Wirtschaft für morgen -  - E-Book

Wirtschaft für morgen E-Book

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Beschreibung

Inflation, Bitcoin, Bürgergeld - im Fokus dieses Bandes liegen zentrale zukunftsgerichtete Fragen, die unmittelbaren Einfluss auf das nationale und internationale Wirtschaftsgeschehen haben werden: Welche Rolle spielt die Digitalisierung des Geldwesens? Wie kann die Wirtschaft klimaneutral werden? Sollte die Marktmacht von Google, Apple oder Facebook reguliert werden? Ist das Gesundheitssystem reformbedürftig? Wie kommt die Welternährung aus der Krise? Diese Themen werden von Professoren und Vertretern der wirtschaftspolitischen Praxis vermittelt, die in zugänglicher Sprache Einblicke in die aktuelle Forschung geben.

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Manuel Rupprecht (Hrsg.)

[3]Wirtschaft für morgen

Inflation, Bitcoin, Bürgergeld

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

1. Auflage 2023

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-042323-7

E-Book-Formate:

pdf: ISBN 978-3-17-042324-4

epub: ISBN 978-3-17-042325-1

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

[5]Vorwort

Mit diesem dritten Band der Reihe »Volkswirtschaftslehre – praxisnah und verständlich« werden erneut ausgewählte Entwicklungen des Wirtschaftsgeschehens aufgegriffen, die zu Beginn der 2020er Jahre die öffentliche Diskussion prägen. Ob Inflation, Bürgergeld oder Bitcoin: Alle Themen haben gemeinsam, dass sie medial mit einer gewissen Regelmäßigkeit aufgegriffen werden. Ausreichenden Tiefgang erfahren sie dabei indes selten. Was den journalistischen Informationsauftrag erfüllen mag, stellt beim Leser, Zuhörer oder Zuschauer allerdings nicht automatisch ein tiefergehendes Verständnis der Zusammenhänge sicher. Gleichzeitig ist auch bei den Themen dieses Bandes ein solches Verständnis zentral! Wenn die Inflation erstmals seit Jahrzehnten zweistellig wird, der Klimawandel etablierte Konzepte des Wirtschaftens in Frage stellt und sich die meisten Menschen in der digitalen Welt in die Hände mächtiger Technologieriesen begeben, sorgt dies ohne zumindest grundlegende Kenntnisse der Hintergründe vor allem für eines: Unsicherheit. Und Unsicherheit ist selten ein guter Ratgeber, wenn es darum geht, kompetente Entscheidungen zu treffen – ob im privaten, beruflichen oder auch politischen Umfeld.

Diese Unsicherheit zu reduzieren, um so zu überlegten Entscheidungen beizutragen, ist das Hauptanliegen der Reihe und damit auch dieses Buches. Dafür greifen insgesamt neun Experten aus Wissenschaft und Praxis ausgewählte Themen des wirtschaftlichen Geschehens auf und diskutieren diese in bewährter Manier: wissenschaftlich fundiert, aber allgemein verständlich. Wer tiefer einsteigen möchte, findet in jedem Beitrag allerlei Literaturhinweise, manchmal auch weitergehende Fußnoten. Erneut lassen sich alle Beiträge unabhängig voneinander lesen, haben dabei aber gemeinsam, dass sie zur Erklärung der Zusammenhänge auf etablierte Konzepte und Modelle der Volkswirtschaftslehre zurückgreifen, ohne diese mit allen ihren Annahmen, Finessen und konkreten Modellierungen detailliert vorzustellen. Allgemein verständlich eben.

Auch diesem Buch ging eine – von der Hanns Martin Schleyer-Stiftung geförderte – Vortragsreihe an der FH Münster voraus. Unter dem Titel »Aktuelles Wirtschaftsgeschehen – verständlich und kompakt« wurden alle Themen im Herbst 2022 von den gleichen Referenten mit einem breiten Publikum diskutiert. Für die Teilnehmer der Vortragsreihe bieten die Beiträge somit eine Möglichkeit, das Gehörte noch mal nachzulesen oder zu vertiefen. Notwendig ist der Besuch der Reihe aber nicht, um die Beiträge zu verstehen, im Gegenteil: Jeder Text ist erneut so geschrieben, dass er von allen mit Interesse und auch ohne Vorkenntnisse [6]gelesen werden kann. Und wer sich zunächst einen Überblick über die jeweils erläuterten Zusammenhänge verschaffen will, findet vor jedem Beitrag eine pointierte Zusammenfassung.

Allen Personen, die an der Buch- und/ oder Vortragsreihe mitgewirkt haben, gilt mein herzlicher Dank. Zuvorderst sind hier die Referenten bzw. Autoren zu nennen, die sich allesamt der Herausforderung gestellt haben, komplexe Themen allgemein verständlich zu erläutern. Dazu gehören Dr. Kerstin Bruckmeier vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, Prof. Dr. Katharina Gapp-Schmeling von der Victoria | Business School, Prof. Dr. Johannes Harsche von der Hessen Agentur, Christian Hildebrandt von der Monopolkommission, meine Kollegin Prof. Dr. Nina V. Michaelis von der FH Münster, Dr. Judith Niehues und Dr. Jochen Pimpertz vom Institut der deutschen Wirtschaft sowie Prof. Dr. Stefan Schäfer von der Hochschule RheinMain. Der Hanns Martin Schleyer-Stiftung und seiner Geschäftsführerin Barbara Frenz danke ich herzlich für ihre finanzielle Unterstützung, welche die Vortragsreihe überhaupt erst ermöglicht hat. Verbunden bin ich auch dem Verlag W. Kohlhammer und insbesondere seinem geschätzten Verlagsleiter Dr. Uwe Fliegauf, dessen Ideen und Impulse sich immer wieder als prägend erweisen. Zu schätzen weiß ich ferner die Unterstützung meiner Kollegen der FH Münster, ohne deren Zutun weder Organisation noch Kommunikation von Buch- und Vortragsreihe so gelungen wären. Gleiches gilt für alle anderen, die hier keine namentliche Erwähnung finden, aber trotzdem auf die ein oder andere Art und Weise zum Gelingen des Vorhabens beigetragen haben.

Ich wünsche allen Lesern eine erhellende Lektüre!

Münster, im Februar 2023 Manuel Rupprecht

[7]Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1

Einkommens- und Vermögensverteilung in Deutschland: Empirische Kennziffern und subjektive Wahrnehmungen

Judith Niehues

1.1

Einleitung

1.2

Einkommensverteilung: Stabile Verhältnisse

1.2.1

Langfristige Entwicklung der Einkommensungleichheit

1.2.2

Unsichere Datenlage am aktuellen Rand

1.3

Die Mittelschicht als Stabilitätsanker

1.3.1

Abgrenzung der Mittelschicht

1.3.2

Entwicklung der Einkommensmittelschicht

1.4

Vermögensverteilung: Eher rückläufige Ungleichheit

1.4.1

Entwicklung der Vermögensungleichheit

1.4.2

Einordnung der Vermögensungleichheit

1.5

Kritische Gesellschaftswahrnehmung, ausgeprägte Umverteilungspräferenzen

1.5.1

Subjektive Ungleichheitswahrnehmung

1.5.2

Umverteilungspräferenzen und Gerechtigkeitsvorstellungen

1.6

Paradoxe Präferenzen – politische Herausforderungen

Literatur

2

Die Rückkehr der Inflation – gekommen, um zu bleiben?

Manuel Rupprecht

2.1

Einleitung

2.2

Die Rückkehr der Inflation: Was bisher geschah

2.3

Ursachen von Inflation im Überblick

2.3.1

Die Messung der Inflation

2.3.2

Ökonomische Ursachen von Inflation

2.4

Inflation: gekommen, um zu bleiben?

2.5

Schlussbemerkungen

Literatur

3

Bitcoin, digitaler Euro & Co: Das Geld der Zukunft, die Zukunft des Geldes

Stefan Schäfer

3.1

Einleitung

3.2

Das derzeitige Geldsystem im Überblick: Was ist Geld?

