Wirtschaftswende - Hans Holzinger - E-Book

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Hans Holzinger

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Beschreibung

Begrenzung, Einschränkung oder gar Schrumpfung sind als Angstbegriffe verpönt. Doch genau das werden wir brauchen, um die Ökosysteme nicht noch stärker zu schädigen. Ein anderes Wirtschaften ist dringend nötig, und es ist – wie der Transformationsforscher Hans Holzinger zeigt – auch möglich! Er beschreibt die Nichtnachhaltigkeit unserer aktuellen Wirtschafts- und Lebensweise, skizziert aber insbesondere die vielen Neuansätze in den Bereichen Energie und Ernährung, Mobilität und Stadt, Finanzen und Steuern sowie Unternehmen und Soziales. Zudem beschreibt er unterschiedliche makroökonomische Konzepte von Green Growth über Degrowth bis hin zu postkapitalistischen Entwürfen, die er in Bezug auf Plausibilität, Wünschbarkeit und Umsetzungschancen prüft. Die Stärke offener Gesellschaften sieht Holzinger im offenen Diskurs über plurale Zukunftsstrategien. Am Ende plädiert er für eine moderne Bedarfsökonomie, die die Stärke freier Märkte nutzt, zugleich aber die Grundbedürfnisse unter Einhaltung der ökosystemischen Grenzen in den Mittelpunkt stellt.

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Hans Holzinger

Wirtschaftswende

Transformationsansätze und neue ökonomische Konzepte im Vergleich

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

© 2024 oekom verlag, München oekom – Gesellschaft für ökologische Kommunikation mbH, Goethestraße 28, 80336 München +49 89 544184 – 200

www.oekom.de

Layout und Satz: le tex, xerif

Lektorat und Korrektur: Hans Holzinger

Umschlaggestaltung: Laura Denke, oekom verlag

Alle Rechte vorbehalten

ISBN: 9783987263682

DOI: //doi.org/10.14512/9783987263460

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Cover

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Inhaltsverzeichnis

Hauptteil

Inhaltsverzeichnis

Teil I:

Befunde

Kapitel 1:

Das Neue bricht sich Bahn

Kapitel 2:

Die Welt ist aus den Fugen

Anmerkungen

Teil IBefunde

Kapitel 1Das Neue bricht sich Bahn

Umsteuern, bevor es zu spät ist

Wenn ich in eine neue Stadt komme, habe ich immer das Klapprad dabei. Mit dem Rad lässt sich eine Stadt am besten erfahren – im doppelten Sinne. Bewusst wähle ich Routen abseits der Hauptverkehrsstraßen – kleine Gassen, Uferwege, Wege durch Parks und öffentliche Plätze. Zum Glück gibt es immer mehr Radwege abgeschirmt von den Straßen der Autos, auch wenn es noch viel zu wenig sind. In meiner Heimatstadt kenne ich diese bereits alle – einschließlich der Schleichwege und Abkürzungen. Warum erzähle ich das am Beginn dieses Buches?

Auf diese Weise unterwegs zu sein, zeigt mir, wie eine Stadt der Zukunft aussehen könnte. Frei vom Lärm und Gestank der Autos, genügend Platz für das Zufußgehen und Fahren mit dem Rad, viele Grünflächen, Bäume, Plätze zum Verweilen. Zugleich stehen diese Radwege als Symbol dafür, wie sich das Neue in den noch alten Strukturen ausbreitet. Das Neue entsteht in Nischen, verschafft sich Platz, nimmt an Gewicht und Attraktivität zu und lässt irgendwann das Alte veraltet aussehen.

Genau das ist die Rolle von Change Agents oder Pionier*innen des Wandels. Sie zeigen, dass alles auch anders sein könnte und anders werden kann. Diese Vorreiter können Individuen sein, die anders leben und arbeiten, sich sinnvoller ernähren, klimaschonend unterwegs sind. Es können Gruppen sein, die neue Projekte lancieren und im Kleinen erproben, was später im Großen umgesetzt werden kann. Oder Kommunen, die daran arbeiten, ihre Energieversorgung und die Mobilitätsstrukturen neu zu organisieren. Gesprochen wird nicht nur von Utopien, sondern auch von »Heterotopien«1 – von zahlreichen neuen Ver­suchen und Ansätzen an vielen Orten, die zum Nachahmen und Voneinander‐Lernen einladen.

Ist das nicht naiv, könnten Sie fragen? Es gibt wieder Krieg in Europa und im Nahen Osten, Arm und Reich in der Welt klaffen immer weiter auseinander, die Umwelt­krisen spitzen sich zu. Also Probleme genug! Haben wir noch genügend Zeit, auf den Durchbruch des Neuen zu vertrauen? In der Tat: In vielen Bereichen wie der Klimakrise oder dem Verlust der Biodiversität wird die Zeit knapper. Und die Rückkehr zur imperialistischen Geopolitik muss uns auch Sorgen bereiten. Das Neue hat es immer schwerer. Es braucht mehr Engagement, um sich durchzusetzen, als das Alte, das bereits bekannt ist und seine Interessen und Pfründe gut abgesichert hat.

Welt am Scheideweg

In der Geschichte gab es immer wieder Umbrüche – aufgrund neuer Tech­nologien, neuen Wissens, neuer sozialer Zusammenschlüsse. Die Abschaffung der Sklaverei, die Durchsetzung der Demokratie, mit Verspä­tung auch jene des Frauenwahlrechts, die Etablierung von Wohlfahrtssystemen – all diese Errungenschaften kamen nicht von heute auf morgen. Sie wurden vorgedacht, von kleinen Gruppen entwickelt und politisch eingefordert, bis daraus geschichtsmächtige Bewegungen wurden. Dasselbe gilt für die heute aktiven Umwelt‐ und Klimabewegungen, für die Bewegungen für ein anderes Wirtschaften, für die Umsetzung der Menschenrechte und jene der Tiere, für die hoffentlich wieder erstarkenden Bewegungen gegen die Renaissance des Krieges. Denn notwendig wäre »Erdpolitik«, wie Ernst Ulrich von Weizsäcker treffend formuliert hat; zurück ist jedoch die Geopolitik.2

Viele Menschen sind verunsichert – paradoxerweise gerade in den Wohlstandszonen. Viele haben Angst, etwas zu verlieren, auch wenn sie lange nicht verhungern. Aber mit dem Wohlstand steigen die Ansprüche, in gewisser Weise auch der Egoismus und das Besitzdenken. Rechte populistische Parteien nutzen die Unzufriedenheit aus, vereinfachen, schieben die Schuld auf die tatsächlich Armen, die Geflüchteten, die Arbeitslosen, die Zuwandernden. Und sie nutzen die Vertrauenskrise gegenüber den Institutionen – und schüren die­se zugleich.

