Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Economic crime not only causes tremendous damage, but is increasingly being critically scrutinized by the public, media and experts. Criminal economic activity has today reached a scale and extent that can no longer be dismissed as irrelevant. This indicates how important it is to be able to react to the problem adequately in business operations. This volume initially explains the diversity of economic offences, analyses types of perpetrators, organizational contexts, victims and damage, and embeds the problem in the context of corporate ethics. The textbook aims to understand the complex phenomenon on the basis of the current state of relevant legal, economic and social-science research and to identify starting points for preventing and combating economic crime, in the framework of the compliance and integrity approach.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 634
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
1. Auflage 2020
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-029246-8
E-Book-Formate:
pdf: ISBN 978-3-17-029247-5
epub: ISBN 978-3-17-029248-2
mobi: ISBN 978-3-17-029249-9
Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.
»Wirtschaftskriminalität – eine wirtschaftsethische Herausforderung.« Dieser Titel mag beim flüchtigen Lesen erst einmal Irritation hervorrufen. Er ist zumindest erklärungsbedürftig, assoziiert man doch mit Kriminalität und damit auch Wirtschaftskriminalität eher die Sanktionierung von Übeltätern nach den Regeln des Strafrechts. Doch die Bewältigung der Wirtschaftskriminalität mit Hilfe des Strafrechts steht nicht im Fokus der Darstellung. Die Intention des Buches ist eine andere. Sie speist sich aus der Erfahrung, dass das Strafrecht ein relativ stumpfes Schwert bei der Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität ist. Das hat verschiedene Ursachen, die noch genauer zur Sprache kommen werden. Unabhängig davon ist es aber auch gar nicht wünschenswert, dass das Strafrecht bei Missständen, Machenschaften und Skandalen in und um Unternehmen eine besonders prominente Rolle spielen sollte. Auch dazu an späterer Stelle mehr.
Bevor auf diese Positionen genauer eingegangen werden kann, ist es notwendig, sich vorab mit den Besonderheiten der Wirtschaftskriminalität im Vergleich zu anderen Formen der Kriminalität auseinanderzusetzen. Das setzt ein interdisziplinäres Vorgehen voraus. Theoretische Erklärungen, empirische Untersuchungen zur Stützung von Hypothesen und die Suche nach Abhilfemaßnahmen müssen mithilfe der Disziplinen Kriminologie, Strafrecht, Psychologie, Soziologie, Sozialpsychologie, Ökonomik und Wirtschaftsethik zusammengetragen werden.
Gerade die angesprochene Beziehung des Zusammenhangs von Wirtschaftskriminalität und Wirtschaftsethik ist aus Sicht des Verfassers besonders interessant und aufschlussreich. Sie fußt auf der Prämisse, dass Unternehmen und Gesellschaft zur Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität nicht primär auf die präventive Wirkung oder nachträgliche Sanktionierung des Strafrechts vertrauen sollten. Sie wird vielmehr als eine wirtschaftsethische Aufgabe verstanden, in denen primär Unternehmen und ergänzend der Staat als ordnungsschaffende Instanz gefordert sind. Insofern erfüllt das hier vorgelegte Werk eine komplementäre Funktion zu meinem Buch »Wirtschafts- und Unternehmensethik in der Marktwirtschaft.« Letzteres ist dem Anliegen gewidmet, ob und wie moralische Ansprüche in einem marktwirtschaftlichen System implementiert werden können, so dass Individuen, Unternehmen und Staat moralischen Anliegen gerecht werden können. Dies ist in einer durch Wertevielfalt geprägten Wettbewerbswirtschaft eine schwierige Aufgabe. Hier wechselt nun die Perspektive: Es geht darum zu erfassen und zu klären, warum Individuen und Unternehmen als Akteure im Wirtschaftsgeschehen moralischen und v.a. rechtlichen Anforderungen gerade nicht genügen und wirtschaftskriminelle Handlungen begehen. Ein solches Verständnis ist Voraussetzung dafür, um im zweiten Schritt dann genauer fragen zu können, wie die in der wirtschaftsethischen Debatte entwickelten Instrumente präventiv zur Verhinderung doloser (also schädigender oder arglistiger) Praktiken beitragen können.
Im Mittelpunkt steht das komplexe Zusammenspiel der beiden wichtigsten Regelsysteme moderner Gesellschaften, Recht und Moral, um im Wirtschaftsleben normkonformes Verhalten durchzusetzen und zu stabilisieren. Die Zusammenhänge von Wirtschaftsdelinquenz und moralischen Normen und Werten sind vielfältig. Wirtschaftsstrafrecht und Wirtschaftsethik wirken auf verschiedenen Ebenen zusammen. Daher ist die Darstellung an manchen Stellen sehr facettenreich und vielschichtig, was dem Leser an manchen Stellen einige Konzentration abverlangt. Aus diesem Grund sollen die folgenden Hinweise dabei helfen, den » roten Faden« der Argumentation sichtbar zu machen:
• Im ersten Schritt soll das Verhältnis von Recht und Moral beleuchtet werden, um Aufgaben und Wechselspiel im Wirtschaftsgeschehen zu klären. Beiden Regelungssystemen kommt gleichermaßen die Aufgabe zu, normabweichendes Verhalten zu verhindern, doch stehen hinter ihrer Inanspruchnahme unterschiedliche Intentionen; zudem vertrauen sie auf verschiedene Instrumente mit unterschiedlichen Wirkmustern.
• Wirtschaftskriminalität bezeichnet kein klar umgrenztes Deliktspektrum, sondern ein historisch gewachsenes und im Wandel befindliches Terrain. Schätzungen sprechen allein für die Bundesrepublik von rd. 200 Gesetzen mit ordnungs- und strafrechtlichen Bezügen. Der wenig konturierte Begriff muss daher vermessen werden. Insbesondere ist die Unterscheidung Occupational Crime und Corporate Crime grundlegend: Geht es bei Occupational Crimes um dolose Verhaltensweisen, die Mitarbeiter in ihrem eigenen Interesse zum Schaden des Unternehmens – z. B. Betrug, Diebstahl oder Untreue – vornehmen, so versteht man unter Corporate Crime-Delikte, die Mitarbeiter im Interesse des Unternehmens begehen. Dazu gehören u. a. Korruptionszahlungen, Kartellbildung oder Subventionsbetrug, um die Kosten-Erlös-Situation des Unternehmens zu verbessern.
• Um einen theoretischen Bezugsrahmen delinquenten Verhaltens in Unternehmen und durch Unternehmen aufzeigen zu können, wird das Zusammenspiel personeller und situativer Risikofaktoren erörtert. Hier geht es um die vieldiskutierte Frage, ob und in welchem Umfange die beiden folgenden Statements Relevanz besitzen: »Menschen mit krimineller Energie suchen nach günstigen Gelegenheiten!« oder »Gelegenheiten und situativer Kontext machen Mitarbeiter zu Tätern!« Es soll aufgezeigt werden, dass das Zusammenwirken beider Faktoren zwar eine zentrale Rolle spielt, für alle Wirtschaftsdelikte eindeutige Wirkungszusammenhänge aber nicht existieren. Das Thema bleibt kontrovers. Daher kann es nur darum gehen, die wichtigsten theoretischen Einsichten und empirischen Untersuchungen zu normabweichendem Verhalten vorzustellen, um mögliche Entstehungszusammenhänge besser zu verstehen. Wirtschaftskriminalität ist von Organisierter Kriminalität abzugrenzen: Erstere bezeichnet deviantes Verhalten auf legalen Märkten, bei Organisierte Kriminalität handelt es sich um Aktivitäten, bei denen – wie beim Drogen-, Organ- oder Menschenhandel – bereits das Produkt oder der Markt als illegal normiert ist. Gleichwohl gibt es Schnittmengen.
• Wirtschaftsstraftäter weichen von »normalen« Kriminellen ab, denen man bei strafbaren Handlungen ansonsten »typischerweise« begegnet: Sie sind älter als andere Straftäter, gut sozialisiert, gut ausgebildet, meist wohlsituiert und haben eine klare Vorstellung von moralisch angemessenen und inakzeptablen Verhaltensweisen. Gerade das macht diese Täter zu einer besonders rätselhaften Gruppe, da ihr Verhalten keiner eingängigen Erklärung folgt. Daher stellen sich zahlreiche Fragen: Gibt es Persönlichkeitsmerkmale, die charakteristisch für Wirtschaftsstraftäter sind? Lassen sich gewisse Tätertypen unterscheiden? Welche Motive treiben sie zu ihrem Handeln? Und vor allem: Wie rechtfertigen sie ihr Handeln, wenn sie doch »in der Mitte der Gesellschaft« mit einem intakten Wertegerüst leben? Es gilt also, das Zusammenspiel von Persönlichkeitsmerkmalen, Motiven, Werthaltungen und Rechtfertigungsstrategien aufzuhellen.
• Wirtschaftsstraftaten werden zumeist bei Ausübung der beruflichen Tätigkeit begangen. Die Täter agieren also meist in einem spezifischen von der Unternehmensorganisation geprägten Umfeld. Welche Strukturen, Prozesse und Kulturen erleichtern oder begünstigen kriminelle Verhaltensmuster? Gibt es identifizierbare Defizite von Organisationen, die Manager und Mitarbeiter in ihrem Verhalten so beeinflussen, dass sie Dinge tun, die sie in anderen Kontexten nicht tun würden?
• Täter verursachen mit Wirtschaftsdelikten Schäden und hinterlassen Opfer. Diesen Zusammenhang gilt es im nächsten Schritt zu erhellen. Die Palette der Wirtschaftsdelikte gestaltet sich mit der Ausdifferenzierung des Wirtschaftssystems und zunehmender staatlicher Interventionen immer heterogener. Dies wird augenfällig an den vielfältigen Formen von Cyber-Kriminalität, die mit der Ausbildung einer digitalen Infrastruktur und dem Bedeutungszuwachs des Internets einhergehen. Subventionsbetrug oder Verstöße gegen Mindestlohnregelungen wurden erst dadurch zu relevanten Delikten, weil Subventionen häufiger gewährt werden und ein gesetzlich verbindlicher Mindestlohn eingeführt wurde. Wirtschaftsstraftaten sind also häufig ordnungsabhängig.
• Unternehmen befinden sich in einer zwiespältigen Rolle: Sie sind bei Corporate Crime- Delikten Täter und Profiteure, soweit ihnen kriminelles Handeln zugerechnet werden muss, zugleich sind sie aber in der Regel auch Opfer, weil sie neben Vermögensschäden zumeist Reputationsschäden erleiden. Ihre Bereitschaft zur Aufklärung von Straftaten unterliegt daher einem komplexen Kosten-Nutzen-Kalkül, teilweise wird nicht aufgeklärt, teilweise nur intern, so dass viele kriminelle Handlungen nicht den staatlichen Behörden gemeldet werden. Dies wiederum beeinträchtigt die Möglichkeiten staatlicher Strafverfolgungsbehörden, wirtschaftskriminellen Delikten nachzugehen.
Im ersten Teil des Buches werden die zentralen Bausteine des Phänomens Wirtschaftskriminalität herausgearbeitet, um Anknüpfungspunkte und Bekämpfungsmöglichkeiten krimineller Handlungsweisen kennen zu lernen. Dabei steht die Perspektive des Unternehmens im Vordergrund. Diese ist auch für die nachfolgenden Kapitel erkenntnisleitend, in denen die Handlungsmöglichkeiten der Unternehmen im Umgang mit dolosen Verhaltensweisen aufgezeigt werden. Hier erfolgt die Analyse der Zielsetzungen, Strategien und Instrumente, die in der unternehmensethischen Debatte entwickelt und verhandelt werden. Bezugsrahmen ist das Zusammenwirken von Institutionenethik einer Unternehmensorganisation und Individualethik der einzelnen Akteure.