3.3

Privates Digitalgeld

3.3.1

Bitcoin und andere Kryptowerte

3.3.2

Ethereum

3.3.3

Stablecoins

3.4

Abnehmende Bargeldnutzung

3.5

Die Reaktion der Zentralbanken: Digitales Zentralbankgeld

3.5.1

Ziele

3.5.2

Ausgestaltungsvarianten

3.5.3

Aktueller Stand und Ausblick

3.6

Fazit

Literatur

4

Mindestlohn, Bürgergeld und Co.: Modernisierung des Sozialstaats oder Ausweitung staatlicher Umverteilung?

Kerstin Bruckmeier

4.1

Einführung

4.2

Bürgergeldgesetz

4.2.1

Bezugsvoraussetzungen und Leistungshöhe

4.2.2

Arbeitsmarktintegration und Arbeitsförderung

4.2.3

Eingliederungsprozess

4.3

Erhöhung des Mindestlohns

4.3.1

Beschäftigungswirkungen

4.3.2

Einkommenswirkungen

4.4

Anrechnung von Erwerbseinkommen im Sozialleistungsbezug

4.5

Zusammenfassung und Fazit

Literatur

5

Reformbedarf im Gesundheitswesen – (k)eine Frage der Pandemie?

Jochen Pimpertz

5.1

Gesundheit ist das höchste Gut – eine Frage der Pandemie?

5.2

Lehren aus der Covid-19-Pandemie: Wie resilient ist das Gesundheitssystem?

5.3

Was treibt die Ausgabenentwicklung in der Gesetzlichen Krankenversicherung?

5.4

Wie wirkt das Solidaritätsprinzip in einer alternden Versichertengemeinschaft?

5.5

Akzeptanz der solidarischen Krankenversicherung – keine Frage der Pandemie

5.6

Fazit

Literatur

6

Welternährung in der Krise: die Rolle von Krieg, Klimawandel, Produktion und Handel

Johannes Harsche

6.1

Einleitung

6.2

Derzeitige Probleme bei der Nahrungsmittelversorgung: Trends, weltweite Dimensionen und regionale Differenzierung

6.2.1

Gegenwärtige Entwicklung der weltweiten Ernährungslage

6.2.2

Regionalspezifische Ausprägungen der Ernährungssituation

6.3

Beeinträchtigungen der Ernährungsgrundlage durch kriegerische Auseinandersetzungen

6.3.1

Kategorisierung bewaffneter Konflikte

6.3.2

Räumliche Schwerpunkte des Kriegsgeschehens

6.4

Beeinträchtigungen der Lebensgrundlage durch den Klimawandel

6.4.1

Folgewirkungen extremer Wetterereignisse

6.4.2

Regionale Differenzierung der Häufigkeit extremer Wetterereignisse

6.5

Entwicklung und regionale Schwerpunkte des Weltgetreidemarktes, exemplarisch dargestellt anhand des Weizenmarktes

6.5.1

Produktion und Export von Weizen

6.5.2

Import von Weizen

6.5.3

Preisentwicklung auf dem Weizenmarkt

6.6

Fazit

Literatur

7

»Big Tech« oder »Big Mess« bei Amazon, Apple, Meta & Co.: Herausforderungen in digitalen Märkten und Ökosystemen

Christian Hildebrandt

7.1

Einleitung

7.2

Die Ökonomie digitaler Märkte und Ökosysteme

7.2.1

Die Rolle von Daten und Big Data für digitale Plattformen

7.2.2

Digitale Ökosysteme

7.2.3

Plattformstrategien und das Kippen von Märkten

7.3

Neue Formen wirtschaftlicher Macht

7.3.1

Vermittlungsmacht

7.3.2

Marktmacht durch Netzwerkeffekte

7.3.3

Größen- und Verbundvorteile

7.3.4

Datenmacht

7.3.5

Infrastrukturmacht

7.3.6

Ökosystemmacht

7.4

Das EU-Gesetz über digitale Märkte – der Digital Markets Act

7.5

Fazit

Literatur

8

Klimaneutrale Wirtschaft durch technischen Fortschritt

Nina V. Michaelis, Katharina Gapp-Schmeling

8.1

Einleitung – Was ist das Problem?

8.2

Grundlagen – Wovon sprechen wir?

8.3

Status quo in Deutschland und der EU – Wo stehen wir?

8.3.1

Bestandsaufnahme: Bisherige Entwicklung der Treibhausgasemissionen und des BIP seit 1995

8.3.2

Weiter-wie-bisher-Szenario

8.4

Der Weg zur Klimaneutralität – Wo müssen wir hin?

8.5

Bevölkerung, Wohlstand, technischer Forstschritt – Wie kommen wir dahin?

8.5.1

Weniger Menschen

8.5.2

Weniger Wohlstand (pro Kopf)

8.5.3

Mehr technischer Fortschritt

8.6

Technischen Fortschritt durch Emissionshandel – Wie wird das konkret umgesetzt?

8.6.1

Das Europäische Emissionshandelssystem (EU-EHS)

8.6.2

Das Brennstoffemissionshandelsgesetz

8.7

Schlussfolgerungen – Was lernen wir daraus?

Literatur

Angaben zu den Autoren

[11]1Einkommens- und Vermögensverteilung in Deutschland: Empirische Kennziffern und subjektive Wahrnehmungen

Judith Niehues

Zusammenfassung

Diskussionen zur Verteilung von Einkommen und Vermögen sind in Deutschland ausgesprochen populär. Immer wieder wird das Thema aufgegriffen, öffentlich in Talkshows, bei Tarifverhandlungen oder im Parlament, privat im Freundes- und Kollegenkreis oder am Stammtisch. Das ist auch nachvollziehbar, schließlich ist jeder ein Teil davon. Viele haben eine Meinung dazu, wie die Verteilung in Deutschland aussieht, einige sogar ganz konkrete Vorstellungen, wie sie aussehen sollte und womit sich dies erreichen ließe. Diese Meinungen und Vorstellungen basieren allerdings häufig auf unvollständigen, manchmal sogar falschen Informationen. Infolgedessen stehen auch die Maßnahmen, die zur Herstellung einer »fairen« und »gerechten« Verteilung unterstützt oder gar gefordert werden, bisweilen auf tönernen Füßen. Doch woran liegt das eigentlich? Warum weicht die Wahrnehmung der Einkommens- und Vermögensverteilung in Deutschland von der Wirklichkeit ab? Wie sieht letztere tatsächlich aus, und wie sind diese Fakten einzuordnen? Diese und weitere Fragen greift Judith Niehues im vorliegenden Beitrag auf. Dabei zeigt sich u. a., dass so manche Wahrnehmung des Status quo nicht in die (öffentliche) Diskussion, sondern in die Mottenkiste gehört. Gleichzeitig wird deutlich, dass es zwischen der Verteilung der Einkommen einerseits und jener der Vermögen andererseits deutliche Unterschiede gibt – die allerdings ebenfalls nicht unbedingt den Erwartungen entsprechen.

