Witwen und beste Freundinnen - Band 1 - Delia Camino - E-Book

Witwen und beste Freundinnen - Band 1 E-Book

Delia Camino

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Beschreibung

Praktisch über Nacht findet sich die fünfundfünfzigjährige deutsche Auswanderin Lia in ihrer Wahlheimat Spanien als Witwe wieder. Doch die Andalusier wären keine Andalusier, wenn sie Lia nicht voller Wärme auffangen würden. Dieser erste von zwei Bänden erzählt, wie Lias Leben durch den Verlust des langjährigen Partners auf den Kopf gestellt wurde und wie sie es in einem fremden Land und einer fremden Kultur durch die Trauerphase schafft und ihr Leben schrittweise wieder in den Griff bekommt. Dabei findet sie nicht nur neue beste Freundinnen, sondern entdeckt auch ihre abenteuerliche Seite in sich und lässt sich schließlich auch auf Dating-Plattformen ein. Voller Selbstironie beschreibt sie, was ihr da gleich zu Anfang passiert ist. Ein Roman über Verluste, Neuanfänge, beste Freundinnen und modernes Dating, der so voller positiver Energie und Lebensfreude steckt, dass er Lust auf das Leben macht. Zum Mitfühlen, Mitlachen, Mitfiebern und Mitträumen.

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Inhaltsverzeichnis

WITWEN

„TINDER SOCIAL CLUB“ – ROBERT

Quellen

WITWEN

Ich starre hilflos auf die Urne, die mir ein Friedhofsangestellter gerade übergeben hat. Sie kommt mir so klein vor. Ist das tatsächlich alles, was von einem Menschen, seinem Leben, seinen Überzeugungen, Leistungen, Gedanken übrigbleibt? Ein winziges Häufchen Asche?

An einem Tag war Pedro noch bei mir, am nächsten ist er tot. Und jetzt ist da nur noch Asche. Ich kann das alles nicht fassen. Seine Krankheit, dann eine plötzliche Infektion. So einfach. So schnell. Ich gehe die letzten Monate, Wochen, Tage immer wieder in Gedanken durch. Wie in einer Endlosschleife. Das Ganze ist so unbegreiflich, dass ich unfähig bin, wirklich zu verstehen, was mit meinem Leben passiert ist. Ich fühle mich wie von einer Welle mitgerissen und habe einerseits das Gefühl, zu ertrinken, und bin andererseits voller Unglauben. „Das kann doch alles nicht wahr sein. Ich glaube das nicht. Das ist nicht wahr. Das kann nicht sein.“ Diese Worte drehen sich wie ein endloses verzweifeltes Mantra in meinem Kopf. Ich wiederhole sie wieder und wieder, als könnte ich alles ungeschehen machen, wenn ich sie nur oft genug wiederhole. Dann wieder starre ich ins Leere, bin für niemanden ansprechbar, nur um im nächsten Moment in Weinkrämpfe auszubrechen, die mich so sehr schütteln, dass völlig fremde Leute mir ihren Trost anbieten. Leute, die selbst jemanden verloren haben und deshalb auf diesem verdammten Friedhof sind.

Ich lernte Pedro vor fünfunddreißig Jahren in Deutschland an der Uni kennen, als wir beide Sprachen studierten – ich Spanisch und Englisch, er Deutsch und Englisch. Fünfunddreißig Jahre, in denen er mein Partner, meine Familie und mein bester Freund war. Wir hatten nie Kinder. Von seiner Familie ist niemand mehr übrig, und ich habe zu den wenigen, die auf meiner Seite noch vorhanden sind, keinen Kontakt. Pedro war mein Ein und Alles. Vor fünfzehn Jahren sind wir in sein Heimatland Spanien umgezogen, letztes Jahr wurde er krank, und jetzt stehe ich hier mit einer Urne.

Mit diesem fremdartigen Ding im Arm mache ich mich auf den Weg ins Foyer des Friedhofsgebäudes, wo Freunde auf mich warten und mich zum Auto begleiten. Ich antworte auf Fragen, versuche, mich zusammenzureißen, bin jedoch wie betäubt. Es ist, als würde ich in einer Blase stecken, während ein anderer Teil meines Gehirns wie ein Hamster in seinem Rad rattert und hellwach ist. Mir fallen unnütze Kleinigkeiten auf, an denen sich mein Gehirn festbeißt, um sich nicht den eigentlichen Tatsachen zu stellen: Vor anderthalb Tagen war Pedro noch bei mir. Wir waren im Krankenhaus. Er war ungeduldig, wollte so bald wie möglich nach Hause. Jetzt kommt er in einer Urne zurück.

Das Leben ist einfach passiert, ohne mich zu fragen, ob ich damit einverstanden bin.

Ich fühlte mich während des ganzen letzten Jahres, vom Moment der Diagnose an, von den Ereignissen überrollt, wobei ich gleichzeitig verzweifelt versuchte, die Situation irgendwie zu kontrollieren, Lösungen zu finden, Pedro zu retten. Ich war nicht bereit, mich unserer Sterblichkeit zu stellen. War nicht bereit, Pedro gehen zu lassen. Doch dann musste ich mitansehen, wie es einfach passierte. Jetzt ist es als hätte man mich in der Mitte aufgeschnitten, mein Innerstes entblößt, brutal herausgerissen und einem rohen, wilden Schmerz ausgesetzt. Und ich kann absolut nichts tun.

Ich werfe immer wieder einen Blick auf das kalte, harte Ding in meinem Arm. Ein Schildchen hängt daran, auf dem sein Name und das heutige Datum stehen. Hier in Spanien darf ich die Urne mit nach Hause nehmen, aber ich musste ein Schriftstück unterzeichnen, dass ich die Asche nicht im Meer oder sonst irgendwo in der Natur bestatten werde. Das ist aus Umweltschutzgründen illegal. Doch was hatte mir der Priester gesagt? Obwohl es verboten wäre, könnte ich die Asche mit oder ohne Urne heimlich im Meer entsorgen, weil die Urne biologisch abbaubar wäre? Einfach im Rucksack transportieren und, wenn niemand hinsieht, schwupps, ins Wasser damit. Kein Problem, weil biologisch abbaubar. In zehn Minuten wäre alles weg. Mein Gott.

Ich habe in den letzten Stunden so viel geweint, dass ich wie ein Vampir aussehe. Blutrote Augen, kein Fitzelchen Weiß zu sehen. Meine Augen brennen. Mein Hals auch. Mein ganzer Körper tut weh. Ich setze mich ins Auto und überlege absurderweise, ob ich die Urne, die auf dem Rücksitz steht, wohl hätte anschnallen sollen, damit sie beim Bremsen nicht umkippen kann. Für einen Moment habe ich das grauenhafte Bild vor Augen, wie ich mit dem Staubsauger Pedro wieder einfangen muss, weil sich die Asche im Auto verstreut hat. Gütiger Himmel. Kurz werfe ich einen beunruhigten Blick auf den Rücksitz, doch die Urne steht fest auf ihrem Platz. Ich habe das Gefühl, wahnsinnig zu werden.

Kaum zuhause angekommen tapse ich in die Küche, um meine Tasche abzulegen. Meine beiden Hunde, ein sehr alte Labradordame und ein junger Mastiff-Mischling, tanzen um mich herum, meine Katze maunzt nach Futter. Ich habe keine Nerven für sie, beachte keine von ihnen, sondern mache mich auf den Weg ins Schlafzimmer, wo ich die Urne zunächst mal auf der Kommode abstellen will. Dabei schalte ich aus irgendeinem Grund das Licht im Bad ein und starre dann ungläubig auf das Bild, das sich mir bietet: Das gesamte Bad ist überschwemmt.

