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Wir leben in unruhigen Zeiten, oft fühlt es sich an, als ob uns der Boden unter den Füßen weggezogen wird. Vieles, worauf wir uns immer verlassen haben, verändert sich oder ist plötzlich verschwunden. Ob globale Krisen oder unsere ganz persönlichen Sorgen und Nöte – all dies verlangt uns viel ab und kann zutiefst beängstigend sein ...
Die Achtsamkeitslehrerin und frühere buddhistische Nonne Kaira Jewel Lingo macht Mut und schenkt neue Zuversicht: Ihre klaren Ratschläge eröffnen eine positive Sicht auf das Leben mit all seinen Unwägbarkeiten. Mit Lingos Hilfe kultivieren wir mentale Widerstandskraft und Gelassenheit, finden neues Vertrauen in uns selbst und das Leben und können sicher durch schwierige Zeiten navigieren.
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Seitenzahl: 142
Manchmal ist einfach alles überwältigend für uns. Das, worauf wir uns immer verlassen haben, ist plötzlich verschwunden oder verändert sich. All diese Veränderungen, die unser Leben momentan prägen – seien es gesellschaftliche Unsicherheiten, globale Unruhen oder klimatische Herausforderungen bis hin zu unseren ganz persönlichen Sorgen und Nöten –, verlangen uns viel ab und sind oft zutiefst beängstigend. Doch die Achtsamkeitslehrerin und frühere buddhistische Nonne Kaira Jewel Lingo macht Mut und schenkt neue Hoffnung: Ihre klaren Ratschläge eröffnen uns eine neue Sicht auf das Leben mit all seinen Unwägbarkeiten. Sie zeigen, wie wir mentale Widerstandskraft und Gelassenheit kultivieren können, um sicher durch schwierige Zeiten des Übergangs und des Wandels zu navigieren.
KAIRA JEWEL LINGO
Zehn buddhistische Impulse für mehr Resilienz und Zuversicht
Aus dem amerikanischen Englisch von Karin Weingart
L o t o s
Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel WEWEREMADEFORTHESETIMES bei Parallax Press, USA.
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Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2023 by Lotos Verlag,
München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Alle Rechte sind vorbehalten. Printed in Germany.
Redaktion: Jürgen Teipel
Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München unter Verwendung eines Motivs von © Natalia Vetrova/iStock/Getty Images Plus
Satz: Leingärtner, Nabburg
ISBN 978-3-641-30331-0V001
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Für alle Suchenden und die, die noch im Kokon schlummern
Manche Phasen des persönlichen Wachstums sind so verwirrend, dass wir sie nicht einmal richtig mitbekommen. Stattdessen reagieren wir ablehnend oder wütend oder wehmütig und hysterisch. Vielleicht sogar depressiv. Falls wir dann nicht aus einem Buch oder dem Mund eines Menschen erfahren, dass wir gerade mitten in einem Veränderungsprozess stecken und uns spirituell weiterentwickeln, kommen wir gar nicht darauf, was in Wirklichkeit los ist.
In aller Regel spüren wir es jedoch, wenn wir wachsen – ähnlich wie der kleine Samen das Gewicht und die Beharrungskräfte der Erde spüren muss, die auf ihn wirken, sobald er versucht, aus seiner Hülle hervorzubrechen und sich zu einer Pflanze weiterzuentwickeln. Angenehm fühlt sich das nicht unbedingt an. Am unerfreulichsten aber ist es immer, wenn wir keine Ahnung haben, was da gerade vor sich geht. Doch genau diese langen Phasen, in denen irgendwas in uns wartet, den Atem anhält und sich fragt, was wohl im nächsten Schritt geschehen mag, führen oft an einen entscheidenden Punkt: an den nämlich, an dem wir erkennen, dass wir auf die nächste Etappe unserer Persönlichkeitsentwicklung vorbereitet werden und aller Wahrscheinlichkeit nach bald eine neue Ebene erreichen.