1.1Einleitung

Nachdem bereits die Corona-Krise die Gesellschaft vor besondere Herausforderungen gestellt hat, ist die Bevölkerung nun durch die Folgen des Kriegs in der Ukraine mit einer weiteren Krise konfrontiert. Bereits bei den Auswirkungen der Corona-Pandemie wurde schnell über die möglichen Konsequenzen auf das soziale Gefüge und die Verteilung der Krisenlasten debattiert. Da durch die seit Anfang 2022 stark steigenden Lebensmittel- und Energiepreise Haushalte mit geringem Einkommen relativ stärker belastet werden als Haushalte mit höherem Einkommen, stehen erneut die Verteilungswirkungen der mit dem Ukraine-Krieg einhergehenden Energiekrise im Fokus der öffentlichen und politischen Debatte. Wie sich [12]die Energiekrise und die beschlossenen Entlastungsmaßnahmen im Detail auf die Verteilungsverhältnisse auswirken, lässt sich mangels hinreichender Daten jedoch nur mit deutlicher Zeitverzögerung beziffern. Auch die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf konventionelle Verteilungskennziffern können erst einige Jahre nach der Pandemie final bestimmt werden, da erst dann die erforderlichen Daten verfügbar sind. Zudem sind Verteilungsanalysen seit der Pandemie mit der Herausforderung konfrontiert, dass sich in vielen Befragungen im Zuge der Kontaktbeschränkungen die Erhebungsmethoden substanziell verändert haben, wodurch sich die Ergebnisse nicht mit den Jahren vor der Pandemie vergleichen lassen. Wenn der folgende Beitrag somit einen Überblick über die Verteilungssituation in Deutschland zeichnet, wird der Schwerpunkt zwangsläufig auf der Entwicklung in den Jahren vor der Corona-Pandemie liegen und nur einige Schlaglichter auf die seitdem eingetroffenen Entwicklungen werfen können.

Während sich die Informationen zur tatsächlichen Verteilung von Einkommen und Vermögen somit nur mit größerem zeitlichem Verzug auswerten lassen, können gleichwohl aktuelle Befunde zur subjektiven Einschätzung der jeweiligen Situation nachgezeichnet werden. Im Sommer 2021 wurde bspw. die Allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (ALLBUS) des Jahres 2020 nachgeholt. In der Umfrage gaben knapp 71 Prozent der Befragten an, dass sie die sozialen Unterschiede in Deutschland »eher nicht« oder »überhaupt nicht« gerecht empfinden. Da aufgrund der Corona-Pandemie die Erhebungsweise von einer persönlichen zu einer digitalen und postalischen Erhebungsweise umgestellt wurde, ist zwar auch hier ein Vergleich mit vorherigen Erhebungswellen nur eingeschränkt möglich. Jedoch reiht sich der Befund praktisch nahtlos in die Ergebnisse der vorherigen Erhebungen ein: Seit der Wiedervereinigung geben nahezu zu allen Erhebungszeitpunkten des ALLBUS mehr als zwei Drittel der Befragten an, dass sie die sozialen Unterschiede im Land als eher ungerecht ansehen.

Zu einem ähnlichen Ergebnis kam Anfang 2020 eine Civey-Erhebung im Auftrag des SPIEGEL. Demnach hielten sogar knapp 75 Prozent der Befragten die Verteilung der Einkommen respektive die Verteilung der Vermögen für »eher« oder »auf jeden Fall« ungerecht (vgl. SPIEGEL 2020). Die Erhebungsergebnisse des regelmäßig durchgeführten Politbarometers deuten darauf hin, dass sich der subjektive Blick auf das soziale Gefüge während der anhaltenden Energiekrise keineswegs verbessert haben dürfte. Während im Februar 2021 rund 53 Prozent der befragten Wahlberechtigten die soziale Gerechtigkeit im Großen und Ganzen als eher ungerecht oder sehr ungerecht einschätzten, stieg dieser Anteil im Juli 2022 auf 62 Prozent an.1 Der Blick auf das gesellschaftliche Gefüge fällt in Deutschland somit sehr negativ aus.

[13]Im Folgenden werden den subjektiven Einschätzungen entsprechende Daten zur tatsächlichen Verteilungssituation in Deutschland gegenübergestellt. In einem ersten Schritt werden dazu Kennziffern zur Entwicklung der Einkommensverteilung in Deutschland herangezogen. Zudem wird auch die Lage und Entwicklung der Mittelschicht eingeordnet, deren Zustand regelmäßig im Fokus medialer Verteilungsdebatten steht. Mit der zunehmenden Verfügbarkeit von Vermögensdaten wird auch die Ungleichheit der Vermögensverteilung kontrovers diskutiert. Daher werden im dritten Kapitel Indikatoren der Vermögensverteilung dargestellt und eingeordnet. Im anschließenden Kapitel rücken wieder die subjektiven Einschätzungen in den Vordergrund. Hierin wird beleuchtet, welche Vorstellungen die Menschen hierzulande von der Verteilungssituation haben und welche Maßnahmen aus ihrer Sicht herangezogen werden sollten, um die soziale Gerechtigkeit zu erhöhen. Im abschließenden Fazit werden die Ergebnisse eingeordnet und mögliche Ableitungen diskutiert.

1.2Einkommensverteilung: Stabile Verhältnisse

Wird zunächst nach der subjektiven Einschätzung bezüglich der Entwicklung der Einkommensungleichheit gefragt, fällt das Urteil der Bundesbürger eindeutig aus. Gemäß der zitierten Civey-Befragung im Frühjahr 2020 waren bspw. 43,9 Prozent der Befragten der Meinung, die Ungleichheit der Einkommen habe in den letzten fünf Jahren »eindeutig zugenommen«, weitere 28,6 Prozent teilten die Auffassung, sie habe »eher zugenommen«. Bevor dem kritischen subjektiven Blick auf die Einkommensverteilung Daten zur tatsächlichen Entwicklung gegenübergestellt werden können, müssen zunächst einige konzeptionelle Entscheidungen bezüglich der Messung der Einkommen getroffen werden. Da die Konsum- und Sparmöglichkeiten und somit der Lebensstandard der Haushalte zuvorderst durch das verfügbare Einkommen bestimmt werden, steht zumeist das Bruttoeinkommen abzüglich Steuern und Sozialversicherungsbeiträge sowie zuzüglich staatlicher Renten- und Transferzahlungen (z. B. Arbeitslosen-, Eltern-, Kinder- oder Wohngeld) im Mittelpunkt von Verteilungsanalysen. Ohne Berücksichtigung der Haushaltszusammensetzung lassen sich die finanziellen Spielräume unterschiedlicher Haushalte jedoch kaum vergleichen; ein verfügbares Einkommen von bspw. 3.000 Euro im Monat ermöglicht einem Alleinstehenden schließlich einen deutlich höheren Lebensstandard als einer vierköpfigen Familie. Daher werden sog. Äquivalenzgewichte herangezogen, mittels derer die Bedarfe unterschiedlicher Haushaltskonstellationen berücksichtigt werden. Nach der sog. modifizierten OECD-Äquivalenzskala, einem international etablierten Vorgehen, wird dem ersten Erwachsenen im Haushalt ein Gewicht von 1 zugeordnet, jedem weiteren Haushaltsmitglied ab 14 Jahren ein Gewicht von 0,5 und Kindern unter 14 Jahren ein Gewicht von 0,3. Daraus leitet sich bspw. ab, dass ein Paar ohne Kinder nicht über das doppelte Einkommen, sondern nur über das 1,5fache gemeinsame Haushaltseinkommen eines Alleinstehenden verfügen muss, um einen vergleichbaren Lebensstandard [14]zu erreichen. Schließlich gibt es Räume und Güter, die in einem Haushalt nur einmal vorkommen, die aber von mehreren Personen genutzt werden (bspw. die Küche und das Wohnzimmer oder die Waschmaschine und der Internetzugang), so dass sich die Bewohner die Kosten teilen können. Ökonomen sprechen hier von positiven Skalenerträgen im Konsum. Im Zentrum der folgenden Kennziffern zur Einkommensverteilung steht somit das bedarfsgewichtete Nettoeinkommen pro Kopf.

1.2.1Langfristige Entwicklung der Einkommensungleichheit

Ein naheliegender Startpunkt für die Analyse der Entwicklung der Einkommensungleichheit ist die Wiedervereinigung, da diese einen signifikanten zeitlichen Strukturbruch auch für Gesamtdeutschland darstellt. Darstellung 1-1 illustriert die Entwicklung der Einkommensungleichheit gemäß des sog. Gini-Koeffizienten. Der Gini-Koeffizient zählt zu den am häufigsten verwendeten Kennzahlen zur Messung von Ungleichheit. Im Fall einer völligen Gleichverteilung (wenn also jeder Mensch in einer Bevölkerung gleich viel verdient bzw. besitzt) nimmt der Koeffizient den Wert null an, bei der größtmöglichen Ungleichheit (ein Mensch verdient/ besitzt alles, alle anderen nichts) den Wert eins – je größer der Koeffizient, desto größer das Ausmaß der gemessenen Einkommensungleichheit.