„Scheiße.“, entfährt es mir aus tiefstem Herzen.

Das ist mir alles zu viel.

Ich knipse das Licht aus, drehe mich um und gehe ins Schlafzimmer. Dort stelle ich die Urne auf der Kommode ab, rolle mich auf dem Bett zusammen und heule. Nach ein oder zwei Stunden habe ich Kopfschmerzen von der ganzen Heulerei und auch keine Tränen mehr. Ich nehme die Urne wieder in den Arm, gehe damit ins Bad, bleibe an der Türschwelle stehen, knipse das Licht erneut an und starre auf den See zu meinen Füßen. Dann schaue ich auf die Urne und schließlich nach oben Richtung Zimmerdecke und seufze in einem Anflug von schwarzem Humor:

„Echt jetzt? Du hast mir einen Rohrbruch geschickt? Das warst doch du, oder? Damit es mir nicht langweilig wird, oder was? Du hast wohl gedacht „Toma chata, jetzt hast du was zu tun“. Also wirklich …“

Pedros Asche landet wieder auf der Kommode, und ich hole alte Handtücher sowie den Putzeimer und den Wischmopp hervor. Während ich versuche, die Überschwemmung zu beseitigen, lache ich leicht hysterisch. Dann muss ich feststellen, dass es völlig egal ist, wie viele Handtücher ich auf den Boden werfe – aus einer Fuge zwischen Wand und Boden tritt weiter Wasser aus. Mir bleibt nichts anderes übrig als den Haupthahn abzustellen.

Nach einer Stunde ist das Bad einigermaßen trocken, dafür hocke ich im Flur auf dem Boden und heule wieder. Dann lache ich wie eine Verrückte, nur um sofort darauf wieder in Tränen auszubrechen. Immer schön abwechselnd. Wieso hält das Leben nicht an? Wieso ausgerechnet jetzt ein Rohrbruch? Wieso musste Pedro sterben?

Das Leben geht unaufhaltsam weiter. Unerbittlich. Ich habe das Gefühl, die Welt müsste einfach stillstehen. Alles müsste anhalten. Stattdessen habe ich einen Rohrbruch.

Als Nächstes rufe ich meinen Nachbarn Alex an, seines Zeichens Maurer und Allround-Talent. Er hat mir heute nach der Beerdigung versichert, ich könne jederzeit anrufen, wenn ich Hilfe bräuchte. Tja, das wäre jetzt wohl der Fall.

Doch Alex hat Spätschicht, weshalb er und seine Frau María erst am nächsten Tag mittags auftauchen. Gemeinsam beginnen wir mit der Suche nach dem beschädigten Rohr. Dazu müssen wir leider auch meine Geschirrvitrine leerräumen und abbauen. Innerhalb kürzester Zeit ist meine Küche ein Chaos. Jetzt beginnt das Wandaufklopfen, und mir wird schlecht. Alex probiert es zunächst an einer Stelle innen, aber da ist alles trocken. Dann versucht er es von außen an der Hauswand, doch die Stelle, die er freilegt, ist ebenfalls trocken. Er kommt wieder herein, legt das Ohr an das Loch und sagt: „Lia, stell‘ doch bitte mal das Wasser wieder an.“

Er lauscht angestrengt und brummt schließlich. „Leute, ich höre Wasser rauschen.“ Das klingt sowas von gar nicht gut.

Alex richtet sich auf: „Sag mal, hast du eine Hausratversicherung?“

„Äh, ja.“, sage ich etwas verwirrt.

„Na, dann ist doch alles gut.“, antwortet er erleichtert. Bei mir macht es immer noch nicht Klick im Kopf. „Wieso?“

„Bevor ich jetzt hier anfange, dir an allen möglichen Stellen die Wand aufzuklopfen, rufen wir deine Versicherung an. Die suchen und reparieren den Schaden und ersetzen dir die Kacheln!“

„Echt jetzt?“ Ich stehe irgendwie immer noch auf meiner Leitung.

„Ja klar.“, stimmt jetzt auch María zu und erzählt mir von ähnlichen Fällen.

Ich krame die notwendigen Papiere heraus, und Alex nimmt die Sache in die Hand. Er macht ein paar Mal „hmm, hmm“ ins Telefon, bedankt sich schließlich und legt auf. Gespannt starre ich ihn an.

„Also, morgen kommt ein Klempner vorbei und schaut sich die Sache an.“

„Wow.“, mache ich beeindruckt. Ich bin den beiden unsäglich dankbar für ihre Hilfe, denn, ganz ehrlich, ich fühle mich absolut überfordert. Vom Rohrbruch und auch vom Leben im Allgemeinen.

Tatsächlich steht am nächsten Tag ein Klempner auf der Matte und beginnt, alles abzusuchen. Schließlich dreht er den Haupthahn fürs Heißwasser zu und klemmt irgendwas ab.

„Ich bin überzeugt, es ist die Heißwasserleitung.“, erläutert er mir seine Entscheidung.

Ich gebe nur ein etwas ratloses „Aha“ von mir, doch er scheint damit recht zu haben, denn die Pfütze im Bad taucht nicht wieder auf. Den Rest werden morgen seine Kollegen erledigen.

Als er weg ist, spiele ich eine Weile mit dem Kaltwasser herum, froh, dass ich zumindest Wasser habe. Meine Küche sieht aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Eine Wasserbombe sozusagen. Die Herdplatte steht mit Geschirr voll, und die Vitrine in Einzelteilen genau davor. Ich kann mich nur im Zickzack durch die Küche bewegen, was mir eine Art Zeltlager-Gefühl gibt. Doch irgendwie lenkt mich das auch ab. Dank Rohrbruch habe ich keine Zeit, über mein Leben nachzudenken.

Am Montagmorgen erscheinen die versprochenen Klempner und schließen zunächst provisorisch alles wieder an. Dann fragen sie mich, wo ich es denn gerne aufgeklopft hätte – lieber in der Küche oder im Bad? Äh, keine Ahnung.

Wir einigen uns auf die Küche, denn die Küchenkacheln kann ich notfalls noch nachkaufen. Ich weiß nicht, wie sie es anstellen, aber sie finden tatsächlich gleich beim ersten Versuch exakt die Stelle, an der sich das Rohr mit dem Loch befindet. Ich kann es kaum glauben. Das Wasser schießt aus dem eigentlich winzigen Loch mit einer Wucht heraus, dass sofort alles nass wird.

„Iiih!!“, mache ich erschrocken und falle auf meinen Hintern, denn natürlich habe ich neugierig hinter den beiden auf dem Boden gekauert, sodass mich der Wasserstrahl direkt im Gesicht getroffen hat.

Sofort drehen sich mir zwei Köpfe zu, und der eine fragt mich besorgt: „Alles in Ordnung, señora?“

„Ja, alles prima.“, beruhige ich die beiden Handwerker, während ich mich aufrappele und mir mit dem Handrücken durchs klitschnasse Gesicht fahre.

