinflussen. Meine soziale Herkunft ist prägend für meinen Alltag. Für mich ist diese Tatsache schon seit geraumer Zeit so glasklar, dass ich mich lange gewundert habe, dass es nicht für alle so eindeutig ist.

Aber scheinbar ist es nicht jedem klar. Das weiß ich von den vielen teils heftigen Reaktionen auf meine Vorträge und Artikel. Die jedoch wundern mich mittlerweile auch nicht mehr. Denn über die Zeit ist mir klar geworden, dass die Rolle der Herkunft im Beruf einem erst dann auffällt, wenn sie im Weg steht. Und bei vielen Menschen, die Macht haben und den öffentlichen Diskurs mitbestimmen, steht sie nicht im Weg. Ganz im Gegenteil. Wohlstand ist – gerade in Deutschland – unheimlich stabil. Einmal reich, immer reich. Wohlstand wird zum Großteil vererbt. Und ich rede nicht nur von Geld. Kinder, die in privilegierten Familien aufwachsen, erben vieles, was ihnen hilft, später selbst noch mehr Wohlstand zu erarbeiten.

Es wurde schon viel über Klasse, Armut und Aufstieg geschrieben, allerdings selten von Menschen, die nicht selbst in privilegierten Verhältnissen aufgewachsen sind. Pierre Bourdieu, einer der bekanntesten Köpfe, die wissenschaftlich zum Thema Klasse und sozialer Aufstieg gearbeitet haben, ist hier die Ausnahme. Er wurde 1930 in eine Arbeiterfamilie in Frankreich hineingeboren und hat es bis zur Soziologie-Professur geschafft. Sicherlich wegen des eigenen steilen Klassenaufstiegs konnte er deshalb vieles benennen, was andere bis dahin nicht geschafft hatten.

Bourdieu wies darauf hin, dass die jeweilige Klassen- oder Schichtzugehörigkeit nicht nur vom ökonomischen Kapital abhängt – also wie viel Geld ich oder meine Eltern auf dem Konto haben oder später erben werden –, sondern auch vom kulturellen und sozialen Kapital.5 Mit kulturellem Kapital meinte er den formalen Bildungsgrad, aber auch Wissen über Literatur, Theater und Musik, das als kultiviert gilt. Mit sozialem Kapital meinte er das soziale Netzwerk und wie relevant es für den beruflichen Erfolg ist. Und er hat den Begriff »Habitus« geprägt als das Verhaltensschema jeder Person, das deutliche Hinweise darauf gibt, aus welcher Schicht oder Klasse man stammt. Der Habitus lässt sich nur begrenzt verändern, egal, wie viel zusätzliches Kapital man akquiriert.6

Er hat prägnante Begriffe gefunden für ein Phänomen, das wir alle beobachten können: Menschen einer Klasse oder Schicht sind nicht nur durch ihre finanzielle (Un)Sicherheit vereint, sondern auch dadurch, wie sie denken, sich verhalten, sprechen und durch ihren Geschmack, kurz: ihren Habitus. Der Habitus hängt nicht nur mit dem ökonomischen Kapital, sondern auch stark mit kulturellem und sozialem Kapital zusammen. Und der Habitus der höheren Klassen bringt gewisse Vorteile mit sich in einer Gesellschaft, die von der höheren Klasse dominiert wird.

Soziale Aufsteiger:innen wie ich zeichnen sich eben dadurch aus, dass wir ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital akkumulieren, um über Klassengrenzen hinweg zu springen. Mein ökonomisches Kapital habe ich sicherlich in den letzten Jahren stark erhöht. Aber um das zu erreichen, musste ich mir erst mal soziales Kapital erarbeiten, etwa durch ehrenamtliches Engagement oder indem ich mich mit Menschen aus den mittleren oder oberen Schichten vernetzte, sodass sie mir zu anderen Jobs verhalfen. Das kulturelle Kapital in Form von Bildung musste ich durch meinen Master-Abschluss auch erst mal mühsam vom Niveau meiner Eltern abheben.

