Wo alle Katzen hingehen - G. J. Herzlichst - E-Book

Wo alle Katzen hingehen E-Book

G. J. Herzlichst

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Beschreibung

Spannende und mitreißende Geschichte um vier Hauskatzen, die nach ihrem Tod im Seelenreich der Feliden aufeinandertreffen. Mit wachsender Zuneigung offenbaren sie ihre Lebenserfahrungen. Rätselhafte Begegnungen mit anderen Katzenartigen sowie erstaunliche und unvorhersehbare Geschehnisse führen die Katzen letztendlich zu unerwarteten Einsichten und Entscheidungen.

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Inhaltsverzeichnis

Unbekannte Pfade

Neuordnung

Auf der Suche

Quercus

Einblicke

Hintergründe

Entscheidungen

Tatsachen

Daheim

Unbekannte Pfade

„Niemand weiß es. Wozu auch. Das Vergessen umarmt sie alle während des Geburtsvorganges. Es ist nicht mehr wichtig. Geradezu unnötig.“ Die große Schwarze saß aufrecht auf einem Scheitholzstoß, den Schwanz eng um ihre Vorderpfoten gelegt. Bedächtig schaute sie in die vor ihr sitzende Menge der Neuankömmlinge, die verwirrt, erstaunt oder verwundert zu ihr aufblickten, während sie der Rede der schwarzen Katze lauschten. Sanft fuhr diese fort. „Vermutlich denkt ihr das Klopfen in eurer Brust zu spüren, obwohl eure Herzen längst zu schlagen aufgehört haben. Nach wie vor seid ihr verbunden mit euren Lebensbildern. Eure Körper, eure Pelze, sind Reflexionen eurer Erinnerung. Ein Echo aus früheren Zeiten, das auch hier Bestand hat.“ Anmutig senkte die schöne Katze mit dem glänzenden schwarzen Fell leicht ihren Kopf. Für einen kurzen Moment schloss sie die Augen, bevor sie sich wieder an die kleine Versammlung wandte. „Soweit von mir, fürs Erste. Wenn ihr weitere Fragen habt, ich bin jederzeit ansprechbar und in eurer Nähe. Genießt es, seht euch in Ruhe um, hier gibt es keine Eile.“

Mit diesen Worten stand sie auf, ging über die frühlingsgrüne, mit gelbblühendem Löwenzahn übersäte Wiese auf ein Wäldchen zu, dessen Bäume sich bereits teilweise ihrer Blätter entledigt hatten. Das auf den Ästen verbliebene Herbstlaub tanzte in gelben und rotgoldenen Farben im Spiel des Windes.

Dem Wald angrenzend lag ein zugefrorener Weiher. Er war von schneebedecktem Schilf umrandet, das sich schwer beladen der Eisfläche entgegenneigte. Direkt daneben wurzelten fruchttragende Apfelbäume. Unter deren Blätterkronen glänzten langstängelige Lilien mit weißen Blütenständen im Abendrot.

Hier war alles möglich. Zur gleichen Zeit, nebeneinander. Das Terrain wurde aus den Gedanken und Erinnerungen von Abertausenden Katzen geschaffen, dem ewigen Wandel unterworfen. Jede Katze konnte sich ihre eigene Landschaft erschaffen, die nur solange währte, bis eine andere sie aus ihren Vorstellungen und Auffassungen neu formte.

Still starrten die Neuankömmlinge der großen Schwarzen nach, bis diese in der wie verzaubert wirkenden Kulisse allmählich verschwand.

„Ihr könnt mich Michi nennen, so hat auch meine Menschenfrau mich gerufen“, brach eine mittelgroße, hagere, wohl schon ältere Kätzin das Schweigen in der kleinen Gruppe. Sie hatte grüne Augen, ein orangerotes Gesicht mit schwarzer Nase sowie schwarze Ohren. Ihre Brust war, wie die Vorderpfoten, weiß. Rumpf, Schwanz und Hinterpfoten waren schwarz und rot gemustert.