Einzig die Haushaltsbefragungsdaten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP), einer jährlichen Umfrage des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) unter knapp 20.000 Haushalten zu deren Lebens- und Arbeitsgewohnheiten, erlauben eine jährliche Betrachtung der Einkommensungleichheit seit der Wiedervereinigung. Da sich die detaillierten Einkommensabfragen des SOEP auf das Vorjahr des jeweiligen Erhebungsjahres beziehen und die Aufbereitung der Daten eine gewisse Zeit in Anspruch nimmt, lassen sich die Daten immer erst mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung auswerten. Die zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Beitrags verfügbaren Einkommensinformationen beziehen sich daher auf das Jahr 2019. Einflüsse der Corona-Pandemie lassen sich auf Basis des SOEP somit erst ableiten, wenn die nächste SOEP-Welle mit detaillierten Einkommensinformationen zum Jahr 2020 – voraussichtlich – im Frühjahr 2023 verfügbar wird.

Wie in vielen anderen Industrienationen kennzeichnet sich die Entwicklung der Einkommensverteilung auch in Deutschland durch einen Anstieg des Ungleichheitsniveaus gegenüber den 1990er Jahren. So verdeutlicht Darstellung 1-1 einen markanten Anstieg der Ungleichheit der verfügbaren Einkommen zwischen dem Ende der 1990er Jahre und etwa 2005. Seit 2005 hat sich der Gini-Koeffizient der verfügbaren Einkommen dann jedoch nicht mehr statistisch signifikant verändert (vgl. auch Grabka 2022, S. 336) – ist aber auch nicht auf das Niveau der frühen 1990er Jahre zurückgegangen. Gründe für den Anstieg der Ungleichheit Ende der 1990er Jahre liegen u. a. in dem damaligen Anstieg der Arbeitslosigkeit, einer zunehmenden Lohnspreizung sowie der Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse (vgl. OECD 2011). Da die folgenden Jahre durch nahezu kontinuierliche Beschäftigungszuwächse und – mit Ausnahme der Wirtschafts- und Finanzkrise – durch eine

Dar. 1‑1:Entwicklung der Einkommensungleichheit in Deutschland. Gini-Koeffizient der bedarfsgewichteten Nettoeinkommen im wiederholten Querschnitt (Anmerkungen: * Mikrozensus 2020: Zeitreihenbruch durch Stichprobenumstellung, vgl. Hundenborn/Enderer 2019/ Statistisches Bundesamt. Quelle: SOEP v37, eigene Berechnungen; Mikrozensus (gerundete Werte): Sozialberichterstattung der amtlichen Statistik, https://www.statistikportal.de/de/sbe/ergebnisse/einkommen-armutsgefaehrdung-und-sozia le-lebensbedingungen/armutsgefaehrdung-und-3 (abgerufen am 17.10.2022)) [zurück]

weitestgehend positive wirtschaftliche Entwicklung gekennzeichnet waren, kann kritisch hinterfragt werden, warum sich die Ungleichheit in dieser Zeit nicht (wieder) reduziert hat.

Zum einen intensivieren sich die globale Arbeitsteilung und der technologische Wandel jedoch auch weiterhin, begleitet von einem beständigen Druck auf die Arbeitseinkommen geringqualifizierter Arbeitskräfte. Gleichzeitig steigt die Nachfrage nach hochqualifizierten Arbeitskräften und entsprechend deren sog. Bildungsrendite (also das Zusatzeinkommen, das ihnen aufgrund einer höheren Qualifikation zufließt) – beides Entwicklungen, die in der Tendenz eine zunehmende Polarisierung der Einkommensverteilung begünstigen.

Neben diesen langfristigen Entwicklungen hat seit 2010 die Migration nach Deutschland deutlich zugenommen, einhergehend mit einer – zumindest anfänglich – höheren Anzahl von Niedrigeinkommensbeziehern. Kontrafaktische Analysen im Rahmen des Sechsten Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung zeigen bspw., dass der isolierte Effekt der steigenden Beschäftigung im Zeitraum 2005 bis 2015 mit einem sinkenden Ungleichheitsniveau einherging, während der isolierte Migrationseffekt mit einem höheren Armuts- und Ungleichheitsniveau verbunden war (vgl. Kleimann et al. 2020, S. 295).

Mit einem Gini-Koeffizienten zwischen 0,29 und 0,30 kennzeichnet sich Deutschland im Vergleich zu dem Gini-Koeffizienten der USA (0,395 im Jahr 2019) und des Vereinigten Königreichs (0,366) durch ein deutlich niedrigeres Ungleichheitsniveau. Eine geringere Ungleichverteilung der Einkommen findet sich hingegen in den skandinavischen Ländern wie bspw. Norwegen (0,263) sowie in den osteuropäischen Ländern Slowenien und der Tschechischen und Slowakischen Republik, die jeweils Gini-Koeffizienten von weniger als 0,25 aufweisen. Diese Ländergruppe [16]umfasst gleichzeitig die Länder mit der geringsten Einkommensungleichheit weltweit. Am anderen Ende des Ungleichheitsspektrums weist die OECD Income Distribution Database Südafrika aus, wo der Gini-Koeffizient im Jahr 2017 bspw. bei 0,618 lag.

Ähnliche Kennziffern der Einkommensungleichheit wie in Deutschland finden sich bspw. in Frankreich, Kanada und den Niederlanden. Im Vergleich der Industrienationen lässt sich die Höhe der Ungleichheit der Nettoeinkommen in Deutschland als unterdurchschnittlich einsortieren – im weltweiten Vergleich sowie im Vergleich bevölkerungsreicher Industrienationen als eher gering.

1.2.2Unsichere Datenlage am aktuellen Rand

Verteilungskennziffern auf Basis des Mikrozensus – einer regelmäßigen Bevölkerungsumfrage des Statistischen Bundesamtes – bekräftigen die stabile Ungleichheitsentwicklung zwischen 2005 und 2019 (► Dar. 1‑1). Mit einer Stichprobengröße von rund 1 Prozent der gesamten Bevölkerung stellt der Mikrozensus die größte Haushaltsbefragung in Deutschland dar. Da im Rahmen des Mikrozensus das monatliche Haushaltsnettoeinkommen jedoch nur klassifiziert abgefragt wird, Haushalte ihr Einkommen also bestimmten Einkommensklassen zuordnen (bspw. 3.500 bis unter 4.000 Euro) und nicht ihr konkretes Einkommen angeben, ergibt sich eine gewisse Ungenauigkeit bei der Ermittlung von Verteilungskennziffern. Für die Entwicklung der Gini-Koeffizienten der bedarfsgewichteten Nettoeinkommen weist die Sozialberichterstattung der amtlichen Statistik daher nur auf zwei Stellen gerundete Werte aus. Neben der Stichprobengröße hat der Mikrozens den Vorteil, dass er zwar weniger detaillierte, aber dafür sehr zeitnahe Informationen über die Einkommenssituation in Deutschland bereitstellt. Unglücklicherweise lässt sich jedoch auch nicht aus den Daten des Mikrozensus der Einfluss der Corona-Pandemie ablesen, da im Jahr 2020 – unabhängig von erzwungenen Umstellungen des Erhebungsmodus während der Lockdowns – eine umfassende Neuausrichtung des Mikrozensus erfolgte (vgl. Hundenborn/Enderer 2019). Hierdurch lässt sich möglicherweise auch der starke Anstieg der Armutsgefährdungsschwelle von 1.074 Euro im Jahr 2019 auf 1.126 Euro im Corona-Jahr 2020 erklären, was gleichzeitig den stärksten jährlichen Anstieg des nominalen Medianeinkommens seit 2005 darstellt.2 Da die Einführung eines neuen IT-Systems im Rahmen der Neugestaltung des Mikrozensus mit technischen Problemen und einer vergleichsweise hohen Ausfallquote einherging, weist das Statistische Bundesamt zudem darauf hin, dass [17]das Erhebungsjahr 2020 nicht für Zeitvergleiche mit nachfolgenden Jahren herangezogen werden sollte.