Der Kapitalismus schien für Jahrzehnte gezähmt. Er wurde daher fälschlicherweise mit Freiheit und Demokratie gleichgesetzt. Doch das trügt. Ein System macht sich unangreifbar, wenn es sich als alternativlos darstellt und dazu noch schmückt mit Positivattributen wie Innovation oder Effizienz. Der Erfindergeist der vielen Start‐ups ist zu würdigen, doch viele neue Techno­logien basieren auf von den Staaten finanzierten Forschungs­pro­jekten, wie die US‑amerikanische Ökonomin Mariana Mazzucato zeigt.3 Zudem gilt der Staat als Krisenmanager letzter Instanz. Nicht erst die Finanzkrise und die Pandemie sowie der Ukrainekrieg haben gezeigt, dass wir in labilen Verhältnissen leben. Die Ausgrenzung all derer, die über keine Kaufkraft verfügen, war schon davor gang und gäbe. Zudem treibt der Kapitalismus eine unsere Lebensgrundlagen zerstörende Wachstums­maschi­nerie voran – gepaart mit einem Konsumversprechen, das alles andere als nachhaltig ist. Nachhaltig in dem Sinne, dass machbar für acht oder neun Mil­liar­den Menschen. Begrenzung, Einschränkung, Schrumpfung sind als Angstbegriffe in einer Kultur des Immer‐Mehr verpönt. Doch genau das werden wir brauchen, um die Ökosysteme nicht noch stärker zu zerrütten. Es geht nicht um Verzicht, denn verzichten können wir nur auf etwas, das uns im Grunde zusteht, wie die Nachhaltigkeitsökonomin Maja Göpel passend meint, sondern um Beschränkung.4 Ein anderes Wirtschaften ist nötig – und auch möglich. Die Fortschrittserzählung braucht eine andere Richtung.

Die Herausforderungen für das 21. Jahrhundert zusammengefasst: Abschaffung von Hunger und Armut, Schrumpfung des Luxuskonsums bei gleichzeitiger Fokussierung auf die Grundbedürfnisse aller Menschen, Abkehr von der hochmilitarisierten Geopolitik, Klimaneutralität spätestens bis 2050, Übergang zu Kreislaufwirtschaften sowie Regeneration der Ökosysteme durch eine naturnahe Landwirtschaft und zukunftsverträgliche Produktionsweisen. Dazu brauchen wir auch erneuerte politische Institutionen.

Die Welt ist voller Lösungen

Kommen wir zurück zu den Hoffnungen. Diese knüpfen an bei den Umweltkrisen. So wie sich meine Generation in jungen Jahren durch einen drohenden Atomkrieg um die Zukunft betrogen fühlte, so steht nun die heutige junge Generation auf, um gegen die Zerstörung ihrer Zukunft aufgrund der ökologischen Krisenzuspitzungen zu protestieren. Es wirkt beinahe kitschig: Eine junge Schülerin, die nicht in der Lage war, zu verdrängen, was die Klimakrise für die Menschheit bedeutet, begann sich mit einem Schulstreik von ihrer Ohnmacht zu befreien. Und sie löste eine Ket­tenreaktion aus – es entstand eine neue, junge Klimabewegung. Wachsen konnte diese aber nur, weil es schon seit Jahrzehnten Warnungen aus der Klimaforschung gab, also das Wissen über die Gefahren da war, aber weitgehend verdrängt wurde. Ebenso gibt es zahlreiche Initiativen und Bewegungen, die sich für Menschenrechte, Tierrechte, den Schutz von Wäldern, eine naturnahe Landwirtschaft, lebens­werte Städte, eine lebensfreundliche und lebensdienliche Wirtschaft einsetzen. Diese Gruppen erscheinen noch übertönt zu werden vom Lärm des Konsumismus, aber sie sind der kriti­sche Stachel und der Fingerzeig darauf, dass vieles nicht stimmt, dass vieles auch anders sein könnte und müsste.

»Die Welt ist voller Lösungen« – so der schöne Untertitel des inspirierenden Films »Tomorrow« über Menschen, die Neues gewagt haben und damit Realität in ihren Möglichkeiten verändern.5 Porträtiert wird etwa der Kopenhagener Stadtplaner Jan Gehl, der mit seinem Team die Städte zurück an die Fußgänger und Rad­fahrenden gibt. Vorgestellt werden Perrine und Charles Hervé‐Gruyer, Betreiber der Bec‐Hellouin‐Farm in der Normandie, die mit Permakultur auf kleinem Raum große und vielfältige Ernten erreichen, sowie der Schotte Rob Hopkins, Ausbilder für Permakultur und Begründer der Transition‐Town‐Bewegung. Michelle Long, so eine weitere vorgestellte Persönlichkeit, ist Geschäftsführerin der »Business Alliance for Local Living Economies« und hat in Belligton im US‑Bundesstaat Washington ein Netzwerk von über 700 lokal vernetzten Unternehmen gegründet.

