Wissenschaftliches Arbeiten in Gesundheit und Pflege - Roswitha Ertl-Schmuck - E-Book

Wissenschaftliches Arbeiten in Gesundheit und Pflege E-Book

Roswitha Ertl-Schmuck

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  • Herausgeber: UTB
  • Kategorie: Fachliteratur
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Das wissenschaftliche Arbeiten muss jeder Studierende beherrschen – unabhängig vom Fachgebiet. Trotzdem gibt es von Fach zu Fach Unterschiede: Sie betreffen unter anderem die Themenfindung sowie die Literaturrecherche und -bewertung. Dieses Taschenbuch stellt das Wichtigste zum Wissenschaftlichen Arbeiten in Gesundheit und Pflege dar. Dabei wird großer Wert auf den roten Faden und die damit verbundene Argumentationslogik gelegt. Relevante Webseiten und Datenbanken werden zudem vorgestellt und auch die Bewertung und Prüfung von Inhalten aus dem Internet diskutiert. Das Buch richtet sich an Studierende der Gesundheits- und Pflegewissenschaft. Das Buch richtet sich zudem an Studierende in den Lehrämtern für die Berufsfelder Gesundheit und Pflege.

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Seitenzahl: 301

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Roswitha Ertl-Schmuck / Angelika Unger / Michael Mibs

Wissenschaftliches Arbeiten in Gesundheit und Pflege

UVK Verlag · München

Coverabbildung: © Goja1 ∙ iStockphoto

 

DOI: https://doi.org/10.36198/9783838556710

 

© UVK Verlag 2023— ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetztes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich.

 

Internet: www.narr.deeMail: [email protected]

 

Einbandgestaltung: siegel konzeption | gestaltung

 

utb-Nr. 4108

ISBN 978-3-8252-5671-5 (Print)

ISBN 978-3-8463-5671-5 (ePub)

Inhalt

Vorwort zur Neuauflage

Seit dem ersten Erscheinen dieser Publikation sind acht Jahre vergangen und eine überarbeitete und erweiterte Neuauflage wird erforderlich. Die starke Nachfrage hat diese Veröffentlichung inzwischen zu einem unersetzlichen Standardwerk für Studierende in Gesundheit und Pflege werden lassen. Die bewährte Grundstruktur des Buches, entstanden aus unseren Erfahrungen in der universitären Lehre, haben wir beibehalten. In dieser Überarbeitung richten wir unseren Blick auf aktuelle Entwicklungen der einschlägigen Diskurse in Gesundheit und Pflege. Die Änderungen sind einerseits der Dynamik gesellschaftlicher Entwicklungen und den damit einhergehenden Transformationsprozessen im Gesundheits- und Bildungswesen geschuldet, die eine enorme Wirkung auf die Akademisierung und Disziplinentwicklung in den Gesundheitsberufen zeigt. Andererseits werden zunehmend wissenschaftstheoretische Diskurse in den einschlägigen Disziplinen geführt, in denen die Spezifik von Handlungswissenschaften weiter ausdifferenziert wird. Diese beiden Stränge haben wir in der Überarbeitung aufgenommen.

Darüber hinaus sichteten wir das gesamte Manuskript hinsichtlich sprachlicher und stilistischer Verbesserungen sowie der Aktualität der verwendeten Literatur.

Wir danken Rainer Berger vom utb Verlag, der eine zweite aktualisierte Auflage anregte und unterstützte.

Oppenheim und Berlin im Juni 2023

Roswitha Ertl-Schmuck, Angelika Unger und Michael Mibs

Einführung

Publikationen zum wissenschaftlichen Arbeiten liegen in zahlreicher Form vor. So werden Sie sich fragen, weshalb ein weiteres Buch zu diesem komplexen Themengebiet erscheint. Gibt es nicht schon genügend davon? Diese Frage kann eindeutig mit einem Ja beantwortet werden. Dennoch sind wir der Meinung, dass eine Verknüpfung grundlegender Bestimmungen von Wissenschaft und wissenschaftstheoretischen Positionen mit Phasen des wissenschaftlichen Arbeitens im Kontext der Spezifik gesundheits- und pflegeberuflichen Handelns bzw. pädagogischen Handelns bislang nur rudimentär in den vorliegenden Publikationen zum Ausdruck gebracht wird.

Wir heben diese Verknüpfung deshalb hervor, da wissenschaftliches Arbeiten mehr ist als die Einhaltung formaler Standards. In der Auseinandersetzung mit vielfältigen Theorien, Modellen und Konzepten zu einem Forschungsgegenstand geht es auch um philosophische Denktraditionen. Diese werden zwar nicht immer in wissenschaftlichen Theorien, Modellen und Konzepten expliziert, beeinflussen aber dennoch die Argumentationen, die in den jeweiligen Publikationen zum Ausdruck gebracht werden. Somit sind die grundlegenden Bestimmungen von Wissenschaft und wissenschaftstheoretischen Positionen für das wissenschaftliche Arbeiten in den Studiengängen in Gesundheit und Pflege leitend. Durch diese lassen sich Theorien, Modelle und Konzepte schneller einer Perspektive zuordnen, Probleme systematischer durchdringen, widersprüchliche Argumentationen aufdecken und eigene Positionen begründen.

Die Quellen, die Sie für Ihre Arbeit heranziehen, sollten grundsätzlich mit einer kritischen Haltung betrachtet werden. Entwickeln Sie Neugier und hinterfragen Sie vermeintliche Gewissheiten.

Haben Sie Mut, diese Haltung beim Lesen und im späteren Schreibprozess einzunehmen. Und bedenken Sie, Wissen ist immer auch „unsicheres Wissen“ (Ertl-Schmuck/Fichtmüller 2009: 17), denn Wissenschaft ist weder Wahrheit noch Wahrscheinlichkeit und wissenschaftliches Wissen ist nur „Vermutungswissen“ (Popper 1995: 13, Hervorhebung im Original).

Die Intentionen des vorliegenden Buches bestehen darin,

ein kritisches Verständnis von Wissenschaft anzuregen und wissenschaftliche Texte nach ihren zugrundeliegenden wissenschaftstheoretischen Positionen zu reflektieren sowie die Relevanz für die eigene Forschungsarbeit zu bewerten,

den Einstieg in wissenschaftliches Denken und Schreiben zu Beginn des Studiums zu erleichtern,

in grundlegende Techniken wissenschaftlichen Arbeitens einzuführen,

Hilfestellungen beim Verfassen schriftlicher Arbeiten zu geben (z. B. bei Hausarbeiten, Bachelor- und Masterarbeiten, Staatsexamensarbeiten) und

forschendes Lernen anzuregen.