Schnell machen sie sich daran, alles wieder abzuklemmen, und reparieren dann die besagte Stelle, lassen das Loch aber offen. Ich soll bis übermorgen beobachten, ob auch wirklich alles trocken ist. Erst danach kann ein Maurer kommen. Meine Küche ist also noch mindestens zwei weitere Tage das totale Chaos. An den Kühlschrank komme ich ohne Probleme. Den Herd kann ich nicht verwenden, der steht mit Geschirr voll. An die Kaffeemaschine komme ich nur, wenn ich mich quer über die Küchenarbeitsplatte lege, was sich durch das viele Geschirr etwas schwierig gestaltet. Einige Tassen wackeln auch bedenklich, weshalb ich die Idee mit dem Kaffee schließlich aufgebe und mich lieber nur mit kalter Milch begnüge. An Kochen ist nicht zu denken, was allerdings kein großer Verlust ist, denn ich bin ohnehin keine besondere Köchin. Und Appetit habe ich auch nicht.

Wenn ich nicht gerade im Bett liege und heule, weil ich mich von der Welt und dem Alltag überfordert fühle, beäuge ich misstrauisch das Loch, um zu sehen, ob irgendwo irgendetwas tropft. Doch bei aller Verzweiflung macht sich auch immer wieder Galgenhumor in mir breit, weshalb ich ab und zu völlig fassungslos einen Blick Richtung Schlafzimmer und Urne werfe und kopfschüttelnd frage: „Du wolltest mich wohl ablenken, wie?“ Nun, die Ablenkung, die Pedro mir da geschickt hat, ist ihm gelungen …

Nach einer Woche ist alles repariert und das Chaos in der Küche beseitigt. Allerdings habe ich ohne Rohrbruch keine Ablenkung mehr und muss mich jetzt ernsthaft meinem neuen Alltag stellen. Und das ist ein Alltag ohne Pedro.

Ich verbringe die nächsten Wochen zuhause. Freunde und Bekannte schicken mir WhatsApp-Nachrichten, bieten an, für mich da zu sein. Ich beantworte ihre Nachrichten zwar und bedanke mich auch dafür, bleibe aber zuhause und alleine. Ich ordne Fotos, hocke in Pedros Arbeitszimmer, dann in meinem, tigere durchs Haus, rauche Zigaretten, die ich mir irgendwo gekauft habe, trinke Wein und heule, heule, heule. Dann setze ich mich an meinen PC, schreibe E-Mails an Pedro. Das Schreiben hilft mir, ist wie eine Reinigung. Ich erzähle ihm, wie ich mich ohne ihn fühle, wie ich die letzten Stunden und Minuten mit ihm erlebt habe. Dass ich nicht weiß, wie ich ohne ihn weitermachen soll und wie es überhaupt ganz allgemein weitergehen soll.

Ich spiele sogar mit dem Gedanken, meine Tiere zu verschenken und alles hinter mir zu lassen. Ein Strick, ein Baum, Tabletten ... Ich mache es natürlich nicht. Denn obwohl es sich so anfühlt, als wäre mein eigentliches Ich zusammen mit Pedro verlorengegangen, muss ich mir eingestehen, dass tief in mir ein verdammt starker Überlebenswille steckt. Fast fühle ich mich schuldig deswegen. Doch ein Stimmchen in meinem Hinterkopf wispert mir zu, dass Pedro so etwas auch nie gewollt hätte. Also lebe ich weiter. Irgendwie.

Immer wieder gehe ich die letzten Stunden im Krankenhaus in Gedanken durch. Mittags sprachen wir noch ganz normal miteinander, und abends um sechs schrie er fast vor Schmerzen. Ich erinnere mich an sein letztes „Ich liebe dich“ und daran, wie ich mich an die Aussage des Arztes klammerte, was sie am nächsten Tag machen würden, wenn er weiterhin Schmerzen hätte. Am nächsten Tag … Ein Morgen, dass für Pedro und mich nicht mehr kam, denn wenige Stunden nachdem der Arzt ein letztes Mal nach ihm gesehen hatte, starb Pedro.

Einmal mehr sehe ich in meinen Gedanken, wie die diensthabende Ärztin, eine Krankenschwester und eine Hilfsschwester versuchten, Pedro zu wecken. Wie sie an seinem Arm rüttelten, ihm leicht auf die Schulter klopften. Doch er reagierte nicht, lag nur wie eine leblose Puppe im Bett.

Dann redete die Ärztin mit professionell teilnahmsvoller Miene und beschwichtigendem Ton auf mich ein: Sie könne ihn in seinem Zustand nicht reanimieren, sie wisse nicht, wie lange ihm noch bleibe, ich solle zu ihm gehen, bei ihm bleiben, mich verabschieden.

Wieder und wieder durchlebe ich diesen Moment. Wie ich mich auf sein Bett setzte und nach seiner Hand griff. Wie ich sein Gesicht streichelte und küsste und unaufhörlich weinte. Mich beständig fragte, was hier um Himmels willen gerade passierte? Wie das alles sein konnte? Ich versuchte, ihn festzuhalten, im Leben zu halten. Wollte jede Sekunde auskosten, völlig in der Gegenwart mit ihm sein, ihm alles von mir geben. Wollte ihn nicht gehen lassen. Aber der Tod ist tatsächlich unausweichlich.

Ich hielt seine Hand, küsste sein liebes Gesicht, flüsterte ihm alles Mögliche zu, doch er konnte mich schon nicht mehr hören. Sein Atem ging nur noch stoßweise, die Pausen zwischen jedem Atemzug wurden länger und länger bis auf einmal nichts mehr kam. Und plötzlich begriff ich, dass es jetzt endgültig war. Nie wieder würde ich seine Stimme hören, ihn spüren, umarmen, mit ihm lachen. Seine ausdrucksvollen dunklen Augen, die mich so zärtlich und liebevoll anschauten – nie wieder.

Der Mensch, der mich auf dieser Welt am meisten geliebt hat, war tot.

Einfach so.

Und ich fiel in ein tiefes, dunkles Loch.

Meine Gedanken drehen sich im Kreis, immer wieder durchlebe ich diese letzten Momente. Kaum schließe ich die Augen, sehe ich ihn im Krankenhausbett. Und schon weine ich. Bis meine Augen rot und verquollen sind und meine Nase so verstopft ist, dass ich keine Luft mehr bekomme. Der Schmerz ist so unfassbar. Die Realität so grausam. Die Verzweiflung übermächtig. Irgendwann habe ich das Gefühl, verrückt zu werden. Ich lebe wie in einer Blase, in einer Parallelwelt. Die Welt da draußen interessiert mich nicht. Ich kümmere mich nur notdürftig um meine Tiere. Meine alte Hundedame Sol braucht Tabletten, ist blind und taub. Peluche dagegen ist jung, lebhaft, fordert Aufmerksamkeit, die sie nicht von mir bekommt. Ich lasse die beiden und meine Katze Cielo jeden Tag in den Garten und verkrieche mich wieder ins Bett. Wenn ich nicht im Bett liege, sitze ich im Wohnzimmer in einem Sessel, starre vor mich hin, starre die Wände oder seine Fotos an. Mal schreie ich laut auf „Ich glaube das nicht! Das ist alles nicht wahr!“, dann wieder schluchze ich, weil ich mir eingestehen muss, dass es doch wahr ist. Als Nächstes werde ich wütend auf die Ärzte und das Gesundheitssystem, verteufele sie alle, halte an dieser Wut eine Weile fest, doch dann ist die Verzweiflung wieder da.

Ich esse. Keine Ahnung was. Einfach irgendetwas.