Auch Projekte aus dem globalen Süden werden vorgestellt: Elango Rangaswamy, der ehemalige Bürgermeister von Kuttham Bakkam in Indien, hat mit »Demokratie von unten« Dorfgemeinschaften wiederbelebt und damit wirtschaftliche und soziale Potenziale zur Entfaltung gebracht. Der aus Algerien stammende Philosoph und Landwirt Pierre Rabhi setzt sich für eine Gesellschaft ein, die respektvoller mit den Menschen und der Natur umgeht. Er unterstützt eine Agrarökologie und Anbaumethoden, die Respekt vor der Umwelt zeigen. In zahlreichen Ländern des Südens hat er Projekte gegen Desertifikation und Wasserverknappung umgesetzt.

Der Film »Tomorrow« zeigt, dass es an vielen Orten Menschen gibt, die neue Wege jenseits der ökologisch und sozial destruktiven Entwicklung des gegenwärtigen Konsum‐ und Wachstumsimperativs gehen. In der »Karte von morgen« werden Change‐Maker‐Initiativen vorgestellt.6 Der »Right Livelihood Award« zeichnet Menschen und Bewegungen aus, die sich ganz praktisch für die weitere Bewohnbarkeit der Erde sowie für Menschenrechte einsetzen.7 Der »Environmental Justice Atlas« zeigt weltweit Gruppen auf, die sich gegen Natur‐ und Umwelt­zerstörung vor ihrer Haustüre zur Wehr setzen.8 Mit diesem Buch möchte ich Kon­zepte und Ent­würfe aus Wissenschaft, Zivilgesellschaft und in Anfängen auch der Politik zur Diskussion stellen, die die Transformation zum Ziel haben. Die also den Versuch wagen, den Wandel systemisch anzugehen. Denn: So wie die vielen kleinen Projekte und Initiativen an vielen Orten erprobt werden müssen, sind die neuen Konzepte auch vorzudenken und zu modellieren, damit sie abgerufen werden können, wenn die Zeit reif dafür ist. Eine gute Zukunft für alle ist möglich, aber wir müssen uns von der alten Fortschrittserzählung des Immer‐Mehr verabschieden. Der Anthropologe Ronald Wright warnt: »Fortschritt hat eine innere Logik, die jenseits aller Vernunft in die Katastrophe führen kann.«9 Die Klimakrise zeigt uns dies deutlich.

Die Wirtschaft ist nicht alles, aber sie bestimmt wesentlich unsere Lebens‐ und Entfaltungsmöglichkeiten. In diesem Buch wende ich mich den Perspektiven eines anderen, lebensdienlichen Wirtschaftens zu. Der Begründung, warum es so nicht weitergehen kann, und Vorschlägen für eine neue planetare Buchhaltung (Abschnitt I) folgen Ausführungen zu den Grundlagen von Wirtschaft (Abschnitt II) sowie Transformationsansätze im Bereich unterschiedlicher Wenden (Abschnitt III). Danach werden neue makroökonomische Konzepte zu Green Growth, Degrowth und Postkapitalismus vor‐ und zur Diskussion gestellt (Abschnitt IV). Abschließend argumentiere ich, gleichsam in einer Synthese aus den vorgestellten Befunden und Neuansätzen, die aus meiner Sicht notwendige Befreundung mit einer modernen Bedarfs­­ökonomie in einer offenen Gesellschaft.

Kapitel 2Die Welt ist aus den Fugen

Kennzahlen der Unmenschlichkeit

Laut einer Studie der britischen Entwicklungsorganisation Oxfam besitzen die acht reichsten Menschen der Welt so viel wie die untere Hälfte der Weltbevölkerung. Fast zwei Drittel des seit Pandemieausbruch neu geschaffenen Vermögens wanderten in die Taschen des reichsten Prozents der Menschheit.10 Über zwei Billionen Dollar werden im Jahr für Rüstung und Militär ausgegeben,11 über 700 Milliarden Dollar für Wirtschaftswerbung.12 Zugleich gehen täglich 690 Millionen Menschen hungrig zu Bett, 30 Millionen Kinder sind stark unterernährt, so das World Food Programme der Vereinten Nationen.13 Die reichsten zehn Prozent der Weltbevölkerung stoßen 36 bis 45 Prozent der Treibhausgas‐Emissionen aus, das reichste ein Prozent ist für die Hälfte aller Flugemissionen verantwortlich.14 Milliardäre wie Rich­ard Branson und Jeff Bezos verursachen mit einem Flug ins All so viele Treibhausgas‐Emissionen wie ein Mensch der ärmsten Milliarde in seinem ganzen Leben.15 Das alles erscheint absurd und dennoch nehmen wir es hin.

Würde es Menschen auf einem anderen Planeten geben und diese würden uns besuchen, wären sie wohl ziemlich irritiert. Da leben die einen in Saus und Braus, prahlen mit ihren Luxus‐Yachten und fliegen mit ihren Privatjets um die Welt, während andere ihr Leben in Slums fristen. Die einen finden übervolle Supermärkte und Shoppingcenter vor, während andere verhungern oder auf der Flucht in der Wüste verdursten beziehungsweise im Meer ertrinken. Zu alledem bedrohen sich Gesellschaften, die nach fragwürdigen Grenzen voneinander getrennt sind und auch Mauern errichten, mit Unmengen an zerstörerischen Waffen. Und es gibt Gesellschaften, in denen werden Menschen hingerichtet, weil sie ihre Meinung geäußert haben. Menschen wird verwehrt, an Universitäten zu gehen, nur weil sie Frauen sind. Marsmenschen würden sich nur wundern!

Wahrscheinlich brauchen wir den Blick von außen, um zu erkennen, wie absurd all das ist. Ja, natürlich gibt es Menschen, die gegen diese Miss­stände auftreten. Sie werden toleriert oder auch nicht, dienen der Gewis­sens­beruhigung der Gleichgültigen. Das ist überzogen, denken Sie? Es will doch niemand bewusst, dass andere verhungern, dass wir unsere Lebensgrundlagen zerstören, dass Menschen befohlen wird, Krieg zu führen, ein­ander zu töten, dass die einen unvorstellbar reich sind und die anderen arm bleiben. Ja, das stimmt wohl.