Zielgruppen sind Student:innen in

pädagogischen Studiengängen der Gesundheit und Pflege,

Studiengängen der Gesundheitswissenschaften, der Therapiewissenschaften und der Pflegewissenschaft sowie

Studiengängen des Gesundheits- und Pflegemanagements.

Im ersten und zweiten Kapitel erhalten Sie einen Einblick in die Welt der Wissenschaften, die Dynamik wissenschaftlicher Entwicklungen, deren Prozesscharakter, Denkstile, Logiken und Arbeitsweisen.

Darüber hinaus zeigen wir im dritten Kapitel am Beispiel von Gesundheit und Pflege auf, dass sich das wissenschaftliche Feld zu diesem Gegenstandsbereich als höchst indifferent betrachten lässt. In den nachfolgenden Kapiteln (vier, fünf und sechs) werden Sie konkrete Regeln und Vorgehensweisen für die Ausarbeitung Ihrer wissenschaftlichen Arbeiten im Studium kennenlernen.

Wir wünschen Ihnen bei der Arbeit mit diesem Buch viele Anregungen für Ihr Studium und hoffen, dass wir Sie für wissenschaftliches und kritisches Denken begeistern können.

1Wissenschaft und Wissenschaftlichkeit

Mit der Immatrikulation in einen gesundheits- oder pflegebezogenen Studiengang betreten Sie ein neues Lern- und Arbeitsfeld, in dem Sie sich vielfältigen institutionstypischen Anforderungen ausgesetzt sehen. Dazu gehört insbesondere die Erwartung, sich eine für den Hochschulbetrieb charakteristische Denk- und Arbeitsweise zu Eigen zu machen, deren Regeln der Maßgabe der Wissenschaftlichkeit folgen.

Was aber verbirgt sich hinter dem Begriff der Wissenschaftlichkeit? Worin unterscheidet sich eine wissenschaftliche Arbeitsweise von einer nicht-wissenschaftlichen im Grundsatz? Und wer bestimmt überhaupt, was als wissenschaftlich gelten kann und soll? Solchen übergeordneten Fragen widmen wir uns in diesem Kapitel, ehe im weiteren Verlauf konkrete Regeln und Techniken des wissenschaftlichen Arbeitens erläutert werden. In unseren Überlegungen beziehen wir uns in erster Linie auf die Sphäre der Hochschule, weil sie die für Studierende relevante Arbeitsumgebung darstellt; d. h. wir lassen dabei außer Acht, dass wissenschaftliches Arbeiten im Sinne von Forschung auch außerhalb hochschulischer Institutionen stattfindet.

1.1WissenschaftWissenschaft als Erkenntnismodus

Wissenschaftlichkeit gilt als zentrale Eigenschaft sowohl der idealtypischen Arbeitsprozesse als auch der Arbeitsergebnisse, die an einer Hochschule erbracht werden. Sie stellt ein in der wissenschaftlichen Gemeinschaft1 allgemein akzeptiertes Qualitätsmerkmal dar, das die Arbeit der in Lehre und Forschung tätigen Menschen bestimmt. Dabei kann es – je nach Wissenschaftsdisziplin oder Forschungstradition – durchaus kontroverse Auffassungen darüber geben, was als wissenschaftlich gelten darf bzw. welche Maßstäbe zur Beurteilung von Wissenschaftlichkeit überhaupt angelegt werden sollen. Dennoch lassen sich wissenschaftliche Erkenntnis, wissenschaftliche Methoden und Wissensbestände anhand bestimmter Kriterien von Alltagserkenntnis, Alltagshandeln und Alltagswissen unterscheiden.

Die Frage, was eine spezifisch wissenschaftliche Rationalität ausmacht und anhand welcher Kriterien sie sich beurteilen lässt, führt uns zunächst in die Wissenschaftstheorie. Die „klassische“ Wissenschaftstheorie ist eine Teildisziplin der Philosophie und beschäftigt sich mit grundsätzlichen Fragen wissenschaftlicher Erkenntnis über alle Disziplinen hinweg. Nach Schurz (2008: 11f.) ist es die Aufgabe der Wissenschaftstheorie, die Funktionsweise, die Zielsetzungen, die Methoden, Leistungen und Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnis zu untersuchen. Dabei wird bspw. gefragt, welche Arten von wissenschaftlichen Aussagen es gibt, wann ein Argument gültig ist, mit welchen Methoden man zu wissenschaftlichen Theorien gelangt und wie sie sich empirisch überprüfen lassen, was überhaupt unter einer wissenschaftlichen Theorie zu verstehen ist usw.

Dahinter stehen weitere, grundsätzliche Fragen menschlicher Erkenntnis: Gibt es überhaupt eine objektive Wahrheit oder Wirklichkeit; wie kann der Mensch mit seinem begrenzten Wahrnehmungsvermögen die Wirklichkeit erfassen und zwischen wahr und falsch unterscheiden; welche Rolle innerhalb des Erkenntnisprozesses spielen menschliche Vernunft einerseits und konkrete Erfahrung andererseits? Hier zeigen sich enge Zusammenhänge der Wissenschaftstheorie mit weiteren philosophischen Disziplinen wie z. B. der Erkenntnistheorie oder der Logik.

Der Beginn eines solchen Fragens und Denkens, das sich zunehmend von den ursprünglichen, bildhaften Mythen von der Entstehung und Ordnung der Welt distanziert, tritt in der griechischen Philosophie der Antike erstmals deutlich zutage und ist in systematischer Hinsicht eng mit Aristoteles verknüpft. Den mythisch und religiös geprägten Vorstellungen von Erkenntnis als göttlicher Erleuchtung stellt er ein Denkmodell zur logischen Erfassung der Welt gegenüber. Begriffe, Urteile und Schlüsse als Kernelemente des Denkens werden hier systematisch entwickelt und bilden fortan die Basis weiterer erkenntnistheoretischer Überlegungen.

In Anlehnung an Kants berühmte Kritik der reinen VernunftKritik der reinen Vernunft kann die erste Grundfrage der Erkenntnistheorie folgendermaßen formuliert werden: Was können wir wissen? In diesem Zusammenhang soll nun ein erkenntnistheoretisches Grundproblem angesprochen werden, das die abendländische Wissenschaft seit jeher begleitet und eine grundlegende Einstellung des wissenschaftlichen Denkens charakterisiert: Die Skepsis.