• Die institutionenethischen Aspekte des Themas werden primär unter der Überschrift Corporate Governance des Unternehmens verhandelt. Damit ist der rechtlich vorgegebene und selbstgesetzte Handlungsrahmen für eine gute und verantwortungsvolle Unternehmensführung und Überwachung angesprochen. Es geht hier also um die institutionellen Vorkehrungen und Praktiken, die eine gute Corporate Governance ausmachen, um Anreize, Zwänge und Motivationen für kriminelles Verhalten zu reduzieren oder zu beseitigen.
• In eine gute Corporate Governance-Architektur sind Compliance-Management-Systeme (CMS) eingebunden. Sie werden seit Ende der 1990er Jahre verstärkt installiert , um Regeltreue innerhalb von Unternehmen sicher zu stellen. Compliance-Beauftragte oder ganze Abteilungen versuchen, rechtliche und moralische Risiken im Unternehmen zu identifizieren (z. B. Verstöße gegen das Kartellverbot; Korruptionspraktiken; Industriespionage) und darauf ausgerichtete Verhaltensstandards in Verhaltenskodizes zu verankern. Die Belegschaft ist entsprechend zu schulen, zu kontrollieren und bei Verstößen ggf. zu sanktionieren. Die Erfahrungen mit CMS sind ambivalent und werden kontrovers diskutiert. Bis zu einem gewissen Grade sind klare und verbindliche Regeln und Kontrollen (z. B. bei Einhaltung von Sicherheitsvorschriften) für alle Hierarchieebenen hilfreich, teilweise unabdingbar. Andererseits bewirkt eine weit getriebene Compliance-Kultur manch unerwünschte Effekte – Demotivation der Mitarbeiter, Entstehung einer Misstrauenskultur, Neigung zur Überbürokratisierung oder Instrumentierung durch das Management zu eigennützigen Zwecken.
• Daher wird zunehmend erkannt, dass ergänzend zum Compliance Management ein Wertemanagement als Ausdruck einer Integritätsphilosophie hinzutreten muss. Das Integritätsmanagement knüpft an dem Tatbestand an, dass Manager und Mitarbeiter Werte und Normen in das Unternehmen mit hineinbringen und durch Sozialisationserfahrungen innerhalb des Unternehmens erlernen. Integrity Management zielt auf die im Unternehmen gelebten Werthaltungen, um damit die Unternehmenskultur zu beeinflussen. Ziel ist es, die Belegschaft bezüglich der Wahrnehmung ethischer Dilemmata zu schulen und sie für integres Verhalten zu sensibilisieren. Neben Präventionsprogrammen auf Unternehmensebene ist hier eine Vielzahl personalethischer Maßnahmen gefordert.
Globalisierung und Digitalisierung haben neue Herausforderungen für die Bekämpfung wirtschaftskrimineller Verhaltensweisen mit sich gebracht. Sie haben zur räumlichen Ausdehnung des Aktionsradius’ für wirtschaftskriminelles Verhalten geführt und mit der Informationstechnologie effiziente, vielseitig nutzbare Tatwerkzeuge zur Verfügung gestellt. Wirtschaftskriminalität und Organisierter Kriminalität wird zugleich ein größeres Möglichkeitenspektrum eröffnet. Diese Handlungsoptionen werden exemplarisch aufgezeigt. Folge ist, dass manche Delikte in transnationalen Kontexten eine große Relevanz bekommen haben, weil der Wahrnehmung und Bekämpfung wirtschaftskrimineller Handlungen ein teilweise defizitärer und inkonsistenter internationaler Ordnungsrahmen gegenübersteht. Dadurch sehen sich Unternehmen gezwungen, unterschiedliche Wertekulturen innerhalb ihrer Organisation zu integrieren, und sie werden in die Aufgabe gedrängt, selbst als Mitgestalter auf der Ordnungsebene tätig zu werden.
Viele Menschen haben mich beim Verfassen des Buches in guter Weise begleitet. Ihnen möchte ich gerne an dieser Stelle meinen Dank abstatten. Zuvorderst gilt mein Dank Dr. Uwe Fliegauf, Lektor beim Kohlhammer-Verlag, der mich mit seiner geduldigen und freundlichen Art sehr dazu ermuntert hat, dieses Werk zu Ende zu bringen. Er hat mir zudem viele konstruktiven Hinweise gegeben. Meinen Kollegen Gabi Naderer, Jürgen Volkert und Thomas Cleff bin ich zu großen Dank verpflichtet, weil ich mit ihnen mehrere aufschlussreiche Diskussionen über Wirtschaftsstraftäter und ihre Motive führen konnte. Andreas Witt, Wirtschaftskriminalist beim Polizeipräsidium Karlsruhe, hat mir in manchen Gesprächen den Blick der staatlichen Strafverfolgung auf das Thema Wirtschaftskriminalität nähergebracht, wofür ich ihm sehr dankbar bin. Auch Pascal Holzinger hat mich sehr unterstützt. Er hat mit viel Energie und Engagement aus studentischer Sicht das Projekt begleitet, mit manchen kritischen Hinweisen und der Erstellung von Grafiken. Viele wertvolle Verbesserungsvorschläge verdanke ich meinem Freund Volker Berbüsse und meinem Kollegen Helmut Wienert, der das gesamte Manuskript akribisch gelesen hat. Dafür herzlichen Dank. Widmen möchte ich dieses Buch meiner Familie.