„Madelene ist mein Name, Leni eigentlich“, miaute eine schlanke, weichpelzige, hellbraune Tigerkätzin. „Ich bin noch ganz durcheinander. Mir ist, als wäre ich gerade noch Zuhause auf dem Sofa gelegen — und jetzt das da.“ Nach einer kleinen Nachdenkpause fuhr sie fort. „Das Gute daran ist, dass ich nicht mehr müde bin. Ich war in letzter Zeit immer sehr abgeschlagen. Jede Kleinigkeit war anstrengend und fiel mir schwer. Jetzt ist alles leichter, mir tut nichts weh.“ Mit einem kleinen Seufzer beendete die hübsche Getigerte ihre Vorstellung. Auffordernd blickte sie zu dem rothaarigen, etwas struppigen, leicht korpulenten Kater zu ihrer Linken. Dieser räusperte sich. Höflich neigte er sein Haupt, bevor er sich vorstellte.

„Rosso“, miaute er freundlich. „Wegen meinem Fell“, ergänzte er erklärend.

„Ich heiße Blanche, weil ich weiß bin!“, schwatzte eine kleine Halbwüchsige los, ohne abzuwarten, ob Rosso noch etwas zu sagen gehabt hätte.

Daraufhin stellten sich die anderen Katzen, die vor dem Holzstoß saßen, reihum vor. Da waren noch Püppi, Struppi, Tiger, Mimi, Whiskey, Lisl, Carlo, Quickie, Otto und Mädi. Außer Whisky, ein großer, reinrassiger Maine-Coon-Kater mit langen Haaren, allesamt ganz normale europäische kurzhaarige Hauskatzen mittleren bis höheren Alters.

Wieder ergriff Michi das Wort. „Ich schlage vor, dass wir uns in Gruppen aufteilen. Alle auf einen Haufen, das ergibt keinen Sinn. So können wir uns besser umsehen und uns klar werden, wo wir hier eigentlich gelandet sind und was an diesem Ort möglich ist.“ Sie ließ ihren Blick über die Katzenrunde schweifen, woraufhin die Dreifarbige aufstand und auffordernd zur Getigerten, die neben ihr saß, blickte.

„Ich komme mit dir“, nickte Leni. Der rote Kater sollte zu ihrer Gruppe gehören. Das ergab sich für ihr Verständnis schon alleine dadurch, dass er neben ihr stand. Einladend legte Leni ihren Schwanz über seinen Rücken. „Willst du uns begleiten?“

„Meinetwegen.“ Rosso kratzte mit der Hinterpfote etwas Unsichtbares aus seinem Fell. Mit dieser Geste wischte er beiläufig Lenis Schwanz von seinem Körper.

„Also gut, eine Dreiergruppe ist perfekt, dann wollen wir gehen.“ Michi war ganz offensichtlich das Kommandieren gewöhnt. Sie setzte sich in Bewegung.

Leni und Rosso folgten ihrem Kommando. Gleichzeitig standen sie auf und trotteten hinter ihr her.

Während die übrige Katzengesellschaft dabei war ebenfalls Grüppchen zu bilden, löste sich die etwas vorwitzige Weiße von ihnen.

„Halt! Wartet! Ich will auch in eure Gruppe!“ Aufgeregt lief Blanche dem frisch gebildeten Trupp nach.

„Such dir Gleichaltrige, du hältst uns nur auf!“ Ohne stehenzubleiben, blaffte Michi die Halbwüchsige barsch an.

„Da sind aber keine Gleichaltrigen, falls du das nicht bemerkt hast!“ Die kleine Weiße ließ sich nicht einschüchtern. Leichtpfotig hüpfte sie dem Dreiergespann weiter hinterher.

„Mag sein.“ Michi war genervt, für sie war die Gruppe geschlossen. Sie versuchte die Kleine abzuwimmeln. „Ich habe keine Lust, Babysitter zu spielen und Kinderfragen zu beantworten.“

„Ich brauche keine, die auf mich aufpasst, ich bin schon fast ein Jahr alt!“ Entrüstet plapperte die Halbwüchsige weiter. „Und überhaupt hast du selbst keine Ahnung und kennst dich genauso wenig aus wie ich. Du kannst mir gar nichts beantworten oder erklären, weil du ohnehin nichts weißt von all dem hier. Wir stehen auf gleicher Stufe!“ Trotzig sah sie mit zusammengekniffenen Augen zur Dreifarbigen hoch. „Wenn das Alter schon eine Rolle spielen sollte, bin ich nicht zu jung, sondern du zu alt und lahm für mich!“ Außer Atem, mit aufgeplustertem Rückenfell, hielt sie mit Michi schritt.