1.1.1Die wissenschaftliche Skepsiswissenschaftliche Skepsis

Die Antwort radikaler Skeptiker:innen auf die Frage, was wir sicher wissen können, lautet: nichts. Zwei bekannte erkenntnistheoretische Gedankenspiele illustrieren eine solche skeptische Position (Ernst 2010: 16–20): Im 17. Jahrhundert entwirft René Descartes ein Szenario, nach dem ein bösartiger Dämon von uns allen unbemerkt ein Spiel absoluter Täuschung mit uns treiben könnte. Alle unsere Sinneseindrücke entbehrten jeglicher Realität, da uns die vermeintliche Welt nur vorgegaukelt würde. Eine moderne Variante dieses Themas ist Hilary Putnams Idee vom Gehirn im Tank, nach der Wissenschaftler unsere Gehirne entfernt und in eine Nährlösung gelegt haben könnten, um fortan alle unsere Bewusstseinsinhalte über einen angeschlossenen Supercomputer zu erzeugen.1

Solche Szenarien kommen uns äußerst unwahrscheinlich vor, aber wie können wir wirklich sicher sein, dass es sich nicht so verhält bzw. wie können wir eine entsprechende Überzeugung hieb- und stichfest begründen oder gar beweisen? Wir können offenbar nicht hinter die Kulissen unserer Wahrnehmung schauen. Die Wissenschaftsgeschichte ist voll von Versuchen, diesem hartnäckigen Problem beizukommen, und die Antworten, die dabei gefunden wurden, sind zum Teil sehr unterschiedlich ausgefallen.

Auch Descartes und Putnam selbst sind keine radikalen Skeptiker. Vielmehr dienten ihnen diese Gedankenexperimente als Ausgangspunkte philosophischer Überlegungen, mit denen sie zeigen wollten, dass der Mensch in der Wissenschaft und im Alltag grundsätzlich doch über ausreichend sicheres Wissen verfügen kann. So hat bspw. Descartes seine Auffassung von einem sicheren Fundament des Wissens mit der Existenz Gottes begründet, einem aus heutiger Sicht wissenschaftlich höchst fragwürdigen Argument.

Hans Albert hat die skeptische Herausforderung in die Gestalt des sogenannten Münchhausen-TrilemmaMünchhausen-Trilemmas gefasst (1991: 15). Demnach muss jeder Versuch scheitern, eine gültige Letztbegründung für eine Behauptung zu finden und damit kann es auch kein gesichertes Fundament der Erkenntnis geben. Denn erstens führt der konsequente Versuch einer Letztbegründung zwangsläufig in einen infiniten Regress, d. h. jede Begründung einer Aussage muss wieder mit einer anderen Aussage begründet werden, die wiederum begründet werden muss usw. Dass dies nicht praktikabel ist, wissen bereits kleine Kinder, die gerne mit insistierenden Warum-Fragen die Contenance ihrer Gesprächspartner testen. Zweitens könnte man versuchen, die Argumentationskette zu schließen, indem man an einem scheinbar geeigneten Punkt wieder zu einer bereits vorgebrachten Begründung zurückkehrt. Ein solcher logischer ZirkelschlussZirkelschluss (petitio principii), bei dem eine vorherige, letztlich unbewiesene Behauptung als Begründung herangezogen wird, ist aber als Beweisgrund unhaltbar. Eine dritte Möglichkeit bestünde darin, die Begründungsfolge an einer Stelle abzubrechen, die so augenfällig evident und rational erscheint, dass sie sich als fundierendes Argument bestimmen lässt. Angesichts der fehlenden Begründung erhält dieses bestimmte Argument dann allerdings den Charakter eines DogmaDogmas und eignet sich damit ebenfalls nicht als Beweis.

Die Möglichkeit bzw. die Unmöglichkeit, etwas wirklich zu erkennen und tatsächlich sicher zu wissen, stellt also ein wissenschaftliches Grundproblem dar, auf das sich letztlich fast alle erkenntnistheoretischen Fragen und Kontroversen zurückführen lassen. Einen letztbegründeten und damit irrtumssicheren Ausgangspunkt der Erkenntnis, den sogenannten archimedischen Punkt der Erkenntnisarchimedische Punkt der Erkenntnis, gibt es nicht. Der Mensch als Erkenntnissubjekt kann sich zwar selbst zum Erkenntnisobjekt, also zum Gegenstand seiner Fragen und Untersuchungen machen, aber er bleibt dabei stets an seine leiblich-sinnliche Ausstattung gebunden. Er kann nicht aus sich selbst heraustreten und einen objektiven wissenschaftlichen Außenstandpunkt einnehmen bzw. sich wie Münchhausen an den eigenen Haaren aus dem Sumpf der Ungewissheit ziehen.

„Jeder Versuch, eine unüberholbare Sicherheit der Erkenntnis durch den Rückgang auf ein für allemal gesichertes Fundament zu gewinnen, hat sich endgültig als aussichtslos erwiesen. (…) Bedeutet das, daß wir damit auf jede Sicherheit der Erkenntnis verzichten müssen? Nein, sondern es bedeutet, daß wir uns bewußt in dies Ganze des uns überlieferten Welt- und Lebensverständnisses hineinstellen müssen, um in ihr nicht in einmaligem Neuanfang, sondern in immer erneuter schrittweiser Erhellung und ständigen Überprüfung jedes einzelne Wissen immer fester zu begründen“ (Bollnow 1964: 7f.).

Welche Konsequenzen hat nun die skeptische Herausforderung für das konkrete wissenschaftliche Arbeiten in Gesundheits- und Pflegestudiengängen? Wir können an dieser Stelle die SkepsisSkepsis nicht nur als Grundproblem, sondern auch als Basistugend des wissenschaftlichen ArbeitensBasistugend des wissenschaftlichen Arbeitens festhalten. Damit ist nicht die ausweglose Suche nach dem archimedischen Punkt der Erkenntnis gemeint, sondern ein begründeter Zweifel als Fähigkeit, Dinge in Frage zu stellen und ihnen auf den Grund gehen zu wollen. Insbesondere die Bereitschaft zu kritischer Reflexion sowohl eigener als auch fremder Aussagen und Auffassungen ist zentraler Bestandteil einer solchen wissenschaftlichen Skepsis. Somit sind Sie aufgefordert, sich eine kritisch-fragende Denkhaltung anzueignen, die über eine herkömmliche Alltagsskepsis hinausgeht. Dazu ein Beispiel aus den ethnomethodologischen Krisenexperimenten von Garfinkel (1973: 206f., zit. in Kruse 2010: 31).