Alice Walker, Living by the Word[1]
VORWORT
KAPITEL 1: HEIMKEHR
KAPITEL 2: ENTSPANNTZURÜCKLEHNENUNDAUFDASUNBEKANNTEVERTRAUEN
KAPITEL 3: DIEDINGESOAKZEPTIEREN, WIESIESIND
KAPITEL 4: DENSTURMÜBERSTEHEN
KAPITEL 5: VOMUMGANGMITSTARKENEMOTIONEN
KAPITEL 6: UNBESTÄNDIGKEITUNDDIEFÜNFERINNERUNGEN
KAPITEL 7: DENACHTWINDENDERWELTGELASSENBEGEGNEN
KAPITEL 8: GLEICHMUTUNDLOSLASSEN
KAPITEL 9: DASGUTEBEGÜNSTIGENUNDVERSTÄRKEN
KAPITEL 10: WIRWURDENFÜRDIESEZEITENGESCHAFFEN
DANK
ANMERKUNGENUNDQUELLENANGABEN
ÜBERDIEAUTORIN
Mögen mir auf dieser Reise die richtigen Schwierigkeitenund Leiden begegnen, sodass mein Herz wahrhafterweckt wird und sich meine Praxis der Befreiung unddes allumfassenden Mitgefühls wahrhaftig erfüllen kann.
Tibetisch-buddhistisches GebetAus: Jack Kornfield –Frag den Buddha und geh den Weg des Herzens[2]
Herzlich willkommen zu unserer Studienreise unter dem Motto »Wie wir mit Klarheit und Mitgefühl auch schwierige Zeiten bewältigen«.[3] Ich wünsche uns allen eine gute Fahrt!
Aus Erfahrung kann ich sagen, dass es mir in jeder größeren Umbruchphase, die ich durchgemacht habe, unglaublich geholfen hat, präsent, offen und veränderungsbereit zu sein. Dabei denke ich vor allem an die beiden heikelsten Entscheidungen, die ich treffen musste: zunächst die, mich mit fünfundzwanzig zur buddhistischen Nonne ordinieren zu lassen, und dann, das Kloster viele Jahre später wieder zu verlassen.
Als Tochter eines interkulturellen Ehepaares bin ich in einem Orden für christliche Familien aufgewachsen, bei dem es um bescheidene Lebensweise sowie die Unterstützung armer und marginalisierter Bevölkerungsgruppen ging. In unserer Chicagoer Community lebten einige Hundert Leute, weltweit waren wir allerdings mehrere Tausend – verbunden durch unsere kollektive spirituelle Praxis. In meiner Kindheit, weiß ich noch, wurden wir morgens um halb sechs von einer Glocke geweckt. Um sechs begann dann mit dem Morgengebet das Daily Office (Stundengebet). Nach meinem achten Geburtstag verbrachte ich vier erfüllte und für mich äußerst bedeutsame Jahre in einem Gebiet am Stadtrand von Nairobi, das damals als »einer der größten Slums Afrikas« galt. Mein Vater engagierte sich zu der Zeit im Rahmen unserer religiösen Gemeindearbeit für die Dorfentwicklung in Kenia und vielen anderen afrikanischen Staaten.
Meiner Leidenschaft fürs Tanzen frönte ich während dieser vier Jahre vor allem in strengen Ballettstunden. Außerdem hatte ich das Glück, Reiten lernen zu können, wofür ich heute noch dankbar bin. Weil ich irgendwann mal einen Narren an der spanischen Sprache gefressen hatte, durfte ich mit fünfzehn den Sommer in Mexiko verbringen.
Die Erfahrungen, die ich in den USA mit Rassismus und Diskriminierung machte, veranlassten mich schließlich, für ein Jahr als Austauschschülerin nach Brasilien zu gehen. Dort erfuhr ich, wie es ist, in einem Land zu leben, in dem die Beziehungen zwischen den Ethnien fluider sind – ich konnte eine ausgesprochen starke afrikanische Diaspora erleben. Dort kam ich auch mit Capoeira in Kontakt, einem afrobrasilianischen Kampftanz, den ich noch mit Anfang zwanzig nicht vollends gelernt hatte, als ich über diese Kunstform erst meine Bachelor- und später auch meine Magisterarbeit schrieb.
Lernbegeistert und engagiert, wie ich schon immer war, ging ich nach Stanford und verbrachte mein Juniorjahr an der Howard University, um in den Genuss einer der besten historisch Schwarzen Universitäten Amerikas zu kommen und mich vor allem mit meinem eigenen Schwarzsein auseinanderzusetzen.
In meinen letzten beiden Collegejahren hatte ich dick gelocktes Haar, trug bunte Batikkleider und unterhielt aufbauende, liebevolle Beziehungen zu meinen Kommiliton*innen. Zugleich befand ich mich auf einer intensiven spirituellen Suche, zu der auch gehörte, dass ich mich eingehend mit Yoga und Meditation beschäftigte.
