Wissenschaftsjournalismus - Jutta von Campenhausen - E-Book

Wissenschaftsjournalismus E-Book

Jutta von Campenhausen

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Beschreibung

Wissenschaftsthemen sind oft schwierig – für den Konsumenten wie für den Journalisten. Zwischen verständnislosen Chefs und Fachidioten, ahnungslosen Laien und sensationshungriger Konkurrenz aus anderen Ressorts hat der Wissenschaftsjournalismus eine Sonderstellung. Er berührt alle Lebensbereiche und wird doch als Nische wahrgenommen. Dieses Buch lehrt den professionellen Umgang mit der Wissenschaft: Wie man komplexe Zusammenhänge erklärt, wie eine Quelle, wie Zahlen einzuordnen sind. Wen interviewt man und wie kommt man an die Informationen, die man braucht, um einen Artikel zu schreiben oder einen Beitrag zu produzieren? Anschauliche Beispiele zeigen, wie wissenschaftliche Veröffentlichungen gelesen und genutzt werden können und mit welchen Methoden, Regeln und Kniffen daraus ein gutes journalistisches Produkt entsteht. Das Buch thematisiert auch die wachsende Einflussnahme von PR und will dabei helfen, Informationen und Dienstleistungen aus der Industrie zu nutzen, ohne sich benutzen zu lassen. Gerade für freie Journalisten können Unternehmen wichtige Auftraggeber sein. Auch Wissenschaftler können von diesem Buch profitieren. Sie lernen beispielsweise, wie sie ihre Ergebnisse an Journalisten vermitteln, was sie von Medienleuten erwarten können – und was nicht. Die zahlreichen Stilfragen, Sprachregeln und Schreibhilfen nützen Wissenschaftlern und Journalisten gleichermaßen.

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[2]Jutta von Campenhausen ist Biologin und arbeitet als freie Wissenschaftsjournalistin für verschiedene Zeitschriften und Zeitungen. Sie ist Absolventin der Henri-Nannen-Schule in Hamburg und hat 1998 bis 2010 Seminare für Wissenschaftsjournalisten an der Berliner Journalistenschule »Klara« gegeben.

[3]Jutta von Campenhausen

Wissenschaftsjournalismus

UVK Verlagsgesellschaft mbH

[4]Praktischer Journalismus

Band 88

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieses eBook ist zitierfähig. Es ist dadurch gekennzeichnet, dass die Seitenangaben der Druckausgabe des Titels in den Text integriert wurden. Sie finden diese in eckigen Klammern dort, wo die jeweilige Druckseite beginnt. Die Position kann in Einzelfällen inmitten eines Wortes liegen, wenn der Seitenumbruch in der gedruckten Ausgabe ebenfalls genau an dieser Stelle liegt. Es handelt sich dabei nicht um einen Fehler.

ISBN(epub) 978-3-86496-003-1

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

© UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz 2011

Einbandgestaltung: Susanne Fuellhaas, Konstanz

Titelfoto: Istockphoto Inc.

Satz: Klose Textmanagement, Berlin

Lektorat: Marianne Waas-Frey, Stuttgart

UVK Verlagsgesellschaft mbH

Schützenstr. 24 · 78462 Konstanz · Deutschland

Tel.: 07531-9053-0 · Fax: 07531-9053-98

www.uvk.de

eBook-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheimwww.brocom.de

[5]Inhalt

1

Warum ein Buch zum Wissenschaftsjournalismus?

2

Wie die Wissenschaft kommuniziert

3

Vom Umgang mit Zahlen

4

Fakt oder Fälschung?

5

Sprache

6

Chronistenpflicht

7

Mit Wissenschaftlern reden

8

Wissenschaft in allen journalistischen Facetten

9

Kontroverse Themen und Kontroversen als Themen

10

Journalismus und PR

11

Für Wissenschaftler: Wie mit Journalisten umgehen?

Literatur

Personenindex

Sachindex

[7]»Die sich weitende Kluft zwischen Wissbarem und Gewusstem und die Missdeutungen des eigentlich Wissbaren werden wahrgenommen und als bedrohlich empfunden […] Was also ist zu tun? […] Es bedarf vermehrter und besserer Vermittlung.«

(Wolf Singer, ehem. Direktor des Max-Planck-Instituts für Hirnforschung)

1     Warum ein Buch zum Wissenschaftsjournalismus?

Das Erdbeben, das am 11. März 2011 Japan erschütterte, und der Tsunami, der darauf folgte, beschädigten Atomkraftwerke und katapultierten Wissenschafts- und Wissensthemen in alle Nachrichtensendungen, in jede Zeitung und jede Zeitschrift. Wochenlang wurden Geophysiker, Atomphysiker, Strahlenmediziner und Umweltexperten befragt und Fachbegriffe erklärt; über Ticker liefen Messdaten und Prognosen. Schaubilder erläuterten Plattentektonik, Siedewasserreaktoren und atomare Kettenreaktionen. Wer keinen Fachmann hatte, der sucht sich einen, wer keine Fachkenntnis hatte, las sie sich an. Nachrichtenredakteure und Politikreporter jonglierten Wissenschaftsfragen – mit mäßigem Erfolg. Die wenigsten Redaktionen haben diese ungewohnt wissenschaftslastige Zeit der Japanberichterstattung gut gemeistert. Was die große Stunde der Wissenschaftsjournalisten hätte werden müssen, verkam vielerorts zum Auftritt der Alarmisten.

Den meisten Redaktionen gelang es zwar, die Fülle der Neuigkeiten weiterzugeben; die Ereignisse einzuordnen, klug zu bewerten und damit brauchbar zu machen, glückte nur wenigen. Die TAGESSCHAU berichtet am 24. März 2011 um 20 Uhr über die Lage in Japan:

Verseuchte Nahrung und verseuchtes Trinkwasser werden immer mehr zum Problem. Tokios Gouverneur Ishihara bei so etwas wie einer öffentlicher Mutprobe: ein großer Schluck Wasser. Die PR-Veranstaltung hat nur eine Botschaft: ›Keine Sorge, das Wasser von Tokio ist sauber und sicher‹ – trotz der am Vortag festgestellten erhöhten Werte von radioaktiven Jod und Cäsium.

Nachrichtenzuschauer sahen bei diesen Worten fassungslos, wie der offenbar todesmutige Ishihara ein Glas Wasser austrank. Nicht erwähnt wurde, dass die Belastung des Wassers 210 Bequerel betrug. Der Grenzwert für Trinkwasser liegt in Deutschland[8] bei 370 Bequerel pro Liter. Wasser mit so geringer Belastung trinken wir möglicherweise jeden Tag. Eine »Mutprobe«?