Pforzheim, im Januar 2020
Bernd Noll
Vorwort
Abkürzungsverzeichnis
1 Recht, Moral und Wirtschaftskriminalität
1.1 Recht und Moral als Instrumente zur Abwehr wirtschaftskriminellen Verhaltens
1.2 Beurteilungskriterien zur Qualifikation von Wirtschaftskriminalität
1.3 Ebenen des Zusammenspiels von Wirtschaftsstrafrecht und Moral
1.4 Zur Komplementarität beider Regelsysteme
1.5 Grenzziehungen zwischen beiden Regelsystemen
2 Wirtschaftskriminalität – ein schwer bestimmbares Deliktfeld
2.1 Vorüberlegungen
2.2 Wirtschaftskriminalität – ein sozialgeschichtlicher Zugriff
2.3 Wirtschaftskriminalität – ein ordnungspolitischer Zugriff
2.3.1 Vormoderne Ordnung und Wirtschaftskriminalität
2.3.2 Wettbewerbsordnung und Wirtschaftskriminalität
2.3.3 Wirtschaftskriminalität im interventionistischen Wohlfahrtsstaat
2.4 Wirtschaftskriminalität – eine begrifflich-systematische Annäherung
2.4.1 Aspekte zur Charakterisierung von Wirtschaftskriminalität
2.4.2 Bereiche der Wirtschaftskriminalität
2.5 Wirtschaftsstrafrecht und -straftäter
2.6 Illegale Märkte, Organisierte Kriminalität und Wirtschaftskriminalität
3 Bauelemente für eine Theorie der Wirtschaftskriminalität
3.1 Eine wirtschaftsethische und -kriminologische Grundsatzdiskussion
3.1.1 Suchen Menschen mit destruktiver Energie nach kriminellen Gelegenheiten?
3.1.2 Machen Tatgelegenheiten aus anständigen Menschen Täter?
3.1.3 Eine integrative Position
3.2 Zur Bedeutung von Kriminalitätstheorien
3.3 Das Grundmodell: Fraud Triangle
3.3.1 Tatgelegenheiten
3.3.2 Motivation – Anreiz, Druck oder Zwang
3.3.3 Rechtfertigung der Tat
3.3.4 Kritische Würdigung
3.4 Ergänzende Bauelemente
3.4.1 Der Akteur auf dem Weg zur kriminellen Tat
3.4.2 Die Begehung einer Straftat als rationale Wahlhandlung
3.4.3 Der Mensch ist in gewissen Situationen zu allem fähig!
3.4.4 Zum Zusammenspiel personeller, organisatorischer und unternehmensexterner Faktoren
3.5 Ein übergreifendes Prozessmodell
4 Wirtschaftskriminelle Akteure: ein besonderer Tätertypus
4.1 Ist es sinnvoll, sich mit Tätertypen auseinanderzusetzen?
4.2 Der Wirtschaftsstraftäter – ein Tätertyp mit besonderen soziodemografischen Merkmalen
4.3 Profile von Wirtschaftsstraftätern
4.3.1 Persönlichkeitsmerkmale
4.3.2 Wertorientierungen
4.3.3 Triebkräfte für wirtschaftskriminelles Verhalten
4.3.3.1 Emotionen
4.3.3.2 Kognition
4.3.3.3 Motivation
4.4 Typen von Wirtschaftsstraftätern
4.4.1 Methodische Überlegungen
4.4.2 Theoretisch-konzeptionelle Studien zur Erfassung von Wirtschaftsstraftätern
4.4.3 Empirisch-induktive Entwicklung von Tätertypen
4.4.4 Eine verwirrende Typenvielfalt …
4.5 Einzeltäter und Tätergruppen
4.5.1 Einzeltäter, Mitwisser und Mittäter
4.5.2 Führungskräfte, Untergebene und Mitläufer
4.5.3 Kriminelle Gruppen, Netzwerke und »organisierte« Wirtschaftskriminalität
4.6 Unternehmen als Wirtschaftsstraftäter?
5 Wirtschaftskriminalität gedeiht in defizitären Organisationen
5.1 Organisationsprobleme eines Unternehmens
5.2 Defizitäre Organisationsstrukturen
5.2.1 Hierarchien, Machtdistanz und unmoralisches Verhalten
5.2.2 Ressortdenken und organisierte Unverantwortlichkeit
5.2.3 Eindimensionale Anreiz- und Bewertungssysteme
5.2.4 Schwache Kontrollstrukturen und geringe Entdeckungsrisiken
5.3 Organisationskulturen und ihr kriminogenes Wirkungspotential
5.3.1 Dunkle Seiten der Organisationskultur
5.3.2 Tone from the Top
5.3.3 Wahrgenommene Ungerechtigkeiten
5.4 Aufbau und Persistenz kriminogener Unternehmenskulturen
5.4.1 Sozialisierung, Rationalisierung und Institutionalisierung
5.4.2 Stabilisierung kriminogener Unternehmenskulturen
5.4.3 Hohe Gruppenkohäsion, Groupthink und Unterdrückung berechtigter Anliegen
5.4.4 Organisationskulturen der Schweigsamkeit
5.5 Kriminogene Potentiale starker und schwacher Unternehmenskulturen
5.6 Das toxische Dreieck: Ein Grundmodell organisationsbezogener Kriminalität
6 Wirtschaftsdelikte, Opfer, Schäden und Sanktionen
6.1 Täter, Taten und wirtschaftliche Schäden
6.2 Wirtschaftskriminelle Delikte: Systematisierungen
6.3 Die wichtigsten Occupational Crime-Delikte
6.4 Corporate Crime-Delikte
6.4.1 Strafrechtliche Produkthaftung
6.4.2 Wettbewerbsdelikte auf Gütermärkten
6.4.3 Korruption – Missbrauch zur Erlangung von Sondervorteilen
6.4.4 Insolvenzdelikte – Schädigung Außenstehender
6.4.5 Weitere Corporate Crime-Delikte im Überblick
6.5 Opfer und Schäden
6.5.1 Besonderheiten der Opfer
6.5.2 Unternehmen als Opfer und Täter
6.5.3 Delikte und Schäden: Was sagt die Empirie?
6.5.4 Das Problem des Dunkelfeldes
6.6 Umgang mit Wirtschaftskriminalität
6.6.1 Reaktionen der Unternehmen auf Straftaten
6.6.2 Funktion staatlicher Sanktionen gegen Wirtschaftskriminalität
6.6.3 Staatliche Interessen, Strafverfolgung und Strafzumessung
7 Good Corporate Governance: Voraussetzung für regeltreues und integres Verhalten
7.1 Der konzeptionelle Rahmen: Zum Zusammenspiel von Corporate Governance, Compliance und Integrity Management
7.2 Grundprobleme einer Corporate Governance
7.3 Prinzipien einer Good Corporate Governance
7.4 Der schwierige Weg zur tragfähigen Corporate Governance in Deutschland
7.5 Corporate Governance ist eine Daueraufgabe
7.6 Funktion des Deutschen Corporate Governance Kodexes
7.7 Ansatzpunkte der Kriminalprävention im Rahmen einer Good Corporate Governance
8 Compliance Management: Durchsetzung von Regeltreue
8.1 Warum Compliance Management?
8.2 Zur Philosophie des Compliance Managements
8.3 Grundsätze für ein erfolgreiches Compliance Management
8.4 Aufbau eines Compliance Management-Systems
8.4.1 Schritte zur Umsetzung einer funktionsfähigen Compliance
8.4.2 Organisatorische Einbettung des Compliance Managements
8.5 Die Praxis der Compliance
8.6 Kontroversen um ein funktionsfähiges Compliance Management
8.6.1 Compliance Management: zentraler Baustein für ein erfolgreiches Risikomanagement!
8.6.2 Compliance Management als Geschäftsverhinderungsinstrument
8.6.3 Illusion der (perfekten) Compliance
8.6.4 Compliance – vom Top-Management instrumentalisiert?
8.7 Bedeutung und Grenzen eines Compliance Managements
9 Integrity Management – Beförderung einer Vertrauenskultur
9.1 Integrität: Mehr als nur dem Recht genügen!
9.2 Integrity-Philosophie: Ein Gegenentwurf zur Compliance?
9.3 Merkmale von Integritätskulturen
9.4 Voraussetzung für Integrität: Vertrauen
9.4.1 Ökonomische Bedeutung von Vertrauen im Unternehmen
9.4.2 Vertrauensgenese, Vertrauensformen und Sozialkapital
9.4.3 Vertrauen, persönliche Bindungen und Organisationskulturen
9.5 Integritätsmanagement und Organisationskulturentwicklung
9.5.1 Ansatzpunkte
9.5.2 Führung und Integrity Management
9.5.3 Kommunikationskultur
9.5.4 Erfolgsorientierte Anreizsysteme im Widerstreit
9.6 Unternehmenskulturentwicklung muss mit Widerständen rechnen
9.7 Bedeutung und Grenzen eines Integrity Managements
10 Wirtschaftskriminalität im Zeichen von Globalisierung und Digitalisierung
10.1 Überblick
10.1.1 Wirtschaftsausspähung und -spionage
10.1.2 Plagiate, Produkt- und Biopiraterie
10.1.3 Transnationale Korruption
10.1.4 Internationale Steuerkriminalität und aggressive Steuergestaltung
10.2 Wirtschaftskriminalität und transnationale Organisierte Kriminalität
10.3 Ansatzpunkte und Spannungsfelder grenzüberschreitender Kriminalitätsbekämpfung
10.3.1 Die Bundesrepublik: Nachzügler im Umgang mit (grenzüberschreitender) Wirtschaftskriminalität
10.3.2 Die USA: Vorreiter und Weltpolizist bei Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität
10.3.2.1 Bekämpfung wichtiger Formen der Wirtschaftskriminalität
10.3.2.2 Das Instrumentarium der US-Administration
10.3.3 Entwicklungs- und Schwellenländer: Defizite bei der Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität
10.3.4 Vom nationalen Wirtschaftsstrafrecht zum Weltwirtschaftsstrafrecht?
10.4 Unternehmerische Herausforderungen internationaler Wirtschaftskriminalität
10.4.1 Erwartungen an transnational agierende Unternehmen
10.4.2 Unternehmenskulturen, Nationalkulturen und Wertemanagement
10.4.3 Unternehmen – ordnungspolitisch verantwortliche Akteure?
11 Fazit: Wirtschaftskriminalität – auch eine wirtschaftsethische Herausforderung!
Literatur
Stichwortverzeichnis
AEUV
Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union
ACFE
Association of Certified Fraud Examiners
AG
Aktiengesellschaft
AktG
Aktiengesetz
ASA
Attraction-Selection-Modell
BEPS
Base Erosion and Profit Shifting
BIP
Bruttoinlandsprodukt
BKA
Bundeskriminalamt
BMF
Bundesministerium für Finanzen
BMI
Bundesministerium des Inneren
BMJ
Bundesministerium der Justiz
BMWi
Bundesministerium für Wirtschaft und Energie
BetrVG
Betriebsverfassungsgesetz
BPI
Bribe Payers Index
CEO
Chief Executive Officer
CMS
Compliance-Management-System
CPI
Corruption Perception Index
CSR
Corporate Social Responsibility
DCGK
Deutscher Corporate Governance Kodex
DM
Deutsche Mark
EStG
Einkommenssteuergesetz
EU
Europäische Union
EuGH
Europäischer Gerichtshof
FATCA
Foreign Account Tax Compliance Act
FATF
Financial Action Task Force on Money Laundering
FCPA
Foreign Corrupt Practices Act
GATT
General Agreement on Tariffs and Trade
GG
Grundgesetz
GM
General Motors
GmbH
Gesellschaft mit beschränkter Haftung
GUS
Gemeinschaft Unabhängiger Staaten
GVG
Gerichtsverfassungsgesetz
GWB
Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen
GWG
Geldwäschegesetz
HDI
Human Development-Index
HGB
Handelsgesetzbuch
IAA
Informationsaustausch auf Anfrage
IDW
Institut der Wirtschaftsprüfer
ILO
International Labour Organisation
IWF
Internationaler Währungsfonds
MCI
WorldCom
NGO
Non-Governmental Organization
NSA
National Security Agency
NYSE
New York Stock Exchange
OECD
Organisation for Economic Cooperation and Development
OK
Organisierte Kriminalität
OLAF
Office européen de lutte antifraude
OWiG
Gesetz über Ordnungswidrigkeiten
PKS
Polizeiliche Kriminalstatistik
PS
Prüfstandard
PWC
PriceWaterhouseCoopers
SAI
Social Accountability International
SEC
Securities and Exchange Commission
StGB
Strafgesetzbuch
TI
Transparency International
TJN
Tax Justice Network
TRIPS
Agreement on Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights
UBS
Union de Banques Suisses
UN
United Nations
UNCAC
United Nations Convention against Corruption
UWG
Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb
VW
Volkswagen
WpHG
Wertpapierhandelsgesetz
WpÜG
Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetz
WTO
World Trade Organisation
(1) Entwickelte Gesellschaften haben mehrere Regelsysteme ausgebildet, die der zwischenmenschlichen Verhaltenssteuerung dienen. Diese stabilisieren Erwartungshaltungen innerhalb sozialer Gruppen und machen Interaktionen häufig überhaupt erst möglich, erleichtern sie zumindest wesentlich. Die wichtigsten Regelsysteme sind Recht und Moral, während Konventionen als Formen gesellschaftlicher Etikette wie Begrüßungsformeln, Kleiderordnung oder Benimmregeln beim Essen für unsere Fragestellung in modernen Gesellschaften eher vernachlässigt werden können.1 Den beiden erstgenannten Systemen ist gemeinsam, dass sie Wert- oder Unwerturteile über Handlungsweisen formulieren und damit das Verhalten der Gesellschaftsmitglieder anleiten und vorhersehbar machen. Dies wird deutlich an ihrer spezifischen Konstruktion, sie besitzen eine Regelkomponente und eine Durchsetzungs- bzw. Sanktionskomponente. Während bei Gesetz und Recht klar formulierte Regeln von einem Gesetzgeber beschlossen und mit Hilfe von Verwaltung, Polizei und Gerichten durchsetz- und einklagbar sind, beruhen moralische Regeln auf individueller oder kollektiver Selbstgesetzgebung und Tradierung. Moralnormen sind daher weniger eindeutig bestimmbar, ihre Einhaltung erfolgt durch »soziale Kontrolle« der Mitmenschen und ihr Sanktionspotential reicht von Irritation, Stirnrunzeln über bissige Bemerkungen bis hin zur sozialen Ächtung, in positiver Hinsicht von einem freundlichen Blick, anerkennenden Schulterklopfen über ein Lob bis hin zu öffentlichen Auszeichnungen wie dem Bundesverdienstkreuz.2
(2) Im Sinne dieser funktionalen Betrachtungsweise benötigt man in modernen Gesellschaften beide Regelsysteme, wie folgende Überlegungen zeigen:
• Gesetz und Recht sind unverzichtbar, um grundlegende Handlungs-, Vermögens- und Schutzrechte für die Gesellschaftsmitglieder zu sichern, d. h. in einem dafür vorgesehenen Verfahren des Gesetzgebers zu kodifizieren und ihre Einhaltung mit staatlicher Gewalt durchzusetzen. In diesen Rechtsnormen dokumentiert sich das » ethische Minimum«, das für das Zusammenleben in einer Gesellschaft unabdingbar ist. Das Recht bildet gleichsam einen Rahmen, der die Fortexistenz der Gesellschaft sicherstellen soll und der die Mindestanforderungen an »sittliche Lebensbetätigung und Gesinnung« eines jeden Gesellschaftsmitglieds formuliert.3
• Das Strafrecht als Teil des Rechtssystems ist ein besonders scharfes Schwert in den Händen des Staates und soll nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts nur dann eingesetzt werden, »wenn ein bestimmtes Verhalten über sein Verbotensein hinaus in besonderer Weise sozialschädlich und für das geordnete Zusammenleben der Menschen unerträglich, seine Verhinderung daher besonders dringlich ist.«4 In diesem Sinne werden Gewalttaten gegen Körper und Leben genau wie inakzeptable Verhaltensweisen im Wirtschaftsverkehr wie Betrug, Korruption oder Wirtschaftsspionage als Delikte pönalisiert. Das Besondere ist also, dass mit dem Strafrecht eine juristischeDoppelgleisigkeit installiert wird. So soll bspw. beim Betrug nicht nur ein ggf. rechtswidrig erlangter Vorteil auf dem Wege des Zivilrechts wieder rückgängig gemacht werden, sondern dem Initiator des Rechtsverstoßes soll mit der Strafe eine zusätzliche Nachteilszufügung auferlegt werden. Schadensersatz und Strafe sind also ihrem Wesen nach verschieden. Während der Schadensersatz nach den Regeln des Zivilrechts »eine Wunde heilen« will, soll die Strafe nach deutscher Strafrechtsdogmatik zudem »eine Wunde schlagen«.5 Kriminalstrafen wohnt mithin ein Vergeltungsmoment inne, was schon darin zum Ausdruck kommt, dass diese sich an der Schwere der Tat orientieren.6 Insofern ist das Strafrecht in besonderer Weise für die Erwartungsstabilisierung (= Generalprävention) zum Schutz elementarer Güter und Interessen konzipiert, die das Zivilrecht allein nicht leisten könnte.7
• Innerhalb dieses durch das Recht gesetzten äußeren Rahmens stellt sich die Frage nach dem »gerechten« oder »guten« Verhalten, mit dem dieser Rahmen auszufüllen ist. Hier hat die Moral ihren Platz, die zu aktiverSozialgestaltung beitragen soll. Damit wird der Einsicht Rechnung getragen, dass nicht alles, was gesetzlich legal ist, auch moralisch legitim ist. Anders gewendet: In einem freiheitlichen Gemeinwesen wäre es weder zielführend noch erwünscht, alles Sozialverhalten rechtlichen Regeln und staatlicher Aufsicht unterwerfen und sanktionieren zu wollen.8 Konsequenz wäre dann ein omnipräsenter Überwachungsstaat. Daher muss zum Schutz der Autonomie von Individuen, Gemeinschaften und Zivilgesellschaft Raum für die Freiheit von staatlicher Intervention und Einflussnahme bleiben. Das bedeutet: In Gemeinschaften wie der Familie oder kleinen Gruppen mit gemeinsamer Wertebasis werden moralische Verhaltensnormen tradiert und spontan in Trial- and- Error-Prozessen weiterentwickelt. Analog bedarf es im gesellschaftlichen Kontext solcher Freiräume für die Gestaltung zwischenmenschlicher Kooperation und Konfliktbewältigung. Nötig sind, anders gewendet, Spielräume, die zunächst einmal privater Dispositionsmacht unterliegen und dies auch bleiben müssen. Hier gilt jeweils die Moral als Regulierungssystem. Die Vorzüge gegenüber dem Recht liegen in ihrem Differenzierungsvermögen, ihrer Veränderbarkeit und Anpassungsfähigkeit an sich ändernde soziale Gegebenheiten.9
(1) Recht bezieht genau wie Moral sein normativesFundament aus der Ethik (= Moralphilosophie) als Reflexionswissenschaft.10 Entstehung und Veränderung von Rechtsregeln basieren wesentlich auf moralischen Überzeugungen der Politiker und der Öffentlichkeit. Materielle Rechtsregeln können als »geronnene Moral«11 verstanden werden.12 Doch welche Merkmale machen ein Verhalten zu einem wirtschaftskriminellen Verhalten? Damit stellt sich die zentrale materielle Frage danach,
• welche fragwürdigen Verhaltensweisen in einem offenen marktwirtschaftlichen System als beanstandungsfrei hinzunehmen sind,
• welche Verhaltensmuster zwar als moralisch verwerflich anzusehen sind, jedoch erwartet werden kann, dass sie über Selbstregulierungsprozesse der Wirtschaftsakteure zurückgedrängt werden,
• welche Handlungsweisen als so gravierend und sozial abträglich einzuordnen sind, dass sie als strafrechtliche Verstöße gegen die Rechts- und Wirtschaftsordnung zu sanktionieren sind.13 Hier wäre das stärkste Instrumentarium sozialer Kontrolle einzusetzen, nämlich Geld- oder Freiheitsstrafen.