Beispiel | „Freitagabend saßen mein Mann und ich gerade vor dem Fernseher. Mein Mann bemerkte, er sei müde. Ich fragte:

 

S: In welcher Hinsicht bist du müde? Körperlich, geistig oder nur gelangweilt?

 

P: Ich weiß es nicht genau. Ich nehme an, hauptsächlich körperlich.

 

S: Meinst du, dass deine Muskeln schmerzen bzw. deine Knochen wehtun?

 

P: Ich nehme an… Sei nicht so spitzfindig. (nach weiterem Zuschauen)

 

P: In all diesen alten Filmen gibt es dieselbe Art von Eisenbettgestell.

 

S: Woran denkst du dabei? Meinst du alle alten Filme, oder einige von ihnen, oder gerade nur diejenigen, die du selbst gesehen hast?

 

P: Was ist mit dir los? Du weißt was ich meine.

 

S: Ich wünschte, du würdest mehr ins Einzelne gehen.

 

P: Du weißt was ich meine. Hör bloß auf!“

Solche Krisen- oder Brechungsexperimente wurden von Garfinkel zur Erforschung der Alltagskommunikation eingesetzt. An dieser Stelle sollen sie illustrieren, wie sich eine wissenschaftlich-skeptische Haltung von einer alltäglichen unterscheidet. Scheinbare Gewissheiten, z. B. über die Bedeutung von Begriffen, werden in der Wissenschaft mit einer Penetranz hinterfragt, die im Alltag irritierend wirken und zum Zusammenbruch der Kommunikation bis hin zur Handlungsunfähigkeit führen würde. Wir können damit die Skepsis im Sinne einer kritisch-distanzierten, fragenden Grund­haltungGrundhaltung als ein Kriterium von Wissenschaftlichkeit bestimmen. Weitere Bezugspunkte für das wissenschaftliche Arbeiten als Erkenntnismodus werden im folgenden Abschnitt anhand eines erkenntnistheoretischen Basismodells der Wissenschaft erläutert.

1.1.2Erkenntnistheoretisches WissenschaftsmodellWissenschaftsmodell

In den sogenannten Einzelwissenschaften außerhalb der eigentlichen, philosophischen Wissenschaftstheorie herrscht ein wesentlich pragmatischerer Umgang mit den oben skizzierten Fragen. Erkenntnistheoretische Grundprobleme werden hier in der Regel nicht verhandelt; vielmehr stehen Fragen nach der Güte und Reichweite bestimmter Theorien oder der Auswahl spezieller Forschungsmethoden im Vordergrund. Dies ist durchaus vernünftig, denn um in einem bestimmten wissenschaftlichen Gebiet überhaupt handlungsfähig zu bleiben, müssen wir offene wissenschaftstheoretische Probleme vorläufig suspendieren und an die zuständige Wissenschaftstheorie delegieren. Für eine Studentin der Logopädie ist es beispielsweise nicht zweckdienlich, mit dem Schreiben einer Hausarbeit über Aphasiediagnostik so lange zu warten, bis die Wissenschaftstheorie alle Herausforderungen des radikalen Skeptizismus gelöst hat.

Andererseits müssen wir in den gesundheits- und pflegebezogenen Disziplinen einen Begriff von „Wissenschaftlichkeit“ gewinnen, der die wissenschaftliche Tätigkeit leitet und die Überprüfung wissenschaftlicher Prozesse und Ergebnisse anhand bestimmter Gütekriterien ermöglicht. In dieser Hinsicht gibt es zum Teil erhebliche Kontroversen, bspw. über die Relevanz von Forschungsproblemen oder den Einsatz geeigneter Forschungsmethoden. So kommen in der qualitativen und in der quantitativen ForschungForschungqualitativ, quantitativ jeweils unterschiedliche wissenschaftstheoretische Grundpositionen zum Tragen; beide Forschungsansätze werden wir in Kapitel 2.3 kurz vorstellen. Insgesamt kann und muss es bei aller Differenz aber einen wissenschaftstheoretischen Minimalkonsens geben, auf dessen Basis kommuniziert und gehandelt werden kann.

Zur Darstellung zentraler Kriterien wissenschaftlicher Rationalitätwissenschaftliche RationalitätKriterien wissenschaftlicher Rationalität greifen wir auf ein von Schurz (2008: 24–32) vorgeschlagenes allgemeines erkenntnistheoretisches Modell der Wissenschaften zurück, das disziplinübergreifend für alle RealwissenschaftenRealwissenschaften gelten kann (Abbildung 1).

Abbildung 1:

Erkenntnistheoretisches Wissenschaftsmodell nach SchurzWissenschaftsmodellerkenntnistheoretisches (eigene Darstellung)

Unter Realwissenschaften sind dabei diejenigen Wissenschaften zu verstehen, die einen in der Wirklichkeit tatsächlich gegebenen Gegenstandsbereich untersuchen.1 So beschäftigt sich bspw. die Pflegepädagogik/Pflegedidaktik mit pflegeberuflichen Lehr-Lernprozessen in institutionalisierten Kontexten (Ertl-Schmuck/Fichtmüller 2009), und solche Lehr-Lernprozesse finden in unzähligen Pflegebildungsstätten tagtäglich real statt. Realwissenschaftliche Untersuchungsgegenstände können nicht nur theoretisch durchdacht werden, sondern sie sind auch der Erfahrung bzw. Beobachtung zugänglich, weshalb die Realwissenschaften von manchen Autor:innen auch mit den empirischen bzw. Erfahrungswissenschaften gleichgesetzt werden. So ist konkreter Unterricht in Pflegeschulen der Erfahrung zugänglich, da er bspw. von pflegedidaktischen Forscher:innen beobachtet werden kann. Damit sind Pflegepädagogik und Pflegedidaktik als wissenschaftliche Disziplinen den Realwissenschaften zuzuordnen. Entsprechendes gilt für alle Pflege-, Therapie- und Gesundheitswissenschaften: Man kann das Sprachvermögen testen, das Dekubitusrisiko untersuchen, die Wirksamkeit von Therapieprogrammen messen, Menschen zu ihrem Krankheitserleben befragen usw. Damit kann das Wissenschaftsmodell aus Abbildung 1 für alle Studiengänge mit gesundheits-, therapie- und pflegewissenschaftlichem Bezug als eine erste Orientierung dienen.