Was guter Wissenschaftsjournalismus leistet, zeigte dagegen die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG. Schon wenige Tage nach dem Beben erinnerte man sich dort an den Informations-GAU, der nach dem Reaktorunglück von Tschernobyl 1986 die Menschen verunsicherte:

Leicht wurde damals übersehen, dass das Hundert- oder Tausendfache von sehr wenig nicht sehr viel sein muss« (FAZ, 15.3.2011).

Schon einen Tag zuvor erklärte die Zeitung klar, präzise und elegant, was es mit dem »Abschalten« der Reaktoren auf sich hat; wie ein Bennstab und ein Siedewasserreaktor funktionieren und was eine Kernschmelze ist und was das bedeutet. Ein Glossar erläuterte Bequerel, Sievert und andere allgegenwärtige Fachausdrücke.

Beispiel: Berichterstattung über Fukushima

Einen Tag nach dem Beben schreibt die sonst so volksnahe BILD-Zeitung unter der Überschrift: »ATOM-ALARM!«:

Die Kühlung wurde destabilisiert […] die Radioaktivität solle außerhalb des Kraftwerks um ein achtfaches über dem Normalwert liegen.

Unerwähnt bleibt, was eine »destabilisierte Kühlung« bedeutet und ob achtfach erhöhte Radioaktivität gefährlich ist (BILD, 13.3.2011).

Neun Autoren, darunter zwei ausgewiesene Wissenschaftsjournalisten, tragen im SPIEGEL, der drei Tage später erscheint, zusammen, was sie über Fukushima in Erfahrung bringen konnten. Sie schreiben vom »Stahlbehälter, in dem die glühenden Brennstäbe schwimmen,« die freilich weder glühen wie Grillkohle, noch schwimmen. Sie verwenden Zahlen, die sie nicht einordnen, und werfen Fragen auf (SPIEGEL, 14.3.2011).

Am gleichen Tag bringt die Tageszeitung DIE WELT ein Protokoll, das vor widersprüchlichen und nicht eingeordneten Messdaten strotzt:

[9]In der Nähe des Blocks 1 von Fukushima Daiichi seien am Samstag 1.050 Mikrosievert pro Stunde gemessen worden […] Die Betreiberfirma Tepco meldet, dass am Atomkraftwerk Fukushima Daiichi die radioaktive Strahlung die zulässigen Höchstwerte überschritten hat. […] In der nordöstlichen Provinz Miyagy messen Atomexperten eine 400-mal höhere Radioaktivität als normal (DIE WELT, 14.3.2011).

Offen bleiben die Fragen: Was sind Mikrosievert? Was ist der zulässige Höchstwert, wo ist Miyagy, nah oder fern, und was ist normal? Kurz: Ist das schlimm?

Am nächsten Tag beantwortet BILD die nahe liegende Frage »Was macht die Radioaktivität in meinem Körper?« in einem Interview mit einem Strahlenbiologen:

Ab wann wird die Strahlung für den Menschen gefährlich? Auch ganz geringe Strahlendosen können einen gesundheitlichen Effekt haben. So führt auch die natürliche Strahlung in der Umwelt bereits zu Krebserkrankungen (BILD, 15.3.2011).

Nicht zu Unrecht wird manchen deutschen Medien Panikmache vorgeworfen.

Immerhin, nach über einer Woche versucht das Magazin FOCUS die allgegenwärtigen Fragen sachlich zu beantworten. Das Ergebnis ist nicht nur sprachlich ungeschickt und stilistisch unschön, sondern für Laien schlicht unverständlich:

Welchen radioaktiven Stoffen ist der Mensch in Deutschland ausgesetzt?

Radioaktive Stoffe geben ionisierende Strahlung ab – diese definiert sich so, dass sie aus Atomen oder Molekülen Elektronen entfernt. Zur nicht ionisierenden Strahlung zählen unter anderem das UV-Licht der Sonne und die Emission von Mobiltelefonen. Eine wesentliche ionisierende Quelle ist die kosmische Strahlung, die jeder Fluggast abbekommt. Aber auch auf der Erde ist der Mensch Radioaktivität ausgesetzt. Das Edelgas Radon, das beim Zerfall Alphastrahlen freisetzt, dringt je nach Region in verschiedenen Mengen in die Atemluft. Die herausragende ›zivilisatorische‹ Quelle ist die Medizin, durch die der Durchschnittsbürger weit mehr Radioaktivität abbekommt als, im Normalfall, durch Kernenergieanlagen und Kernwaffenversuche.

Wie entsteht Radioaktivität?

Als Radioaktivität bezeichnet man die Eigenschaft instabiler Atomkerne, spontan und unter Energieabgabe zu zerfallen. Dabei treten im Wesentlichen drei Zerfallsarten auf. Beim Alpha-Zerfall geben die [10]Kerne Alphateilchen (Heliumkerne) ab. Ein typischer, bei einer Reaktorexplosion freigesetzter Alphastrahler ist Plutonium-239 (FOCUS, 21.3.2011).

Dem Normalverbraucher, der sich angesichts einer drohenden Atomkatastrophe sorgt und Informationen möchte, helfen diese Ausführungen nicht. Was ist ionisierend? Was haben Mobiltelefone damit zu tun? Braucht man Elektronen zum Leben? Rätselhafte Nachrichten werden von kryptischen und abstrakten »Erklärungen« flankiert, die mehr Fragen aufwerfen als sie beantworten.

Das Fernsehen experimentierte mit Experten unterschiedlichster Herkunft, die fachlich vermutlich unangefochten, aber schlecht befragt und wenig aussagekräftig waren, bis man den Wissenschaftsjournalisten und Physiker Ranga Yogeshwar entdeckte. Er ist ein Wissenschaftsjournalist, wie man ihn sich wünscht: beschlagen, besonnen, eloquent, klug und recherchefreudig. Im ZEIT MAGAZIN sagte er über die Zeit der manischen GAU-Berichterstattung:

»Ich verweigere mich der derzeitigen Aufgeregtheit, die sich zum Teil aus den medialen Gesetzen nährt. Die Opulenz der Bilder dieser Katastrophe ist Futter für die Medien. Aber sie geben nur einen kleinen Ausschnitt des Geschehens wieder. Gäbe es weniger Bilder, müssten die Medien mehr Fakten liefern« (ZEIT MAGAZIN, 31.3.2011).

Die Naturkatastrophe und das Atomunglück waren Ausnahmezustände. Das Gute an ihnen ist, dass sie sehr deutlich zeigen, wie wichtig gute Journalisten sind, die in den Wissenschaften zu Hause sind, oder Wissenschaftler, die ihr Wissen verständlich vermitteln können. Aber braucht es für diese Erkenntnis eine Katastrophe?