(2) Das Bundesverfassungsgericht hat, wie eingangs erwähnt, den Einsatz des Strafrechts im Fall von besonderer Sozialschädlichkeit oder der Verletzung vonRechtsgütern legitimiert. Doch sind dies offene, ausfüllungsbedürftige Rechtsbegriffe, zumal die Strafrechtswissenschaft »keine Theorie des modernen Strafrechts« liefert.14 Es ist eine schwierige Aufgabe für Juristen, Ökonomen, Wirtschaftsethiker und Soziologen, überzeugende Kriterien für die Strafwürdigkeit von Verhaltensweisen im Wirtschaftsleben zu entwickeln, die im öffentlichen Diskurs Bestand haben.
(3) Dieser Stigmatisierungsprozess bestimmbarer Handlungsweisen kann nur aus einer vorgängigen normativen Gesellschaftstheorie abgeleitet werden, der auf die Funktionsweise eines offenen marktwirtschaftlichen Systems Bezug nimmt. Das Wirtschaftsstrafrecht kann mithin nur dann Konturen erhalten, wenn die aus den Interaktionen der Marktteilnehmer erwachsenden Marktprozesse und Institutionen analysiert und in Bezug auf die damit verbundenen legitimen Erwartungen und Interessen der Akteure bewertet werden. Nur aus dieser Perspektive wird der Unrechtsgehalt wirtschaftskrimineller Delikte erkennbar.
Sind bei Gewaltdelikten die Schäden an Rechtsgütern wie dem blauen Auge oder der eingedrückten Windschutzscheibe des Autos ohne weiteres erkennbar, so liegt der Fall bei Wirtschaftskriminalität anders, komplizierter und ist nicht immer unmittelbar einsichtig. Der Unrechtsgehalt ergibt sich aus Regelverstößen, also Verletzungen von Verhaltenspflichten, die dem fairen Wirtschaftsverkehr dienen.15 Damit sollen bestimmte Formen gesellschaftlicher Interaktion und ein sozial erwünschtes Wirtschaftsgeschehen gewährleistet werden. Es geht also um Institutionenschutz, nicht primär darum, dass ein Individuum eine konkrete Einbuße an seinen Vermögensgütern erlitten hat.16 Paradigmatisch wird dies am Kartellverbot des § 1 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) deutlich. So hat der Staat in einem Marktsystem die Interessen der Verbraucher am Wettbewerb zwischen günstigen Offerten zu schützen. Verstoßen miteinander konkurrierende Anbieter gegen diese Verhaltensregel, indem sie durch Absprachen vorab ihr Verhalten gegenüber der Marktgegenseite koordinieren, so muss der Staat die Nichteinhaltung dieser Regel sanktionieren.17
(1) Das Zusammenspiel von Recht und Moral ist komplex und wird auf verschiedenen Ebenen praktisch – der Mikro- oder Individualebene, der Meso- oder Unternehmensebene und der Makro- resp. Ordnungsebene. Man kann daher von einem Drei-Ebenen-Modell sprechen. Diese Differenzierung nach Handlungs- und Verantwortungsebenen findet sich in verschiedenen sozialwissenschaftlichen Disziplinen, in der Soziologie und Sozialpsychologie wie auch in der Wirtschaftsethik und im Wirtschaftsstrafrecht.18 Mit diesen unterschiedlichen Perspektiven wird in den beiden letztgenannten Disziplinen der jeweils verantwortliche Akteur bestimmt.
(2) Auf der Individualebene ist der Wirtschaftsstraftäter adressiert. Interessanterweise handelt es sich bei ihnen häufig um »sozial unauffällige« Menschen, »typische Normalbürger« mit gelungener primärer Sozialisation mit einem vermeintlich »normalen« Wertekanon.19 Wie können dann, so bspw. beim Siemens-Korruptionsfall, hunderte Mitarbeiter in wirtschaftskriminelle Delikte verwickelt werden, wenn sie doch die rechtlichen Normen (Korruption, Bilanzmanipulation, Bestechung o. Ä.) und die dahinter stehende Werteordnung kennen und das im Unternehmen praktizierte Verhalten für die private Lebenssphäre kaum akzeptieren würden? Als unbefangener Betrachter müsste man dieses verwerfliche Verhalten gar in besonderer Weise als widersprüchlich oder geradezu absurd bewerten, findet dies doch primär im Fremdinteresse des Unternehmens statt und nicht im eigenen Interesse der involvierten Manager oder Mitarbeiter. Hieraus resultiert eine der Schlüsselfragen der Wirtschaftskriminalität, auf die es keine einfache Antwort gibt: Das Handeln wird für den Einzelnen augenscheinlich als akzeptabel, erforderlich oder unabdingbar erachtet, das aus der spezifischen Wahrnehmung einer Situation seine Rechtfertigung erfährt.20 Das Recht wird also von einer über ihm stehenden Moral als Steuerungsmodus »geschlagen« – jedenfalls aus der Mikroperspektive des Individuums. Deutlich wird das dann an rechtfertigenden Aussagen wie: »Ich habe nur meine Pflicht getan!« »Ich habe mich zu dem Handeln gezwungen gesehen, es gab keine Alternative!« »Wenn ich das Schmiergeld nicht gezahlt hätte, hätte es eben ein anderer tun müssen!« Hier liegt ein zentrales personalethisches Dilemma, nämlich das streitige Verhältnis von Rechtsgehorsam und der vermeintlich höherrangigen legitimatorischen Rechtfertigung auf Basis einer (meist partikularistischen) Moral.
(3) Diese dilemmatische Wahrnehmung von Handlungsmöglichkeiten hat nicht immer, aber häufig mit dem organisatorischen Kontext innerhalb von Unternehmen zu tun. Damit geraten Unternehmen gleichsam als »natürliche« Träger von Verantwortung mit in den Fokus.21 Dies dokumentiert eine wachsende gesellschaftliche Sensibilisierung für moralische und rechtlicheVerfehlungen von Unternehmen. Dazu haben auf kriminelle Machenschaften rückführbare Unternehmenszusammenbrüche wie die von Enron, Worldcom oder Parmalat, zahlreiche Korruptionsaffären wie bei Siemens, Daimler, Deutsche Telekom oder Bilfinger, das fragwürdige Gebaren von Investmentbanken vor und während der Finanzmarktkrise oder auch die Manipulation der Abgaswerte im VW-Konzern beigetragen. Die Gesetzgeber haben weltweit auf diese Entwicklungen mit einer Regulierungswelle sowie mit der verschärften Durchsetzung regulatorischer Anforderungen reagiert.22 Unternehmen müssen sich daher stärker mit der Frage nach »ihrer« Verantwortlichkeit auseinandersetzen.23 Sie erfahren zudem, dass von ihnen nicht nur Rechtstreue eingefordert wird, sondern, wie die lebhafte Corporate Social Responsibility (CSR)-Diskussion zeigt, auch die Einhaltung in der Gesellschaft verankerten moralischen Prinzipien.
Die öffentliche Debatte um »Fehltritte« der Unternehmen differenziert zumeist nicht zwischen (rechtlicher)Legalität und (moralischer)Legitimität.24 Will ein Unternehmen wirtschaftlich erfolgreich sein, muss es mit einer »Kultur der Begründbarkeit« auch den moralischen Anliegen wichtiger Stakeholder Rechnung tragen. Das ist die Lehre aus dem breit diskutierten Brent Spar-Fall Anfang der 1990er Jahre. Shell plante, die ausgediente Ölplattform Brent Spar im Meer zu versenken. Dies wäre die günstigste Form der Entsorgung gewesen und das Recht stand auf Seiten des Unternehmens, während Greenpeace massiv gegen dieses Vorhaben in der Öffentlichkeit auftrat und dabei mit der These hoher giftiger und schädlicher Ölrückstände emotional mobilmachte, was sich aber als fragwürdig, wenn nicht gar falsch erwies. Dennoch nahm Shell nach kräftigen Umsatzeinbußen und heftigen öffentlichen Auseinandersetzungen, die in einem Brandanschlag auf eine Shell-Tankstelle gipfelten, von der Versenkung Abstand und verkündete in ganzseitigen Anzeigen »Wir werden uns ändern«.25WirtschaftskriminelleVerhaltensweisen einerseits und (nur) moralische Verwerflichkeit desHandelns andererseits rücken in der öffentlichen Wahrnehmung eng zusammen bzw. werden nicht oder nicht hinreichend unterschieden. Dies hat vermutlich viel mit problematischen Weichenstellungen auf der dritten, der Ordnungsebene zu tun, auf die Unternehmen als gewichtige Akteure und ihre Lobbyisten interessenbasiert Einfluss nehmen.26
(4) Ein funktionierendesWirtschaftssystem ist auf moralische und rechtliche Vorleistungen angewiesen.27 Die Sozialwissenschaftler haben dafür den Begriff des Sozialkapitals geprägt, um auf das Fundament für das Zustandekommen von gesellschaftlichen Interaktionen hinzuweisen. Vertrauen sich Menschen gegenseitig und vertrauen sie in die gesellschaftlichen Institutionen und Organisationen,28 dann kommen nicht nur mehr »riskante« Transaktionen zustande, sondern viele Transaktionen können auch mit niedrigeren Kosten abgewickelt werden.29 Solch einen Vertrauensvorschuss werden sich Akteure allerdings nur dann gewähren, wenn sie von weitgehend akzeptierten moralischen Standards im Geschäftsleben (= internen Institutionen) und einem funktionierenden Rechtsstaat (= externen Institutionen) ausgehen können. Moralisch fragwürdiges wie wirtschaftskriminelles Verhalten beeinträchtigen dieses Vertrauen. Beides führt zur Erosion des Sozialkapitals, das aus dem Vertrauensverlust direkt Betroffener, aber aufgrund der hohen Informationstransparenz in modernen Gesellschaften letztlich für alle Wirtschaftsakteure negative Auswirkungen hat. Dieser Wirkungszusammenhang ist verknüpft mit einer abnehmenden Funktionsfähigkeit eines Wirtschaftssystems. Es dokumentiert sich in verstärktem Misstrauen, zunehmender Regulierung und ansteigendem Kontrollaufwand in den verschiedenen Daseinsbereichen.