Das Modell soll zeigen, dass die Sphäre der (Real-)Wissenschaften von einigen allgemeinen erkenntnistheoretischen Grundannahmen zusammengehalten wird, die ihr Gestalt und Bestimmung verleihen und in ihrer Gesamtheit eine Abgrenzung gegenüber außerwissenschaftlichen Sphären ermöglichen. Wissenschaftliche Rationalität lässt sich damit anhand folgender Kriterien beschreiben:

Minimaler Realismusminimaler Realismus

Die Grundannahme des RealismusRealismus ist die, dass es die Welt als eine objektiv vorhandene Wirklichkeit gibt. Diese existiert unabhängig von unseren Erfahrungen, Sinneseindrücken und Denkoperationen. Als Erkenntnissubjekte sind wir auch prinzipiell in der Lage, wissenschaftliche, d. h. wahrheitsgemäße und gehaltvolle, Aussagen über die Realität zu treffen. Wo die absoluten Grenzen unserer Erkenntnis liegen, kann aber nicht genau festgemacht werden (Schurz 2008: 26). Eine solche Auffassung der Welt und unseres Zugangs zu ihr mag zunächst banal klingen, da sie unserem Alltagsverständnis entspricht:

Wenn wir uns das Phänomen Krankheit vergegenwärtigen, dann glauben wir, dass es bestimmte Krankheiten (z. B. Cholelithiasis) und zugrundeliegende Pathomechanismen (kristalliner Ausfall von Gallenstoffen etc.) in dieser Form tatsächlich gibt. Wir gehen davon aus, durch intensive Forschungsbemühungen die wirkliche Funktionsweise des Körpers im Sinne einer objektiven Wahrheit zumindest annäherungsweise entdecken zu können. In Abgrenzung zu einem solchen, weitgehend ungebrochenen Alltagsrealismus können wir einen minimalen, d. h. gemäßigten wissenschaftlichen Realismus auffassen als „Prinzip, nach dem wir unsere Erfahrungen als Erfahrungen einer gegenständlichen Welt auslegen“ (Kutschera 1992: 39).

Aus wissenschaftstheoretischer Perspektive sind solche Annahmen aber keinesfalls selbstverständlich. Es gibt auch antirealistische Positionen, die bspw. in verschiedenen Spielarten des Konstruktivismus anzutreffen sind. Von einem antirealistischen Standpunkt aus betrachtet ist es sinn- und zwecklos, von einer objektiven Realität auszugehen und diese ergründen zu wollen, da diese sich ja außerhalb unserer subjektiven Erkenntnisgrenzen befindet. Die Güte einer wissenschaftlichen Theorie liegt dann vorrangig darin, in sich stimmig und in ihrer Anwendung erfolgreich zu sein; sie bemisst sich aber nicht mehr an ihrem Wahrheitswert im Sinne einer Übereinstimmung mit der objektiven Wirklichkeit.

Ein:e antirealistische:r Wissenschaftler:in will bspw. gar nicht wissen, ob das schulmedizinische oder das homöopathische Behandlungsmodell die Realität wahrheitsgemäß abbilden. Wenn beide Erklärungsansätze in sich stimmig und die daraus abgeleiteten Therapiemaßnahmen jeweils wirksam sind, dann sind beide Theorien gleich erfolgreich und akzeptabel, auch wenn sie sich gegenseitig widersprechen. Wissen bzw. Wissenschaft hätte also nichts mehr mit der Existenz und Erkenntnis von Wahrheit zu tun. Die Frage: „Wie ist es denn nun wirklich?“ wird im Antirealismus bzw. radikalen Konstruktivismus nicht mehr gestellt.

Minimaler Empirismusminimaler Empirismus

Aus der obigen realistischen bzw. realwissenschaftlichen Auffassung ergibt sich, dass wissenschaftliche Aussagen und Aussagensysteme, wie sie z. B. in Form von Theorien vorliegen, in ihrem Wahrheitsgehalt prinzipiell und zumindest teilweise an der Realität überprüfbar sein müssen. Empirie (griech. empeiria) heißt Erfahrung und bezeichnet in der Wissenschaft den Prozess und die Ergebnisse von systematischer Tatsachenbeobachtung.2 Welchen Stellenwert die EmpirieEmpirie gegenüber der RatioRatio (als „reinem“, vernünftigem Denken) einnimmt, ist seit der Antike Gegenstand unzähliger wissenschaftstheoretischer Auseinandersetzungen zwischen Empirist:innen und Rationalist:innen, wobei sich die Positionen in der jüngeren Entwicklung gemäßigt und angenähert haben.

Der hier vertretene minimale Empirismus behauptet nicht, „dass sich alle wissenschaftlichen Begriffe bzw. Sätze durch Definitionsketten auf Beobachtungen zurückführen lassen müssen oder gar durch sie beweisbar sind. Wissenschaftliche Theorien dürfen und sollen auch über das sprechen, was der Beobachtung nicht unmittelbar zugänglich ist (…).“ (Schurz 2008: 27) Allerdings sollten die Wissensbestände einer Disziplin auch empirische Bezugspunkte bieten. In Bezug auf unser obiges Beispiel von der Pflegedidaktik als Realwissenschaft bedeutet dies: Sie dürfen durchaus eine theoretisch angelegte Masterarbeit über Lernprozesse in der Pflegeausbildung schreiben, ohne gleichzeitig eine empirische Untersuchung dazu durchführen zu müssen. Trotzdem muss der wissenschaftliche Theoriebestand der Pflegedidaktik insgesamt einen potenziellen empirischen Gehalt besitzen; d. h. es lassen sich daraus empirische Konsequenzen ableiten, anhand derer theoretische Aussagen überprüft bzw. weiterentwickelt werden können. Ein solcher empirischer Anschluss könnte dann etwa in einer Befragung von Auszubildenden oder Lehrer:innen zu bestimmten theoretischen Aspekten bestehen, Unterrichtsbeobachtungen enthalten, die Analyse von Lehr- und Lerndokumenten ermöglichen etc.

LogikLogik

Die allgemeinen logischen Anforderungen an das wissenschaftliche Arbeiten bestehen hier weniger in der Anwendung einer speziellen mathematischen Logik im engeren Sinn, sondern beziehen sich auf eine vernünftige, nachvollziehbare Darstellung von Sachverhalten mit adäquater Begründung und stringenter Argumentation. Grundprinzipien der formalen Logik als der Lehre von Begriff, Urteil und Schluss müssen aber auch in den Realwissenschaften beachtet werden. In allgemeiner logischer Hinsicht ist insbesondere auf die Widerspruchsfreiheit der getroffenen Aussagen und die Zulässigkeit von Schlüssen, die Unterscheidung relevanter Aussagetypen sowie begriffliche Klarheit und sprachliche Präzision zu achten.