Es fehlt an Wissen über die Zusammenhänge und an Vorstellungen, wie es anders gehen könnte. Es fehlt aber auch an Empathie und Solidarität in einer von Konsumversprechen und Entertainment übertönten Welt. »Auch du kannst es schaffen, wenn du dich genug anstrengst«, lautet die Devise. »Die Armen in den Ländern des Südens sind selbst schuld, wenn sie die Ärmel nicht hochkrempeln, so wie wir es getan haben.«

Man muss vorsichtig sein mit allzu großen Worten. Aber wir stehen in der Tat an einer neuen Zeitenwende. Denn erstmals in der Geschichte der Menschheit stehen nicht nur höchst ungerechte Zustände zur Disposition, sondern die »Bewohnbarkeit des Planeten«, wie es der Ökologe Bruno Latour ausdrückt.16 Zur sozialen kommt die ökologische Frage. Es geht um das Leben von und mit der Natur, um eine neue Beziehung zu allen Lebewesen auf der Erde, um die Erinnerung unseres Eingewoben‐Seins in die Naturverhältnisse. Es geht mit Heinz Bude um ein drittes »Wir«, welches über das eigene Nahfeld sowie die Solidarsysteme der Staaten hinausgreift, um eine Solidarität aller mit allen, da wir alle aufeinander angewiesen sein werden, wenn wir den Planeten für uns bewohnbar halten wollen.17

Wirtschaftsversagen trotz hoher Produktivität

Das Ziel von Wirtschaften ist, den Bedarf an Gütern und Dienstleistungen für alle Menschen zu sichern – in jeder nationalen Volkswirtschaft sowie global für alle Erdenbürger*innen, also aktuell für gut acht Milliarden Menschen. Gelingt dies nicht, dann sprechen wir von Wirt­schaftsversagen. Der Wirtschaftsjurist Toni Andreß bringt es auf den Punkt: »Während Vermögende ungefähr eine Billion Euro pro Jahr für Luxusprodukte, Staaten welt­weit über 1,5 Billionen für Rüstungsgüter und einige sehr Vermögende viele Milliarden für Trägerraketen zur Erschließung des Weltraums ausgeben, haben über 260 Millionen Kinder und Jugendliche keinen Zugang zu Bildungseinrichtungen und ca. 815 Millionen Menschen nicht genug Le­bens­mittel.«18 Das heute dominierende Wirtschaftssystem, der Kapitalismus, ist höchst produktiv. Der Ausstoß an Waren, die täglich die Fließbänder verlassen oder über die Einkaufsbänder rollen, ist gigantisch. Über 80 Millionen Autos werden jährlich produziert, das sind 1,5 Millionen pro Woche oder drei Autos pro Sekunde.19 Die Zahl der 2022 produzierten Computer beläuft sich auf über 230 Millionen, das entspricht sieben PCs pro Sekunde. Die Daten ließen sich auf viele der Tausenden von Produkten ausweiten, mit denen unser modernes Leben ausgestattet ist.

Die zunehmende Automatisierung der Produktion ermöglicht, dass immer mehr Produkte in immer kürzerer Zeit mit immer weniger menschlicher Arbeitskraft erzeugt werden können. Neue Technologien erlauben die Optimierung der Produktionsprozesse sowie der Vertriebswege, wie der boomende Onlinehandel zeigt (mehr siehe Kapitel 4: Produktionsweisen).

Wir leben ökologisch über unsere Verhältnisse

Immens ist auch die jährliche Produktion an Lebensmitteln. Diese würde reichen, um neun bis zehn Milliarden Menschen zu ernähren. Der Mensch braucht circa 2.300 Kilokalorien pro Tag, der Verbrauch liegt dividiert durch die Weltbevölkerung bei 2.900 Kilokalorien. Dennoch hungern Menschen, weil sie keinen Zugang zu Nahrung haben. Mitverantwortlich ist der Ernährungsstil der Wohlhabenden. Während in den ärmeren Ländern Fleisch nur zu besonderen Mahlzeiten aufgetischt wird, wenn überhaupt – ein großer Teil der Menschheit lebt noch immer weitgehend vegetarisch, ohne diesen Begriff je gehört zu haben –, steigt der Fleischkonsum mit dem materiellen Wohlstand stark an. Er hat sich seit den 1950er Jahren verdreifacht.20 80 Milliarden Tiere werden jährlich für den Verzehr durch den Menschen geschlachtet.21 Das Problem: Das an die Nutztiere verfütterte Getreide oder Soja fehlt den Menschen, die hungern.

Es gibt nicht nur mehr Menschen auf der Erde, sondern auch mehr Menschen, die sich mehr leisten können. Eine Erfolgsgeschichte, könnte man meinen. Warum ist dem nicht so? Dafür gibt es mehrere Gründe. In jedem Produkt – ob Lebensmittel, Computer oder Autos – stecken Rohstoffe und Energie, die für die Erzeugung und – im Falle der Energie – in vielen Be­reichen auch für den Gebrauch der Güter erforderlich sind. Der ökologische Rucksack eines Autos, das selbst eine Tonne wiegt, beträgt an die 20 Tonnen – Rohstoffe und Energie für die Herstellung, Treibstoff für den Betrieb, Aufwand für die Entsorgung. Ein Handy kommt auf einen Öko‐Rucksack von 75 Kilogramm.22 Zudem wird der Planet zur Müllhalde. Nur knapp neun Prozent der weltweiten Entnahme von Ressourcen werden aktuell wieder in den Wirtschaftskreislauf zurückgeführt – das meiste wird verbrannt beziehungsweise mehr oder weniger sorgsam deponiert.23