Die aktuelle Datenlage erlaubt somit noch keine eindeutigen Rückschlüsse darauf, wie die Corona-Pandemie auf die Einkommensverteilung gewirkt hat. Simulationsanalysen der Einkommenseffekte der Corona-Krise für das Jahr 2020 deuten jedoch an, dass die Einbußen durch die wirtschaftlichen Einschränkungen zwar wahrscheinlich mit einer Erhöhung der Ungleichheit der Bruttoeinkommen einhergehen, sich gemäß der Simulationsergebnisse – insbesondere durch die umfangreichen staatlichen Ausgleichsmaßnahmen – für die Verteilung der verfügbaren Einkommen insgesamt aber nur wenige Veränderungen ergeben haben (vgl. Bruckmeier et al. 2021; Beznoska et al. 2020).

1.3Die Mittelschicht als Stabilitätsanker

Subjektiv fühlen sich die meisten Deutschen regelmäßig der Mittelschicht zugehörig. Im Rahmen der subjektiven Schichteinstufung im ALLBUS 2021 sortierten sich bspw. rund 55 Prozent der Bundesbürger in die Mittelschicht und weitere 18 Prozent in die obere Mittelschicht ein. Nicht nur wegen des großen Identifikationspotenzials, sondern auch, weil die Zugehörigkeit zur Mittelschicht seit jeher als Teil des Wohlstandsversprechens begriffen wurde, ist neben der Entwicklung der Ungleichheit auch die Stabilität der Mittelschicht Gegenstand vieler politischer Debatten. Wenngleich die Mittelschicht häufig im Zentrum medialer Berichterstattung steht, gibt es jedoch keineswegs eine allgemeingültige Abgrenzung dieser Bevölkerungsschicht.

1.3.1Abgrenzung der Mittelschicht

Während in der sozialwissenschaftlichen Literatur die Mittelschicht häufig über soziokulturelle Merkmale wie Bildung und Beruf definiert wird, basieren die meisten medial diskutierten Mittelschichtsstudien auf reinen Einkommensabgrenzungen. Wo genau die Grenzen zwischen den verschiedenen Bevölkerungsschichten verlaufen, lässt sich jedoch allein aus dem Merkmal Einkommen kaum eindeutig bestimmen. Aus diesem Grund greift die im Folgenden herangezogene Mittelschichtsdefinition des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) auf ein zweistufiges Verfahren zurück (vgl. Niehues et al. 2013). Zunächst wird in Anlehnung an die entsprechende sozialwissenschaftliche Literatur eine soziokulturelle Mitte definiert, die sich nach Maßgabe verschiedener Kriterien von Bildung und Erwerbstätigkeit gegenüber einer soziokulturellen unteren und oberen Schicht abgrenzt. In einem zweiten Schritt wird untersucht, welche Einkommensbereiche die soziokulturellen Schichten vorrangig besetzen und ob sich daraus typische Einkommensbänder ableiten lassen. Aus dieser Vorgehensweise lassen sich neben der Mittelschicht im engeren Sinn (i. e. S.) auch noch eine untere und eine obere [18]Mittelschicht ableiten, um die zahlenmäßige Häufigkeit mittelschichtstypischer Berufe und Qualifikationen neben der Kern-Mittelschicht zu berücksichtigen (vgl. Niehues/Stockhausen 2022). Für die Mittelschicht i. e. S. ergibt sich aus dem zweistufigen Verfahren mit einem Einkommensbereich von 80 bis 150 Prozent des Medianeinkommens – eine Hälfte der Bevölkerung hat ein niedrigeres Einkommen, die andere Hälfte ein höheres – eine vergleichsweise enge Abgrenzung.

Auf Basis der aktuell verfügbaren SOEP-Einkommensdaten ergeben sich demnach bspw. folgende Einkommensabgrenzungen: Im Jahr 2019 zählte ein Singlehaushalt mit einem Einkommen zwischen 1.270 Euro und 1.690 Euro zur unteren Mittelschicht, bis 3.160 Euro zur Mittelschicht i. e. S. und ab 5.270 Euro zu den relativ Einkommensreichen (► Dar. 1‑2). Paare ohne Kinder erreichen die Mittelschicht i. e. S. ab einem gemeinsamen Haushaltsnettoeinkommen in Höhe von 2.530 Euro, die obere Mittelschicht ab 4.750 Euro und die Gruppe der relativ Reichen ab 7.910 Euro.3

Dar. 1‑2:Einkommensgrenzen für stilisierte Haushaltstypen. In Haushaltsnettoeinkommen des Jahres 2019 in Euro (Anmerkungen: Werte gerundet auf 10 Euro. Für Alleinstehende betrug das monatliche Medianeinkommen im Jahr 2019: 2.109 Euro. Das Medianeinkommen (auch mittleres Einkommen) ist das Einkommen, das alle Einkommensbezieher in zwei genau gleich große Gruppen teilt: Die eine Hälfte hat höhere Einkommen, die andere niedrigere. Quelle: Institut der Wirtschaft (IW) auf Basis des SOEP v37, vgl. https://www.arm-und-reich.de/verteilung/mittelschicht/ (abgerufen am 08.02.2023)) [zurück]

Ähnlich wie bei der Armutsgefährdungsgrenze gibt es auch bezüglich der Festlegung der Einkommensschwelle zur Gruppe der relativ Reichen kontroverse Diskussionen. Gemäß IW-Abgrenzung zählt zu den relativ Einkommensreichen, wer über mehr als 250 Prozent des Medianeinkommens der Gesellschaft verfügt. Der Schwellenwert liegt somit etwas höher als die amtliche Reichtumsschwelle, die konventionell Einkommen oberhalb des Doppelten des Medianeinkommens zu den relativ Reichen zählt. Werden die Menschen in Deutschland gefragt, ab welchem [19]persönlichen Nettoeinkommen eine Person in Deutschland ihrer Meinung nach reich ist, lässt sich vor allem eine große Schwankungsbreite in den Antworten erkennen, die nicht zuletzt auch von dem sozialen Status der Befragten geprägt ist: Ein höheres Einkommen geht tendenziell mit höheren Werten für die eingeschätzte Schwelle zum Reichtum einher. Für die meisten Einschätzungen gilt dabei, dass sie mit Werten oberhalb von 7.000 Euro deutlich oberhalb der gängigen Reichtumsschwellen liegen (vgl. Adriaans et al. 2020).

In diesem Zusammenhang ist es jedoch hilfreich anzumerken, dass die Gruppe der relativ Reichen, auf Basis der Einkommensverteilung 2019, bereits bei der Grenze von 250 Prozent des Medians nur noch 3,3 Prozent der Bevölkerung umfasst – also nur eine kleine Teilmenge der häufig zitierten »oberen zehn Prozent«, die regelmäßig bei Betrachtungen für die Einkommensunterschiede zwischen Arm und Reich herangezogen werden. Zu den einkommensreichsten zehn Prozent Deutschlands zählte ein Alleinstehender im Jahr 2019 ab einem Nettoeinkommen von rund 3.850 Euro, ein Paar ohne Kinder ab einem gemeinsamen Haushaltsnettoeinkommen von 5.780 Euro. Mit Blick auf die mitunter kontroversen Auseinandersetzungen bezüglich der Schwellenwerte gilt es weiterhin einzuordnen, dass es sich um deutschlandweite Durchschnittsbeträge handelt. Der mit dem Einkommen verbundene Lebensstandard kann sich deutlich unterscheiden, je nachdem ob man in einer Metropole wie München oder in einer eher ländlichen Region lebt. Würden regionale Preisniveaus berücksichtigt, würden sich die Schwellenwerte für städtische Regionen erhöhen, für ländliche Regionen entsprechend reduzieren. Befunde deuten jedoch darauf hin, dass sich grundsätzlich nur sehr wenige Deutsche subjektiv dem oberen Einkommensbereich zuordnen. In einer Online-Befragung im Februar 2015 ordnete sich von den reichsten 20 Prozent der Bevölkerung niemand korrekt in die entsprechenden Einkommenszehntel ein, sondern insbesondere Befragte mit hohem Einkommen unterschätzen ihre Einkommensposition erheblich (vgl. Engelhardt/Wagener 2018).