Angesichts der Vielfalt von Wissenschaftsthemen und ihrer Brisanz sollte klar sein, dass auch der journalistische Umgang damit nicht nur vielfältig und spannend, sondern auch gesellschaftlich und wirtschaftlich relevant ist. Trotzdem müssen Wissenschaftsjournalisten in manchen Medien immer noch kämpfen – sei es um Gehör in der Konferenz, Geld für die Recherche und Platz in Blatt und Sendeplan. Dabei zeigt nicht nur das Reaktorunglück von Fukushima, wie weltbewegend »Wissenschaft« ist, und dass in diese Rubrik auch im Alltagsgeschäft so ziemlich alles fällt, was wirklich von Belang ist – von wenigen Kultur- und Finanzthemen abgesehen.

Die Frage, wie mit Seuchen wie BSE, Hühner- oder Schweinegrippe umzugehen ist, berührt nicht nur die Politik, sondern jeden einzelnen. Klimawandel und Energiethemen – früher Steckenpferde von Ökologen und Ingenieuren – beschäftigen [11]den Bundestag. Ob die gesetzlichen Krankenkassen die Kosten für ruinös teure »innovative« Medikamente übernehmen sollen, ob Reihenuntersuchungen wie Darmspiegelungen sinnvoll sind, sind ebenso Wissenschaftsthemen wie die Schulpolitik. Was kann man aus einer Zahlensammlung wie der PISA-Studie lesen und was folgt daraus: Lernen Kinder besser in homogenen Gruppen, wenn sie also früh nach Leistungsniveau getrennt wurden, oder profitieren die Starken von den Schwachen und umgekehrt? In welcher Klasse ist es sinnvoll eine Fremdsprache einzuführen?

Die Wissenschaft sucht nach Antworten auf solche Fragen und formuliert sie auch – wenn auch in einer Sprache, die dem Laien unverständlich ist. Für die allgemeinverständliche, populäre Darstellung sorgen Wissenschaftsjournalisten. Aber gibt es eine populäre Wissenschaft? Max Planck beantwortete die Frage kategorisch und pessimistisch: »Wissenschaft kann niemals im eigentlichen Sinn des Wortes populär werden.« Planck beharrte darauf, dass der Laie den Methoden, mit denen die Wissenschaft ihr Material heranschafft, in der Regel verständnis- und hilflos gegenüberstehe (Fischer 2008).

Und doch ist Wissenschaft so populär wie nie. Wissenschaftssendungen bekommen gute Sendeplätze, leicht verständliche und sensationsbegeisterte Wissenschaftsmagazine wie P.M. oder »Welt der Wunder« erreichen doppelt bis dreifach höhere Auflagen als die seriöseren »Spektrum der Wissenschaft« oder »Zeit Wissen«. Wissenschaftszentren und -Museen gibt es in jeder größeren Stadt, und jede Universität veranstaltet eine Kinder­uni. Ist Wissenschaft also doch populär?

Wissensjournalismus ist populär

Bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass die beliebteren Formate nicht Wissenschafts-, sondern Wissensjournalismus betreiben. Wissensjournalismus vermittelt Themen auf unterhaltsame Art. Es muss nicht neu sein, es muss packen. Die wichtigste Frage des Wissensjournalisten lautet: »Was interessiert meinen Leser oder Zuschauer?« Da werden Sensationen und Visionen bemüht. Wissenschaftler dienen dem Wissensjournalisten als Experten, die das Wissen erklären. Ihre Arbeit, das Forschen, spielt keine große Rolle.

Wissenschaftsjournalisten dagegen berichten in allererster Linie über Forschung, über den Wissenschaftsbetrieb und die Ergebnisse, die er produziert. Den Wissenschaftsjournalisten beschäftigt die Frage: »Was ist passiert?« und erst danach, wie er es seinem Leser, Hörer oder Zuschauer nahe bringen kann.

Die Grenzen zwischen Wissens- und Wissenschaftsjournalismus sind aber fließend. Die Protagonisten operieren zwischen Fachchinesisch und Boulevard. Im besten Falle verstehen sie die Wissenschaft und machen sie Laien verständlich. In den folgenden Kapiteln wird deshalb nicht mehr zwischen Wissens- und Wissenschaftsjournalismus[12] unterschieden. Die Tücken der Materie und das Handwerkszeug sind die gleichen: Wer über Wissenschaft berichtet, muss mit wissenschaftlichen Publikationen umgehen können, mit Sprache und mit Zahlen.

Ob Massenimpfungen oder medizinische Tests sinnvoll und der Einsatz teurer Medikamente gerechtfertigt sind, kann nur beurteilen, wer Grundregeln der Statistik beherrscht. Ein Landtag kann nur dann vernünftig über Schulreformen entscheiden, wenn die Abgeordneten verstehen, welche Lernmethoden am besten funktionieren, in welchem Alter eine Fremdsprache am besten aufgenommen werden kann und welche Schulformen reüssieren. Neurologen, Pädagogen und Soziologen können auf eine Menge Material zugreifen, das belegt, dass viele Entscheidungen kontraproduktiv sind. Doch wie sag ich’s meinem Landespolitiker? Natürlich liest der keine Fachzeitschrift und kennt die Protokolle von Lernexperimenten nicht. Der Wissenschaftsjournalist ist gefragt, der die Materie durchdringt, die Ergebnisse wertet und die Essenz verständlich vermittelt.

Man braucht sie also, die Wissenschaftsjournalisten. Man braucht Menschen, die Fachwissen und Sachverständnis mit journalistischem Handwerk verbinden. Als wäre das nicht Anspruch genug, gelten für Wissenschaftsjournalisten noch andere Regeln als für Vertreter anderer Ressorts.

Wissenschaftsjournalismus ist eine Wissenschaft für sich

Auf den Politikseiten darf der Journalist vieles voraussetzen. Er darf davon ausgehen, dass die Leser wissen, warum eine bestimmte Debatte gerade hitzig geführt wird, und was z. B. der Bundesrat ist, muss er nicht erläutern – schließlich ist das Allgemeinwissen.

Der Wirtschaftsteil richtet sich sowieso nur an beschlagene Interessierte. Die Tatsache, dass täglich nach der Tagesschau Börsennachrichten gesendet werden, mag zu der irrigen Annahme verleiten, dass jeder Bundesbürger wisse, wie die Börse funktioniert und was der Nasdaq ist. Natürlich ist das nicht so. Wirtschaftsberichte werden für ein Fachpublikum geschrieben, Menschen, die Bilanzen lesen können und in Sachen Marketingstrategien und Weltmarktdynamik firm sind.

Im Feuilleton dürfen eitle Kunstschreiber verschwurbelte Wurstsätze konstruieren und französische und lateinische Phrasen unübersetzt stehen lassen. Das zeigt, dass sie davon ausgehen, dass die Leser dieser Seiten hochkultiviert sind und damit etwas anzufangen wissen. Der Chefredakteur liest diese Stücke im Zweifel sowieso nicht, weil ihn die Kritik an einer Theaterinszenierung, die er nicht gesehen hat, nicht interessiert. Für Buchrezensionen gilt das Gleiche.