Für in Armut aufgewachsene Menschen sind soziales Kapital und kulturelles Kapital eben keine Abfallprodukte des ökonomischen Kapitals. Sie müssen hart erarbeitet werden – im Voraus, also bevor das Geld fließt –, um darauf aufbauend das erwünschte ökonomische Kapital (vielleicht) zu erlangen. Dafür müssen Menschen wie ich ein erhebliches Risiko eingehen. Ganz anders geht es Menschen, die in privilegierte Verhältnisse hineingeboren werden und deren Eltern bereits selbst soziales und kulturelles Kapital akkumuliert oder geerbt haben. Sie können dieses Erbe nutzen, um das bereits relativ hohe ökonomische Kapital weiter zu erhöhen. Das erschien mir schon immer ziemlich unfair.

Ein Beispiel: Als Kind hatte ich einen starken Akzent, für den ich mich sehr schämte. Wer mich jetzt sprechen hört, vermutet meist, ich sei in Deutschland aufgewachsen. Nur wenige erahnen meine Hartz-IV-Herkunft. Dafür aber musste ich sehr bewusst und hart arbeiten. Ich habe sogar ein Sprechtraining an der Volkshochschule besucht. Doch woher kam diese starke Scham?

Auch dafür hat Bourdieu Antworten: Menschen, die nicht die akademisierte »Standard-Sprache« sprechen, werden gesellschaftlich abgewertet. Das umfasst Menschen mit regionalen Dialekten, aber auch Menschen, die zum Arbeiten eher die mündliche als die schriftliche Sprache benötigen: die Arbeiterklasse eben.7

Abgesehen vom Masterstudium und dem nunmehr akzentfreien Deutsch bin ich bei anderen Aspekten des kulturellen Kapitals relativ stabil »unten« geblieben: Ich spiele weder Golf noch Tennis, sondern habe ein Faible für Computerspiele. Überhaupt treibe ich wenig Sport. Ich kenne mich weder mit Wein noch mit Whisky aus. Ich spreche immer noch »sehr direkt«, wird mir häufig gesagt, und stelle unverblümt offene Fragen, während Menschen aus gutbürgerlichen Schichten sich tendenziell abstrakter und indirekter ausdrücken.8 Und wie gesagt: Ich lebe innerlich nach wie vor im Mangelzustand, so, als könne alles gleich weg sein, obwohl es äußerlich keinen Grund dafür gibt. Das alles ordne ich meinem Habitus zu. Viele Verhaltensmuster und Glaubenssätze habe ich in der Kindheit gelernt, und sie lassen sich nicht mehr so leicht ablegen. Klar, ich könnte jetzt anfangen, Golf zu spielen. Aber ich würde mir total absurd dabei vorkommen und es nur machen, um irgendwo dazuzugehören. Um wertvolle Kontakte zu knüpfen und nicht, weil ich Lust auf die Sportart habe. Ich würde mich also verbiegen. Und das ist nicht mehr mein Weg.

Trügerisch. »Bildungsfern«, »sozial schwach«

Bourdieus Theorien sind unglaublich wichtig, doch sie sind möglicherweise auch leicht irreführend. Während ökonomisches Kapital eine Frage des Habens oder Nicht-Habens darstellt, muss man das kulturelle Kapital und das soziale Kapital differenzierter betrachten. Denn es geht bei fehlendem kulturellen Kapital nicht darum, dass man »wenig Kultur« oder »wenig Bildung« hat. Es geht vielmehr darum, dass man nicht die »richtige« Kultur oder Bildung hat. Auch Menschen aus niedrigen sozioökonomischen Schichten haben selbstverständlich klare Musik-Affinitäten, bilden sich informell, formell oder auch handwerklich weiter, lesen, tanzen und singen. Aber sie bevorzugen nicht unbedingt die Musikarten und die Bücher, die von den oberen Schichten als relevant angesehen werden. Und wichtig dabei: Es sind die oberen Schichten, die hier die Deutungshoheit über Richtig und Falsch haben.

Aladin El-Mafaalani bringt diese Problematik in seinem Buch Mythos Bildung schön auf den Punkt:

»Wann ist jemand gebildet? Ist ein Professor für Philosophie, der sich mit existenziellen Fragen der Welt auf hohem Abstraktionsgrad intensiv beschäftigt […], sich aber bei seiner Steuererklärung oder mit dem Smartphone völlig überfordert fühlt, besonders gebildet? Oder ist eine Informatikerin, die in der digitalen Welt wie ein Fisch im Wasser schwimmt und dabei Tschaikowsky hört, gleichzeitig aber fast jeder Verschwörungstheorie Glauben schenkt, gebildet? Ist hingegen ein Handwerksmeister, der erfolgreich seinen Betrieb führt und dabei die traditionelle Handwerkskunst pflegt, weniger gebildet als der Philosoph und die Informatikerin?«9