Hier knüpft die ordnungsethische, d. h. die normsetzende und durchsetzende Funktion eines Gemeinwesens an. In gesellschaftlichen Diskursen wird das Handeln der Akteure im Wirtschaftsleben vermessen und bewertet. Auf dieser Makroebene wird ausgehandelt, was als Wirtschaftsstraftat gelten soll.30 Dabei zeigt sich, dass die Fixierung, welche fragwürdigen Aktivitäten eine Kriminalisierung erfahren sollen und welche nicht, immer auch »Ausdruck besserer Durchsetzungsmacht überlegener gesellschaftlicher Gruppen« ist.31 So beschlossen die europäischen Küstenstaaten erst 1995, also nach der Auseinandersetzung zwischen Shell und Greenpeace, ein sanktionsbewehrtes Verbot der Versenkung schwimmender Ölplattformen im Meer. Dies ist kaum Zufall, sondern ein Beispiel dafür, dass die starke Einflussnahme von Sonderinteressen auf die politische Entscheidungsfindung der Legitimität des staatlichen Rechtsrahmens kaum förderlich ist.32
(1) Moral und Recht erfüllen in funktional ausdifferenzierten Gesellschaften komplementäre Funktionen.33 Die Moral ist das dem Menschen über seine Entwicklungsgeschichte hinweg stets unmittelbarere, präsentere Regelsystem gewesen. Moral und nicht Rechtsregeln prägten in vormoderner Zeit entscheidend den Nahbereich der Menschen, indem die durch persönliche Bindungen und Abhängigkeiten geprägten sozialen Interaktionen stattfanden. Insofern wurde das Recht als eher nachrangig und randständig wahrgenommen. Das änderte sich zwar auf dem Weg in die Moderne, in der die offene und heterogene Gesellschaft als soziale Bezugseinheit mehr und mehr neben tradierte Gemeinschaften trat und diese zunehmend, z. B. bei Arbeitsteilung, Kooperation und Tausch, verdrängte.34 Es entwickelten sich mehr und mehr unpersönliche, instrumentell geprägte Interaktionsmuster.35 Doch erfährt der Mensch nach wie vor in entscheidender Weise seine Sozialisierung im Nahbereich mit ihren tugendethischen Vorstellungen,36 und es dominieren nach wie vor gerade in moralischen Dilemmasituationen die Wertmaßstäbe der Kleingruppe gegenüber universalistischen (rechtlichen) Regeln. Das prägt auch den Umgang mit dolosen Handlungen im Wirtschaftsbereich. So werden zahlreiche Delikte wie Preisabsprachen, Zahlung von Schmiergeldern oder Bilanzmanipulationen von den Delinquenten regelmäßig damit gerechtfertigt, die Arbeitsplätze der Kollegen sichern oder die Existenz »der Firma« retten zu wollen.37 Auch Patronage oder Vetternwirtschaft sind – wertneutral gewendet – Ausdruck der Tatsache, dass man sich der Familie oder seinem näheren Umfeld in besonderer Weise verpflichtet fühlt.
Diese Einsicht hat Konsequenzen für Unternehmen; sie können sich unmittelbarer und effizienter vor abweichendem Verhalten schützen, wenn sie systematisch in die einem modernen Wirtschaftssystem adäquaten (= universalistischen) Moralvorstellungen ihrer Mitarbeiter investieren und nicht auf die disziplinierende Wirkung des Strafrechts vertrauen.38 Sie müssen das Verhalten von Führungskräften und Mitarbeitern präventiv mittels eines werteorientierten Managements zu beeinflussen suchen und können nicht primär auf die generalpräventive Wirkung und / oder nachträgliche Sanktionierung des Strafrechts vertrauen. Dies liegt im Eigeninteresse der Unternehmen, sowohl was die Binnenwirkungen innerhalb der Organisation wie die Außenwirkungen gegenüber externen Stakeholder-Gruppen anbelangt.39 Es gibt also gute Gründe, Wirtschaftskriminalität primär als eine unternehmensethische Herausforderung und nur ergänzend als Problem der Rechtsordnung bzw. des Strafrechts zu verstehen.40 Unternehmen übernehmen so eine eigenständige Rolle bei der Normsetzung und -durchsetzung.41 Das Wirtschaftsstrafrecht wäre im Übrigen schlicht überfordert, würde ihm vorrangig die Aufgabe zugedacht, sozialschädliches Verhalten zu bekämpfen.42
(2) Andererseits erzeugt die praktische Umsetzung des Strafrechts durchaus eine die (wirtschafts-)moralischen Normen festigende Wirkung.43 Daher hat einer der Pioniere der Soziologie, Émile Durkheim (1858-1917), durchaus Recht, als er meinte, ein gewisses Verbrechensaufkommen sei nicht nur normal, sondern für eine Gesellschaft nützlich und notwendig, um mittels strafrechtlicher Sanktionen das Gemeinschaftsbewusstsein zu bewahren und zu befördern.44 Allein Appelle an die Bevölkerung zu mehr Moral und Anstand würden ihre Wirkung systematisch verfehlen. Heinrich Popitz (1925-2002) hat dieses Phänomen in seiner 1968 erschienenen Arbeit über die » Präventivwirkung des Nichtwissens« weitergeführt und auf ein wichtiges Paradoxon hingewiesen. Die faktische Normeinhaltung in einer Gesellschaft beeinflusst die Wahrscheinlichkeit, dass jemand selbst wiederum die Norm einhält. Daraus folgert er, dass eine stabile Verhaltensorientierung nur dann gewährleistet sei, wenn die Bevölkerung nicht weiß, ob und in welchem Maße Normbrüche begangen werden. Die Stabilität der Normen wird also gerade erst dadurch gewährleistet, dass die Dunkelziffer des Missbrauchs nicht bekannt ist.45
So darf der Bürger bei seiner Steuerzahlung nicht das Gefühl bekommen, dass er mit seiner Regeltreue der Dumme ist. Bei einem solchen Zustand würden die moralischen Standards erodieren, die Sitten verfallen.46 Anders formuliert: Das Ausmaß der straffrei bleibenden Steuerhinterziehung darf eine »kritische Masse« nicht überschreiten!47 Es ist für die Normakzeptanz also durchaus ambivalent, wenn die Informations- und Kommunikationsrevolution der letzten Jahrzehnte den Umfang der Missachtung von Recht und Moral geradezu im Übermaß transparent werden lässt oder in einem überzeichneten Licht präsentiert. Festzuhalten gilt jedenfalls: Moral und Recht können ihre volle Wirkung nur erfüllen, wenn das jeweils andere Regelungssystem funktioniert. Beide sind elementar aufeinander bezogen und angewiesen.
(1) Die Besonderheiten der beiden Regelsysteme erklärt auch, dass ihre Grenzen zueinander nicht ein für alle Mal scharf gezogen werden können. Ihr Verhältnis gestaltet sich überlappend und ist in steter Veränderung begriffen. Ihr Zusammenspiel ist vielgestaltig und komplex.48 Einige Aspekte seien zur Illustration skizziert:
• Zum einen ist eine Verrechtlichung desWirtschaftslebens mit einer zunehmenden Regulierungsdichte zu erkennen. Dies gilt z. B. für den Schutz von Arbeitnehmern und Umwelt. Das bedeutet auch eine Expansion des Wirtschaftsstrafrechts. Dies hat mit dem Wandel von vormodernen, sozialintegrativ wirkenden Kleingruppen hin zu großen, anonymen und komplexen Gesellschaften mit ausgeprägter Arbeitsteilung zu tun. Die in Kleingruppen funktionierende soziale Kontrolle mit informellen Sanktionen musste zunehmend um formelle Regeln, Kontrollen und Sanktionen ergänzt werden, wie sie nur das Recht bietet.49
• In engem Zusammenhang damit steht, dass für zunehmend mehr gesellschaftlich sensible Sachverhalte im Laufe der wirtschaftlichen Entwicklung ein Regulierungsbedarf konstatiert worden ist. Die Pönalisierung des so genannten »Insider Trading« zeigt dies recht deutlich: Spezifische Unternehmensinterna wie die drohende Insolvenz oder ein geplanter Firmenkauf stellen vermögenswerte Informationen dar. Eingeweihte Beteiligte (= Insider) können dieses kursrelevante Wissen bei kapitalmarktfinanzierten Unternehmen für eigene Zwecke zu Käufen oder Verkäufen an der Börse nutzen. Wurde diese Informationsasymmetrie potentieller und aktueller Kapitalanleger lange Zeit als Problem ignoriert und später mittels eines Selbstverpflichtungskodexes der damit primär befassten und betroffenen Wirtschaftsakteure geregelt, so wurde 1995 ein weitgreifendes gesetzliches Insiderhandelsverbot mit Transparenzpflichten und scharfen Sanktionen für Zuwiderhandlungen installiert. Diese Regelung trägt der Tatsache Rechnung, dass der Kapitalmarkt mit seiner zunehmenden Bedeutung nur dann angemessen funktionieren kann, wenn alle Marktpartner von der Fairness der Kursbildung überzeugt sind.50
• Daneben erfährt das Zusammenspiel von Strafrecht und Moral auch eine dynamische Facette. Die westlichen Gesellschaften sind in den letzten Jahrzehnten u. a. durch Individualisierungsprozesse, Mobilität und Migration wertepluralistischer und heterogener geworden. Im Gefolge mutierten verschiedene Straftaten wie Steuerhinterziehung, Schwarzarbeit oder Versicherungsbetrug zu »Kavaliersdelikten« oder »Bagatellvergehen«. Moralische Sanktionen wie Scham, Schande oder Verlust des Ehrgefühls wirken bei Bekanntwerden von Regelverstößen in den Referenzgruppen nicht mehr zureichend – anders als dies zu Zeiten einheitlicher bürgerlicher Moralvorstellungen im 19. Jahrhundert der Fall gewesen sein mag, so dass nur mit einem Mehr an Repression Regeltreue eingefordert werden kann, um die weitere Ausbreitung dieser Delikte einzudämmen.