Eine elementare Regel in Bezug auf WiderspruchsfreiheitWiderspruchsfreiheit ist das aussagenlogische Gesetz vom ausgeschlossenen Widerspruch (Kutschera/Breitkopf 1985: 24). Es besagt, dass eine Aussage A niemals zugleich zutreffen und nicht zutreffen kann.3 Verallgemeinert ergibt sich für Sie daraus die Verpflichtung, beim Anfertigen einer wissenschaftlichen Arbeit oder eines Vortrags sehr genau darauf zu achten, Ihren Argumentationsgang insgesamt konsistent und logisch widerspruchsfrei anzulegen.

Des Weiteren ist es zur Überprüfung eines wissenschaftlichen Argumentationsgangs unerlässlich, verschiedene Inhaltstypen von AussagenInhaltstypen von Aussagen zu unterscheiden (Schurz 2008: 78–83):

Abbildung 2:

Inhaltstypen von Aussagen nach Schurz (eigene Darstellung)

In einem ersten Schritt können wir zunächst analytische von synthetischen Sätzen abgrenzen. Analytische Sätzeanalytische Sätze treten in Form von logischen Sätzen oder Definitionen auf und haben keinen empirischen Gehalt. Die Wahrheit bzw. wissenschaftliche Gültigkeit von logischen Sätzen liegt allein in ihrer logisch korrekten Form. Das o. g. Gesetz vom ausgeschlossenen Widerspruch ist ein Beispiel für einen logisch wahren Satz. Die Gültigkeit einer Definition beruht ebenfalls nicht auf empirisch feststellbarem Realitätsgehalt, sondern auf sprachlicher Konvention; also einer möglichst zweckmäßigen Festlegung dessen, was mit einem bestimmten Begriff gemeint sein soll. So haben sich bspw. im Lauf der jüngeren Medizingeschichte die Definitionen von Normal- und Übergewicht einschließlich ihrer Berechnungsformeln mehrfach geändert.

Im Gegensatz zu den analytischen Sätzen kann die Gültigkeit synthetischer Sätzesynthetische Sätze empirisch überprüft werden. Deskriptive Sätze beschreiben wirkliche Sachverhalte, die als Singuläraussagen (z. B. „Berta und Karel Bobath haben ein nach ihnen benanntes neurologisches Therapiekonzept entwickelt“) oder als Zusammenhangsbehauptungen (z. B. „regelmäßiges Laufbandtraining erhöht die Gangsicherheit nach Schlaganfall“) vorliegen können. Der Wahrheitsgehalt deskriptiver Sätze bemisst sich an ihrer Übereinstimmung mit der Realität. Präskriptive Sätze enthalten Normen oder Wertungen (z. B. „Pflegefachkräfte müssen besser bezahlt werden“), denen man zustimmend oder ablehnend gegenüberstehen kann, die aber nicht beweisbar sind. Präskriptive Sätze sind also lediglich konsensfähig und nicht wahrheitsfähig, weshalb sie nicht als wissenschaftlich im engeren Sinn akzeptiert werden. An dieser Stelle kommt die WerturteilsfreiheitWerturteilsfreiheit als wichtiges Kriterium für eine Standardvorstellung von Wissenschaftlichkeit zum Tragen. Auf die Bedeutung von Werten und Normen in der Wissenschaft kommen wir im weiteren Verlauf von Kapitel 1 noch mehrmals zu sprechen.

Schließlich sei als weiteres Kriterium für eine allgemeine wissenschaftliche Logik die begriffliche Klarheitbegriffliche Klarheit genannt. Dies meint in erster Linie, Leser:innen oder Zuhörer:innen über die Bedeutung der verwendeten wissenschaftlichen Schlüsselbegriffe aufzuklären. Insbesondere außerhalb der formalen und der Naturwissenschaften haben wir es mit einer mehr oder weniger ausgeprägten Mehrdeutigkeit von Begriffen zu tun. Wenn Sie bspw. an relevanter Stelle einer therapie- oder pflegewissenschaftlichen Arbeit von „Patient:innenorientierung“ sprechen, dann müssen Sie nachvollziehbar darlegen, was darunter verstanden werden soll: In welchen wissenschaftlichen Zusammenhängen sind Sie dem Begriff begegnet? Gibt es unterschiedliche oder gar widersprüchliche Verwendungsweisen? Welche konkreten Theorien verbergen sich jeweils dahinter? Dabei besteht kein Anspruch auf vollständige Rezeption aller bisherigen Verwendungsweisen oder die Erstellung einer allgemeingültigen Definition; beides ist in der Regel nicht möglich. Vielmehr soll ersichtlich werden, mit welchen Konzepten Sie sich warum auseinandergesetzt haben, wie Sie diese vergleichend beurteilen und auf welchen Begriffsgebrauch Sie sich in Ihrer Arbeit stützen.

ObjektivitätObjektivität/IntersubjektivitätIntersubjektivität

Objektivität kann allgemein bestimmt werden als Anspruch auf eine vorurteils- und wertfreie Erfassung der Wirklichkeit, also auf Realitätstreue und Sachlichkeit als Maß und Ziel wissenschaftlichen Arbeitens. Objektivität als ein zentrales wissenschaftliches Erkenntnisideal steht in engem Zusammenhang mit der Idee der Wahrheitssuche. Wissenschaft soll also möglichst unabhängig von den individuellen Besonderheiten der untersuchenden Subjekte betrieben werden. Da subjektive Faktoren störend und potenziell ergebnisverfälschend wirken können, müssen sie so gut wie möglich kontrolliert werden. Das zu untersuchende Objekt soll gleichsam für sich selbst sprechen.

Es sind aber menschliche Subjekte, die Wissenschaft betreiben und die darüber urteilen, ob das Zustandekommen einer Aussage dem Anspruch an Objektivität genügt. Daher kann die Auffassung von absoluter Objektivität, in der sich die Forschungssubjekte weitgehend neutralisieren, selbst als sachlich inadäquat und wenig zweckdienlich kritisiert werden. Angemessener lassen sich Objektivitätsansprüche im Kriterium der Intersubjektivität fassen. Intersubjektivität wird über Kommunikation hergestellt, d. h. wissenschaftliche Aussagen müssen für andere nachvollziehbar dargelegt werden und einer Überprüfung seitens weiterer Personen genügen.