Es kommen täglich WhatsApp-Nachrichten, die ich mit knappen Worten beantworte, aber ich spreche mit niemandem persönlich. Stattdessen verkrieche ich mich.

Ich denke an all die Pläne, die wir hatten, Ausflüge, die wir nicht mehr unternehmen werden, dass wir nun nicht zusammen alt werden. Und kann das alles einfach nicht fassen.

Da ist ein Gefühl von Schutzlosigkeit, Angst vor der Zukunft, dem Ungewissen und auch vor der Einsamkeit. Ich starre weiterhin die Wände an, ordne Fotos, suche nach irgendeinem Zeichen von ihm. Wenn ich nicht gerade wie ein Häufchen Elend im Bett liege oder in irgendeiner Zimmerecke auf dem kalten Fliesenboden sitze und heule, tigere ich ein ums andere Mal ruhelos durchs Haus.

Nach drei Wochen merke ich plötzlich, dass die WhatsApp-Nachrichten weniger geworden sind.

„Alle haben mir Hilfe angeboten, aber keiner insistiert.“, sinniere ich. Plötzlich wird mir klar, dass die Leute mir zwar die Hand hinhalten, ihr Leben aber mit allen Freuden und Alltagssorgen ganz normal weitergeht. Pedro und ich hatten keine weitere Familie und auch keine Kinder. Da waren nur er und ich. Für mich ist eine Welt zusammengebrochen, doch für alle anderen geht das Leben wie üblich weiter. Wenn ich also die angebotene Hilfe wirklich will, dann muss ich von mir aus den entsprechenden Schritt unternehmen, denn sonst gerate ich irgendwann in Vergessenheit. Dann bin ich wirklich allein – ein Gedanke, der Panik in mir auslöst.

Daher schreibe ich als erstes Isabel, die ich eigentlich kaum kenne, und frage, ob sie Zeit für einen Kaffee hat. Pedro und ich kannten nur ihren Mann Ramón. Aber kurz nach der Trauerfeier bot sie mir an, ich könne sie jederzeit anrufen. Wir verabreden uns für den folgenden Freitagnachmittag. Komisch, dass ich als Erstes jemanden anrufe, den ich kaum kenne. Macht es das leichter? Weil sie Pedro überhaupt nicht kannte und mich nur von der Trauerfeier?

Am Freitagnachmittag stehe ich vor der Biker-Kneipe Rock’n Wheels und warte auf Isabel. Ein Wagen nähert sich, aus dem mir Isabel zuwinkt und dann die Beifahrertür öffnet.

„Hallo!“, lächle ich sie an. Auf dem Rücksitz hockt ein junges Mädchen von etwa zwanzig Jahren, das Isabel mir als ihre Tochter vorstellt. Sie heißt ebenfalls Isabel, oder kurz Isa. Die ältere Isabel legt den Gang ein und schon geht es los Richtung Autobahn und nach San Fernando zum Bahnhof, wo wir die jüngere Isabel absetzen müssen.

Wir machen ein bisschen Small Talk, bis wir am Bahnhof ankommen. Isa hüpft aus dem Wagen, winkt uns zu und verschwindet im Bahnhofsgebäude, während ihre Mutter den Wagen wendet und wieder Richtung Chiclana fährt.

„Hör zu.“, sagt sie ernst. „Ich werde versuchen, dir zu helfen, soweit ich kann. Ich stelle dir meine Freundinnen vor. Danach musst du entscheiden, ob sie dir gefallen und du weiter mit ihnen zu tun haben möchtest oder nicht. Aber ich werde dir helfen.“

Ich habe einen Kloß im Hals, als ich nicke und ihr von Herzen danke. Denn … richtige Freunde habe ich nur sehr wenige hier. Pedro und ich haben ziemlich zurückgezogen gelebt. Freunde, mit denen man sich regelmäßig trifft und etwas unternimmt, hatten wir so nicht. Ich habe zwar über den Sport versucht, Freundschaften zu schließen und dadurch Mercedes und Sara kennengelernt, aber auch das sind keine Freundinnen in dem Sinne, dass man sich regelmäßig trifft, zumal Mercedes mittlerweile in Sevilla lebt, also schlappe hundertachtzig Kilometer entfernt. Und wer in der Nähe lebt, ist durch Familie und Job stark eingebunden.

Wir sitzen schon seit einer Weile in der Biker-Bar, als gegen acht Uhr abends Ramón anruft.

Ich versuche, Isabels und Ramóns Gespräch nicht zuzuhören und schaue mich stattdessen im Rock’n Wheels um. Es ist größer als das alte Lokal, in dem Pedro und ich vor ein paar Jahren waren.

Isabel klappt ihr Telefon zu „Ramón kommt gleich.“

„Hey, super.“, lächele ich, denn ich habe noch keine Lust nach Hause zu gehen.

Tatsächlich sehen wir auch schon wenige Minuten später, wie sich Ramón zwischen den Tischen hindurchschlängelt. Er begrüßt mich mit den üblichen Küsschen rechts und links, küsst seine Frau richtig, lässt ein paar Witze los und setzt sich. Das Gespräch dreht sich um Pedro und um meine Zukunft … Ich habe einen Eisklumpen im Magen, denn mir wird jetzt so richtig bewusst, dass ich im Grunde bei null anfangen muss.

„Du könntest doch unterrichten!“, meint Isabel zu mir. „Du musst unter die Leute. Musst dich beschäftigen. Raus aus dem Haus!“, fügt sie noch eindringlich hinzu.

Nach einer Weile schlagen die beiden vor, im Stadtzentrum in einem Restaurant etwas zu essen und so ziehen wir zu Los Galindo um. Zum ersten Mal seit langer Zeit esse ich wieder mit Genuss.

Als wir uns verabschieden, weil wir jeder an verschiedenen Stellen geparkt haben, sagt Ramón zu mir mit Tränen in den Augen: „Ich hoffe, dass du immer Zeit für uns hast, aber ich hoffe auch, dass ich dich eines Tages anrufen werde, und du mir dann sagst ‚Ramón heute kann ich nicht‘, weil du zu viele Freunde und Verabredungen hast.“

Ich verstehe, was er meint, und muss jetzt auch mit den Tränen kämpfen. In diesem Moment erinnert er mich so sehr an Pedro … Er und Isabel umarmen mich herzlich zum Abschied und versichern mir, dass wir uns am nächsten Wochenende sehen werden. Ich winke ihnen noch einmal zu und gehe dann zu meinem Auto. Ich fühle mich besser als in den ganzen letzten zwei Wochen. Allerdings schalte ich das Radio im Auto immer noch nicht an. Seit Pedros Tod höre ich kein Radio, keine Musik, kein Fernsehen, nichts. Ich kann einfach nicht. Ich ertrage die Stimmen und die Musik nicht. Musik, sonst immer mein Allheilmittel – jetzt ertrage ich sie nicht. Aber heute fühle ich mich zumindest ein bisschen besser. Eher wieder wie ein normaler Mensch.

Allerdings ist am nächsten Tag wieder beim Alten. Ich bin einmal mehr vierundzwanzig Stunden täglich allein zuhause und starre die Wände an. Die Stimmung von gestern ist verschwunden. Ich sitze erneut in meinem tiefen, dunklen Loch. Keine Ahnung, wie ich das Wochenende herumbringe.