Doch als ich meinen Master in der Tasche hatte, bekam ich das Gefühl, während des Studiums noch längst nicht alles Wichtige erfahren zu haben. In einem Vortrag, den Ram Dass einmal auf dem Stanford-Campus hielt, hatte er gesagt: »Ihr lernt hier so einiges. Was ihr aber nicht lernt: wie ihr glücklich werdet.«
Mir wurde so langsam klar, dass auch ich das Glücklichwerden noch lernen musste. Und dass ich bei dieser Gelegenheit vielleicht auch erfahren würde, wie ich am besten mit meinem Leiden umgehen konnte.
Also begab ich mich auf die Suche nach einem spirituellen Lehrer und einer Gemeinschaft, die mir jenseits von akademischem Erfolgsdenken helfen konnte, lockerer und liebevoller mit mir umzugehen.
Als ich mit dreiundzwanzig im französischen Plum Village dem vietnamesischen Zenmeister Thich Nhat Hanh begegnete, wusste ich sofort, dass ich meinen Lehrer gefunden hatte. Die Schlichtheit und Anmut, mit denen er Achtsamkeit praktizierte und lehrte, empfand ich als so faszinierend, dass ich den Rest meiner viermonatigen Europa-Rundreise cancelte und stattdessen lieber im Kloster blieb. Und bald erwuchs in mir der Wunsch, Nonne zu werden. »Warum eigentlich nicht das tun, was für mich am wichtigsten ist?«, fragte ich mich. Schließlich kann man ja nie wissen, wie lang man noch lebt. Also nahm ich als Allererstes das in Angriff, woran mir am meisten gelegen war.
Mit fünfundzwanzig wurde ich Nonne in der buddhistischen Gemeinschaft von Thich Nhat Hanh, der von seinen Schüler*innen Thay (das bedeutet »Lehrer« auf Vietnamesisch) genannt wurde, und so werde ich ihn in diesem Buch auch nennen.
Mit meiner Ordination trennte ich mich von allen materiellen Besitztümern, rasierte mir den Kopf, trug ganz einfache Roben und verpflichtete mich auf ein Leben im Zölibat. Aus einer US-amerikanischen Großstadt kommend, fand ich mich auf einmal in Frankreich auf dem platten Land wieder. Ich wohnte mit Hunderten Mönchen und Nonnen zusammen, von denen die meisten vietnamesischer Herkunft waren; viele kamen aber auch aus anderen Teilen der Welt. Ganze fünfzehn Jahre lang lebte ich in Klöstern auf verschiedenen Kontinenten. Außerdem war ich viel in den USA unterwegs, in Asien, Afrika und Lateinamerika, um Achtsamkeit zu praktizieren und zu unterrichten.
Nachdem ich fast mein gesamtes Erwachsenenleben als Nonne verbracht hatte, riss ich das Ruder mit Anfang vierzig noch einmal herum: Ich beschloss, das Kloster zu verlassen und wieder von vorn anzufangen. Als die meisten meiner Jugendfreunde bereits eine Familie gegründet hatten und zig Jahre in ihrem Beruf tätig waren, fing ich in der Mitte meines Lebens gerade erst mit all den Dingen an, die sie bereits seit Ewigkeiten taten: Steuern zahlen, Handy bedienen, Haushaltsführung und Onlinedating! Drastische Veränderungen in einer ganzen Reihe von Lebensbereichen gleichzeitig: persönlich, gesellschaftlich, finanziell, beruflich, spirituell und kulturell. Im Grunde erfand ich meine gesamte Identität von Grund auf noch einmal neu.
Herausforderungen und Veränderungen – ob nun erwünscht oder nicht – können stressig sein und einen ganz schön durcheinanderbringen. Kein Zweifel: Arbeitsplatzverlust, Isolation und Einsamkeit oder Trauer setzen jedem und jeder zu. Als echte Einschnitte können sich aber auch freudvolle Erfahrungen wie die Geburt eines Kindes, ein neuer Job oder eine neue Liebe erweisen. Schließlich markieren sie den Beginn eines neuen Kapitels, und die Zukunft ist ungewiss.