Leni blieb abrupt stehen. Rosso, der hinter ihr hergetrottet war, stolperte beinahe über sie.

„Sie hat recht, Michi. Im Grunde sind wir an diesem Ort alle wie Kinder. Lassen wir sie mitkommen“, miaute die Getigerte sanftmütig.

Michi blieb ebenfalls stehen. Sie drehte sich zu den anderen um. „Was meinst du, Rosso?“

„Meinetwegen.“ Der rote Kater schien nicht sehr gesprächig zu sein. Gleichgültig zuckte er mit den Schultern.

Michi wandte sich an die etwas atemlose, schnaufende kleine Kätzin. Gekonnt legte sie ihre Stirn in Falten bevor sie einen ernsten Blick aufsetzte.

„Also gut. Du kannst dich uns anschließen.“ Ihre Stimme nahm einen drohenden Ton an. „Aber benimm dich und nerve mich nicht. Sonst wirst du es bereuen!“

„Super! Super!“ Aufgeregt sprang die Kleine, die die Drohung ignorierte, zweimal in die Luft, lief zur Getigerten und rieb ihre Nase an deren Wange. „Danke, dass du dich eingesetzt hast!“

„Ist schon gut.“ Leni erwiderte die Berührung. Leise fügte sie hinzu: „Du kannst neben mir herlaufen, wenn du möchtest.“

Schweigend gingen die vier in Richtung Apfelbäume, schlugen einen Kiesweg ein, der über eine Wiese mit hohem Sommergras führte. Blaue Glockenblumen standen neben riesigen Margeriten. Nicht weit entfernt war ein plätscherndes Bächlein zu hören. Dort angekommen stieg Rosso ohne zu zögern mit allen vieren in den Bach. Das Wasser reichte ihm bis ans Bauchfell, was ihn nicht zu stören schien. Er senkte seinen Kopf und begann gierig zu trinken. Die Mädchen sahen ihm etwas irritiert zu, sagten aber nichts. Darauf achtend, dass ihre Pfoten trocken blieben, ließen sie sich am Ufer nieder. Vorsichtig steckten sie ihre Zungen ins Nass.

Nachdem alle ein paar kühle Schlucke genommen hatten, setzten sie sich auf den schmalen Sandstreifen neben dem Bach, um sich das Fell glattzustreichen. Der rote Kater schüttelte das Wasser aus seinem Pelz und begann seinen Bauch mit der Zunge intensiv zu reinigen.

Während Blanche ihre rechte Vorderpfote ableckte, um sich damit vom Ohr über die Augen bis zur Nase zu streichen, brach sie die eingekehrte Stille.

„Ihr wisst, dass wir weder etwas trinken noch unser Fell pflegen müssen?“

Zustimmend nickte Leni. „Da hast du wohl recht, aber ich putz mich halt gerne.“

„Ich auch“, bestätigte die Halbwüchsige. Nachdenklich bearbeitete sie ihr Ohr weiter. „Was mir nicht aus dem Kopf geht: Wenn wir jetzt alle tot sind und hier alles so schön ist, warum hängen dann eigentlich alle Katzen so am Leben? Tot sein ist doch viel schöner!“

Leni leckte der Kleinen das Fell am anderen Ohr glatt.

„Du bist wahrscheinlich zu jung gestorben. Du kennst zu wenig vom Leben, um das wirklich beurteilen zu können. Es stimmt, hier ist es wunderschön. Es geht mir gut. Dennoch, zu Hause hatte ich meine Familie und meine tägliche Routine. Meine Sicherheit, meine Streicheleinheiten. Ich konnte mit meinen Menschen im Bett kuscheln, ganz eng an sie geschmiegt einschlafen, mich von ihnen bürsten lassen. Daheim gab es viele Dinge, die ich liebte und die ich jetzt nicht mehr habe, die ich vermisse.“

Blanche sah Leni mit großen Augen an. „Was ist kuscheln? Was ist ein Bett?“

„Na das, worin die Menschen nachts schlafen. Ein großes, etwas erhöhtes Möbelstück mit weicher Einlage, mit Polster und Decken. Unter denen wird es angenehm warm. Manchmal habe ich mich unter die Tuchent geschlichen. Ich habe mich ganz nahe zu meinen Menschen gelegt. So, wie wir Katzen das untereinander tun. Ich habe ihren Atemrhythmus gespürt, während ich mich lang an ihrem Körper ausgestreckt oder einfach auf sie draufgelegt habe.“

Ungläubig hing die Halbwüchsige an ihren Lippen.