Am Sonntag erhalte ich allerdings eine Nachricht von Rosana, die anfragt, ob ich am nächsten Tag zum Aquagym ins Fitness-Studio gehen möchte. Ich habe eigentlich keine große Lust, sage aber trotzdem zu, denn ich wiederhole mir selbst wie ein Mantra, dass ich die angebotene Hilfe annehmen muss, wenn ich aus diesem Loch heraus will. Und dazu muss ich mir notfalls eben auch selbst einen Tritt in den Hintern versetzen.

Am nächsten Morgen habe ich wider Erwarten großen Spaß im Aquagym, und Rosana stellt mir zwei weitere Frauen vor. Eine davon ist Arantxa. Sie ist etwas jünger als ich und schon seit vier Jahren Witwe. Wir kommen nach dem Sport sofort ins Gespräch. Sie erzählt mir von der Trauergruppe, in der sie war. Komisch, es ist als würde ich sie seit Jahren kennen. Die Trauergruppe existiert zwar nicht mehr, weil die Psychologin die Therapie für beendet erklärt hat, aber die Mitglieder der Gruppe treffen sich trotzdem weiterhin, um gemeinsam auszugehen. Arantxa schlägt vor, mich mit der Gruppe bekannt zu machen. Ich bin einverstanden, denn da alle Witwen sind, weiß jede von ihnen, was ich im Moment durchmache, und ich hoffe, dass mir das irgendwie helfen wird.

Den Rest der Woche starre ich weiterhin die Wände an. Allerdings trudeln zum Glück immer noch WhatsApp-Nachrichten ein, die ich auch alle beantworte. Ich verschicke sogar aus eigener Initiative welche. Kaum zu glauben, dass WhatsApp mal so wichtig für mich werden würde. Es hält mich tatsächlich davon ab, durchzudrehen.

Dann endlich ist es Samstag, und Isabel ruft mich vormittags wie versprochen an. Sie schlägt ein gemeinsames Mittagessen mit ihnen und ein paar Freunden unten am Strand vor. Ich sage sofort zu, denn die Aussicht auf ein weiteres Wochenende alleine zu Hause erfüllt mich mit blankem Horror.

Ich springe unter die Dusche und sorge dafür, dass ich einigermaßen präsentabel aussehe. Zwei Stunden später fahre ich zu Isabel und Ramón, froh, dass ich aus dem Haus komme. Wir haben uns für 13.00 Uhr verabredet, und ich trudele exakt um 13.02 Uhr bei ihnen ein. Als sie in mein Auto einsteigen, bemerkt Ramón als Erstes lachend: „Also für eine Deutsche bist du ja nicht gerade pünktlich“.

„Äh …“, mache ich zunächst einmal sprachlos und bin nicht sicher, ob er das jetzt ernst meint. Doch sie lachen nur, und Ramón winkt gespielt verärgert ab: „Nein, nein, keine Ausreden, wir waren für 13.00 Uhr verabredet.“ Jetzt grinse ich, während er mir zuzwinkert. Es rührt mich, wie die beiden Späße treiben, um mich abzulenken. Und ich lasse mich bereitwillig ablenken, denn ich will nicht wie ein Trauerkloß herumhängen, wenn sie schon so nett sind, mich am Wochenende mitzunehmen.

Am Strandabschnitt La Barrosa angekommen, gehen wir in eine kleine Bierkneipe, wo schon Isabels ältere Schwester Francisca und ihr Mann Diego auf uns warten. Nach einem ersten Bier geht es in eines der Restaurants am Strand. Dort treffen wir auf Ramóns und Isabels Freunde.

Nach dem Essen, das sich lange hinzieht, wechselt die ganze Gruppe rüber ins Touristenviertel Novo Sancti Petri und dort in die Strandbar Trocadero. Pedro und ich kannten das Fischrestaurant, das vor ein paar Jahren hier war, aber vom Trocadero hatte ich keine Ahnung. Doch von diesem Tag an soll diese Bar zu einer meiner absoluten Lieblingskneipen werden.

Wir stehen mit unseren Bierflaschen draußen an einem Tisch auf der Terrasse, während langsam die Sonne untergeht. Die Aussicht vom Trocadero ist spektakulär. Das Meer, der Sonnenuntergang, in der Ferne die Lichter des Strandabschnitts Barrosa ... Einen Moment lang genieße ich einfach nur die Schönheit der Natur um mich herum. Dann merke ich, dass in der Bar Live-Musik gespielt wird. Die Musik ist fetzig, und die Leute tanzen. Und plötzlich kann ich nicht mehr anders. Ich ziehe meine Jacke aus, lasse sie und meine Tasche bei den anderen am Tisch und gehe mit Isabel, Ramón und Isabels Freundin Inma nach drinnen, wo wir loslegen. Ich tanze bis mir der Schweiß herunterläuft. Alle Anspannung des letzten Jahres, der letzten Monate und Wochen fällt von mir ab. Ich tanze, ich drehe mich, ich twiste zu Everybody needs somebody to love, ich mache die Choreographie zu Tina Turners Proud Mary mit und lache zum ersten Mal seit langer Zeit wieder, wenn auch mit Tränen in den Augen. Aber die sieht in der dunklen Bar niemand.

Zwischendrin gehe ich mal kurz raus, um Luft zu schnappen oder einen Schluck zu trinken, nur um beim nächsten fetzigen Lied wieder nach drinnen zu sausen und weiter zu tanzen. Ich kann es kaum glauben. Ich erkenne mich selbst nicht wieder. Für einen Moment frage ich mich auch, ob ich mich schuldig fühlen sollte. Aber die Musik tut mir so gut. Das Tanzen hilft mir so sehr.

Um neun Uhr macht die Band Schluss und auch unsere Gesellschaft löst sich auf. Auf dem Weg nach Hause schalte ich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder das Radio im Auto an, drehe die Musik laut auf, trommle mit den Fingern im Takt auf das Lenkrad und summe das Lied mit. Endlich.

Als ich nach Hause komme, gehe ich sofort ins Schlafzimmer, setze mich aufs Bett, schaue auf die Urne und Pedros Foto davor und sage aus ganzem Herzen: „Danke, Schatz. Das habe ich gebraucht. Danke für diesen Abend.“ Und dann weine ich wieder.

Mitte der Woche kommt Santi, weil der Garten für den Frühling vorbereitet werden und alles radikal gekürzt werden muss. Er fragt mich, wie es mir geht.

„Die Wochenenden sind im Grunde das Schlimmste. Während der Woche bin ich unterwegs, aber Samstage und Sonntage …“, sage ich hilflos.

„Ich weiß.“, nickt er. „Seit ich geschieden bin, geht es mir genauso. Samstags in eine leere Wohnung zu kommen ist grauenhaft.“ Ich nicke, einmal mehr mit Tränen in den Augen.

„Aber ich bin da in einer Gruppe, die unternehmen jede Menge, machen Sport zusammen und Ausflüge und so. Wenn du willst, gebe ich dir die Nummer von der jungen Frau, die das Ganze organisiert. Ruf sie doch einfach mal an.“, schlägt er vor.

Zuerst zweifle ich eine Weile, ob ich tatsächlich bereit bin, an irgendwelchen Gruppenausflügen mit lauter lustigen Leuten teilzunehmen, weshalb ich diese Nummer zuerst nicht anrufe. Doch nach einem weiteren Abend, den ich nur damit verbringe, endlos zu weinen und Foto um Foto anzusehen, ringe ich mich am nächsten Tag doch dazu durch. Ich erkenne: Ich muss mein Leben in den Griff bekommen. Ich muss mich bewegen, muss die Initiative ergreifen. Sonst werde ich untergehen.