Und frei von den großen Herausforderungen und Problemen, vor die sich die Welt momentan gestellt sieht, sind auch unsere persönlichen Schwierigkeiten nicht. Denn wir leben ja nicht isoliert und können auch nicht so tun, als blieben wir unberührt von Klimakrise, Pandemie, zunehmender Einkommensungleichheit – unberührt auch von den klaffenden Wunden, die der Rassismus schlägt, und der systemischen Vorherrschaft der Weißen.
In diesem Buch werden wir über Möglichkeiten sprechen, auch inmitten dieses ganzen Kuddelmuddels Freiheit und Stabilität zu finden und allem, was uns das Leben vorsetzt, offenen Herzens, mit klarem Verstand und gezieltem Handeln zu begegnen. Auf den folgenden Seiten werden wir zusammen die grundlegenden Skills entwickeln, die uns nicht nur individuell, sondern auch kollektiv den Weg in eine gangbare Zukunft eröffnen: Präsenz, Mut und Resilienz (psychische Widerstandskraft).
Und jetzt lass uns aufbrechen, denn ich freue mich schon auf unsere gemeinsame Reise!
Aber der Stein, den die Erbauer [dieser korrupten Welt] nicht wollten,soll zum Grundpfeiler werden.Und egal, welches Spiel sie spielen:Wir haben etwas, was sie uns nie wegnehmen können,wir haben etwas, was sie uns nie wegnehmen können.
Bob Marley»Ride Natty Ride«
Alles, was du werden möchtest,bist du bereits.
Linji Yixuan
Wir alle machen Umbrüche, harte Zeiten und schwierige Phasen durch. Über kurz oder lang erleben alle von uns Zeiten des Verlusts, der Verwirrung oder des Kummers – und uns wird bewusst, dass wir den Lauf der Dinge nicht steuern können, weder im weltumspannenden Maßstab noch auch nur im Privaten. Doch mit Achtsamkeit können wir lernen, diese schwierigen, herausfordernden Wegstrecken so zu bewältigen, dass nicht noch mehr Leid, nicht noch größere Probleme entstehen. Ja, wir können sogar lernen, uns für die Komplexität und Weisheit zu öffnen, die unter Umständen mit diesen Umbrüchen einhergehen.
Beim Zu-sich-Finden und Zur-Ruhe-Kommen in zutiefst unruhigen Zeiten stellt die Heimkehr einen entscheidenden Schritt dar: das Wieder-nach-Hause-Finden, die Neubesinnung auf uns selbst, auf den gegenwärtigen Moment; wie immer er auch aussehen mag. Denn so kann man Achtsamkeit – Präsenz – ja auch verstehen: als zu sich nach Hause zurückkommen. Wir kehren heim, wann immer wir uns auf unseren Körper besinnen. Dieses Bei-uns-Sein können wir auch als wahres Zuhause betrachten. Denn unser inneres Heim vermag uns niemand wegzunehmen. Und beschädigt oder zerstört werden kann es auch nicht. Solange wir Zugang zu diesem Zuhause in unserem Inneren haben, sind wir in Sicherheit. Egal, was um uns herum geschieht.
Wann immer wir diese Erfahrung des Heimkommens machen, ist es so, als kehrten wir nach einer langen Reise endlich wieder nach Hause zurück. Die Empfindungen, die unter diesen Umständen aufkommen, lassen sich gut mit einem Wort wie Frieden oder vielleicht sogar Freiheit beschreiben – völlig unabhängig davon, wie beengend und restriktiv die Verhältnisse im Außen auch sein mögen. Das Wieder-zu-uns-nach-Hause-Kommen schmeckt vor allem nach Zugehörigkeit. In diesem Zustand fühlen wir uns gestützt und gleichzeitig auch dazu befähigt, andere zu stärken.
Das ist alles deshalb von so großer Bedeutung, weil es leider durchaus im Bereich des Möglichen liegt, dem eigenen inneren Zuhause das ganze Leben lang entfremdet zu bleiben.
Mein Lehrer Thay pflegte seine gesamte Lehre in einem einzigen Satz zusammenzufassen, der da lautete: »Ich bin angekommen, bin zu Hause.« Für ihn bestand das Ziel der Achtsamkeitspraxis im Wesentlichen in der Erfahrung des Angekommenseins im Hier und Jetzt. Außer im gegenwärtigen Augenblick müssen wir nirgendwo sein und nirgendwohin.