2,5 Milliarden Tonnen Abfall werden in den Ländern der Euro­päischen Union jährlich produziert. Der Großteil fällt dabei im Bereich Baugewerbe und Abbau von Rohstoffen an, gefolgt von Industrieabfällen. Über acht Prozent entfallen auf die Haushalte, also die sogenannten Siedlungsabfälle. Nicht einmal die Hälfte Letzterer werden dem Recycling zugeführt, so Daten des Europäischen Parlaments.24 Hochwertige Rohstoffe gehen im Bereich der Elektro(nik)­branche verloren. Weniger als 40 Prozent des gesamten Elektro‐ und Elektronikabfalls in der EU wird recycelt, der Rest wird nicht getrennt.25 Noch immer gelangt Elektronikmüll illegal auf Müllhalden in Ländern des Südens, wo verwertbare Metalle von Müllsammler*innen unter hohen gesundheitlichen Belastungen ausgebaut werden, wie die Nichtregierungsorganisation (NGO) Südwind aufzeigt.26 Der Steigerungswahn scheint keine Grenzen zu kennen. Am 6. Juli 2023 wurden laut flightradar erstmals 20.000 Flugzeuge gezählt, die zeitgleich um die Welt flogen.27 Das größte Kreuzfahrtschiff der Welt soll 2024 in den USA vom Stapel gelassen werden: Knapp 10.000 Personen haben Platz auf der »Icon of the Seas«. Das Schiff der Superlative wird 20 Sonnendecks, 16 Pools und eine Eishalle an Bord aufweisen, wie die Neue Züricher Zeitung berichtet.28

Drei Beispiele: Textilindustrie, Landwirtschaft, Baubranche

Beginnen wir mit der Textilindustrie: Jede Sekunde gehen weltweit etwa 600 Jeans über die Ladentheke. 4,3 Milliarden Meter Jeansstoff wurden 2022 dafür gewebt, eine Stoffbahn, mit der man die Erde einhundert Mal umwickeln könnte. Die Jeans ist das populärste Kleidungsstück der Welt. Doch in der Branche gilt sie auch als das schmutzigste, so »flip.de«. Die Jeans ist an sich ein robustes Kleidungsstück aus Baumwolle, nur die Art der Herstellung sowie der rasche Wechsel der Moden sind das Problem. »Bereits beim Anbau der Baumwolle werden Unmengen an Wasser verbraucht und giftige Pestizide eingesetzt. Die Menschen, die die Jeans herstellen, werden oft schlecht bezahlt. Und in den Wäschereien und Fabriken kommen so viele gefährliche Chemikalien zum Einsatz, dass inzwischen ganze Städte verschmutzt sind. Die Jeans steht somit auch stellvertretend für eine Fast‐Fashion‐Branche, die Mensch und Umwelt massiv schadet.«29

Die industrialisierte Landwirtschaft mit hohem Kunstdüngereinsatz laugt die Böden aus, Plantagenwirtschaft führt zur Abholzung der Regenwälder, Tiere werden in Massenställen unter unwürdigen Bedingungen gehalten. Weltweit gehen jährlich etwa zehn Millionen Hektar Ackerfläche verloren – eine Fläche von rund 14 Millionen Fußballfeldern. Ein Viertel der globalen Bodenfläche enthält heute schon deutlich weniger Humus und Nährstoffe als vor 25 Jahren oder lässt sich gar nicht mehr als Ackerland nutzen. Wesentliche Ursachen sind die Landgewinnung durch Abholzung, Brandrodung, Umbruch und eine intensive, nicht standortangepasste Landwirtschaft, warnt das deutsche Umweltbundesamt.30

Über fünf Millionen Hektar Wald gingen 2022 durch Abholzung verloren, noch mehr, nämlich 6,7 Millionen Hektar an fruchtbaren Böden durch Erosion.31 Aufgrund des Klimawandels und Fehlbewirtschaftung schreitet die Wüstenbildung voran. Die Überdüngung der Böden ist eine wesentliche Ursache für deren Auslaugung sowie den Eintrag von Stickstoff und Phosphor in die Gewässer. Zudem ist Kunst­dünger energieintensiv – pro Kilogramm ist ein Liter Erdöl erforderlich. An die 9,5 Millionen Tonnen giftige Chemikalien wurden 2022 in die Umwelt gepumpt. Sie zerstören die ökologischen Grundlagen.32

Wir kommen täglich mit Chemikalien wie zum Beispiel Lösungsmitteln, Farben und Lacken, Haushaltchemikalien, Weichmachern und Flammschutzmitteln aus Kunststoffen in Berührung. Die von Chemikalien ausgehenden Gefahren betreffen uns alle, so das Umweltbundesamt in Berlin weiter.33

Auch die Bautätigkeit ist ungebrochen: Milliarden von Tonnen mineralische Ressourcen werden jährlich dem Planeten entnommen – für Wohnungen, Industrieanlagen, Kaufhäuser, öffentliche Einrichtungen und Infrastrukturen. Über vier Milliarden Tonnen Zement wurden weltweit 2021 produziert und verbaut, der größte Teil davon in China.34 Die Erzeugung von Zement ist äußert energieintensiv und mit der Freisetzung von großen Mengen an CO2 verbunden. Nach Schätzungen ist die Zementproduktion für acht Prozent der weltweiten Treibhausgase verantwortlich.35

Die immense Bautätigkeit führt zu einem ungebremsten Flächenverbrauch, Flächen, die dem Anbau von Lebensmitteln entzogen werden. Allein in Deutschland beträgt der Flächenverbrauch durch Städte‐ und Straßenbau mehr als 70 Hektar pro Tag. Dies entspricht der Fläche von über 100 Fußballfeldern. Während Städte heute nur ein bis zwei Prozent der Erdoberfläche in Anspruch nehmen, werden sie 2050 etwa vier bis fünf Prozent belegen, eine Steigerung von 250 auf 420 Millionen Hektar. Weitere Agrarflächen müssen weichen, warnt der Bodenatlas der Heinrich‐Böll‐Stiftung.36 Der Experte Daniel Fuhrhop fordert daher: »Verbietet das Bauen.«37