(2) Da primäre Aufgabe des Strafrechts der Rechtsgüterschutz und nicht die moralische Verdammnis des Täters ist,51 ist andererseits einer Moralisierung desWirtschaftsstrafrechts entgegen zu wirken. Dazu gibt die Erfahrung Anlass, dass die öffentliche Arena immer wieder von Entrüstung, Empörung und schiefen Moraldebatten beherrscht wird. Das haben die heftigen Diskussionen um die Höhe der Managergehälter und die Verantwortung der »gierigen Banker« für die Finanzmarktkrise eindrücklich gezeigt. Auch wenn die Aushandlung eines Vorstandsgehaltes grundsätzlich nach Spielregeln des Privatrechts erfolgt, ist immer wieder von »Ausplünderung der Unternehmen«, »Beutemachen«, »Bereicherung auf Kosten der Arbeitnehmer« etc., die Rede gewesen – also im untechnischen Sinne von dolosen Verhaltensweisen. Der Gesetzgeber sah sich daraufhin mehrfach zum Handeln veranlasst, um die Vergütung von Managern restriktiveren Regeln zu unterwerfen.52 Und der Bundesgerichtshof »erklärte eine Zahlung, die als Vergütungsleistung gedacht war, kurzerhand zum unzulässigen Geldgeschenk.«53 Bei solchem Vorgehen ist eher »moralisches Unternehmertum« am Werk, das die politstrategische Möglichkeit nutzt, das » Herrschaftsmittel Strafrecht« gegen »wenig geliebte Zielgruppen«, seien es Top-Manager, Umweltsünder oder Nicht-Abstinenzler einzusetzen, um diese zu kriminalisieren.54 Es mag einem missfallen, dass manche Personen extrem hohe Gehälter oder Abfindungen erhalten, man mag dies auch aus unternehmenspolitischer Sicht für verfehlt halten, doch sollte Strafrecht nicht an »unerwünschten« Ergebnissen von Marktprozessen anknüpfen, sondern an gravierenden Regelverletzungen. Nur dann wird man die besondere Funktion des Strafrechts erhalten können und Strafverfolgungsbehörden nicht mit Aufgaben überfrachten.
(3) Die vorstehenden Überlegungen zeigen bereits, dass Recht und Moral in einer konfliktbehafteten Allianz zueinanderstehen. Daher soll nochmals die Bedeutung ihrer Eigenständigkeit betont werden: Die Emanzipation des Rechts aus der Vormundschaft einer religiös fundierten Moral war ein wichtiger Schritt hin zu einer säkularen, freiheitlichen Gesellschaft. Und auch wenn das Recht zu wesentlichen Teilen auf vernunftethischen Überzeugungen basiert, sind Entstehungsweise und Zielsetzung doch verschieden.
• Recht kommt in einem offenen politischen Diskurs als Kompromiss konkurrierender Werthaltungen und unterschiedlicher Denkmuster mit dem primären Ziel zustande, Sicherheit und äußere Freiheit des Menschen zu schützen. Diese (begrenzte) Zielsetzung trägt der mühsam erarbeiteten Erfahrung Rechnung, dass man sich nicht (mehr) auf ein universell gültiges Wertesystem verständigen kann. Daher muss man sich auf sachgerechte Verfahren zur Entwicklung von Normen und Institutionen einigen. In weltanschaulich pluralistischen Gesellschaften bleibt für die Normgeltung nur die »Legitimation durchVerfahren«.55 Zur inneren Gesinnung des Menschen sollen Staat und Recht grundsätzlich nicht vordringen.
• (Individual-)moralischeNormen hingegen entstehen auf evolutionärem Wege, ihre Entstehung ist nicht an Verfahren gebunden. Sie wollen die Interaktionen der Menschen »nach Werten, nach inhaltlichen Vorgaben, nach Gründen und Zielen« beeinflussen.56 Moral hat die Funktion, die Orientierung des Individuums zu sichern und Wertmaßstäbe an die Hand zu geben. Sie entbehrt zwar des äußeren Zwanges, doch nimmt sie den Einzelnen dafür hinsichtlich seiner inneren Beweggründe in die Pflicht.57
Allerdings gilt diese strikte Trennung gerade nicht für das (Wirtschafts-)Strafrecht, denn hier fragen Politiker und die staatlichen Organe der Strafverfolgung zur Ermittlung von Schuld gerade auch nach Beweggründen und Motiven von Delinquenten.
1 Zu dieser Differenzierung vgl. B. Schäfers, 2016, S. 33; W. Frankena, 1975, S. 23 f.; G. Patzig, 1971, S. 9 ff.
2 Die »soziale Kontrolle« basiert nach A. Nöckel, 2012, S. 77 f. auf drei Elementen: »soziale Norm«, »soziale Kontrolle« und »soziale Sanktion«.
3 Grundlegend dazu G. Jellinek, 1908, S. 45.
4 BVerfGE 2 BvR 392/07, 2008, Nr. 4.; R. Hefendehl, 2006, S. 120 bezeichnet das Aufgabenfeld des Strafrechts eindrücklich als »Ultima-Ratio-Schutz elementarer Rechtsgüter«.
5 Vgl. dazu D. Schmidtchen, 2002, S. 5. Die USA kennen das Konzept der punitive damages, der beide Rechtsanliegen miteinander verknüpft; vgl. dazu Kapitel 10.3.3.2.
6 O. Höffe, 2004, S. 79 ff.
7 Vgl. K. Boers et al., 2004, S. 116; instruktiv die ökonomische Analyse bei D. Schmidtchen, 2002, S. 6, S. 13 f.
8 Zusätzliche rechtliche Sanktionsdrohungen verdrängen die intrinsische Motivation der Gesetzesunterworfenen zur Einhaltung des Rechts und bewirken häufig das Gegenteil dessen, was sie intendieren. Vgl. E. Burkatzki / A. Löhr, 2008, S. 16 f.
9 Zur ideengeschichtlichen Einordnung B. Noll, 2010, S. 179.
10 Diese Position geht zurück auf den Philosophen Immanuel Kant; dazu B. Noll, 2010, S. 179.
11 E. Hilgendorf, 2001, S. 75; H. Alwart, 2007, S. 9; H. Müller, 2008, S. 223 ff. K.-D. Bussmann, 2016 a, S. 53 zeigt, dass hinter den wirtschaftsstrafrechtlichen Verbotsnormen Werte stehen, z. B. darf man niemanden korrumpieren, Marktmacht nicht missbrauchen, geistiges Eigentum nicht missachten, etc.
12 Allerdings ist nicht ausgeschlossen, dass Rechtsnormen als unmoralisch und Moralnormen als rechtswidrig angesehen werden können. So wurden gleichgeschlechtliche Beziehungen bis 1969 unter Strafe gestellt, wofür es auch zuvor keine ethische Rechtfertigung gab, wie umgekehrt manche Gesellschaften Genitalverstümmelungen als religiös geprägte Norm praktizieren, die in Deutschland eine Straftat darstellt.
13 H. Alwart, 2008, S. 98.
14 H. Alwart, 2007, S. 3.
15 Bisweilen wird zwischen »crimen mala in se« und »crimen mere prohibita« unterschieden: Während sich die erste Kategorie auf Straftaten bezieht, die sofort als Unrecht erkennbar sind, setzt die zweite, zu der weite Teile des Wirtschaftsstrafrechts gehören, die Entscheidung des Gesetzgebers voraus, ein bestimmtes Verhalten als strafbares Unrecht zu sanktionieren. Vgl. dazu H.-J. Albrecht, 2016, Sp. 1735; S. Werner, 2014, S. 105.
16 H. Alwart, 2008, S. 105 f.; ders., 2007, S. 13.
17 Ob man damit ein Strafwürdigkeitsurteil verbinden sollte, ist umstritten; vgl. dazu Kapitel 6.4.2.
18 Vgl. B. Noll, 2013, S. 44 ff.; D. Enste / J. Wildner, 2015, S. 5; L. Schöttl, 2018, S. 9 und M. Schüz, 2017, S. 18 zur Wirtschaftsethik. H. Alwart, 1998, S. 77 ff. zum Wirtschaftsstrafrecht; B. Schäfers, 2016, S. 24 zur Soziologie und B. A. Nijstad / D. van Knippenberg, 2014, S. 440 für die Sozialpsychologie.
19 Vgl. dazu genauer in Kapitel 4.2.
20 E. Burkatzki / M. Mistela, 2011, S. 297.
21 Diese Auffassung ist nicht unstrittig; dazu mit weiteren Nachweisen B. Noll, 2015, S. 21 f.
22 Dazu S. Grüninger, 2014, S. 41.
23 Ob und inwieweit Unternehmen als Akteure moralische oder strafrechtliche Verantwortung übernehmen sollten, wird abgehandelt bei B. Noll, 2015, S. 21 ff.
24 Die Legitimation von Institutionen als sozialintegrative Kraft erfolgt in der Moderne durch Rechtfertigung und basiert im Kern auf dem Reziprozitätsprinzip. Vgl. F. Krebber, 2016, S. 24 f. Zur Übertragung des Legitimitätskonzepts auf Organisationen ebenda, S. 64 f.
25 Deutsche Shell, 1995, S. 19.
26 Dazu sogleich im Text.
27 G. Kirchgässner, 2013, S. 190.
28 Unter Institutionen werden die Regelwerke eines Spiels, unter Organisationen die Akteure des Spiels verstanden. So auch S. Voigt, 2009, S. 96. Vgl. ausführlicher unten Kapitel 9.4.2.
29 Vgl. dazu S. Voigt, 2009, S. 169 ff.; M. Leschke, 2005, S. 173 ff.
30 D. Frehsee, 1997, S. 5.
31 B. Noll, 2013, S. 286 ff.; E. Burkatzki, 2009, S. 16; D. Frehsee, 1997, S. 44.
32 S. Wheeler, 1992, S. 118 kennt deswegen auch so genannte ideological crimes, bei denen der ideologisch motivierte Protest Grund für die Übertretung der Rechtsnormen ist. Vgl. Kapitel 4.3.3.3.
33 M. Leschke, 2005, S. 176; grundlegend dazu S. Voigt, 2009, S. 76 ff.
34 Vgl. dazu B. Noll, 2010, pass.
35 Vgl. dazu E. Burkatzki, 2012, S. 77.
36 Vgl. dazu N. Herold, 2012, S. 43 ff.
37 Symptomatisch dafür die Einschätzung von E. Soltes, 2016a: »David Myers, the former controller of WorldCom, recalled thinking that he was ›helping people and doing the right thing‹ while perpetrating one of the largest accounting frauds in history.«
38 Vgl. B. Noll, 2013, S. 137 ff. Vgl. auch Kapitel 8.4.1.
39 Vgl. dazu genauer unter Kapitel 5.3.
40 Zu den Konsequenzen der Arbeitsteilung zwischen Unternehmen und Strafverfolgungsbehörden vgl. H. Hedayati / H. Bruhn, 2015, S. 1 und pass. Vgl. auch Kapitel 6.6.1.
41 K.-D. Bussmann, 2011, S. 66 f.
42 R. Hefendehl, 2004, S. 23; W. Hetzer, 2008, S. 20.
43 V. Hösle, 1997, S. 843; H. Popitz, 1968, S. 3 f.; das bedingt Notwendigkeit und Bedeutung eines Compliance-Management-Systems (CMS) in der Praxis. Vgl. dazu Kapitel 8 und B. Boemke et al., 2012, S. 93 f.