Und nun kommt die Wissenschaft. In den meisten Medien geht man hier und nur hier davon aus, dass man beim Leser keinerlei Vorkenntnisse erwarten darf. Kein [13]Fremdwort darf unübersetzt, kein Fachbegriff unerläutert bleiben. Wissenschaftsthemen findet der Chefredakteur irgendwie wichtig und liest deshalb die Stücke, tut sich aber mit dem Verstehen schwer. Er weiß nicht, was ein Quark ist oder ein Enzym. Ihm ist nicht klar, was eine offene Studie kennzeichnet und was man unter historisch-kritischer Methode zu verstehen hat. Er findet aber, dass das auf 120 Zeilen ruhig so erläutert werden kann, dass er es endlich auch versteht.

Das ist kaum überzeichnet. Doch Wissenschaftsjournalisten haben es nicht grundsätzlich schwerer. Sie werden handwerklich und inhaltlich zwar mehr gefordert als viele Kollegen in anderen Sparten; dadurch können sie aber auch mehr. »Moderner Wissenschaftsjournalismus nimmt vieles von dem vorweg, was der elitäre Teil des Feuilletons und andere den Geisteswissenschaften zugewandte Formate womöglich noch lernen müssen. […] Populäre Medienthemen aus Naturwissenschaften, Technik und Medizin sind inzwischen so erfolgreich, dass Kulturexperten und Geisteswissenschaftler bereits Rat beim Wissenschaftsjournalisten suchen, wie man mit ihren Themen ebenfalls besser in den Massenmedien ankommen könnte«, schreibt Holger Wormer (Wormer 2009).

Gute Wissenschaftsjournalisten müssen mehr und können mehr: Ihr Ressort bietet phantastische Möglichkeiten. Kaum ein Themenfeld ist ergiebiger, aktueller und lebendiger als die Wissenschaft. Forschung und Fortschritt sind ständig neu, anders und immer im Fluss. In der Wissenschaft geht es nicht nur um neue Erkenntnis, sondern um alles, was das Leben spannend macht: Geld, Leidenschaft, Macht, Politik, Ansehen, Scheitern, Vertuschung, Bestechung, Betrug und die nicht enden wollende Suche nach Lösungen, Heilung, Erklärungen, Sinn.

Wissenschaft erklärt die Welt und der Wissenschaftsjournalist erklärt die Wissenschaft

»Alarmierende neue Studie: Armes Deutschland – Die Kluft zwischen Arm und Reich wird immer größer – Mittelschicht in unserem Land schrumpft dramatisch« titelte das Boulevardblättchen HAMBURGER MORGENPOST (16.6.2010). Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hatte eine Studie veröffentlicht mit dem Titel »Polarisierung der Einkommen: Die Mittelschicht verliert«. Darin schreiben die Autoren: »Im längerfristigen Trend ist einerseits nicht nur die Zahl der ärmeren Haushalte stetig gewachsen – sie wurden im Durchschnitt auch immer ärmer.« Andererseits gebe »es im Trend immer mehr Reichere, die im Durchschnitt auch immer reicher würden.«

Das Geschrei war groß. Gewerkschaften, die politische Opposition und diverse Sozialverbände leiteten aus den wissenschaftlichen Erkenntnissen des DIW sogleich Forderungen ab – von Mindestlöhnen über neue Beitragsbemessungsgrenzen [14]bis hin zu einem neuen Erbrecht und Steuererhöhungen. Die Autoren der sehr angreifbaren Studie erlauben sich am Ende ihres Werks eine Warnung vor Fremdenfeindlichkeit und Ausländerhass, die sich aus den Statusängsten der Mittelschicht (die die Studie zu Unrecht schürt) ergeben könnten. Dazu zitieren die Forscher Studien, die keinerlei Zunahme von Fremdenfeindlichkeit in der Krise, ja nicht einmal Statusangst feststellen.

Es ist schön, wenn in erhitzten politischen Debatten Wissenschaftler harte Fakten und klare Zahlen sprechen lassen. Noch schöner ist es, wenn es stimmt, was die Forscher vorlegen. Und am allerschönsten, wenn jemand merkt, was stimmt und was nicht und der interessierten Öffentlichkeit und den erhitzten Entscheidungsträgern die tatsächliche Lage erläutert. Nur so kann man aus Forschungsergebnissen die richtigen Schlüsse ziehen.

Im Fall der DIW-Studie sah es so aus: Die Zahlen zeigten weder eindeutig, dass die Armen ärmer noch dass die Reichen reicher würden – in vier der sechs letzten Jahre fiel das Durchschnittseinkommen in der oberen Einkommensgruppe. Und selbst die besorgniserregende Mittelschicht wurde über einen längeren Zeitraum betrachtet nicht bemerkenswert kleiner. 2009 gehörten 61,5 Prozent der Haushalte dazu; 1993 waren es nur 0,6 Prozentpunkte mehr. Dabei hatten die Forscher die Schicht eigenwillig und damit sehr angreifbar definiert.

Ob es um Armutsbekämpfung und Steuermodelle, Schulformen und Universitätsorganisation, Energietechnik und die entsprechende Preisgestaltung, Nahrungsmittelzulassungen oder Vergangenheitsbewältigung geht – Wissenschaft ist ein Instrument der Politik. Alle Fachministerien brauchen Berater und Kommissionen, die ihnen den Stand der Dinge und den Stand der Forschung darlegen, weil der Fachverstand auch des belesensten Ministers nicht ausreicht. Ohne wissenschaftliche Expertise lässt sich wenig Sinnvolles sagen zu Themen wie Klimawandel, Umweltschutz, Terrorismus, Rentensicherung, Reproduktionsmedizin, Luftreinhaltung und demographische Entwicklung und schon gar keine vernünftige Entscheidung treffen.

Weil Wissenschaft längst jeden Lebensbereich durchdringt, gehört es zu unserem Selbstverständnis, dass wir in einer Wissensgesellschaft leben. Das gilt auch für die, die finden, dass sie in einer Risikogesellschaft leben oder in einer Informationsgesellschaft. In einer Wissensgesellschaft herrscht ein optimistischer Glaube an die Wissenschaft. Man ändert ein Schulkonzept nicht aufgrund der Vermutung, dass das neue irgendwie besser sei, sondern aufgrund von Untersuchungen, die Stärken und Schwächen nachvollziehbar zeigen. Wissenschaft erklärt die Welt; aber wer erklärt die Wissenschaft?