FallibilismusFallibilismus/ProbabilismusProbabilismus

Fallibilismus bezeichnet die erkenntnistheoretische Auffassung von der grundsätzlichen Irrtumsanfälligkeit und Fehlbarkeit des Wissens (lat. fallere: sich irren, sich täuschen). Wissenschaftliche Beobachtungen oder Theorien können demnach sehr gut bestätigt und bewährt sein; sie sind aber nicht davor gefeit, sich irgendwann doch als fehlerhaft herauszustellen. Vom fallibilistischen Standpunkt aus hat wissenschaftliches Wissen also immer nur den Charakter des Vorläufigen und kann nie als endgültig gesichert gelten.

Damit verbunden ist in der Regel eine probabilistische Wissenschaftsauffassung (lat. probabilitas: Wahrscheinlichkeit, Glaubwürdigkeit), wonach eine Aussage über einen Sachverhalt nicht absolut wahr, sondern immer nur zu einem gewissen Grad wahrscheinlich sein kann (vgl. Schurz 2008: 26f.).

Zwischenfazit | Unserem hier vorgestellten Modell mit seiner gemäßigt realistischen und empiristischen Grundauffassung, Logik und Objektivität sowie fallibilistischen Bescheidenheit liegt eine bestimmte erkenntnistheoretische Auffassung von Wissenschaft zugrunde: „Das oberste Erkenntnisziel (Z) der Wissenschaft besteht in der Findung von möglichst wahren und gehaltvollen Aussagen, Gesetzen oder Theorien, über einen bestimmten Gegenstandsbereich“ (Schurz 2008: 23). An dieser Aussage können wir nun sowohl einen deskriptiven als auch einen präskriptiven Gehalt erkennen, denn sie drückt nicht nur aus, was das Ziel der Wissenschaft ist, sondern auch, was das Ziel von Wissenschaft sein soll. Die Elemente des Modells stellen damit auch wissenschaftliche Gütekriterien mit normativer Funktion dar. Mit Hilfe dieses Modells kann wissenschaftliches Arbeiten als bestimmter Erkenntnismodus aufgefasst werden, mit dem das Erkenntnissubjekt zu möglichst wahrheitsnahen Aussagen über seinen Gegenstand kommt.

Neben einem solchen klassischen erkenntnistheoretischen Standpunkt gibt es aber noch andere Möglichkeiten, das wissenschaftliche Arbeiten in den Blick zu nehmen. Historische und soziologische Perspektiven lenken die Aufmerksamkeit auf Aspekte, in denen sich das wissenschaftliche Arbeiten als gesellschaftlich bestimmte und geschichtlich geformte Praxis zeigt. Davon soll, anhand der Wissenschaftsmodelle von Ludwik Fleck, Thomas Kuhn und Robert Merton, in den folgenden Abschnitten die Rede sein.

1.2Wissenschaft als soziale Praxis

1.2.1 DenkstilDenkstil und DenkkollektivDenkkollektiv: Ludwik FleckFleck, Ludwik

In seinem erstmals 1935 erschienenen Werk „Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache“ startet der polnische Mediziner Ludwik Fleck einen Generalangriff auf die traditionelle WissenschaftstheorieWissenschaftstheorie. Diese Erkenntnistheorie, die die soziale Bedingtheit des Erkennens außer Acht lässt und den Erkenntnisakt innerhalb einer dyadischen Subjekt-Objekt-Beziehung verortet, bezeichnet Fleck als unnütze Spielerei (2012: 59). Sachliche Beweisführung und Logik seien zwar unerlässlich, um die Gültigkeit von Aussagen wissenschaftlich zu legitimieren. Dennoch stellten die aktuell gültigen Theorien und Begriffe der Wissenschaften nicht in erster Linie die jeweils objektiv beste Möglichkeit zur Lösung eines wissenschaftlichen Problems dar. Vielmehr seien wissenschaftliche Erkenntnisse zum größten Teil Ergebnisse von vorausgegangenen denkgeschichtlichen Entwicklungen. Da jede einzelne Erkenntnisleistung auf überlieferten Wissensbeständen und Traditionen fußt, könne sich auch niemand diesen Bindungen entziehen. Problematisch werde dies dann, wenn die Wissenschaftler:innen sich diese gesellschaftlichen und geschichtlichen Verwicklungen nicht vergegenwärtigen und sich unbewusst von ihnen beeinflussen lassen (ebd.: 31–35). Genau diese soziokulturelle Blindheit wirft Fleck der klassischen Wissenschaftstheorie vor.

Angemessener sei eine neuartige, vergleichende Wissenschaftstheorie, die den historisch gewachsenen Wissensbestand und die sozialen Beziehungen des Erkenntnissubjekts mit ins Kalkül zieht. Den Ort dieses Erfahrungs- und Wissensbestands bezeichnet Fleck als DenkkollektivDenkkollektiv (ebd.: 54f.). Erkennen vollzieht sich hier in der Triade Erkenntnissubjekt – Erkenntnisobjekt – Denkkollektiv. Die historischen Voraussetzungen und sozialen Bedingungen bilden den kollektiven Anteil des Erkennens; Fleck nennt sie auch aktive KopplungenKoppelungaktiv/passiv. Die hieraus zwangsläufigen Ergebnisse werden vom Erkenntnissubjekt im Akt des Feststellens als objektive Wirklichkeit empfunden: passive Kopplungen. Erkennen heißt demnach, bei gegebenen Voraussetzungen zwangsläufige Ergebnisse festzustellen (vgl. ebd.: 56). Die verengte Perspektive auf die passiven Kopplungen, mit denen sich die Erkenntnistheorie traditionell begnügt, dehnt Fleck nun auf die aktiven Kopplungen aus. Dabei greift er auf soziologische und historische Wissensbestände zurück und entwickelt ein neues Begriffsinstrumentarium, in dessen Zentrum die Bezeichnungen Denkstil und Denkkollektiv stehen.

DenkkollektivDenkkollektiv

Fleck charakterisiert das Denkkollektiv als Gemeinschaft der Menschen, die im Gedankenaustausch stehen; es ist Träger der geschichtlichen Entwicklung eines Denkgebiets, eines Wissens- bzw. Kulturstands, also eines Denkstils (Fleck 2012: 54f.).