Leni schnurrte leise, während sie weiter erzählte. „Oft bin ich unter ihren Händen, die mich gestreichelt haben, eingeschlafen. Manchmal auf dem Polster, direkt neben ihrem Kopf, oft auch zwischen ihren Beinen. Entweder nur ich oder gelegentlich auch gemeinsam mit meinen Brüdern Keoma und Ulrich.“ Lenis Schnurren wurde lauter.

„Hattest du denn kein Bett zum Schlafen?“, fragte Michi irritierte.

Blanche senkte den Kopf. „Ach so. Nein. Also ich schlief auf einem Tuch in meiner Box. Wenn die Menschen mich untersuchten, holten sie mich heraus, stellten mich auf den silbernen Metalltisch. Wenn sie fertig waren, kam ich wieder hinein. So war es bei allen anderen Katzen auch. Immerhin hatte jede von uns ihre eigene Box!“, endete die kleine Weiße.

Michi stand auf, ging zu ihr hinüber. Sanft legte sie ihren Schwanz auf den Rücken der Halbwüchsigen. Neugierig fragte sie: „Wie viele Boxen gab es denn da?“

„Ganz viele!“ Blanche freute sich über das Interesse. „Außerdem hatte jede von uns ein weißes Fell. Wie viele es genau waren, kann ich nicht sagen. Gerochen habe ich einige, meine Geschwister waren ebenfalls in dem gleichen Raum. Meine Mama nicht, die war mit den anderen großen Mutterkatzen und den ganz kleinen Babys in einem separaten Zimmer untergebracht.“ Sie hielt kurz inne, um nachzudenken. „Es gab auch noch andere Räume. Das habe ich gerochen, wenn die Menschenfrau gekommen ist, die täglich bei uns sauber gemacht und meine Box geputzt hat. Sie hat den Geruch anderer Katzen mitgebracht.“ Wieder dachte sie nach, bevor sie fortfuhr. „Die war auch recht nett, hat mit mir geredet. Manchmal ist sie mit ihrer Hand kurz über meinen Rücken gefahren. Doch kuscheln würde ich das nicht nennen.“ Noch einmal legte sie eine Nachdenkpause ein, bevor sie mit ernster Stimme zu erzählen fortfuhr. „Die Menschen mit den weißen Mänteln waren nicht so angenehm. Die haben Teile aus meinem Fell ausrasiert, da wo ich weder mit der Zunge noch mit den Pfoten hinkam. An dieser Stelle haben sie mir etwas draufgeschmiert. Das hat oft gejuckt oder gebrannt.“ Unwillkürlich begann ihr Rückenfell zu zucken.

Michi setzte sich neben sie. Ungläubig schüttelte sie den Kopf.

„Schrecklich!“, miaute Leni entsetzt.

„Wirklich schlimm waren die Tropfen, die sie mir in die Augen geträufelt haben. Das hat echt lange wehgetan. Ich konnte auch nichts sehen, weil meine Augen so geronnen sind von dem Zeug. Wegen des Trichters, den ich um den Hals tragen musste, konnte ich nichts dagegen tun, ich konnte meine Augen nicht mit meinen Pfoten säubern.“

„Diese bösartigen Kleingeister! Verflucht sollen sie sein!“ Michi fauchte, bevor sie sich wieder an Blanche wandte. „Kleine, wie konntest du denen entkommen?“

„Gar nicht“, seufzte Blanche. „Bis sie mich umgebracht haben. Irgendetwas muss schiefgegangen sein, ich war für sie wohl nicht mehr brauchbar. Die Menschen haben mich nach der letzten Untersuchung nicht wie üblich in meine Box zurückgegeben. Sie haben mich in einen kleinen Metallgitterkäfig getan und in ein anderes Zimmer gebracht. Dort hat mich ein Weißkittel mit einer Nadel gestochen. Wenig später habe ich nichts mehr gespürt. Ich konnte mich auch nicht mehr bewegen.“ Wieder dachte die kleine Weiße nach.