Der Klimawandel schreitet voran

Der Ausstoß an klimaverändernden Treibhausgasen steigt trotz Klimaverhandlungen und Klimaschutzbeteuerungen weiter an. Über 40 Milliarden Tonnen CO2, dem wichtigsten Treibhausgas, werden jährlich emittiert. Tendenz steigend. Lediglich im ersten Coronajahr 2020 ist der weltweite Ausstoß um sieben Prozent gesunken – nicht aufgrund einer besseren Klimaschutzpolitik, sondern weil über Monate das Wirtschafts‐ und Alltagsleben heruntergefahren werden mussten. Um das 1,5‐Grad‐Ziel mit einer Wahr­scheinlichkeit von 70 Prozent zu erreichen, müssten wir die Treibhausgase in den nächsten 10 Jahren um jährlich jeweils sieben weitere Prozent reduzieren – es geschieht jedoch das Gegenteil. Alle Szenarien der Klima­forschung zeigen an, dass wir uns gefährlichen, irreversiblen Kipppunkten nähern, warnt der Meteorologe Sven Plöger.38 Hauptverantwortlich für den menschengemachten Klimawandel ist die Verbrennung von Erdöl, Erdgas und Kohle in unseren Fabriken, Automotoren und Häusern. 80 Prozent des Weltenergieverbrauchs basiert nach wie vor auf fossilen Energieträgern. Die energiebezogenen CO2‐Emissionen der G20‐Staaten stiegen 2021 um fast sechs Prozent an, zurückzuführen auf einen zunehmenden Energieverbrauch, insbesondere von Kohle und Öl, so das Jahrbuch 2023 »Globale Energie‐ und Klimastatistik«.39 Um die Klimaziele zu erreichen, müsste der Großteil der noch verfügbaren fossilen Rohstoffe jedoch unter der Erde bleiben. Dazu kommt, dass der Energieverbrauch nach wie vor global äußerst ungleich verteilt ist. Während der Pro‐Kopf‐Jahresverbrauch in den USA bei 77.500 Kilowattstunden liegt, in Deutschland bei etwa 42.000 und in Österreich bei 45.000, kommen Länder des globalen Südens auf etwa 10.000 Kilowattstunden (Bezugsjahr 2021).40

Resümee: Wir leben ökologisch mittlerweile weit über unsere Verhältnisse. Der auf fossiler Energie basierende Wirtschafts‐ und Konsumstil ist nicht zukunftsverträglich.

Die Früchte werden ungleich verteilt

Zum ökologischen Desaster kommt die ungleiche Verteilung des Erwirtschafteten. Die Welt könnte – wie gesagt – neun bis zehn Milliarden Menschen ernähren, doch fehlende Kaufkraft, fehlender Zugang zu Grund und Boden sowie zu besseren Technologien und Transportsystemen der agrarischen Bevölkerungen in den Ländern des Südens verhindern, dass die Lebensmittel bei jenen ankommen, die sie brauchen. Der zu hohe Kalorienverbrauch, insbesondere durch viel Fleisch, der einen führt zum Mangel bei den anderen. Laut Welternährungsorganisation FAO sind aktuell über 860 Millionen Menschen unterernährt. Zugleich nimmt die Fehlernährung zu. 1,7 Milliarden Menschen gelten als fehlernährt, über 800 Millionen gar als fettleibig. Verantwortlich dafür sind falsche Ernährungsgewohnheiten, aber vor allem das Angebot mangelhafter, weniger Nährstoffe, aber viel Zucker, Fett und Salz enthaltender industriell verarbeiteter Lebensmittel.41

Das erste Ziel der von der Staatenwelt 2015 verabschiedeten Sustain­able Develop­ment Goals gibt vor, den Hunger bis 2030 abzuschaffen – noch sind wir weit davon entfernt und die Frist, um das Ziel noch zu erreichen, wird immer kürzer. Nur drei Prozent der weltweit erzeugten Lebensmittel würden ausreichen, um die 13 Prozent mangelernährten Men­schen in der Welt zu versorgen, rechnet die Ökonomin Kate Raworth vor.42 Jean Ziegler, ehemaliger Sonderberichterstat­ter der Vereinten Nationen für das Recht auf Nahrung, spricht von einem »Imperium der Schande«.43

Doppelte Ausbeutung der Benachteiligten

Der Zugang zu Nahrung ist das elementarste Grundmenschenrecht, es geht aber auch um die Verteilung der weiteren Wirtschaftsgüter. Länder wie China, Indien oder Brasilien holen zwar auf, das Weltbruttosozialprodukt ist jedoch nach wie vor äußerst ungleich verteilt. Die globale Arbeitsteilung hält die Wohlstandsunterschiede hoch. Die Länder des Südens dürfen billige Rohstoffe und einfache Güter wie Textilien liefern, China und andere asiatische Länder produzieren High‐Tech‐Güter für den reichen Norden, wird in einem »Atlas der Globalisierung« ausgeführt.44

Die globale Wirtschaft wächst zwar, die Früchte dieses Wachstums sind jedoch sehr ungleich verteilt. 46 Prozent des Zuwachses der Weltwirtschaftsleistung gingen zuletzt an die fünf Prozent Reichsten der Weltbevölkerung. Ein Viertel der menschlichen Arbeit, des Verbrauchs an Ressourcen und Energie geht darauf, um die Taschen der zehn Prozent Reichsten weiter zu füllen, so der Wirtschaftsanthropologe Jason Hickel.45 Der Begriff »Globale Wirtschaft« ist daher trügerisch. Der Großteil der Investitionen, der Produktion sowie der Wertschöpfung und des Konsums gehen auf die Triade – USA, Europäische Union sowie China, Japan und einige asiatische Kleinstaaten.

Das kapitalistische Wirtschaftssystem hat im Zusammenspiel von innovativen Unternehmen, der Entwicklung neuer Techno­logien sowie der Entfesselung einer gigantischen Produktivkraft den Ausstoß an Waren und Dienstleistungen über Jahrzehnte exponentiell gesteigert. Es beruht aber auf einer doppelten Ausbeutung: von Menschen in den Billiglohnländern sowie jener der Natur. Zugleich verteilt es die Früchte des Erwirtschafteten immens un­gleich. Das führt zu einer doppelten Ungerechtigkeit: Jene, die am wenigsten vom Wirtschaftswachstum profitieren, leiden zugleich am stärksten unter der Naturzerstörung sowie den Folgen der Erderhitzung. Das dominierende, kapitalistische Wirtschafts­­system ist also weder fair noch nachhaltig.