44 Dazu D. Frehsee, 1997, S. 18; K. F. Röhl, 2012, S. 234 und K.-D. Bussmann, 2016 a, S. 50.
45 H. Popitz, 1968, S. 17 und pass.; A. Diekmann / W. Przepiorka / H. Rauhut, 2011, S. 75; D. Frehsee, 1991, S. 40 ff.
46 B. Noll, 2013, S. 306; vgl. dazu auch M. Körner / H. Strotmann, 2006, S. 57 ff.
47 Zuzugestehen ist, dass diese Grenze kaum zuverlässig bestimmbar ist. M. Tietzel / M. Weber, 1991, S. 132.
48 Ausführlicher dazu B. Noll, 2013, S. 25 f.; eingehend zu Abgrenzungsproblemen E. Hilgendorf, 2001, S. 73 ff.
49 K. Homann, 2014, S. 47; H. Schneider, 2009, S. 67.
50 Einen kritischen Überblick gibt B. Noll, 1997, S. 618 ff.; H. Alwart, 2008, S. 107.
51 Vgl. dazu K. Lüderssen, 1981, S. 197.
52 B. Noll, 2011, S. 114. Nicht nur das verteilungspolitische Anliegen bei dieser genuin privatrechtlichen Frage war verfehlt, auch war schon vor Erlass der Regeln absehbar, dass diese an der Spreizung der Gehaltsstrukturen wenig verändern würden. Die Politik praktizierte also eine Art Window Dressing.
53 H. Alwart, 2008, S. 102; ders., 2007, S. 19. Dazu auch Kapitel 6.3.
54 Vgl. die Diskussion bei H. Schneider, 2009, S. 62 ff. Der langjährige Staatsanwalt H. Richter beklagt die Neigung des Gesetzgebers, »immer mehr Pflichtverletzungen unter Strafe zu stellen«. Vgl. ders., 2015, S. 4.
55 Grundlegend N. Luhmann, 1969. Ähnlich K. Homann, 1999, S. 57; kritisch C. Hirschi, 2014.
56 H. A. Wolf, 2014, S. 12.
57 B. Noll, 2010, S. 179 mit weiteren Nachweisen.
(1) Es gibt keinen Konsens darüber, was unter Wirtschaftskriminalität zu verstehen ist. Im § 74 c Abs. 1 des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG) werden zwar gewisse Deliktarten, die besondere Kenntnisse des Wirtschaftslebens erfordern, dem Wirtschaftsstrafrecht zugeordnet und folglich vor einer Wirtschaftsstrafkammer verhandelt.1 Doch ist diese gesetzliche Zuweisung primär organisationsrechtlichenZweckmäßigkeitsgründen geschuldet. Damit lässt sie entscheidende Fragen unbeachtet:
• Sie unterlässt zum einen die normative Klärung der materiellen, inhaltlichen Kriterien, wonach ein Verhalten im Wirtschaftsverkehr mit dem Diktum der Strafwürdigkeit zu belegen ist. Es gibt augenscheinlich keine eindeutige »Typisierung oder Typisierbarkeit des Unrechts«2 für ein marktwirtschaftliches System.
• Es gibt auch keine überzeugende Abgrenzung des Wirtschaftsstrafrechts vom allgemeinen Strafrecht, wenn man berücksichtigt, dass kriminelles Handeln sehr häufig von wirtschaftlichen Motiven angeregt wird oder sich in wirtschaftlichen Kontexten vollzieht. Es macht jedoch wenig Sinn, jegliches sozialschädliche Verhalten mit wirtschaftlichen Bezügen unter Wirtschaftskriminalität subsumieren zu wollen. So können zwar manche alltagskriminelle Delikte wie der Ladendiebstahl oder der Wohnungseinbruch als wirtschaftlich motivierte »Geschäftsmodelle« interpretiert werden, doch wird man hier kaum von Wirtschaftskriminalität sprechen, wenn man den Begriff nicht völlig eines Bedeutungsgehalts entleeren will.3 Umgekehrt ist Betrug ein typisches und häufiges wirtschaftskriminelles Delikt, doch deshalb wird man nicht jeden Betrug als Wirtschaftskriminalität einordnen können, wie z. B. den Heiratsschwindel, den Bettel- oder Spendenbetrug.4
(2) Die Schwierigkeit mit der Begriffserklärung resultiert u. a. daraus, dass manche Delikte unstrittig und ausschließlich zur Wirtschaftskriminalität zählen wie z. B. Verstöße gegen das Kartell- oder das Insiderhandelsverbot. Dies sind wirtschaftsordnungsabhängige Straftaten. Nur in einer Wettbewerbswirtschaft kann es Straftaten gegen den Wettbewerb und Börsenstraftaten geben. Daneben gibt es aber auch ordnungsunabhängige Delikte, die wie ein Betrug oder Untreue jeder im Alltag begehen kann und damit zum allgemeinen Strafrecht gehören, die aufgrund spezifischer zusätzlicher Merkmale dann aber auch zum Deliktbereich Wirtschaftskriminalität gerechnet werden. Doch wo verlaufen die Grenzen zwischen Wirtschaftskriminalität zu anderen Formen der Kriminalität?
(3) Hier sollen zwei verschiedene Zugriffsmöglichkeiten gewählt werden, um sich den Charakteristika derWirtschaftskriminalität anzunähern: Der begrifflich-systematischen Herangehensweise wird eine sozialgeschichtliche und eine ordnungspolitische Perspektive vorangeschickt, um Komplexität und Relativität der Wirtschaftskriminalität zu verdeutlichen.
• Der sozialgeschichtliche Zugriff soll aufzeigen, dass dolose Verhaltensweisen keine »Erfindung« der Moderne oder »des« kapitalistischen Systems sind, sondern bis in die Antike zurückreichen. Dabei wird zugleich deutlich, dass wirtschaftskriminelle Praktiken kein Randphänomen gesellschaftlicher Außenseiter sind, sondern bis tief in die Mitte der Gesellschaft reichen.
• Mit dem ordnungspolitischen Zugriff soll die Relativität des Konzepts »Wirtschaftskriminalität« aufgezeigt werden. Was wirtschaftskriminelles Verhalten bedeutet, kann in zentralen Teilen nur im Kontext einer realisierten Wirtschaftsordnung bestimmt werden. Es besteht mithin eine Abhängigkeit von den sich im Zeitablauf ändernden Auffassungen über die angemessene wirtschaftliche, soziale und religiöse Ordnung, die wiederum verknüpft ist mit spezifischen Denkmustern und Werthaltungen.5 Daher zeigt sich, dass manche Verhaltensweisen in gewissen Epochen sozial erwünscht waren oder akzeptiert wurden, in anderen jedoch der Kriminalisierung anheimfielen.6
Diese beiden sich ergänzenden Annäherungsweisen ermöglichen es aufzuzeigen, welche Rolle wirtschaftsordnungsabhängige und unabhängige Deliktformen im Bereich der Wirtschaftskriminalität spielen.
(1) Das Phänomen »Wirtschaftskriminalität« ist so alt wie die Menschheit – wenn auch vermutlich nicht immer so variantenreich wie heute.7 Doch auch in vormoderner Zeit war der Mensch bei Erlangung illegitimer Ziele oder dem Einsatz dubioser Mittel erfinderisch. Das lässt sich am Beispiel der Korruption, d. h. dem Missbrauch anvertrauter Macht zum persönlichen Vorteil, besonders deutlich zeigen: Alte Schriftzeugnisse dokumentieren, dass sowohl in der ägyptischen Pharaonenzeit vor mehr als 3000 Jahren wie auch in Babylon unter Hammurabi (1750 v. Chr.) Korruptionspraktiken eine wichtige Rolle gespielt haben. Und in einem der ersten Bücher des Alten Testamentes, dem Buch Exodus, wird die Warnung ausgesprochen: »Du sollst dich nicht bestechen lassen; denn Bestechung macht Sehende blind und verkehrt die Sache derer, die im Recht sind.«8 Ein indischer Staatstheoretiker aus dem 4. Jahrhundert vor Chr. unterschied bereits sorgfältig 40 Formen, in denen ein Beamter der Versuchung zur Bestechung erliegen könne.9 Korruption war verbreitet in den griechischen Stadtstaaten, im antiken Rom wie im Mittelalter. Das römische Reich kennt aber auch schon die strafrechtliche Bekämpfung der Beamtenbestechung.10
Von Korruption ist auch der Aufstieg des Jakob Fugger (1459 – 1525) zum frühneuzeitlichen »Weltunternehmer« gekennzeichnet. Mit großzügigen Geschenken und Wahlkampfhilfen wurden die Mächtigen gewogen für die eigenen Interessen gestimmt und sorgten für Adelstitel, ertragreiche Kreditgeschäfte, Monopolrechte und Privilegien an Bergwerken und Ländereien.11 Die Simonie, d. h. der Handel mit lukrativen geistigen Ämtern, dokumentiert schließlich, dass auch die Kirche vor Korruptionspraktiken nicht verschont blieb.12 Im 18. oder 19. Jahrhundert standen preußische Beamte zwar im Sold des Königs, doch hatten diese sich zum Teil von so genannten Sporteln zu ernähren. Sporteln waren Vergünstigungen in Geld oder Naturalien, die der Beamte vom Empfänger einer Dienstleistung erhielt. So konnten Professoren erwarten, dass sich Gutsbesitzersöhne unter ihren Studenten nach erfolgreichem Examen mit gut gemästeten Gänsen bedankten.13 Der heikle Zusammenhang zwischen dem Erfolg des Examens und der Zahl und Größe der Gänse wurde nicht problematisiert. Mit der Industrialisierungsepoche wurde aus einem zunächst primär in der politischen und kirchlichen Sphäre beheimateten Phänomen auch ein die Wirtschaft infizierendes Delikt, mit dem sich seitdem vor allem Einkaufs- und Vertriebsabteilungen von Unternehmen auseinandersetzen müssen.