Daher tigere ich auch tatsächlich einen Tag später morgens durchs Stadtzentrum auf der Suche nach dem Haus, das mir die junge Frau am anderen Ende der Leitung genannt hat. Als ich es schließlich finde, stelle ich fest, dass an der Tür ein Schild prangt, auf dem für Diätprodukte geworben wird. Der Name kommt mir irgendwie bekannt vor.

Oben im ersten Stock begrüßt mich eine junge Frau etwa Mitte zwanzig. Sie zeigt mir die Räume, setzt sich dann mit mir an einen Tisch und strahlt mich an: „Also, was willst du genau erreichen? Welches Gewicht schwebt dir vor?“ Hä?!

„Äääh, ich bin nicht wegen meines Gewichts hier.“, stammele ich etwas hilflos. „Ich bin frisch verwitwet und Santi hat mir erzählt, dass ihr an den Wochenenden Ausflüge macht und so …“, bricht es dann aus mir heraus. Sie nickt etwas mitleidig und bestätigt mir dann: „Ah, ja, das stimmt. Wir organisieren Ausflüge und machen Sport zusammen.“

Schon schwärmt sie mir von ihren Conventions vor. Allerdings muss ich dazu bei ihnen Mitglied sein und um Mitglied zu sein, muss ich regelmäßig jeden Monat ihre Produkte zum Abnehmen und für den Muskelaufbau (oder was sie sonst noch so in den Verkaufsvitrinen herumstehen haben) kaufen. Erst dann darf ich an den Conventions teilnehmen, für die ich aber zusätzlich bezahlen muss.

Ganz gegen meinen Willen schafft sie es, mich auf eine Waage zu stellen und irgendwie auszurechnen, dass ich dehydriert bin. Ich bin einigermaßen verwirrt, denn das hier läuft alles ganz anders ab, als ich mir nach Santis Beschreibung vorgestellt hatte. Ich fühle mich ziemlich hilflos und überfordert. Außerdem bin ich enttäuscht. Hier geht es nicht um eine lustige Gruppe von Leuten, die etwas miteinander unternehmen. Das Ganze ist bloß eine Verkaufsmasche.

Als Nächstes bugsiert sie mich in eine Küche, in der rein zufällig andere Frauen um einen Tisch herumsitzen.

„Wir treffen uns hier zum Frühstück und schwatzen ein bisschen.“, schwärmt mir meine Begleiterin jetzt mit künstlicher Begeisterung vor.

„Setz dich doch, hier ist alles supi, alle prima. Komm, ich mach dir einen von unseren Tees, den brauchst du jetzt. Und einen von unseren Proteindrinks. Magst du Schokolade?“

Und schon sitze ich in der Runde am Tisch und probiere einen blöden Proteindrink und eine Art Tee. Die anderen Frauen schwärmen mir von ihrer Erfahrung mit den Produkten vor und wie sich ihr Leben dadurch verändert hat. Eine Frau, die sich irgendwo Mitte/Ende siebzig befindet, sagt plötzlich zu mir: „Du bist doch meine Generation, also …“

Wie bitte? Ich bin ihre Generation?? Zugegeben, ich erlebe gerade nicht meinen besten Moment, aber ich sehe doch wohl nicht zwanzig Jahre älter aus, oder? Doch sie fährt schon völlig taktlos, und ohne mein Entsetzen zu bemerken, fort:

„Also wirklich, die Produkte haben meinen Mann geheilt und bei mir“, sie tätschelt mir verschwörerisch auf den Arm, „ist die Scheidentrockenheit weg, seit ich diese Produkte nehme.“ Ich starre sie nur an, während ihre Tochter „Mamá, bitte!“ ächzt.

Doch mamá ist im vollen Werbemodus und nicht zu bremsen. „Nein wirklich, der Sex ist jetzt viel besser! Du wirst schon sehen!“, zwinkert sie mir zu. ‚Na, das dürfte im Moment wohl das geringste meiner Probleme sein.‘, denke ich zynisch, während ich sie nur fassungslos anstarre.

Mein entsetztes Schweigen wird wohl falsch gedeutet, denn schon springen die restlichen Frauen ein und erzählen mir irgendwelchen anderen Quatsch über diese Produkte. Ich bin mittlerweile ziemlich angefressen, lasse mir aber nichts anmerken. Sie können sich ihren Drink gerne sonst wohin gießen.

Am Ende lasse ich mir trotzdem diesen blöden Schokodrink und den Tee aufschwatzen, doch als die Oberverkäuferin mich in diese verdammte Mitgliedschaft drängen will, regt sich endlich mein Widerspruchsgeist. Ich muss regelrecht energisch werden, um dieser Mitgliedschaft zu entrinnen.

Zuhause angekommen, stelle ich meine Einkäufe frustriert in der Küche ab, während ich über meine eigene Blödheit stöhne.

Zwei Tage später, am Samstag, stellt mir Arantxa die anderen Witwen vor – rein zufällig wieder im Trocadero. Ich fühle mich sofort von der Gruppe aufgenommen. Nach und nach erzählt mir jede von ihnen ihre Geschichte: Margaritas Mann hatte eine Transplantation und hat nicht überlebt. Esperanzas Mann ist einfach eingeschlafen und war am nächsten Morgen tot. Als Esperanza den Notarzt verständigte, hat dieser aufgrund des plötzlichen Todes die Guardia Civil verständigt, die Esperanza misstrauisch beäugt hat.

„Ehrlich,“, sagt sie, „ich war so durch den Wind, ich stand total unter Schock und habe einfach ganz normal auf der Arbeit angerufen und ganz ruhig erklärt, dass ich nicht kommen könnte. Und weil ich so ruhig war, haben die Polizisten anscheinend gedacht, ich hätte ihn um die Ecke gebracht.“

Ich stelle mir die Szene vor und bin entsetzt: „Das gibt’s doch nicht.“ Haben die noch nie etwas von Schock gehört?

Arantxas Mann ist bei einem Arbeitsunfall in Südamerika ums Leben gekommen, die Reise dorthin, die Intensivstation, er im Koma, dann sein Tod, die Odyssee, um den Körper nach Spanien zu bringen … ich fasse es nicht.

Und Fionas Mann hatte Schmerzen in der Brust und im linken Arm. Die Ärztin im hiesigen Ärztezentrum der Sozialversicherung hat ein EKG gemacht, aber nichts gesehen. Da ihr Mann Diabetiker und sein Blutzucker hoch war, wurde ihm Insulin gespritzt.

„Danach hat sie uns wieder nach Hause geschickt.“, erklärt Fiona. Jetzt bin ich komplett fassungslos, weiß doch mittlerweile jeder Laie, dass Schmerzen im linken Arm und in der Brust wohl eher Herzprobleme sind.

Fiona erzählt weiter: „Kaum zuhause wurde er immer dunkler im Gesicht. Wir sind gar nicht erst aus dem Auto ausgestiegen, sondern haben sofort umgedreht und sind dieses Mal direkt in die Notaufnahme im Krankenhaus in Puerto Real gefahren. Noch im Auto hat er angefangen zu röcheln. In der Notaufnahme haben sie sofort Wiederbelebungsmaßnahmen eingeleitet – du weißt schon, mit diesen Platten. Aber da war es schon zu spät. Er war kurz darauf tot.“

Ich bin schon wieder sprachlos. Das kann doch alles gar nicht wahr sein.