Unser Wirtschaftssystem ist angebotsgetrieben

Produziert wird nicht für Menschen mit Bedarf, sondern für jene mit Kaufkraft. Bei gesättigten Märkten gibt es zwei Möglichkeiten: Erstens neue Märkte erschließen – diese liegen in den Transformationsländern. Zweitens neue Bedürfnisse schaffen mittels Werbung. Über 700 Milliarden Dollar werden weltweit für Werbung ausgegeben, wie bereits ausgeführt wurde. Bis 2024 sollen die globalen Werbeausgaben nochmals um eine weitere Milliarde Dollar ansteigen.46 Das Ziel: Menschen mit Kaufkraft neue Produkte schmackhaft zu machen, ihnen neue Schnäppchen einzureden. Es geht um eine »Ökonomie für die Satten, nicht für die Hungernden«, so der tschechische Ökonom Tomas Sedlacek.47 Wer hungert, braucht keine Werbung, sondern etwas zu essen.

Keine Frage: Wir Menschen in den Wohlstandsländern leben trotz Krisen wie der Verteuerung von Energie aufgrund des Krieges gegen die Ukraine sowie der Verteuerung von Produkten aufgrund von Lieferkettenproblemen im Zuge der Pandemie noch immer auf der Butterseite des Planeten. Und keine Frage: Der materielle Wohlstand ist mittlerweile auch in den reichen Ländern zu ungleich verteilt. Doch im Vergleich zu den Menschen außerhalb der Wohlstandszonen leben wir nach wie vor gut. Und wir jammern auf hohem Niveau.

Dennoch steigt die Unzufriedenheit der Menschen mit sich selbst, mit dem Leben sowie der Politik. Dafür gibt es mehrere Gründe. Zum einen steigt mit dem Wohlstand das Anspruchs­niveau – wir vergleichen uns mit unseresgleichen, nicht mit den Menschen in ärmeren Regionen oder mit unseren Vorfahren. Die Vergleichsfalle führt aber ins Unglück. Zum zweiten sind der materielle Wohlstand sowie das Rennen im Konsum‐Hamsterrad erkauft mit Stress und ungesunden Lebensrhythmen. Prekäre Arbeits­be­dingungen der einen, selbstauferlegter Optimierungszwang48 der anderen führen dazu, dass wir das Leben nicht genießen können. Flucht in den Konsum und in die bunten Entertainment‐Welten verschaffen kein wirk­liches Glück.49 Die Allgemeine Ortskrankenkasse in Deutschland zählte 2020 durchschnittlich 5,5 Arbeitsunfähigkeitsfälle je 1.000 Mitglieder aufgrund einer Burn‐out‐Diagnose. Damit hat sich die Diagnosehäufigkeit im letzten Jahrzehnt deutlich erhöht.50

Was ist zu tun?

Neue Technologien allein, etwa im Bereich erneuerbarer Energien, neuer Antriebe oder neuer Werkstoffe, werden nicht reichen, um die sich in diesem Jahrhundert rapide verschärfenden ökologischen und sozialen Krisen zu meistern. Die Ursachen sind systemisch bedingt. Der real existierende Kapitalismus führt in ein eklatantes Wirtschaftsversagen. Die Herausforderung besteht darin, ein Wirtschaftssystem zu gestalten, das neue Technologien und innovatives Unternehmertum nutzt, aber die Grundbedürfnisse aller Menschen in den Mittelpunkt rückt. Ich nenne das eine »moderne Bedarfsökonomie«. In einem ersten Schritt brauchen wir neue Ansätze einer planetaren Buchhaltung, die Wohlbefinden für alle mit den ökosystemischen Grenzen verbindet. Dazu mehr im folgenden Kapitel.

Zusammenfassung

Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist hochproduktiv, der weltweite Ausstoß an Waren und Dienstleistungen gigantisch. Doch das System ist sozial blind. Die Früchte des Wirtschaftserfolgs kommen nur begrenzt bei den weniger Begüterten an.

Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist zudem angebotsgetrieben. Produziert wird für Menschen mit Kaufkraft, nicht für Menschen mit Bedarf. Über 700 Milliarden Dollar wurden 2022 für Wirt­schaftswerbung ausgegeben. Doch wer hungert, braucht keine Werbung, sondern etwas zu essen.

In allen Gütern und Dienstleistungen stecken Naturressourcen und Energieverbrauch, was die Natur belastet. Die Lebensgrundlagen der Menschheit werden irreversibel zerstört. Der sich zuspitzende Klimawandel, das Auslaugen der Böden sowie der dramatische Verlust an Arten sind die augenscheinlichsten Beispiele. Der Konsum‐ und Wachstumskapitalismus ist somit auch ökologisch blind.

Dies führt zu einer doppelten Ungerechtigkeit. Jene, die am wenigsten am wirtschaftlichen Erfolg partizipieren, tragen am wenigsten zur Zerstörung der Lebensgrundlagen bei. Sie sind jedoch am vulnerabelsten und am meisten von den Folgen betroffen. Die Ironie dabei: Wirklich zufrieden sind auch wir in den Wohlstandsländern nicht.

Wenn wir die Sustainable Development Goals der Vereinten Nationen, die bis 2030 die Abschaffung von Hunger und Armut bei gleichzeitiger Beendigung der Naturzerstörung verlangen, ernst nehmen, müssen wir den Kapitalismus mit seinen Fehlanreizen zähmen. Notwendig ist eine moderne Bedarfsökonomie, die die Versorgung aller Menschen mit den Grundbedürfnissen in den Mittelpunkt stellt.

Anmerkungen

1

Welzer 2019

2

Weizsäcker 1997

3

Mazzucato 2015

4

Göpel 2020

5

Tomorrow – Die Welt ist voller Lösungen. Ein Film von Cyril Dion und Mélanie Laurant. https://www.tomorrow-derfilm.de/. Abgerufen am 2.1.2022.