Madelene zuckte nervös mit den Ohren.

Michi ließ ihren Schwanz hin und her peitschen.

Rosso starrte Blanche mit gesträubtem Pelz an.

Die Weiße fuhr fort: „Ich sah mich selbst dort liegen, konnte aber nichts machen. Der Mensch ist hinausgegangen und hat mich liegen gelassen. Irgendwann ist er wiedergekommen, hat mich am Nackenfell gepackt und in einen Sack gesteckt und hinausgetragen. Ich bin ihm nach, weil ich wissen wollte, wo er mich hinbringt. Das war ganz einfach, ich konnte durch die Türe und die Wände gehen, obwohl ich ja eigentlich in dem Sack lag.“ Blanche schluckte, bevor sie leise weitersprach. „Er hat mich in einen Container geschmissen, wo bereits mehrere andere gleiche Säcke lagen.“ Die Halbwüchsige war aufgewühlt und nervös. Ein kurzes Gähnen brachte ihr ein wenig Entspannung. „Sie haben mich getötet und entsorgt. Aber irgendwie war ich trotzdem noch da.“

Die drei Katzen, die gespannt zuhörten, nickten wissend.

„Ich konnte überall hin. Also habe ich mich in dem großen Gebäude umgesehen. Ich fand nicht nur Katzen, sondern jede Menge Mäuse und Kaninchen. Sie waren ebenfalls weiß. Durch die Wände glitt ich von Raum zu Raum. Ich habe gesehen, was sich keine Katze denken kann, dass es das gibt. Was Menschen dort getan haben.“ Die letzten Worte kamen nur mehr ganz leise, beinahe unverständlich hervor. Blanche schluckte, schüttelte ihren Kopf, als könnte sie so die Erinnerung daran vertreiben. „Ich wollte dort weg. Ich konnte nicht mehr ertragen, sie alle leiden zu sehen und ihnen nicht helfen zu können. Während ich von einer gequälten Kreatur zur anderen lief, schien irgendetwas an mir zu ziehen. Es kam mir vor, als würde ich mich auflösen. Ich weiß nicht, was genau geschehen ist, aber ich war von dort weg.“ Blanche nickte, sich selbst bestätigend. „Das Nächste, woran ich mich erinnere, ist der Holzstoß mit der großen Schwarzen und dass ich bei dem Vortrag gesessen bin. Und jetzt bin ich hier bei euch.“ Blanche schloss ihre Geschichte.

Vorsichtig drückte sie sich an Michi, die gerührt neben ihr saß und sanft die Berührung erwiderte. „Jetzt bist du ja bei uns. Arme Kleine.“

Rosso knurrte. Wütend grub er seine ausgefahrenen Krallen in den Sand.

Madelene hatte ihre Augen weit aufgerissen. Blankes Entsetzen spiegelte sich in ihrem Blick, ihren Schwanz hatte sie zwischen den Beinen eingezogen.

„Oh, habe ich euch erschreckt?“ Die kleine Weiße sprang irritiert auf. Entschuldigend blickte sie in die Runde der verstörten Katzen. „Das wollte ich nicht.“

Leni begann sich langsam wieder zu entspannen. „Danke, dass du uns deine Geschichte erzählt hast“, säuselte sie leise. „Ich hätte nicht gedacht, dass Menschen so etwas tun können.“

Michi nickte ihr bestätigend zu. „Sie werden es bestimmt bereuen, ich habe sie verflucht.“

Blanche hüpfte zwischen den Katzen hin und her, versuchte sie aufzuheitern und zum Aufbrechen zu animieren. „Ach, lasst uns ein bisschen herumlaufen, um auf andere Gedanken zu kommen. Vielleicht bachabwärts? Wollen wir schauen, was weiter unten kommt?“

Gemeinsam verließen sie den schmalen Sandstreifen und liefen den Bachlauf entlang. Die Route wechselte zwischen Schotter, Sandflächen, Wurzelausläufern, Gras und blanker Erde, bis er vom Schwemmland weg ins Unterholz führte. Auf beiden Seiten des Waldpfades standen zahlreiche Sträucher und Holzgewächse. Abgeworfene, trockene Zweige lagen verstreut längs des Weges. Sie knackten bei jedem einzelnen Pfotenschritt.