Abwertend als »bildungsfern« werden Menschen aus ärmeren Verhältnissen bezeichnet, die keinen oder einen niedrigen Schulabschluss, keine Ausbildung oder kein Studium abgeschlossen haben. Der Begriff »bildungsfern« basiert auf der Vorstellung, dass Bildung ein neutraler Begriff sei, fast ein Konsumgut, das man entweder erworben hat oder nicht. Allerdings reflektieren Schulsysteme, Noten, Klausuren und die Haltung der Lehrkräfte eine bestimmte Perspektive der oberen Schichten und sind weder neutral noch objektiv. Sie bemessen nicht nur objektive Fähigkeiten, sondern auch kulturelle Referenzen, Allgemeinbildung, die Ausdrucksweise – im Grunde das kulturelle Kapital eines Kindes.10

Und sie benachteiligen deshalb diejenigen, die nicht den oberen Klassen angehören. Dies erklärt vor allem, warum der schulische Erfolg und die Klassenzugehörigkeit so hartnäckig korrelieren.

Der Begriff »bildungsfern« ist dabei besonders problematisch. Nicht weil er das Problem der mangelhaften schulischen Bildung der unteren Klassen individualisiert, sondern auch weil er sich reduzieren lässt auf »weniger intelligent« oder »faul« anstatt auf »systemisch diskriminiert«. Wenn ganze Schichten als bildungsfern beschrieben werden, ist der Gedankengang hin zu »dumm« nicht mehr so weit.

Genauso trügerisch ist der Begriff »soziales Kapital«. Denn der Gedanke, dass sich Armut und soziales Kapital ausschließen, führt dazu, dass abwertende Begriffe wie »asozial« und »sozial schwach« häufig verwendet werden, um Menschen zu beschreiben, die in Armut leben. Das ist ungewollt witzig, weil Studien belegen, dass Menschen in den unteren Schichten eher empathischer sind als andere und Emotionen anderer besser lesen können.11 Menschen höherer Schichten üben wiederum häufiger unethisches Verhalten aus.12

Bourdieu meint mit dem Begriff »soziales Kapital« die Anzahl an Menschen, die einem dabei helfen, in dieser von oberen Schichten geprägten Gesellschaft voranzukommen. Wertvoller sind dabei Menschen, die es bereits »geschafft« haben, die Machtpositionen innehaben, die in die oberen Schichten hineingeboren wurden und sich dort auskennen. Das fehlt Menschen aus ärmeren Verhältnissen. Aber wir sind durchaus »sozial kompetent«. Wir sind sogar sozial hochbegabt, wie Mary, die wir später kennenlernen werden, das so schön beschreibt. Denn wir müssen sehr früh, angefangen schon in der Schule, zwischen unterschiedlichen Schichten und Klassen navigieren können. Doch diese Art von »sozialem Kapital« in Form von sozialen Kompetenzen wird häufig unterschätzt oder gar nicht gesehen, denn es sind mal wieder nicht die »richtigen« sozialen Kompetenzen.

Klasse. Wie die Sprache uns prägt

Die Sprache prägt unser Weltbild genauso, wie unser Weltbild die Sprache prägt. Menschen aus ärmeren Verhältnissen werden oft auf eine Art beschrieben, die sie abwertet. Sie werden aber auf diese Art beschrieben, weil sie von der Gesellschaft – und damit meine ich die dominanten oberen Schichten der Gesellschaft mit Deutungshoheit – abgewertet werden. So kann man Ungleichheit rechtfertigen, indem man ärmeren Menschen die Schuld an ihrem Untensein gibt und reicheren Menschen ihr Obensein als ihr Verdienst anrechnet.

Diese Erzählung unterstellt allerdings, dass alle Menschen die gleichen Chancen haben. Blöderweise besteht jedoch kein Zweifel daran, dass Kinder in Deutschland mit äußerst ungleichen Chancen starten. Die Chancengleichheit des Bildungssystems ist in Deutschland sogar schlechter als im OECD-Durchschnitt.13 Die Chancen, dass ein Deutscher, der in die unteren Schichten geboren wurde, in eine höhere Einkommensklasse steigt, liegen niedriger als in den USA.14