Und wann fühlen wir uns bei uns zu Hause? Sobald wir nicht länger Zuflucht im Außen suchen – an einem anderen Ort oder zu einer anderen Zeit – und wenn wir uns des Umstands bewusst werden, dass alles, was wir suchen und uns ersehnen, in unserem Inneren liegt. Lassen wir uns intensiver auf unser Inneres und die Dinge ein, die uns umgeben, kann es sein, dass wir völlig unverhofft die Weite und Freiheit unseres wahren Zuhauses erleben.
Eines Morgens – ich war zu der Zeit noch Novizin – wurde ich bei der langsamen Gehmeditation im Anschluss an das Sitzen plötzlich sehr präsent und nahm jeden meiner Schritte bewusst wahr. Zuerst wurde mir klar, dass ich beim Aufsetzen des linken Fußes zugleich auch den rechten bewegte, weil links nichts ging ohne rechts. Dann erkannte ich auch, dass sich meine Arme quasi in den Füßen wiederfinden. Also ging ich gewissermaßen auch mit meinen Armen. Dann kamen die Hände, der Magen, das Hirn, die Sinnesorgane, Herz und Lunge hinzu. Ich war zu hundert Prozent bei und in meinem Körper, kostete den Boden mit den Füßen, lauschte ihm, betrachtete ihn, spürte, erkannte und roch ihn mit meinen Füßen. Mit dem Herzen liebte ich ihn, meine Lunge atmete ihn. Ein und aus.
Als ich meine Aufmerksamkeit mehr auf den ganzen Erdball an sich verlagerte, wurde mir klar, dass ich auch auf kühlem Wasser ging, das unter meinen Füßen floss, sowie auf heißem, glühendem Magma weit in der Tiefe, am Mittelpunkt der Erde. Ich stellte mir vor, ich ginge auf den Füßen derjenigen, die direkt auf der entgegengesetzten Seite des Planeten lebten. Vorsichtig berührten die Unterseiten meiner Füße die Sohlen eines Kleinkindes, einer Schwangeren und eines betagten Großvaters. Mit den Füßen begegnete ich denen eines einsamen, von aller Welt verlassenen Menschen und denen eines von Hass und Zorn zerfressenen. Und ich ging auch auf den Füßen einer im Gehen Meditierenden, die sich des gegenwärtigen Moments erfreute – war eins mit allen Gehenden der Welt, deren Herz mit Liebe und Friedfertigkeit erfüllt ist.
Wenn wir uns des Augenblicks nicht bewusst sind, weil wir uns in unseren Gedanken oder Tagträumereien verloren haben oder weil wir von Ängsten oder anderen starken Emotionen durchgeschüttelt werden, ist es so, als hätten wir unser Zuhause verloren. Bleiben wir lange fort, sammelt sich Staub an, und unerwünschter Besuch kann sich breitmachen. Stress und Anspannungen belasten Körper und Geist, und wenn wir uns darum nicht kümmern, erwächst daraus unter Umständen eine physische oder psychische Erkrankung.
Das Schöne an bewussten Wahrnehmungen ist jedoch, dass wir dadurch jederzeit wieder zu uns heimkommen können. Unser Zuhause ist immer da und wartet nur auf unsere Rückkehr. Und die kann auf vielfältige Weise stattfinden: indem wir uns des Atems bewusst sind, indem wir körperliche Empfindungen oder Bewegungen registrieren und indem wir uns mit der Wirklichkeit um uns herum verbinden; zum Beispiel bestimmten Umgebungsgeräuschen. Kommen wir auf einem dieser Wege nach Hause zurück, können wir Inventur machen, das Terrain unseres Lebens sondieren und klar erkennen, welche Bereiche unserer inneren Landschaft größerer Aufmerksamkeit bedürfen; wo wir uns genauer umschauen sollten.
Es ist in schwierigen Zeiten und Phasen des Umbruchs besonders verlockend, unser inneres Zuhause zu verlassen. Wir wollen Antworten finden oder haben Angst vor der Zukunft. Genau das aber ist der Punkt, an dem wir in den gegenwärtigen Moment zurückkehren, unseren Körper wahrnehmen und besonders gut mit uns umgehen müssen. Weil die Zukunft genau aus diesem Moment besteht. Und wenn wir mit ihm jetzt gut umgehen, gehen wir auch mit unserer Zukunft gut um.