6

Karte von morgen, https://www.kartevonmorgen.org/. Abgerufen am 2.1.2023

7

Right Livelihood Award, https://rightlivelihood.org/ Abgerufen am 2.1.2023.

8

Environmental Justice Atlas, https://ejatlas.org/. Abgerufen am 2.1.2023.

9

Wright 2012, S. 15.

10

Oxfam. https://www.oxfam.de/ueber-uns/aktuelles/soziale-ungleichheit-krisen-profite-reichstes-prozent-kassiert, www.oxfam.de/ueber-uns/aktuelles/2017-01-16-8-maenner-besitzen-so-viel-aermere-haelfte-weltbevoelkerung. Abgerufen am 26.1.2023.

11

SIPRI, https://www.sipri.org/media/press-release/2021/world-military-spending-rises-almost-2-trillion-2020. Abgerufen am 5.1.2023.

12

Statista.de, https://de.statista.com/statistik/daten/studie/74622/umfrage/prognose-der-werbeausgaben-weltweit/. Abgerufen am 5.1.2023.

13

WFP, https://www.wfp.org/stories/child-malnutrition-mounts-un-agencies-issue-call-action. Abgerufen am 28.1.2023.

14

Quelle IPCC, nach www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/geleakter-teil-des-ipcc-berichts-die-reichsten-zehn-prozent-verursachen-mehr-als-ein-drittel-der-treibhausgase-a-6d2e8438-7f3e-49bc-8967-4e3aeb6be585. Abgerufen am 28.1.2023.

15

Zit. n. Schilling 2022, S. 18 f.

16

Latour/Schultz 2022.

17

Bude 2019.

18

Andreß 2023, S. 43.

19

Worldometer, https://www.worldometers.info/ Abgerufen am 18.12.2022.

20

Our World in Data, https://ourworldindata.org/meat-production. Abgerufen am 18.12.2022.

21

Ebd.

22

Verbraucherzentrale Nordrhein‐Westfalen (2020): Der ökologische Rucksack. https://www.verbraucherzentrale.nrw/wissen/digitale-welt/mobilfunk-und-festnetz/oekologischer-rucksack-11539. Abgerufen am 2.1.2023.

23

Circular Gap Report 2022

24

Europäisches Parlament (2022): Abfallwirtschaft in der EU: Zahlen und Fakten. https://www.europarl.europa.eu/news/de/headlines/society/20180328STO00751/abfallwirtschaft-in-der-eu-zahlen-und-fakten. Abgerufen am 2.1.2013.

25

Europäisches Parlament (2020): Elektro‐ und Elektronikschrott in der EU: Zahlen und Fakten. https://www.europarl.europa.eu/news/de/headlines/society/20201208STO93325/elektroschrott-in-der-eu-zahlen-und-fakten-infografik Abgerufen am 2.1.2023.

26

Südwind: Verboten! Wen kümmert's? Europas ferne Elektroschutthalden. https://www.suedwind.at/handeln/aktionsteam/europas-ferne-elektroschrotthalden/ Abgerufen am 2.1.2023.

27

https://www.flightradar24.com/

28

https://www.nzz.ch/mobilitaet/maritimer-wahnsinn-aus-den-usa-zehn-absurde-fakten-zu-dem-groessten-kreuzfahrtschiff-der-welt-ld.1748051?kid=nl162_2023-7-21&ga=1&mktcid=nled&mktcval=162&reduced=true. Abgerufen am 21.7.2023.

29

https://letsflip.de/die-jeans-retter?utm_source=brevo&utm_campaign=Jeans_Aufschlag_Normalos&utm_medium=email# Abgerufen am 21.7.2023.

30

Umweltbundesamt (2015): Weltweit gehen jährlich 10 Millionen Hektar Ackerfläche verloren. https://www.umweltbundesamt.de/presse/pressemitteilungen/weltweit-gehen-jaehrlich-10-millionen-hektar. Abgerufen am 23.12.2022.

31

Worldometer, https://www.worldometers.info/ Abgerufen am 18.12.2022.

32

Ebd.

33

Umweltbundesamt: Chemikalien in der Umwelt. https://www.umweltbundesamt.de/daten/chemikalien/chemikalien-in-der-umwelt#undefined. Abgerufen am 2.1.2023.

34

Statista: Produktion von Zement nach den wichtigsten Ländern weltweit im Jahr 2021. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/153695/umfrage/produktion-von-zement-nach-laendern/ Abgerufen am 22.12.2022.

35

Gates 2021.

36

Chemnitz, Christine: An den Grenzen von Grüner Revolution und Bioökonomie. https://www.boell.de/de/2015/01/08/nutzung-den-grenzen-von-gruener-revolution-und-biooekonomie. Abgerufen am 23.12.2022.

37

Fuhrhop2015.

38

Plöger 2020.

39

https://energiestatistik.enerdata.net/gesamtenergie/welt-verbrauch-statistik.html. Abgerufen am 18.12.2023.

40

Ritchie, Hannah u. a. (2021): Global comparison: how much energy do people consume? https://ourworldindata.org/per-capita-energy. Abgerufen am 2.1.2023.

41

Worldometer, www.worldometers.info/; Fleischatlas, https://www.boell.de/de/fleischatlas, Abgerufen am 18.12.2022.

42

Raworth 2018.

43

Ziegler 2005.

44

Atlas der Globalisierung 2022.

45

Hickel 2022, S. 219.

46

Statista: Prognose der Werbeausgaben weltweit bis 2024. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/74622/umfrage/prognose-der-werbeausgaben-weltweit/#:~:text=Wachsender%20weltweiter%20Werbemarkt%20%2D%20trotz%20Corona,als%20761%2C5%20Milliarden%20Euro. Abgerufen am 21.12.2022.

47

Sedlacek/Tanzer 2015.

48

Girkinger 2023.

49

Binswanger 2019.

50

Statista: Depressionen und Burn‐out – Zahlen und Statistiken, https://de.statista.com/themen/161/burnout-syndrom/#topicOverview. Abgerufen am 21.12.2022.