Lange Zeit wurden Wissenschaftsjournalisten als eine Art Übersetzer gesehen. Diejenigen, die die Sprache der Wissenschaft sprechen, die Daten lesen und Studien deuten können und das Ganze leicht verdaulich und verständlich dem Laien erklären. Diese Vermittlerrolle ist fraglos enorm wichtig. Wissenschaftliche Studien [15]sind schwer zu konsumieren, deshalb verlassen sich selbst Fachleute auf die journalistische Aufarbeitung. Dass dabei manchmal Fehler passieren und falsche Schlüsse aus richtigen Daten gezogen werden, zeigt dieses Buch. Es zeigt, was ein Wissenschaftsjournalist wissen und können muss: von der Lektüre von Fachliteratur über Interviewvorbereitung bis hin zum Schreiben.

Wissenschaft formt unser Weltbild

Wären es doch einfach nur klare Fakten, die referiert werden müssen! Jeder Wissenschaftsbereich berührt politische und ethische Fragen. Kluge Wissenschaftsjournalisten informieren nicht nur interessierte Bürger; ihre Arbeit ist oft Grundlage für weit reichende Entscheidungen. Schließlich entscheiden Wähler und Abgeordnete aufgrund ihres Wissens. In Sachen Atompolitik, Klimawandel oder Stammzellen stammt es in der Regel nicht aus wissenschaftlichen Originalquellen, sondern aus mehr oder weniger journalistischen Produkten.

Die Sichtung und Interpretation historischer Akten bestimmt auch, wie wir etwa mit ehemaligen Stasi-Leuten umgehen. Sterbehilfe und Organhandel, die Diskussion um pränatale Diagnostik und künstliche Befruchtung, um Embryonengewinnung und Stammzellen, die Frage, ob Triebtäter weggesperrt, therapiert und geheilt werden können sind nicht allein mit Faktenwissen zu bestreiten. Unser Weltbild, unser Menschenbild, unser Anspruch an menschlichen Umgang wird von wissenschaftlichen Fragen geprägt. Und gerade, weil jeder eine Meinung zu Schule und Verbrechen, zu Leben und Tod parat hat, werden solche Diskussionen in Zeitungen und Fernsehen heiß geführt.

Der Prozess der Meinungsbildung ist nie abgeschlossen, weil auch Forschung und Fortschritt nie abgeschlossen sind. Neue Technologien, neue Medikamente, neues Wissen verändern die Welt, in der wir leben, mitsamt ihren Werten, doch die Gebrauchsanweisung wird nicht automatisch mitgeliefert. Bildung und Erziehung – Zukunftsthemen der schrumpfenden post-industriellen Gesellschaft – stützen sich auf ein Menschenbild, das sich mit der Hirnforschung wandelt.

Es ist noch nicht lange her, dass man junge Gehirne für unbeschriebene Blätter hielt. Aggressionen galten als reine Reaktion auf Druck von außen und besondere Begabungen sah man als Folge guter Förderung. Schizophrenie und Autismus wurden doppelt bindenden oder gefühlskalten Müttern angelastet.

Mit der Entschlüsselung des Genoms glaubten viele Zeitgenossen, dass ohnehin genetisch festgelegt sei, was die lieben Kleinen wann lernen können. Hirnforschung ist deshalb kein lebensfernes Orchideenfach, sondern lebenswichtige Grundlage für richtiges Handeln. Das gilt für vernünftige Erziehung und gute Schulen. [16]Das gilt aber auch bei Fragen von Schuld und Unschuld, Strafe und Sühne. Wann ist ein Mensch zurechnungsfähig? Wen darf, wen muss man lebenslang einsperren?

Es reicht nicht, wenn die Entscheidungsträger von Fachleuten richtig informiert sind und die richtigen Entscheidungen fällen und entsprechende Gesetze und Regelwerke auf den Weg bringen. Wenn das Neue bewertet und ins Repertoire der Gesellschaft eingereiht wird, hilft die öffentliche Debatte, Meinungen zu bilden. Die Medien haben die nicht immer dankbare Aufgabe, den öffentlichen Diskurs zu führen. In keinem anderen Ressort ist das so wichtig wie in der Wissenschaft. Bei Nanotechnologie, Sterbehilfe, Pädagogik, Stammzellen, Zwangsmedikation und Energiegewinnung spielen nicht nur die harten und oft widersprüchlichen Fakten eine Rolle, sondern auch Werte und Bewertungen, die oft erst im Rahmen einer öffentlich geführten Debatte entstehen. Hier werden kluge Wissenschaftsjournalisten zu Geburtshelfern einer gesellschaftlichen Haltung. Die Mittel dazu sind nicht nur intelligente Analysen oder ausgewogene Gegenüberstellungen. Das Portrait eines Kranken, eine Reportage aus einer Befruchtungsklinik oder ein Bericht über den Tag auf einer Dialysestation machen Wissenschaftsthemen konkret und menschlich. Wissenschaftsjournalisten helfen mit ihrer Darstellung essenzielle Fragen zu beantworten wie: Was verstehen wir unter gesund und krank, Leben und Tod? Ist ein infektfreier Mensch mit einer angeborenen Fehlbildung gesund? Ist ein gesunder Träger eines potenziell krankmachenden Genmerkmals krank? Ist ein tiefgefrorener Achtzeller ein Mensch? Ist ein Unfallopfer, das atmet, aber keine Hirnströme mehr hat, tot?

Miriam Meckel, Professorin für Kommunikationsmanagement in St. Gallen, formuliert es so: »Bislang ist es der Journalismus, der die Menschen mit Neuigkeiten aus der Welt versorgt, sie durch gut recherchierte und erzählte Geschichten interessiert und fasziniert. Das bringt zum Beispiel nicht nur dem Leser einer Tageszeitung oft ein Lesevergnügen, es sorgt auch für eine Synchronisation der Gesellschaft. Journalisten beobachten die Welt mit der Aufgabe und Zielsetzung, das Ergebnis ihrer Beobachtung professionell aufzubereiten und es als Nachricht, Bericht oder Reportage wieder in die Gesellschaft einzuspeisen. Diese Informationen machen es uns möglich, uns in einer komplexen Lebenswelt zu orientieren, uns der eigenen Zugehörigkeit zu dieser Welt zu vergewissern, indem wir uns aus einem Informationsund Themenfundus bedienen, der diese Komplexität reduziert und Momente der gesellschaftlichen Verständigung generiert« (FAZ, 12.5.2009).

Wissenschaftsjournalisten beeinflussen die Wissenschaft

Als wäre es nicht genug, dass Journalismus die ganze Gesellschaft synchronisiert und orientiert; auch die Wissenschaft unterliegt dem Einfluss der Medien. Das ist nahe [17]liegend und doch frappierend, wie eine Untersuchung Mainzer Publizistikwissenschaftler zeigt. Senja Post und Hans Mathias Kepplinger haben 133 deutsche Klimaforscher über die Klimaberichterstattung befragt. Ergebnis: 62 Prozent der Wissenschaftler sind überzeugt, dass die mediale Darstellung ihrer Arbeit einen Einfluss auf die Ausrichtung ihrer Forschung hat. 74 Prozent sehen auch einen Einfluss auf die Zuweisung von Forschungsgeldern. 85 Prozent gaben an, dass besonders die Erforschung des menschlichen Einflusses aufs Klima finanziell von den Medien profitierte (Kepplinger 2008).