„Sucht ihr Quercus?“ Die Frage kam aus einem dichten Fliederbusch, während die vier gerade daran vorbeigingen.

Vorsichtig lugte Leni ins lilablühende Gebüsch. „Nein. Tut uns leid, den kennen wir gar nicht.“

„Wollt ihr spielen?“ Der Strauch bewegte sich, die Blätter und Äste knisterten, während eine schöne Siamkatze mit langen Beinen daraus hervortrat, einen kleinen rosaroten Ball mit ihren Pfoten vor sich hertreibend. „Ich spiele wahnsinnig gerne. Ich könnte euch den Ball zuspielen, dann schießt ihr ihn weit weg, ich hole ihn zurück und ihr schießt ihn wieder fort.“ Sie unterbrach ihren Redeschwall, musterte die Katzengruppe mit ihren mandelförmigen blauen Augen und mit aufgestellten Ohren, ohne ihr Spielzeug ganz aus dem Blick zu lassen. „Ah, ihr seid neu hier. Dann lasst euch nicht aufhalten. Ihr werdet Quercus schon finden.“

So plötzlich, wie sie herausgetreten war, drehte sie sich wieder um und raschelte mit ihrem Ball zurück in den duftenden Strauch.

Rosso schüttelte verwirrt seinen Kopf. „Wir suchen den doch gar nicht. Oder doch?“, fragend blickte er in die Runde der Kätzinnen.

„Nicht, dass ich wüsste. Gehen wir einfach weiter, ich kannte früher einmal eine Siamkatze, die sind, glaube ich, alle ein bisschen komisch.“ Michi winkte mit dem Schwanz und der Tross setzte sich wieder in Bewegung.

„Eigenartig“, murmelte Rosso während er sich dem Trupp anschloss und gemütlich hinter den anderen hertrottete.

Sie kamen in ein parkähnliches Gelände mit hübschen, von Flusssteinen eingerahmten Blumenbeeten. Ein alter Baumbestand mit gepflegtem Rasen, blühenden Rosensträuchern und zauberhaften Staudengewächsen breitete sich vor ihnen aus. Auf einem kleinen Hügel plätscherte ein Springbrunnen.

„Hier ist es sehr schön!“ Blanche bewunderte die Gegend. Sie war von jedem Landschaftsabschnitt, den sie betraten, begeistert. In ihrer Erinnerung gab es keine Wiesen, Blumen oder Bäume.

„Hast du auch so einen Park gehabt?“, wollte sie von Michi wissen, während sie neben ihr herlief.

„Ganz genauso nicht. Vor allem nicht so groß. Wir hatten einen Garten mit kurz geschnittenem Gras und zwei Blumenbeete. Rundherum war ein Zaun, da durfte niemand herein, wenn ich das nicht wollte. Ich konnte aber jederzeit hinausgehen. Wenn mir danach war, ging ich in andere Gärten. Einen gab es, der war dem Park hier sehr ähnlich, aber auch kleiner.“ Michi grinste. „Wenn ich mich erleichtern wollte — ihr wisst schon — habe ich das immer in einem anderen Garten getan, nie in meinem eigenen.“

Sie schlenderten weiter durch den Park der plötzlich in ein dichtes Weizenfeld mit reifen, gelben Ähren überging. Blanche kam aus dem Staunen nicht heraus, ständig sah sie Unbekanntes.

„Was ist das?“

„Wozu brauchen Katzen das?“

„Wie heißt das?“

Die halbwüchsige weiße Kätzin war sehr wissbegierig und stellte viele Fragen.

Geduldig antworteten Michi und Leni abwechselnd, so gut sie es konnten, während ihnen Blanche aufmerksam zuhörte. Auch der Kater lauschte ihren Worten interessiert.

Da die beiden in einem Haus mit Garten gelebt hatten, waren ihnen die meisten Pflanzen nicht fremd, dieser ständige Wechsel und die Vielfalt überraschten jedoch auch die beiden.