1.3.2Entwicklung der Einkommensmittelschicht

Darstellung 1-3 illustriert, wie sich die Bevölkerungsanteile der fünf Einkommensschichten seit der Wiedervereinigung verändert haben. Da die (Einkommens-)Mittelschicht relativ zum Nettomedianeinkommen der Gesellschaft abgegrenzt wird, ist es nicht überraschend, dass die zeitliche Entwicklung der Größe der Mittelschicht stark mit der Entwicklung der Ungleichheit korrespondiert. Die Entwicklung seit der Wiedervereinigung lässt sich grob in drei Phasen einteilen. Zunächst hat sich der Anteil der Mittelschicht bis zu ihrem Höchstpunkt im Jahr 1997 auf knapp 55 Prozent erhöht und ist in der Folge bis zum Jahr 2005 auf rund 50 Prozent zurückgegangen. Ähnlich wie bei dem Niveau der Einkommensungleichheit hat sich der Bevölkerungsanteil in der Mittelschicht zwischen 2005 und 2019 und damit für mehr als eine Dekade nicht mehr wesentlich verändert. Im Jahr 2019 umfasste die Mittelschicht i. e. S. einen Bevölkerungsanteil von knapp 49 Prozent.

Dar. 1‑3:Entwicklung der Einkommensschichten. Anteil der jeweiligen Einkommensschicht an der Bevölkerung in Prozent (Anmerkungen: 1994*, 2013*: Zeitreihenbruch durch Stichprobenumstellung, vgl. Stockhausen/Calderón, 2020; Einkommensschichten in Relation zum Median der nominalen bedarfsgewichteten Nettoeinkommen des jeweiligen Jahres, vgl. Niehues/Stockhausen 2022; Niehues et al. 2013. Quelle: SOEP v37, eigene Berechnungen)

Die große Stabilität der Mittelschicht zeigt sich auch darin, dass seit der Wiedervereinigung nahezu zu allen Zeitpunkten zwischen zwei aufeinanderfolgenden Jahren jeweils rund 80 Prozent ihre Zugehörigkeit zur Einkommensmittelschicht beibehalten konnten (vgl. Niehues/Stockhausen 2022). Auch das Risiko des Abstiegs aus der Mittelschicht hat sich seit den 1990er Jahren kaum verändert. Seit Mitte der 1990er Jahre schwankt die jährliche Abstiegsrate aus der Mitte i. e. S. zwischen zwei aufeinanderfolgenden Jahren um einen Wert von rund 12 Prozent. Knapp 3 Prozent der Mittelschichtsangehörigen steigt direkt in den Bereich der Armutsgefährdung ab. Auch dieser Anteil hat sich seit der Wiedervereinigung – mit wenigen Ausnahmen wie bspw. in der Zeit der Finanzkrise – kaum verändert. Wenn Veränderungen zwischen fünf aufeinanderfolgenden Jahren beobachtet werden, blieb das Risiko eines Abstiegs ebenfalls weitestgehend unverändert. Gegenüber den frühen 1990er Jahren hat sich jedoch die Aufwärtsmobilität aus dem Bereich der Armutsgefährdung verringert. Ein Blick auf die Einkommensentwicklung derjenigen, die jeweils in einem Fünfjahreszeitraum im Bereich der Armutsgefährdung verblieben, zeigt allerdings, dass die 1990er Jahre zwar durch eine höhere Mobilitätsdynamik gekennzeichnet waren, aber gleichzeitig durch eine geringe Einkommensdynamik als bspw. im Zeitraum 2014 bis 2018 (vgl. Niehues/Stockhausen 2022, S. 41).

Grundsätzlich gilt es bei relativen Schicht- und Verteilungsbetrachtungen – ähnlich wie bei der Armutsgefährdungsquote – zu beachten, dass Veränderungen des Wohlstands unberücksichtigt bleiben. Dass sich die Aufwärtsmobilität auch nicht in der Phase der guten Wirtschafts- und Beschäftigungsentwicklung erhöht hat, hängt bspw. auch damit zusammen, dass sich das Medianeinkommen und damit die Schichtgrenzen in den letzten Jahren merkbar erhöht haben. Zwischen 2013 und 2019 hat sich das reale (also das kaufkraftbereinigte) bedarfsgewichtete [21]Medianeinkommen bspw. um mehr als 15 Prozent erhöht. Während ein Singlehaushalt im Jahr 2013 mit einem Einkommen von 1.460 Euro (in Preisen des Jahres 2019) zur Mittelschicht i. e. S. zählte, lag der Schwellenwert im Jahr 2019 bei 1.690 Euro. Die positive Einkommensentwicklung spiegelt sich auch in einem substanziellen Rückgang der finanziellen Sorgen. Machten sich im Jahr 2006 noch 25 Prozent der Mittelschicht i. e. S. große Sorgen um die eigene wirtschaftliche Situation, reduziert sich dieser Anteil im Jahr 2019 auf weniger als 10 Prozent (vgl. Niehues/Stockhausen 2022).

1.4Vermögensverteilung: Eher rückläufige Ungleichheit

Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der langen Phase niedriger Zinsen und steigenden Immobilien- und Aktienpreisen ist in den letzten Jahren zunehmend auch die Diskussion der Ungleichheit der Vermögensverteilung in den Vordergrund gerückt. Es besteht die weit verbreitete Vermutung, dass diese Entwicklung mit einer Zunahme der Vermögenskonzentration einherging. Auch um die Verteilung der Vermögen messen und einordnen zu können, werden i. d. R. Haushaltsbefragungsdaten herangezogen. In den entsprechenden Befragungen werden die Haushalte bezüglich ihrer Immobilien-, Finanz- und Betriebsvermögen sowie zu ihren Verbindlichkeiten – bspw. Hypotheken oder Konsumentenkredite – befragt. Bei den Immobilien zählen zum selbstgenutzten Wohneigentum ebenfalls vermietete Immobilien, das Finanzvermögen umfasst neben dem Bargeldbestand, Bankguthaben und dem Vertragsguthaben in Versicherungen ebenfalls Wertpapiere, z. B. Aktien. Wertgegenstände und Fahrzeuge werden typischerweise ebenfalls zum Bruttovermögen der Haushalte hinzugezählt. Nach Abzug der Verbindlichkeiten erhält man das private Nettovermögen, welches die Zielgröße der meisten Analysen zur Vermögensungleichheit darstellt.

1.4.1Entwicklung der Vermögensungleichheit

Um die verbreitete Wahrnehmung einer gestiegenen Vermögensungleichheit mit Daten zur tatsächlichen Entwicklung zu kontrastieren, stellt Darstellung 1-4 die Entwicklung der Ungleichheit der Nettovermögen für Haushalte bzw. Personen auf Basis von drei Datensätzen dar, mit denen sich Vermögensunterschiede zu verschiedenen Zeitpunkten vergleichen lassen. Die Ungleichheit wird hier beispielhaft anhand des bereits eingeführten Gini-Koeffizienten gemessen. Bei der Messung der Vermögensungleichheit gilt es anzumerken, dass es keine jährlich verfügbaren Daten gibt, sondern im SOEP erst seit 2002 – i. d. R. – im fünfjährigen Turnus die Vermögenswerte abgefragt werden. Die Befragung »Private Haushalte und ihre Finanzen (PHF)« der Deutschen Bundesbank, die nach der Wirtschafts- und Finanzkrise im Jahr 2010 eingeführt wurde, wird ebenfalls nur alle drei Jahre durchgeführt. Eine langfristige Entwicklung lässt sich einzig auf Basis der Daten der im [22]fünfjährigen Turnus durchgeführten Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) des Statistischen Bundesamtes ablesen. Allerdings hat die EVS den Nachteil, dass die Haushalte nicht zu ihren Betriebsvermögen befragt werden (also das in Firmen gebundene Vermögen) und ebenso Haushalte mit einem monatlichen Nettoeinkommen oberhalb von 18.000 Euro aus Datenschutzgründen nicht berücksichtigt werden – hierdurch fällt die Höhe der gemessenen Vermögensungleichheit tendenziell geringer aus als in den übrigen Datensätzen.