Jede wissenschaftliche Arbeit ist KollektivarbeitKollektivarbeit, weil sie auf dem bestehenden, kollektiv erzeugten Wissen gründet. Zudem zeigt die Wissenschaftsgeschichte, dass viele bedeutende Erkenntnisse das Ergebnis kollektiver wissenschaftlicher Arbeit sind. Die soziale Struktur des Wissenschaftsbetriebs ist arbeitsteilig-interaktiv, insbesondere in den Naturwissenschaften. Das Erkennen ist also kein individueller Prozess, sondern „stellt die am stärksten sozialbedingte Tätigkeit des Menschen vor und die Erkenntnis ist das soziale Gebilde katexochen“ (ebd.: 58). Streng genommen gibt es nicht einmal individuelle, sondern nur Kollektivgedanken, da jeder Gedankeninhalt im kollektiven Gedankenaustausch permanent umgearbeitet wird. Mit Gumplowicz: „was im Menschen denkt, das ist gar nicht er, sondern seine soziale Gemeinschaft“ (zit. in Fleck 2012: 63). Auch bedürfen große wissenschaftliche Einzelleistungen des sozialen Augenblicks (ebd.: 61), um sich Gehör und Geltung zu verschaffen.1

Fleck entfaltet sein Wissenschaftsmodell anhand medizinischer Entwicklungen, speziell in der Syphilisforschung. Seine Analyse eines medizinischen Lehrbuchausschnitts über Immunität und Antikörper (ebd.: 74ff.) zeigt, dass die damals aktuellen serologischen Begriffe (Antikörper, Immunität, Infektionskrankheit etc.) teilweise immer noch althergebrachte Kollektivvorstellungen, sogenannte UrideenUrideen enthalten. „Die Urideen sind als entwicklungsgeschichtliche Anlagen neuzeitiger Theorien zu betrachten und ihr Entstehen ist denksozial zu begründen“ (ebd.: 37). Die Syphilis als dämonische Lustseuche ist so eine Uridee; die moderne Vorstellung von Krankheitserregern, die den Körper von außen befallen, enthält noch Anteile dieser alten Krankheitsdämonen.

Der untersuchte Lehrbuchtext enthält zudem methodische Regeln für die Arbeit im Labor, die eine spezielle Forschungstradition und praktische Erfahrungen widerspiegeln, ohne dass jede dieser Regeln im Einzelnen streng logisch begründet werden könnte. Damit werden die Leser:innen als wissenschaftliche Noviz:innen von Beginn an in einen spezifischen DenkstilDenkstil eingeführt, der die jeweilige Disziplin bis ins Detail prägt und als Denkzwang wirkt. Die didaktische Einführung in einen Denkstil entspricht einer Art Weihe und hat auch dogmatische Anteile. Diese werden mit zunehmender wissenschaftlicher Reife nicht etwa abgestreift, sondern wirken noch in fortgeschrittenen Wissenschaftler:innen und Spezialist:innen fort, und damit sind wissenschaftliche Tatsachen vom Denkstil abhängig (ebd.: 85).

Weitere soziale Phänomene zeigt Fleck anhand der Entwicklung der sogenannten Wassermann-Reaktion (ebd.: 86–104): Für die Syphilisdiagnostik wollte Wassermann einen spezifischen Antigen-Antikörpernachweis erbringen. Beides gelang nicht wie geplant, führte aber nach langwierigen Verwicklungen dazu, dass schließlich eine brauchbare serologische Reaktion gefunden werden konnte. Allerdings verschwiegen die beteiligten Forscher in späteren Publikationen die unzähligen Irrungen und Umwege, die zu den Ergebnissen geführt haben. In der kollektiven Erinnerung wird aus dem verwickelten Erkenntnisprozess ein geradlinig entwickeltes Forschungsergebnis.

Dieses Phänomen beruht nicht auf einer bewussten Täuschungsabsicht, sondern ist als nachträgliche Rationalisierung des nur unvollkommen durchschaubaren und beherrschbaren Forschungsprozesses zu verstehen. Solch eine verkürzte, geradezu verklärende Darstellung im Vergleich zum tatsächlichen Forschungsverlauf ist für die Wissenschaft typisch und ebenfalls sozial motiviert. Die Produkte wissenschaftlichen Arbeitens sind stets auf ihre Veröffentlichung und damit auf Publikumswirksamkeit ausgelegt. Aus Gründen der Nachvollziehbarkeit und Verständlichkeit bedarf die öffentliche Darstellung der Ergebnisse in Gestalt von Forschungsartikeln, Vorlesungen oder anderen Publikationsformen einer Vereinfachung (siehe auch Kapitel 1.3).

Wissenschaftliche Entwicklung ist noch in weiterer Hinsicht gesellschaftlich geprägt. Die öffentliche Meinung maß der Syphilisforschung zu Zeiten Wassermanns große Bedeutung bei, die Unterstützung mit staatlichen Forschungsmitteln galt dementsprechend als politisch opportun. Gemäß der Uridee von der Lustseuche war der Syphilisbegriff auch damals noch stark moralisch aufgeladen. Dies erklärt, warum andere Bereiche wie bspw. die Tuberkuloseforschung vergleichsweise wenig staatliche Unterstützung erhielten, obwohl die Tuberkulose aus epidemiologischer Perspektive mindestens ebenso relevant war wie die Syphilis.

Kollektive Momente der Wissenschaft zeigen sich also in der Arbeitsteilung, im Fortbestehen der Urideen, in der Einweihung der Noviz:innen, in der Darstellung von Forschungsergebnissen und im gesellschaftlich-politischen Einfluss auf Forschungsvorhaben.

DenkstilDenkstil und MeinungssystemMeinungssystem

Der kollektive Gedankenaustausch über ein bestimmtes Wissensgebiet ist denkstilgebunden. Fleck definiert den Denkstil als „gerichtetes Wahrnehmen, mit entsprechendem gedanklichen und sachlichen Verarbeiten des Wahrgenommenen“ (Fleck 2012: 130). Der Denkstil legt fest, welche wissenschaftlichen Probleme als relevant erachtet werden, welche Methoden zulässig sind, welche Ergebnisse als evident gelten usw. Der kollektive Denkstil wird sozial verstärkt und dadurch für das Individuum zum Denkzwang; er bestimmt, „was nicht anders gedacht werden kann“(ebd.). Damit ist ein Denkstil die geistige Bereitschaft für ein ganz bestimmtes wissenschaftliches Denken und Handeln, die über denkkollektive Bindungen als