„Auf Anraten der Ärzte in der Notaufnahme habe ich die ganze Sache einem Anwalt übergeben und kämpfe jetzt seit fast sechs Jahren um Gerechtigkeit.“

Eine andere erzählt, dass ihr Mann Krebs hatte und fünf Jahre lang Pflegefall war. Dann schaltet sich die Nächste ein und hat Ähnliches zu erzählen, bei ihr waren es drei Jahre, ebenfalls mit allem Drum und Dran wie Waschen, Füttern, Windeln wechseln. Ich nicke, denn das habe ich ja auch erlebt.

Eine weitere hat sich von einem gewalttätigen Ehemann befreit. Tatsächlich hat jede von ihnen ihre eigene Geschichte und jede hat gelitten. Aber jede hat es geschafft, ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen. Und während wir quatschen, spreche ich schließlich einen Gedanken aus, der mir die gesamte Zeit über schon im Kopf herumgeht, nämlich die Frage nach einem neuen Partner.

Isabel und Francisca haben mir schon ein paar Mal gesagt, dass ich jemand Neues kennenlernen werde. Ein Gedanke, der mir überhaupt nicht gefällt. Ich bin geradezu empört. Ich will niemand anderen. Ich will Pedro zurückhaben. Ich will mein altes Leben zurückhaben. Ich. Will. Niemand. Anderen.

Doch Isabel und Francisca erwiderten daraufhin nur: „Jetzt nicht, jetzt ist es noch zu früh. Aber du wirst schon sehen.“ Nein, werde ich nicht und will ich auch nicht, denn niemand wird wie Pedro sein. Aber andererseits macht mir die Einsamkeit Angst. Ich habe wahrscheinlich noch so etwa sechsundzwanzig bis dreißig Jahre vor mir. Drei Jahrzehnte endloser, öder Einsamkeit? Aber ich sehe mich auch mit niemand anderem. Ich kann einfach nicht. Und so schwanke ich zwischen Ablehnung und Panik.

Rosana hatte auf dem Friedhof so etwas gesagt wie: „Gott hat noch große Dinge mit dir vor.“ Ich will keine großen Dinge. Ich will mein Leben mit Pedro zurück.

Ich erinnere mich daran, wie ich bei meinem Nachbarn José vor ein paar Wochen Eier kaufte. Er hatte durch seine Schwester von Pedros Tod gehört und mir ein bisschen unbeholfen, aber von Herzen sein Beileid ausgedrückt. Und er erwähnte etwas, das ich nur zu gut verstehen konnte: „Als unsere Mutter starb, haben mir die Leute gesagt, das Leben geht weiter. Ich war unglaublich wütend. Wie konnten sie nur so etwas sagen? Aber, weißt du was, Lia? Sie hatten recht. Das Leben geht weiter.“ Ich nickte in dem Moment nur resigniert dazu, aber ich fühlte und fühle exakt dasselbe, wenn die Leute mir sagen, dass ich jemand Neues kennenlernen werde: Ich bin empört und wütend. Wie können sie Pedro so schnell abhaken? Doch José hat recht: Das Leben geht unaufhörlich weiter.

An einem Tag habe ich mir auch in La Gondola, einem unserer früheren Lieblingsrestaurants, eine Pizza geholt. Santiago begrüßte mich wie immer und hatte keine Ahnung, dass Pedro gestorben war. Als ich es ihm sagte, meinte auch er nur mitfühlend: „Ich habe meinen Vater vor zwei Monaten verloren. Glaub mir, man überwindet den Verlust irgendwann.“

Für mich ist das alles absolut undenkbar, doch ich glaube, dass mir die Erfahrungen, Gedanken, Gefühle der anderen Witwen helfen können, und daher stelle ich jetzt einer anderen Frau in dieser Runde die Frage nach einem neuen Partner.

„Weißt du,“, sagt sie, „ich habe meinen Mann jahrelang gepflegt, und das hat die Liebe mürbe gemacht. Ich wusste am Ende nicht mehr, worüber ich noch mit ihm sprechen sollte. Die Sorgen, die Krankheit, das alles hat die Liebe ausgehöhlt. Ich habe in den letzten Tagen neben ihm gesessen und hatte keine Ahnung mehr, was ich noch sagen sollte. Und relativ früh nach seinem Tod habe ich dann Chano kennengelernt.“, erzählt sie weiter. „Aber meine Kinder haben mir das nie verziehen. Sie können das einfach nicht verstehen. Ich habe ihren Vater jahrelang gepflegt, habe mich dabei so unglaublich einsam gefühlt, und dann kam Chano, und ich konnte endlich wieder etwas fühlen. Aber meine Kinder …“, sie seufzt. „Sie sind erwachsen, sie sollten mich da doch eigentlich besser verstehen.“ Ich nicke mitfühlend.

Die Witwengruppe hat für das nächste Wochenende einen Ausflug nach Marokko geplant, der zu guter Letzt jedoch ins Wasser fällt, weil zu starker Wind herrscht und die Fähren ihren Betrieb eingestellt haben. Ich kann es nicht glauben. Alle Bekannten haben mir geraten, möglichst viel auszugehen. Nach meiner Selbsterkenntnis, dass ich mein Leben langsam wieder in den Griff bekommen muss, habe ich mich aufgerappelt, um an diesem Ausflug teilzunehmen, habe alles mit meinen Tieren organisiert, und dann macht mir das Leben wieder einen Strich durch die Rechnung.

Doch zu meinem großen Glück ruft mich Isabel am Samstag an, sodass ich wieder mit ihr, Ramón, Francisca und Diego ausgehe. Und auch an den folgenden drei Wochenenden gehe ich entweder mit Ramón und Isabel oder mit dem Witwenclub, wie ich die anderen Frauen heimlich getauft habe, aus. An einem Samstag, an dem ich mit den Witwen unterwegs bin, treffen wir im Trocadero auf Isabel & Co. Als ich sie begrüße, schaut Isabel mich an und sagt in bestimmtem Ton „Du bist eine Kriegerin. Una guerrera, una superviviente.“ Ich merke auf. Kurios. Wirke ich so taff auf andere? Ich fühle mich überhaupt nicht so. Es ist eher so, dass ich zwar mit den anderen lache, das kleine Mädchen in mir aber ohne Ende weint. Trotzdem gefällt mir die Vorstellung irgendwie, eine Kriegerin zu sein.

Francisca nickt dazu: „Ja, du steckst so voller Vitalität und Lebensfreude, du schaffst es!“ Wieder wundere ich mich, dass ich so auf andere wirke, während ich mich doch komplett anders fühle. Ich zwinge mich, auszugehen und freundlich oder sogar einigermaßen fröhlich zu sein. Doch meine Fröhlichkeit ist nicht echt, kommt nicht von Herzen. Ich versuche bewusst, jeden anderen Gedanken beiseite zu schieben. Heißt es nicht, dass das Gehirn nicht zwischen echtem und gezwungenem Lachen unterscheiden kann? Ich habe irgendwo gelesen, man soll lachen, auch wenn es gezwungen ist, weil das Gehirn nur das Lachen registriert und daraufhin all diese Wohlfühlhormone ausschüttet, sodass irgendwann dann aus dem gezwungenen ein echtes Lachen wird. Also lache ich.