Dass und wie über Forschung berichtet wird, ist also nicht nur wertvolle Information für interessierte Laien; die Medienpräsenz beeinflusst die Wissenschaftler, die ihre Forschungssschwerpunkte so verschieben, dass sie medienrelevanter werden. Und sie motiviert Geldgeber, die Wissenschaftler zu fördern, die an Fragestellungen arbeiten, die die Medien interessieren. Diese Verquickung verzerrt das Bild der Klimaforschung in den Medien. »70 bis 80 Prozent der Wissenschaftler halten die Berichterstattung für unrealistisch und überzeichnet,« sagt Kepplinger. Die Publizisten unterschieden drei gleich große Gruppen von Klimaforschern: die überzeugten Warner, die skeptischen Beobachter und diejenigen, die sich nicht so einordnen ließen. Die überzeugten Warner mit ihren computermodellierten Flut- und Dürreszenarien und dramatischen Prognosen bringen besonders schaurig-schöne Schlagzeilen. Sie bekommen besonders viel Forschungsgeld, mit dem sie noch schönere Untergangsszenarien austüfteln. »Die Ausrichtung der Forschung wird von äußeren Kräften beeinflusst, denen die Forscher wissenschaftliche Qualifikation absprechen,« heißt es in der Studie. Im Klartext: Wissenschaftsjournalisten wirken nicht nur auf die Laien, sie beeinflussen auch die Wissenschaft.

Wissenschaft manipuliert, Wissenschaftsjournalisten decken auf

Wissenschaftsjournalisten sind keine Sprachrohre der Wissenschaft. Das Bild vom Wissenschaftsjournalisten als Übersetzer vom Fachchinesischen ins Verständliche ist schön, aber veraltet. Es greift heute viel zu kurz.

Forschung und Entwicklung sind ein Milliardenmarkt. Besonders offensichtlich ist das in der Pharmaindustrie. Natürlich sollen neue Medikamente Menschen helfen. Sie sollen sich aber vor allem verkaufen. 32,4 Milliarden Euro gaben allein die Gesetzlichen Krankenversicherer in Deutschland für Arzneimittel aus. Besonders wichtig sind dabei neuartige und deshalb patentgeschützte Mittel. Rund 800 Millionen Dollar kostet die Entwicklung eines neuen Medikaments bis zur Markteinführung. Natürlich wird ein Pharmaunternehmen alles daran setzen, ein Medikament, das neu entwickelt und getestet wurde, auch auf den Markt zu bringen. Zu dem [18]Zweck könnten möglicherweise unliebsame Fakten dezent verschwinden, Nebenwirkungen und Risiken heruntergespielt und Statistiken geschickt gestaltet werden. Aber auch in Sachen Energie, in der Risikoeinschätzung neuer Technologien, bei der Einführung neuer möglicherweise genmanipulierter Nutzpflanzen und in der Tierzucht beeinträchtigen finanzielle Interessen die Berichterstattung.

Geschickte Manipulationen, leicht tendenziöse Fragestellungen oder schlichte Unterschlagung heikler Informationen aufzudecken, gehört zu den Herausforderungen des Wissenschaftsjournalismus.

Selbst an Stellen, die politisch und finanziell harmlos erscheinen, sind Zweifel eine gesunde Grundeinstellung. Manche Fälschungen beschäftigten als Skandale Medien und Öffentlichkeit – allen voran die berühmten geklonten menschlichen Stammzellen aus Korea, die nie existierten. Die Liste der Fälschungen in der Wissenschaft ist lang. Beteiligt sind nicht nur unbekannte Jungforscher, die ihre Karriere beschleunigen wollen, sondern auch Spitzenforscher und gefeierte Wissenschaftler. Ihre Fälschungen veröffentlichen sie nicht in dubiosen Nischenpublikationen, sondern in den renommierten großen Fachzeitschriften.

In der Politik gilt der Journalismus als so genannte vierte Macht: Journalisten sind nicht gewählt, sie haben kein Amt, aber sie treten immer dann ein, wenn die Kontrolle versagt. Das gilt auch für andere Sparten wie Wirtschaft, Gesellschaft und das Feuilleton. In der Wissenschaft spielt der investigative Journalismus eine langsam wachsende Rolle. Nur wenigen gelingt es, Fehlverhalten und Fehler in der Wissenschaft aufzudecken.

Das liegt daran, dass ein Journalist sich extrem gut auskennen muss, wenn er Fehldarstellungen auf die Spur kommen will. Wissenschaftsthemen sind oft schwierig, sperrig und möglicherweise heikel. Es erfordert Mut und Mühen, aufzudecken, was Wissenschaftler zu verbergen suchen. Umso wichtiger ist es, dass Medien Spezialisten fördern, mit Zeit und Mitteln ausstatten, um Wissenschaftsthemen kritisch und sorgfältig zu durchleuchten.

Natürlich ist es einfacher, Studien als korrekt hinzunehmen, als sie auf Schwachstellen abzuklopfen. Investigativer Wissenschaftsjournalismus erfordert Sachkenntnis und deutlich mehr Recherche. Veröffentlichungen, die Fehler enthüllen, müssen hochpräzise sein, sie sind juristisch angreifbar und für den Laien noch schwerer verdaulich als es herkömmliche Wissenschaftsartikel sind. Die meisten Wissenschaftsjournalisten sind vom Alltagsgeschäft aus Kongressberichten und Nachrichtenmeldungen, Buchrezensionen und mit Interviews so ausgelastet, dass sie eine riskante Recherche mit ungewissem Ausgang gar nicht erst anpacken.

Wann immer es aber einem Wissenschaftsjournalisten gelingt, einen Fehler aufzudecken, wird deutlich, wie wichtig kritische Wissenschaftskenner sind, die die Methode der Recherche beherrschen. Je mehr Journalisten mit ihrem Fachwissen den brisanten Wissenschaftsmarkt beobachten, desto mehr werden Medien als Kontrollsystem[19] für die Forschung akzeptiert. Schlechte Presse ist eine schöne Strafe für wissenschaftliches Fehlverhalten, das ja nicht strafbar ist.

Wo immer es um Geld und Macht geht, um politische Entscheidungen, Anwendungen wissenschaftlicher Ergebnisse, lohnt es sich genau zu recherchieren und nicht alles zu glauben, was veröffentlicht wird. Auch wenn es »nur« um Forschungsgelder, Ansehen und Karriere geht, hat die Wissenschaft an Glaubwürdigkeit verloren.