Dar. 1‑4:Entwicklung der Ungleichheit der Nettovermögen. Gini-Koeffizient der privaten Nettovermögen (Anmerkungen: Im SOEP werden Personen ab 17 Jahren in Privathaushalten betrachtet, ohne Personen der Geflüchtetenstichproben M3 bis M5, Hochrechnungsfaktoren inklusive erster Befragungswelle, 95 % Konfidenzintervalle. Standardfehler aus Bootstrapping: 200 Wiederholungen bei eigenen Berechnungen, 0,1 % Top-Coding. Quellen: Grabka/Halbermeier 2019 und eigene Berechnungen für SOEP (v34), Deutsche Bundesbank 2019 für PHF, BMAS-Indikatoren der Armuts- und Reichtumsberichterstattung für EVS, eigene Darstellung auf Basis Stockhausen/Niehues 2019)

Weiterhin unterscheiden sich die Datensätze in der Detailtiefe, innerhalb derer einzelne Vermögenskomponenten abgefragt werden. Im SOEP werden bspw. eher wenige separate Fragen zum Finanzvermögen gestellt, im PHF wird dieses hingegen sehr detailliert erfasst. Das SOEP ist der einzige Datensatz, der Vermögen auf Personenebene abfragt. Hierdurch können auch Vermögensunterschiede innerhalb von Haushalten in die Ungleichheitsbetrachtung einfließen. Werden Vermögen auf Haushaltsebene betrachtet, fällt die Vermögensungleichheit unter sonst gleichen Bedingungen geringer aus, da in diesem Fall implizit von einer Gleichverteilung der Vermögen innerhalb der Haushalte ausgegangen wird.

Aus der grafischen Darstellung in Darstellung 1-4 lässt sich ableiten, dass die Vermögensungleichheit in Deutschland bis 2007/2008 zugenommen hat. Auf Basis der verfügbaren Vermögensdaten hat sich der Gini-Koeffizient der Nettovermögensungleichheit seit der Finanzkrise jedoch nicht weiter erhöht. Die Kennziffern deuten, wenn überhaupt, auf eine leicht sinkende Vermögensungleichheit hin. Auch wenn die Darstellung gleichzeitig verdeutlicht, dass die heutige Vermögens[23]ungleichheit höher liegt als die Ungleichheit in den 1990er Jahren, widerspricht sie doch der Vermutung, dass die Vermögenskonzentration insbesondere im Zuge der niedrigen Zinsen und steigenden Aktien- und Immobilienpreise der letzten Jahre zugenommen habe.

Den Befunden zur Vermögensungleichheit auf Basis von Stichproben wird häufig entgegengehalten, dass Menschen mit sehr hohen Vermögen in den Befragungen unterrepräsentiert sind. Um diesem Kritikpunkt zu begegnen, greift eine wachsende Anzahl an Studien auf Hinzuschätzungen hoher Vermögen auf Basis von Reichenlisten wie bspw. der Forbes-Liste oder dem manager magazin zurück. Vereinfacht beschrieben werden die Vermögen der reichsten Deutschen nachträglich in den jeweiligen Datensatz als Personen oder Haushalte mit den höchsten Vermögen ergänzt. In einem zweiten Schritt werden dann die Vermögen zwischen der ursprünglich reichsten Person und den neu berücksichtigten Personen hinzugeschätzt.4 Erwartungsgemäß ergibt sich durch die Hinzuschätzung sehr hoher Vermögen eine höhere Vermögenskonzentration. Westermeier und Grabka (2015) kommen auf Basis der Vermögensdaten des SOEP bspw. zu dem Ergebnis, dass unter Hinzuschätzung hoher Vermögen der Vermögensanteil der vermögendsten zehn Prozent von gut 60 Prozent auf 63 bis 74 Prozent steige. Gleichwohl zeigen die Ergebnisse ebenfalls, dass sich auch in den verschiedenen Hinzuschätzungsvarianten zwischen 2002 und 2012 keine Erhöhung der Vermögensungleichheit ergibt.

Im Jahr 2019 wurde schließlich das SOEP im Rahmen eines umfangreichen Forschungsprojekts um eine Hochvermögendenstichprobe ergänzt, um »den blinden Fleck« am oberen Rand der Vermögensverteilung zu füllen. Unter Berücksichtigung der Hochvermögenden erhöht sich der Vermögensanteil der oberen zehn Prozent von 58,9 Prozent auf 64,1 Prozent und des obersten Prozents von 21,6 Prozent auf 29,0 Prozent (vgl. Schröder et al. 2020). Zwar ermöglicht die Hochvermögendenstichprobe erstmals eine bessere Abbildung des oberen Vermögensbereichs auf Basis von Mikrodaten (also Daten auf Personen- bzw. Haushaltsebene), zeitliche Vergleiche mit den vorherigen SOEP-Verteilungskennziffern ohne Berücksichtigung der Hochvermögenden sind jedoch nicht möglich.

Bei der Debatte um die Messung der Vermögensungleichheit bleibt häufig außen vor, dass nicht nur hohe Vermögen in den Befragungsdaten unterrepräsentiert sind, sondern es auch bei den übrigen Vermögenskomponenten wie bspw. dem Betriebsvermögen, Spareinlagen, Wertpapieren und Versicherungsvermögen erhebliche Erfassungsprobleme gibt (vgl. Beznoska et al. 2017, 61 ff.). In einer historischen Betrachtung der Vermögensungleichheit ermitteln Albers et al. (2020) bspw. neue Werte für Betriebsvermögen auf Basis von Unternehmenssteuerstatistiken und passen auch die übrigen Vermögenskomponenten an Referenzwerte entsprechender Immobilien- und Geldvermögensstatistiken an. Wenngleich durch die Hinzuschätzungen auch nach diesem Verfahren eine Erhöhung der Vermögensun[24]gleichheit gegenüber den Werten ohne Anpassung resultiert, ergibt sich in diesen Varianten keine Erhöhung der Vermögensungleichheit seit der Finanzkrise (vgl. Albers et al. 2020, S. 37 und S. 66). Mit Blick auf die historische Entwicklung zeigt die Analyse von Albers et al. (2020) einen deutlichen Rückgang des Vermögensanteils des vermögendsten Prozents von beinahe 50 Prozent zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf rund 25 Prozent Mitte der 1970er Jahre. In der Folge hat sich der Vermögensanteil des reichsten Prozents aber nicht mehr wesentlich verändert.

Die Beobachtung einer eher sinkenden Vermögensungleichheit in den letzten Jahren wird auch durch eine Studie der Deutschen Bundesbank (2022) bekräftigt, die durch die Verknüpfung der Haushaltsbefragung PHF mit gesamtwirtschaftlichen Vermögensbilanzen eine quartalsweise Verteilungsbetrachtung ermöglicht. Die rückläufige Vermögensungleichheit auf Basis dieser verteilungsbasierten Vermögensbilanz geht auf einen kräftigeren Nettovermögenszuwachs für Haushalte der unteren Hälfte der Vermögensverteilung zurück, die bspw. ihre Einlagen und Versicherungsansprüche erhöht und merkbar ihre Verschuldung reduziert haben.