(2) Korruption ist sicher eine besonders prägnante Deliktkategorie, doch lässt sich eine lange Geschichte der Wirtschaftsdelinquenz auch an anderen Deliktarten aufzeigen. So ist z. B. die Neigung zur Beschränkung des freienHandels ähnlich alt wie die Neigung zum Handel überhaupt. Preisabsprachen, Marktaufteilungen und Behinderungspraktiken finden sich in vorchristlicher Zeit bei allen wichtigen Handelsnationen wie Phöniziern, Arabern, Babyloniern oder Chinesen.14Adam Smith konnte deshalb 1776 auf Basis reicher historischer Anschauung formulieren: »Geschäftsleute des gleichen Gewerbes kommen selten, selbst zu Festen und zur Zerstreuung, zusammen, ohne dass das Gespräch in einer Verschwörung gegen die Öffentlichkeit endet oder irgendein Plan ausgeheckt wird, wie man die Preise erhöhen kann.«15 Nicht nur die von Smith gebrandmarkte »zünftlerisch-genossenschaftliche« Triebfeder, sondern auch die »obrigkeitlich-merkantilistische« Tradition, nach der die heimischen Unternehmen vor auswärtiger Konkurrenz geschützt werden sollten, zieht sich wie ein roter Faden durch die Wirtschaftsgeschichte. Berühmt geworden ist das sog. Alaunkartell aus dem Jahre 1470 zwischen König Ferdinand von Neapel und Papst Paul II., den beiden größten Grubenbesitzern jener Zeit. Die Einhaltung der Preisabsprachen wurde strikt und umfassend kontrolliert – in ökonomischen Angelegenheiten war augenscheinlich auch der Katholischen Kirche nicht zu trauen! – und nach außen faktisch mit kirchlicher und hoheitlicher Gewalt gegenüber Außenseiterkonkurrenz durchgesetzt, indem den Christen eingeschärft wurde, keine türkische Ware zu kaufen. Da man auf die Wirkung dieser moralischen Appelle nur begrenzt vertraute, wusste man zur Bekämpfung der lästigen Mitwettbewerber noch eine weitere Abhilfe: Die Schiffe, die aus dem Orient kamen und Alaun transportierten, durften sanktionslos gekapert werden.16
(3) Weitet man die Perspektive, dann wird man zahlreiche weitere historische Geschehnisse als Ausprägungen wirtschaftskrimineller Handlungen interpretieren können. So waren die unzähligen Kriege von der Antike bis ins 21. Jahrhundert häufig nichts anderes als durch Habgier motivierte Beutezüge.17 Auch das Rittertum des Mittelalters entsprach wenig dem Idealbild des »edlen« Ritters mit den damit in Verbindung gebrachten Tugenden von Treue, Mut und Tapferkeit. Vielmehr betrieben sie ihre Fehden, um Lösegeld zu erlangen, oder malträtierten die hörigen Bauern ihrer Widersacher, indem sie diese ausplünderten, ihnen das Vieh wegnahmen, ihre Häuser anzündeten und die Felder verwüsteten (= Raubritter).18 Habgierige Territorialfürsten, denen das Prägerecht für Münzen aus Edelmetall zustand, betrieben schon in der Antike Münzmanipulationen: Sie missbrauchten ihre Kompetenzen, indem sie den ursprünglichen Metallgehalt reduzierten, um ihre Verpflichtungen mit weniger edelmetallhaltigen Münzen zurückzahlen und die Gläubiger betrügen zu können. Ebenso kam es zu Münzfälschungen mit anschließenden Münzverrufungen, um die geldbesitzende Bevölkerung auf diese Weise zu »enteignen«.19 Auch die im 16. Jahrhundert einsetzende Einhegungspolitik (= enclosure movement) der Großgrundbesitzer und die Vertreibung der Kleinbauern von ihrem Land, mit der in Britannien wichtige Grundlagen der kapitalistischen Ökonomie gelegt wurden, kann als wirtschaftskrimineller Akt interpretiert werden.20 Die »Entdeckungsfahrten« der Westeuropäer, um andere Erdteile zu kolonialisieren, und die Ausbeutungspraktiken hartherziger Fabrikherren im 19. Jahrhundert setzen diese Linie der von Gier und Macht beschriebenen Geschichte fort. In all diesen Fällen dokumentiert sich der eigennützige Missbrauch ökonomischer Macht, sei es mittels Diebstahl, Raub, Erpressung, Kreditbetrug etc.
(4) Der kursorische Streifzug durch die Geschichte vermittelt einen Einblick in den Erfindungsreichtum und die » kriminelle Energie« in vormodernen Zeiten und lässt die Vermutung aufkommen, dass es schier unmöglich ist, Wirtschaftskriminalität klar und nachvollziehbar von anderen strafrechtlichen Delikten abzugrenzen. Vor allem aber wird erkennbar, was bereits der große Humanist Erasmus von Rotterdam (1466 – 1536) anprangerte: »Stiehlt einer ein Geldstück, dann hängt man ihn. Wer öffentliche Gelder unterschlägt, wer durch Monopole, Wucher und tausenderlei Machenschaften und Betrügereien noch so viel zusammenstiehlt, der wird unter die vornehmen Leute gerechnet. Wer irgendjemandem Gift verabfolgt, wird wie ein Giftmörder bestraft. Wer durch gepanschten Wein oder verdorbenes Öl das Volk vergiftet, geht frei aus.«21 Es gibt nach dieser Lesart augenscheinlich zwei Arten von Kriminalität, die schlichte, direkte und offenkundige Kriminalität der einfachen Leute, der Armen und Ungebildeten, gegen die seit jeher die Obrigkeit mittels strafrechtlicher Sanktionen in unnachgiebiger Härte vorgeht. Und es gibt die meist komplexere, weniger durchschaubare Wirtschaftskriminalität derMächtigenund Erfolgreichen, die mit zahlreicheren Opfern und weitreichenderen Schäden verbunden ist, die aber vielfach keine oder keine adäquaten Sanktionen nach sich zieht. Der amerikanische Ökonom David M. Gordon brachte diesen Unterschied Anfang der 1970er Jahre in folgender Weise auf den Punkt: »Poor people do not have the option to steal with a pen rather than with a gun.«22
(5) Seit Erasmus’ Statement sind mehr als 500 Jahre vergangen, aber die von ihm beklagten Ungerechtigkeiten und Ungereimtheiten bei Verfolgung von Wirtschaftskriminalität bestehen nach Auffassung vieler auch heute noch.23 Gerade in den letzten Jahren verfestigte sich die Auffassung in der öffentlichen Debatte, dass bei Kriminalisierung und Verfolgung eine auffällige Asymmetrie bestehe, frei nach dem Sprichwort: » Die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen.«24
• So sanktionieren deutsche Gerichte Bagatellvergehen scharf, die von einfachen Mitarbeitern begangen werden. So wurde bspw. eine Altenpflegerin fristlos entlassen, die sechs Maultaschen eingesteckt hatte, die nach dem Essen übriggeblieben waren. Auch dass dem Arbeitgeber kein messbarer Schaden entstanden war, weil die Maultaschen ohnehin weggeworfen worden wären, spielte als mildernder Umstand keine Rolle. Der Diebstahl habe das Vertrauensverhältnis zwischen Arbeitgeber und Mitarbeiterin zerstört. Ähnlich erging es einer Küchenhelferin, die nach Feierabend drei Fischbrötchen eingesteckt hatte, die hätten entsorgt werden sollen. Die Irrelevanz des wirtschaftlichen Schadens für den Arbeitgeber war für das Gericht unerheblich.25
• Andererseits drängte sich beim Umgang mit der Finanzmarktkrise der gegenteilige Eindruck auf. »Habgierige« und »verantwortungslose« Banker, Investmentfondmanager und Börsenhändler erzielten in fragwürdiger Weise enorme Gewinne auf Kosten von Kleinanlegern, Sparern und Immobilienbesitzern. Daher hätten viele gern das Strafrecht als ein Mittel der Krisen- und Konfliktbewältigung gesehen. Doch abgesehen von einigen staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsverfahren und eher marginalen Fällen spielten die Strafgerichte bei Aufarbeitung der Finanzmarktkrise keine Rolle.26 Darauf wird noch näher einzugehen sein.27
(6) In dem Thema Wirtschaftskriminalität steckt offensichtlich immer auch Sozialkritik an den herrschenden Verhältnissen, gleich ob es sich um feudalistische, sozialistische28 oder marktwirtschaftlich-kapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme handelt. Hierauf weist die Begrifflichkeit des amerikanischen Soziologen Edwin H. Sutherland hin, der mit seiner bekannten Studie zur » White Collar Criminality« (1939) gegen das verbreitete Vorurteil angehen wollte, dass Kriminalität allein in Teilen der Unterschicht, bei »Blue Collar Workers« vorkomme. Sutherland kann damit als Begründer der Wirtschaftskriminologie gelten, auch wenn seine Terminologie zur Bestimmung des Deliktfeldes inzwischen weiterentwickelt wurde.29 Als »White Collar Crime« bezeichnete er solche Straftaten »committed by a person of respectability and high social status in the course of his occupation.«30 Er weitete damit den Blick auf eine bis dato unbeachtete Tätergruppe und einen Bereich deliktischen Verhaltens, der lange ignoriert oder verharmlost wurde und daher unterbelichtet blieb:31 Die Kriminalität der Etablierten und Begüterten, die in einem anderen sozialen und beruflichen Umfeld als Unterschichtangehörige Gelegenheiten zu »Ausflügen in die Illegalität« besitzen.32 So schrieb Adolf Zybon 1972, dass den Wirtschaftsdelikten nicht nur die gesellschaftliche Ablehnung fehlt, »sondern allzu oft lösen sie sogar noch Bewunderung aus.«33 Das mag in manchen Bevölkerungsschichten bei Steuerhinterziehung oder Sozialmissbrauch auch heute noch so sein, überwiegend dürfte mit der Vielzahl der in den Medien dargestellten Fälle und der Anhebung der Kriminalstrafen und Bußgelder die Sensibilität der Gesellschaft gegenüber Wirtschaftskriminalität aber zugenommen haben.
(7) Das bisher skizzierte Bild von den »Two Faces of Deviance«, den »Crimes of the Powerless and the Powerful« weist allerdings eine beachtliche Lücke auf: Es fehlt die Kriminalität der breiten Mittelschichten. Detlev Frehsee spricht nicht ohne ironischen Unterton von der Kriminalität der »angepassten, der anständigen und braven Bürger.«34 Diese ist zumeist nicht planvoll und auf Dauer angelegt, sondern geschieht gleichsam nebenbei, erfolgt häufig bei Ausübung des Berufs. Deutlich wird dies bei der Versorgung der gesamten Familie mit Büromaterial aus dem Unternehmen, der Entwendung des Kaffeepulvers, des Kopier- und des Klopapiers aus den Bürogebäuden oder des Werkzeugs aus der betrieblichen Werkstätte für den privaten Gebrauch bis hin zur überhöhten Spesenabrechnung nach der Dienstreise. Sie dokumentiert sich weiterhin in zahlreichen unzulässigen Verquickungen zwischen privaten und dienstlichen Belangen, sei es bei unerlaubter privater Nutzung des Dienstfahrzeuges, des stundenlangen Surfens im Internet oder der Pflege der sozialen Netzwerke für private Zwecke.
Die Mittelschichtskriminalität führt allerdings über die im Unternehmen praktizierte Kriminalität hinaus, durchzieht vielmehr weite Bereiche des Alltagsverhaltens, sei es beim »Volkssport« Versicherungsbetrug, der Steuerhinterziehung, den vielfältigen Formen des Sozialmissbrauchs oder der Inanspruchnahme von Schwarzarbeit. Wenn in den letzten Jahren schätzungsweise allein drei Millionen Haushaltshilfen in Privathaushalten schwarzarbeiteten, so wird man von einem Massenphänomen sprechen müssen.35 Bedenkt man, dass bei sehr vielen Delikten Hilfe oder implizites Einverständnis Dritter hinzukommt, so schälen sich neue Kulturen im Umgang mit Normen und eine Fragmentierung von Normakzeptanz heraus.36 Der sozialgeschichtliche Streifzug führt zu der Erkenntnis, dass Kriminalität mit engen wirtschaftlichen Bezügen ein schichtenübergreifendes, ja ubiquitäres Phänomen ist.
Der ordnungspolitische Zugriff auf das Thema Wirtschaftskriminalität soll der Tatsache Rechnung tragen, dass die Wirtschaftsordnung durch externe Institutionen zu schützen ist, um die Erwartungen der am Wirtschaftsgeschehen Beteiligten zu stabilisieren.37 Und im Sinne einer positiven Generalprävention müssen diejenigen, die berechtigte Erwartungen enttäuschen, zur Normbekräftigung strafrechtlich sanktioniert werden. Da sich mit dem Aufbruch in die Moderne eine grundlegende ordnungspolitische Zäsur vollzogen hat, haben sich auch die Auffassungen über die durch das (Wirtschafts-)Strafrecht zu schützenden Institutionen dramatisch gewandelt.