»Wir werden uns an Betrugsfälle in der Wissenschaft gewöhnen müssen. Und auch daran, dass wir von ihnen durch die Medien erfahren. Sie haben die Funktion der öffentlichen Kontrolle betrügerischen Verhaltens in der Wissenschaft schon längst übernommen«, schreibt Peter Weingart in einem Tagungsbericht der DFG (Weingart 2005).

Nichts ist spannender als Wissenschaft

Kinder zeigen ganz unverfälscht, was Menschen wirklich interessiert: Wissenschaft. Sie wollen wissen, was die Welt zusammenhält, was im Weltraum passiert und im Körper, warum sie sich die Zähne putzen sollen, wie ein Ameisenhaufen funktioniert und unsere Gesellschaft, wie die Menschen zur Zeit der Ritter und Burgen gelebt haben und wie Nomaden leben. Was Kinder fragen, beantwortet die Wissenschaft. Das zeigt wie lebensnah, wie aufregend und essenziell das ist, was mit »Wissenschaft« für viele Erwachsene einigermaßen unattraktiv klingt. Dabei boomen Wissenssendungen im Fernsehen, und in Zeitungen und Zeitschriften haben Wissenschaftsthemen hohe Lesewerte.

Nichts gegen Theaterkritiken, Protokolle von NATO-Sitzungen und Fußballergebnisse, aber wirklich packend sind neben Menschenschicksalen in der Regel nur Berichte aus der Wissenschaft. Richtig verpackt, gut getextet, geschickt aufgebaut sind Wissenschaftsgeschichten das, was Menschen fasziniert.

»Wissenschaft ist das einzig Neue. Wenn man eine Zeitung oder ein Magazin durchblättert, ist das People-Zeug das immer gleiche Er-sagt-sie-sagt, Politik und Wirtschaft sind die gleichen erbärmlichen zyklischen Dramen, Mode die pathetische Illusion des Neuen und sogar die Technik ist vorhersehbar, wenn man die Wissenschaft dahinter kennt. Die Natur des Menschen ändert sich nicht, aber die Wissenschaft, die ändert sich, und der Wandel summiert sich und verändert die Welt unwiderruflich.« Das schreibt der Biologe und US-Aktivist Stewart Brand (Brand 2009).

Es lassen sich ganze Bücher mit guten Argumenten füllen, warum es wichtig und wertvoll ist, sich in Zeitung, Radio und Fernsehen mit Wissenschaftsthemen auseinanderzusetzen. Das schlagendste Argument ist aber: Weil es Spaß macht. Das Große und das Unsichtbare, Geschichte und Zukunft, ferne Länder, schräge [20]Tiere, neue Stoffe, neue Technologie, Menschheitsträume auf dem Weg zur Erfüllung – keine Sparte ist so vielfältig wie die Wissenschaft. Es lohnt sich also: Für Wissenschaftler, die in die Medien wechseln, und für Journalisten, die sich auf ein wissenschaftliches Fach konzentrieren, gibt es viel zu gewinnen. Eine breite Zuhörer- oder Leserschaft sowie schier unendliche Möglichkeiten, die Themen umzusetzen einerseits und eine schier unerschöpfliche Themenvielfalt andererseits.

Gerold Wefer, Vorsitzender des Lenkungsausschusses von »Wissenschaft im Dialog« sagt über das Jahr der Mathematik: »Dass Mathematik so interessant sein kann, war nicht zu erwarten. Es hat mich darin bestätigt, dass Wissenschaftskommunikation tatsächlich kleine Wunder bewirken kann. Voraussetzung ist, dass sie sich auf Augenhöhe mit ihrer jeweiligen Zielgruppe begibt. Dann macht jede Wissenschaft – nicht nur die Mathematik – Spaß.«

Wissenschaftsjournalisten werden dafür bezahlt, dass sie sich für Dinge interessieren, die sowieso interessant sind, dass sie auf dem Laufenden bleiben, wo ständig Neues passiert, dass sie sich Zeit nehmen, Schwieriges zu verstehen und es am Ende in eine Form bringen, die sie selbst interessant, informativ und unterhaltsam finden.

»Wir haben den schönsten Beruf der Welt, nach wie vor – davon bin ich überzeugt«, schreibt Reiner Korbmann, Chefredakteur des »MEDIZIN- UND WISSENSCHAFTSJOURNALISTEN« im Editorial. Recht hat er.

[21]»Für die Wissenschaft ist Kommunikation unverzichtbar.

Wissen, das nicht kommuniziert wird, ist wertlos.«

(Ernst-Ludwig Winnacker, ehem. Präsident der DFG)

2     Wie die Wissenschaft kommuniziert

»Wissenschaftlich getestet« und »von führenden Wissenschaftlern entwickelt« sind heutzutage Werbeattribute. Vom Kauf des neuen Autos über den umweltfreundlichen Dachausbau, vom richtigen Umgang mit Topfpflanzen und renitenten Kindern, von gesunder Ernährung bis hin zur Wahl der wirksamsten Therapie – es gibt keine Entscheidung, bei der nicht wissenschaftliche Erkenntnisse berücksichtigt werden. Wissenschaft erklärt die Welt, sie formt sie neu – und sie ist eine Welt für sich. Wissenschaftler tüfteln aus, was das Beste für Mensch und Umwelt ist, sie entwickeln neue Technologien, neue Medikamente und testen Katalysatoren, Datennetze, Schulformen und Medikamente. So wird sichergestellt, dass wir das erwiesenermaßen Beste und nach dem Stand der Forschung Richtige bekommen.

Der weltfremde Forscher, der zurückgezogen im stillen Denkerstübchen des Elfenbeinturmes schwierige Experimente zusammenknobelt, war schon immer ein Klischee. Der »Elfenbeinturm« steht für einen immateriellen Ort losgelöst von der realen Welt. Doch Forschung war immer diesseitig und ist es heute mehr denn je, weil sie von Forschungsgeldern abhängt und gleichzeitig große Gewinne verspricht.

Aber auch das Image des guten, klugen Forschers, der den Dingen auf den Grund geht, bröckelt. Offensichtlich ist nicht alles, was die Wissenschaft empfiehlt, gut und richtig. Man muss gar nicht die Atom- und Neutronenbombe anführen, um die Angreifbarkeit der Forschung zu illustrieren. Manche Forschung kostet den Steuerzahler nur Geld, ohne greifbare oder nutzbare Resultate zu bringen. Einige Entwicklungen wie genmanipulierte Nutzpflanzen oder Nanotechnologie machen den Menschen Angst. Manches neue Medikament erweist sich trotz aller Studien als tödlicher Flop, und einige prominente Durchbrüche in der Wissenschaft sind dreiste Fälschungen.