Rosso, von seiner ganzen Art her zurückhaltender, ließ sich nicht anmerken, dass auch ihm die Landschaften, die sich auftaten, neu waren. Jedes Mal betrat er unbekanntes Terrain. So war er über die Fragen der kleinen Weißen froh, er musste nicht preisgeben, dass er mit jedem Pfotenschritt Neuland betrat. Durch die Erzählungen seiner Begleiterinnen setzten sich für ihn einzelne Teile eines riesigen Puzzles zumindest in kleinen Stücken zusammen.

Rosso war zu seinen Lebzeiten ein geliebter Wohnungskater gewesen. Er lebte viele Jahre lang mit dem Mann, der ihn versorgte, in einer Mehrzimmerwohnung mit vielen Fenstern. Oft nahm er auf der Fensterbank Platz und schaute sich entweder die Autos an, die unten auf dem Asphalt vorbeifuhren, oder er blickte in die Fenster des gegenüberliegenden Hauses. Er erinnerte sich, dass eine Zeit lang an einem Fenster gegenüber eine andere Katze gesessen hatte. Das war aber nicht lange gewesen und sie hatte ihn auch nie bemerkt.

Alles, was er an Pflanzen kannte, waren die gelegentlich den Glasscheiben des gegenüberliegenden Gebäudes vorgelagerten Blumenkistchen. Seine Fenster hatten keinen Blumenschmuck. Allerdings war ihm das gleichgültig gewesen. Er liebte seine Fenster auch so. Darüber hinaus hatte er in seiner Wohnung etwas, was er noch viel lieber mochte. Seine Zeitungen. Davon wurde jeden Tag eine Neue geliefert. Sein Mensch hob sie, nachdem er sie gelesen hatte, alle auf. Er band sie zu Stößen zusammen, die er überall in der Wohnung aufschichtete. Rosso liebte diese Stapel an Papier. Er genoss seine Schläfchen, die er darauf hielt. Er hatte seinen Menschen geschätzt, so wie auch dieser ihn mochte. Die beiden teilten sich das Bett, die Teller, die ganze Wohnung. Ein Kisterl mit Einstreu, das nur er benutzte, stand in dem gleichen Zimmer, in dem auch der Mann sich erleichterte. Auch wenn dieser immer dafür sorgte, dass es sauber war — in einem Garten hätte er seine Hinterlassenschaften schon gerne vergraben. So wie Michi es geschildert hatte. Das stellte er sich interessant vor. Sonst war er aber zufrieden gewesen und da er blühende, grünende, riechende Landschaften nicht kannte, hatten sie ihm auch nicht gefehlt. In Gedanken an sein vergangenes Leben versunken, trottete er hinter den Kätzinnen durch das Weizenfeld, als unerwartet Wassertropfen auf sie herunterfielen.

„Ihh! Ich hasse Regen!“, raunzte Leni genervt.

In dem Moment tat sich vor ihnen eine kleine Erhebung auf, ein Erdhügel, der einen gemauerten Eingang in eine einfache Höhle hatte. Schnell schlüpften die vier hinein ins Trockene.

„Wie ist denn der Unterschlupf hier plötzlich hergekommen?“, staunte Michi und schüttelte sich den Pelz trocken. „Ich könnte schwören, dass er vorhin noch nicht da war.“

„Also, ich glaube, das war ich.“ Lenis Augen wurden dabei ganz groß vor Staunen. „Ich kenne diese Höhle.

Die war bei mir in meinem Garten. Wenn es zu Hause geregnet hat, habe ich mich dort gerne untergestellt und den Tropfen zugesehen, wie sie in der Wiese zu Pfützen wurden.“

„Es stimmt also, was die große Schwarze gesagt hat. Wir können unsere Umgebung selbst ändern, wenn wir das wollen.“ Blanche hüpfte aufgeregt aus dem Unterstand in den Regen hinaus und wieder zurück zu den anderen. „Schade, dass ich keine schönen Erinnerungen habe, sonst würde ich mir auch etwas erschaffen, das ich kenne.“

„Meine Menschen haben den Unterstand als Katzenbushaltestelle bezeichnet. Wenn ich ihnen zu lange bei Regen draußen war, sie erfolglos nach mir gerufen haben, haben sie mich im Garten gesucht, bei dieser Stelle abgeholt und ins trockene Haus gebracht.“ Leni war stolz auf ihren geschaffenen Unterschlupf.