So vergehen einige Wochen. Meine Freundin und Nachbarin Barbara hat schon mehrmals sonntags bei mir vorbeigeschaut und auch eine andere Nachbarin, Amaya, kommt ein paar Mal, worüber ich sehr froh bin.

Die Samstage sind ausgefüllt, weil ich entweder mit den einen oder den anderen zum Essen und Tanzen ausgehe, wo ich mir alle Anspannung wegtanze, alle Ängste ausschwitze, aber die Sonntage sind grauenhaft. Während der Woche und an den Samstagen kann ich mich durch das Ausgehen betäuben. Ich gehe einkaufen, komme nach Hause, gehe erneut einkaufen, gehe mit den Hunden spazieren, gehe zum Sport. Ich lege zuhause immer nur kurze Boxenstopps ein. Es ist, als würde ich vor meinem Zuhause flüchten. Doch sonntags sind alle Läden und Fitnessstudios geschlossen. Es gibt keinen Ort, an den ich flüchten könnte. Daher bin ich froh, wenn ich sonntags Besuch bekomme und so wenigstens eine oder zwei Stunden Kontakt zu anderen Menschen habe. Während ich in den ersten Wochen zu niemandem Kontakt wollte und mich nur hier in meiner Höhle verkrochen habe, ist es jetzt genau umgekehrt. Ich flüchte aus meiner Höhle, suche den Kontakt zu anderen Menschen. Halte das Alleinsein nicht aus. Obwohl ich viel aus dem Haus komme, bin ich trotzdem täglich zwanzig Stunden oder mehr alleine. Und sobald ich alleine bin, drehen sich meine Gedanken im Kreis. Ich durchlebe weiterhin immer und immer wieder Pedros letzte Momente.

Und so stelle ich auch Barbara beim Sonntagskaffee immer wieder die gleichen Fragen, drehe mich im Kreis, versuche, meiner Fassungslosigkeit Ausdruck zu geben, will eine Antwort auf mein ‚Warum?‘ Auf mein ‚Wie kann das alles sein?‘ Doch auch Barbara hat irgendwann keine Antworten mehr.

Ich habe es ein paar Stunden lang mit Yoga probiert, aber sobald es an die Abschlussmeditation geht und ich die Augen schließe, sehe ich Pedros Gesicht, höre seinen Atem und muss die Augen öffnen und die Meditationsrunde verlassen, wenn ich nicht vor allen losheulen will.

Ab und zu träume ich von Pedro. In einer Nacht stehen Pedro und ich in meinem Traum im Krankenhaus auf einer Art Treppenabsatz und sprechen mit mehreren Ärzten. Das heißt, ich spreche mit mehreren Ärzten, denn ich habe von einem Arzt in Málaga erfahren, der uns helfen könnte, während die Ärzte hier mir davon abraten. Pedro steht nur ruhig da und hört zu. Ich diskutiere mit einer Ärztin, die Pedro unbedingt weiterbehandeln will und meint, viele Köche würden nur den Brei verderben. Als ich mich zu Pedro umdrehe, um seine Meinung zu hören, ist er verschwunden. Er ist einfach nicht mehr da. Und dann sind auch plötzlich alle Ärzte weg, und ich stehe alleine auf dem Treppenabsatz. Und halb im Wachwerden denke ich „Ja. Du bist genauso plötzlich aus meinem Traum verschwunden, wie du aus meinem Leben verschwunden bist. Auf einmal warst du einfach weg.“ Dann werde ich richtig wach und weine erneut eine Weile.

Ein paar Nächte später träume ich wieder von ihm: Dieses Mal bin ich in einer seltsamen Wohnung. Ich stehe in einer Art Flur mit Blick auf eine Küche. Genau geradeaus von mir, an der gegenüberliegenden Seite der Küche ist ein weiterer Flur. Pedro kommt im Bademantel aus diesem Flur. Ich rufe, winke, aber er hört und sieht mich nicht. In der Mitte der Küche, zwischen den beiden Fluren stehen ein Esstisch und ein paar Stühle. Rechts sind Küchenschränke und eine kleine Glastür zu einem winzigen Balkon mit einem Stuhl. Pedro geht durch diese Glastür und setzt sich draußen auf diesen Stuhl. Er lässt sich von der Sonne bescheinen und hat mir den Rücken zugedreht. Ich weiß nicht warum, aber aus irgendeinem Grund kann ich mich nicht von der Stelle lösen, ich kann nicht zu ihm. Ich kann diesen Flur nicht verlassen, die Küche nicht durchqueren, nicht auf diesen Balkon gelangen. Ich rufe und winke weiter, aber er hört mich nicht. Dann plötzlich bin ich auf der Straße, unter dem Balkon. Irgendjemand hält mich auf, will von mir Hilfe mit seinem Handy. Ich bin ungeduldig, will hier keine Zeit verschwenden, sondern will wieder in die Wohnung hinauf, auf diesen Balkon und zu Pedro. Doch ich erkläre dieser anderen gesichtslosen Person die Handyfunktionen. Erst danach kann ich mich loseisen und stürme die Treppe hinauf. Dieses Mal kann ich die Küche betreten und bis zum Balkon gelangen, doch jetzt ist der Balkon leer. Pedro ist weg, ich bin zu spät gekommen.

Ein paar Wochen später träume ich noch drittes Mal von ihm. Pedro und ich sitzen in einer Cafetería und unterhalten uns. Dann steht er auf, will kurz in ein Hotel gegenüber gehen und etwas aus unserem Zimmer dort holen. Er ist zu lange weg, weshalb ich anfange, nach ihm zu suchen. Ich gehe hinüber ins Hotel, frage alle möglichen Pagen in altmodischen Uniformen, ob jemand Pedro gesehen hat. Man schickt mich quer durchs Gebäude und sagt mir zuletzt, ich müsse einen bestimmten Aufzug nehmen. Jemand weist mir den Weg. Doch als ich den vermeintlichen Aufzug betrete, schließen sich die Türen, und ich bin in einem Bus, der auch sofort losfährt und mich durch seltsame dunkle Straßen und Gassen schaukelt. Ich protestiere, will, dass der Bus anhält, damit ich aussteigen kann, doch der Fahrer sagt mir nur, ich müsse bis zum Ende der Strecke im Bus bleiben. Erst wenn ich am Ende angelangt sei, könne ich zu Pedro zurückfahren. Und niemand kann mir sagen, wohin der Bus fährt und wie lange die Fahrt dauert. So sitze ich in diesem Bus fest auf dem Weg nach Keine-Ahnung-wohin-und-keine-Ahnung-wie-lange. Als ich dieses Mal wach werde, denke ich, wie bei den anderen Träumen auch, dass man kein Psychologe zu sein braucht, um die Botschaften meines Unterbewusstseins zu verstehen, das mir den Verlust irgendwie klarmachen will. Eine Art der Verarbeitung. Aber es tut so weh.

An einem Abend trifft sich der Witwenclub bei Margarita. Jede bringt etwas mit. Während wir essen und trinken, schwatze ich mit Fiona. Da Isabel weiterhin davon überzeugt ist, ich würde einen neuen Partner finden, während ich weiterhin darauf beharre, dass ich niemanden will, treibt mich diese Frage noch immer um. Und so frage ich dieses Mal Fiona danach.

„Oh.“, lächelt sie mich glücklich an. „Mir ist etwas Wunderschönes passiert.“

„Du hast also auch einen neuen Partner?“, frage ich neugierig.

„Na ja, nicht direkt.“, gibt sie zu, und ich schaue sie abwartend an.