Um über Wissenschaft berichten zu können, muss man wissen, wie die Forschung funktioniert. Um Nachrichten aus der Welt der Forschung nach außen zu tragen, muss man wissen, wie innerhalb der Wissenschaft kommuniziert wird.

[22]Wissenschaftskommunikation in der Zeitmaschine

Berichte über Wissenschaft sind älter als die Medien. Auf den ersten Flugblättern nach der Erfindung des Drucks mit beweglichen Lettern wurden Meldungen zu Pest und Cholera verbreitet, Regeln zu Aderlass und Harnschau, Berichte von Erdbeben, zweiköpfigen Kälbern, Nordlichtern, Missgeburten und Scheintoten. Wissenschaft mag hier ein großes Wort sein für die Darstellung von allerlei Alchemistischem, Wunderbarem und Fehlgedeutetem.

Das erste Publikum im 17. Und 18. Jahrhundert war die höfische Gesellschaft. Ihr führten Naturforscher ihre Experimente vor, die möglichst mit Überraschungen unterhielten.

Im 18. Jahrhundert bildeten sich die Akademien als Orte der Forschung und damit der wissenschaftlichen Kommunikation heraus. Je komplexer der Versuchsaufbau und je sensibler die Instrumente wurden, desto mehr wanderte die Forschung in Labors. Das Publikum musste draußen bleiben; die Phänomene konnten nicht mehr demonstriert werden, sondern wurden berichtet.

In diese Zeit fällt die Aufspaltung der Berichterstattung in eine primäre, die sich an Wissenschaftlerkollegen wendet, und die sekundäre an das Laienpublikum. Auch die fachspezifischen Ausdrucksweisen bilden sich in dieser Zeit heraus. Im frühen 19. Jahrhundert erlebt die Wissenschaftskommunikation einen Boom: »Man« hört in naturkundlichen Vereinen wissenschaftliche Vorträge an, sammelte Mineralien und Pflanzen und hält sich populärwissenschaftliche Zeitschriften im Abonnement. Der Nutzen der Forschung ist offensichtlich: Elektrisches Licht und immer bessere Medizin dokumentieren den Fortschritt.

Seitdem schwindet die Bedeutung des Laienpublikums für die Forschung dahin. Das breite Publikum gilt als unwissend – die Forschungskommunikation findet fast ausschließlich unter Fachkollegen statt. Relativitätstheorie und Quantenmechanik beflügeln keine Fortschrittsphantasien mehr, sondern lassen die Öffentlichkeit in ungläubiger Verständnislosigkeit außen vor. Spätestens in den 50er-Jahren schlägt die Faszination der Forschung in Skepsis um. Kernenergie und rabiate Eingriffe in die Landschaft lassen das Misstrauen wachsen.

Heute bringen Massenmedien die Wissenschaft wieder einer breiten Öffentlichkeit nahe, aber nicht mehr für erbauliche Teilhabe. Sie nehmen auch keine Forschungsberichte mehr aus der Wissenschaft entgegen. Längst sind die Medien kommerzialisiert und behandeln die Wissenschaft als einen Bereich unter vielen, der immer dann zum Tragen kommt, wenn er Nachrichten- oder besonderen Unterhaltungswert hat.

[23]Wer forscht?

90 Prozent aller Wissenschaftler, die es in der Geschichte der Menschheit je gab, leben Schätzungen zufolge jetzt. Zu ihnen gehören Naturwissenschaftler und Geisteswissenschaftler, Theoretiker und Praktiker, Universitätsforscher und Entwickler in Unternehmen. Produktionsstätte all der Wissenschaftler ist eine europäische Erfindung: die Universität.

Im Jahr 1900 studierten weltweit rund eine halbe Million Menschen, ein Jahrhundert später waren es doppelt so viele. 2007 waren 152,5 Millionen Menschen an einer Universität eingeschrieben. Natürlich wird nicht aus jedem Studenten ein Wissenschaftler, der Trend ist aber deutlich: Wissenschaft ist in jeder Hinsicht ein Wachstumsmarkt.

Nimmt man das 16. Jahrhundert als Beginn der modernen Wissenschaft, so ist sie seitdem um fünf Größenordnungen gewachsen. Alle 15 Jahre verdoppelt sich die Zahl der Wissenschaftler – die Bevölkerung wächst längst nicht so schnell. Damit wächst nicht nur der Anteil der in der Forschung beschäftigten Menschen kontinuierlich, sondern auch die Menge ihrer Veröffentlichungen.

Die Geisteswissenschaften sind in der damaligen Bundesrepublik zwischen 1954 und 1984/87 um rund das Siebenfache gewachsen, seit den 80er-Jahren klingt der Boom ab und die Geisteswissenschaften bleiben hinter den Naturwissenschaften zurück. Doch der Trend bleibt.

Mit dem dramatischen Wachstum an wissenschaftlich Arbeitenden explodiert auch die Zahl der Veröffentlichungen. Peter Weingart nennt folgendes Beispiel: 1954 veröffentlichten 24 Anglistik-Professoren in Deutschland zwölf Bücher sowie einige Artikel in Fachzeitschriften – eine Menge, die alle Wissenschaftler in dem Bereich lesen konnten. 1984 gab es rund 300 Professoren für Anglistik, die zusammen etwa 60 Bücher und geschätzte 600 Fachartikel publizierten. Es ist klar, dass diese Mengen selbst von Fachkollegen nicht mehr bewältigt werden können (Weingart 1990). In der Folge spezialisieren sich die Anglisten und das einst homogene Fach splittert sich in zahllose Teilbereiche auf, die sich gegenseitig nur bedingt wahrnehmen.

Die Deutsche Forschungsgemeinschaft DFG unterscheidet derzeit 226 Fächer, genauer »aktive Fächer,« in denen also neues Wissen entsteht.

In Deutschland wird an den Hochschulen sowie an außeruniversitären Einrichtungen geforscht. Das Humboldt’sche Ideal von der Einheit von Forschung und Lehre, dem die Universitäten verschrieben sind, ließ sich schwer umsetzen. Bereits um 1900 hinderten die Lehraufgaben die Professoren daran, sich so um die Wissenschaft zu kümmern, wie sie es wollten. Damit deutsche Forscher nicht den Anschluss an die Wissenschaft der USA oder Großbritanniens verlören, gründete Kaiser Wilhelm II. 1911 die außeruniversitäre Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung[24] von Wissenschaft und Forschung (KWG), die nach dem 2. Weltkrieg als Max-Planck-Gesellschaft neu konstituiert wurde. Dort widmen sich Wissenschaftler der Grundlagenforschung.

Die Fraunhofer Gesellschaft konzentriert sich auf angewandte Forschung und versucht, neues Wissen schnell in innovative Produkte und Verfahren zu verwandeln.