1.4.2Einordnung der Vermögensungleichheit

Bereits ohne Hinzuschätzungen liegt der Gini-Koeffizient der privaten Nettovermögen je nach Datensatz und Abgrenzung zwischen 0,72 und 0,78. Während der Vermögensanteil der vermögensreichsten zehn Prozent im Bereich von 60 Prozent und höher liegt, beträgt der (Netto-)Einkommensanteil der einkommensreichsten zehn Prozent weniger als 25 Prozent (SOEP v37). Die Vermögen sind somit deutlich ungleicher verteilt als die Einkommen. In der Diskussion um die Höhe der Vermögensungleichheit wird zudem hervorgehoben, dass Deutschland zu den Ländern mit der höchsten Vermögensungleichheit zähle. Tatsächlich weisen auf Basis des Household Finance und Consumption Survey (HFCS) der Europäischen Zentralbank (2021) – sozusagen die europäische Variante des deutschen PHF – im Jahr 2017 nur die Niederlande (0,782) und Zypern (0,749) einen höheren Gini-Koeffizienten der Haushaltsnettovermögen auf als Deutschland (0,739).5 Im HFCS werden jedoch nur Länder des Euroraums berücksichtigt. Aus weltweiten Vermögensvergleichen wie bspw. der Vermögensreports der Credit Suisse – die in die regelmäßigen Oxfam-Ungleichheitsberichte einfließen – lässt sich ableiten, dass insbesondere auch die skandinavischen Länder eine vergleichsweise hohe Vermögensungleichheit aufweisen. In den (fortgeschriebenen) Daten für das Jahr 2022 liegen die Gini-Koeffizienten in Norwegen (0,794) und Schweden (0,881) bspw. höher als in Deutschland (0,788). Auf den ersten Blick überrascht der Befund insofern, da insbesondere die skandinavischen Länder häufig als egalitäre Vorbilder bezüglich Ungleichheit und Mobilität gelten – und Norwegen sich bspw. durch eine der geringsten Ungleich[25]heiten der Einkommensverteilung weltweit auszeichnet. Für die europäischen Länder lässt sich jedoch zeigen, dass die Vermögensungleichheit tendenziell in den Ländern höher ausfällt, in denen ebenfalls die Sozialausgaben im Verhältnis zum BIP vergleichsweise hoch sind. Eine Erklärung für eine hohe Vermögensungleichheit kann somit darin liegen, dass bei einer umfangreichen staatlichen Absicherung der Lebensrisiken (Krankheit, Alter etc.) die Anreize für den privaten Vermögensaufbau geringer ausfallen. Gleichzeitig gehen die Finanzierunglasten des Staates für die höheren Sozialausgaben mit höheren Steuern und Abgaben einher, die wiederum den Vermögensaufbau in der Mittelschicht erschweren.

Die Wirkung der gesetzlichen Rentenansprüche veranschaulicht beispielhaft die Wechselwirkung. Rentenanwartschaften zählen nicht zum Vermögen im klassischen Sinne, deshalb bleiben sie bei Vermögensvergleichen typischerweise unberücksichtigt. Gleichwohl mindern die für Arbeitnehmer verbindlichen Sozialabgaben nicht nur die finanziellen Möglichkeiten, sondern auch den Anreiz, privat für das Alter vorzusorgen. Werden die Gegenwartswerte der Ansprüche an die Altersvorsorgesysteme bei Vermögensbetrachtungen berücksichtigt, reduziert sich die Vermögensungleichheit in Deutschland um mehr als 20 Prozent, d. h. der Gini-Koeffizient sinkt von ca. 0,78 auf ca. 0,60. (vgl. Stockhausen et al. 2021). Das bedeutet auch: Würden die Beitragssätze zur gesetzlichen Rentenversicherung spürbar reduziert, hätte die Mittelschicht größere finanzielle Spielräume und gleichzeitig eine größere Notwendigkeit, stärker in die private Vorsorge zu investieren. Die Ungleichverteilung der privaten Vermögen würde hierdurch geringer ausfallen. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass das freigewordene Geld von den privaten Haushalten in gleichem Maße fürs Alter zurückgelegt wird – andernfalls droht vor allem das Einkommensarmutsrisiko im Alter zu steigen.

In der Gesamtschau lässt sich Deutschland als typischer Wohlfahrtsstaat einsortieren: Eine im Vergleich zu anderen Industrienationen unterdurchschnittliche Einkommensungleichheit, eine eher hohe Ungleichverteilung der Vermögen, ein hohes Wohlstandsniveau sowie eine umfangreiche staatliche Absicherung (vgl. Niehues 2018).

Auch bei der Vermögensungleichheit sorgen die Schwellenwerte, ab denen ein Haushalt bspw. zu den vermögendsten zehn Prozent zählt, häufig zu überraschten Reaktionen. Ohne Anpassungen und Hinzuschätzungen zählt ein Haushalt auf Basis der PHF-Befragungsdaten bspw. ab einem gemeinsamen Haushaltsnettovermögen in Höhe von rund 555.000 Euro zu den vermögensreichsten zehn Prozent. Inklusive Anpassungen bei der Höhe des Betriebsvermögens und Hinzuschätzungen der übrigen Vermögenswerte erhöht sich der Schwellenwert auf rund 780.000 Euro (vgl. Demary et al. 2021). Mit Blick auf entsprechende Selbsteinordnungen gilt es zunächst anzumerken, dass die Vermögenshöhe stark vom Alter abhängt – die Vermögensbeträge, um zu den reichsten zehn Prozent der unter 35-jährigen zu zählen, liegen deutlich unterhalb der entsprechenden Beträge der 55- bis 59-jährigen (vgl. Niehues/Stockhausen 2020). Ähnlich wie beim Einkommen gibt es jedoch auch beim Vermögen eine starke Tendenz, dass sich nur wenige dem oberen Vermögensbereich zugehörig fühlen: Im Rahmen des PHF 2017 ordneten [26]sich nicht einmal drei Prozent der Haushalte dem oberen Fünftel der Vermögensverteilung zu (vgl. Deutsche Bundesbank 2019).

1.5Kritische Gesellschaftswahrnehmung, ausgeprägte Umverteilungspräferenzen

In den vorherigen Kapiteln wurde herausgearbeitet, dass Deutschland einen typischen Wohlfahrtsstaat darstellt: Mit einer im Vergleich der Industriestaaten unterdurchschnittlichen Einkommensungleichheit, einem hohen Ausmaß an sozialer Absicherung und einer – im Vergleich zum Einkommen – eher ungleichen Verteilung der privaten Vermögen. Zudem haben sich, entgegen der verbreiteten Wahrnehmung, die Indikatoren der Einkommens- und Vermögensverteilung vor der Corona-Krise seit mehr als einer Dekade praktisch nicht (mehr) verändert. Spiegelbildlich zu den Realeinkommenszuwächsen in den Jahren vor der Corona-Pandemie haben sich zudem immer weniger Menschen Sorgen um ihre finanzielle Situation gemacht. Gleichzeitig bleibt der Befund eines sehr kritischen Blicks auf die Gesellschaft: In Befragungen halten regelmäßig 70 bis 80 Prozent der Deutschen die hiesigen Verteilungsverhältnisse für eher ungerecht.

1.5.1Subjektive Ungleichheitswahrnehmung

An dieser Stelle soll daher untersucht werden, welche Vorstellung die Bundesbürger überhaupt von dem sozialen Gesellschaftsgefüge haben. Eine Möglichkeit dieser Frage nachzugehen, bieten Einschätzungen zur vermuteten Gesellschaftsform, die bspw. in den sozialwissenschaftlichen Erhebungen zum Thema Ungleichheit des International Social Survey Programmes (ISSP) in einem zehnjährigen Turnus abgefragt werden. Hierzu werden den Befragten fünf Diagramme mit idealtypischen Gesellschaftsformen im Hinblick auf die Bevölkerungsanteile in sieben gesellschaftlichen Schichten mit entsprechenden Beschreibungen vorgelegt (► Dar. 1‑5). Die Interviewten sollen angeben, welche Gesellschaftsform der Situation in ihrem Land am ehesten entspricht.