Wo, bitte, geht's denn hier zur Couch? Verhaltenstherapie einfach erklärt - Benjamin Ließmann - E-Book

Wo, bitte, geht's denn hier zur Couch? Verhaltenstherapie einfach erklärt E-Book

Benjamin Ließmann

0,0
12,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Was genau ist eigentlich Verhaltenstherapie? Muss man dabei komische Aufgaben machen? Wird man irgendwie »umstrukturiert«? Und liegt man dabei wirklich immer auf einer Couch? In einer Zeit, in der psychische Erkrankungen zunehmen, stehen viele Betroffene vor diesen oder ähnlichen Fragen. Benjamin Ließmann, langjährig praktizierender Psychotherapeut, nimmt Sie mit auf eine aufschlussreiche Reise durch die Welt der Verhaltenstherapie – von Konfrontationstherapie über Rosinenmeditation bis hin zu KI-gestützten Therapien. Dabei schildert er fundiert und humorvoll zugleich, wie sich Verhaltenstherapeuten die Entstehung psychischer Erkrankungen erklären und welche gängigen Methoden sie anwenden, um ihren Klienten zu helfen. Ein Buch für alle, die einen leicht verständlichen und unterhaltsamen Überblick über die wichtigsten Ideen und therapeutischen Ansätze der Verhaltenstherapie gewinnen möchten.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 176

Veröffentlichungsjahr: 2024

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Benjamin Ließmann

Wo, bitte, geht’s denn hier zur Couch?

Verhaltenstherapie einfach erklärt

Benjamin Ließmann

Wo, bitte, geht’s denn hier zur Couch?

Verhaltenstherapie einfach erklärt

Ein Wegweiser durch den Psychotherapie-Dschungel

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen

[email protected]

Wichtiger Hinweis

Dieses Buch ist für Lernzwecke gedacht. Es stellt keinen Ersatz für eine individuelle therapeutische Beratung dar und sollte auch nicht als solcher benutzt werden. Wenn Sie fachlichen Rat einholen wollen, konsultieren Sie bitte einen qualifizierten Therapeuten. Der Verlag und der Autor haften für keine nachteiligen Auswirkungen, die in einem direkten oder indirekten Zusammenhang mit den Informationen stehen, die in diesem Buch enthalten sind.

Ausschließlich zum Zweck der besseren Lesbarkeit wurde auf eine genderspezifische Schreibweise sowie eine Mehrfachbezeichnung verzichtet. Alle personenbezogenen Bezeichnungen sind somit geschlechtsneutral zu verstehen.

Originalausgabe

1. Auflage 2025

© 2025 by mvg Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Türkenstraße 89

80799 München

Tel.: 089 651285-0

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.

Redaktion: Anke Schild

Umschlaggestaltung: Sonja Stiefel

Umschlagabbildung: AdobeStock/Olga Rai, Volha

Layout und Satz: inpunkt[w]o, Wilnsdorf (www.inpunktwo.de)

eBook: ePUBoo.com

ISBN Print 978-3-7474-0660-1

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-98922-073-7

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.mvg-verlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de

Inhalt

Einleitung

Die 1. Welle der Verhaltenstherapie

Behaviorismus

Klassische Konditionierung

Systematische Desensibilisierung

Flooding

EMDR

Virtuelle Realität

Aversionstherapie

Entspannungstechniken

Operante Konditionierung

Aktivitätenaufbau

Training sozialer Fertigkeiten

Funktionsanalyse

Die 2. Welle der Verhaltenstherapie

Kognitive Therapie

Shame Attack

ABC

Gesprächsführung

Die zweite Welle der Erklärungen

Die 3. Welle der Verhaltenstherapie

Achtsamkeit

Mindfulness-Based Stress Reduction

Dialektisch-behaviorale Therapie (DBT)

Cognitive Behavioral Analysis System of Psychotherapy (CBASP)

Schematherapie

Acceptance and Commitment Therapy (ACT)

Zu Besuch in der Praxis

Therapeuten à la carte

Diagnostik

Das persönliche Krankheitsmodell

Therapieziele

Interventionen

Verhaltenstherapie beim KI-Therapeuten

Die Zukunft der Verhaltenstherapie

Quellen

Abbildungsnachweis

Über den Autor

Einleitung

Zu Beginn ein kleiner Test: Wer oder was fällt Ihnen spontan zum Begriff »Psychoanalyse« ein? Bestimmt Sigmund Freud, der berühmte Gründer dieser psychotherapeutischen Methode. Möglicherweise sind Ihnen auch einige Ideen bekannt, wie z. B. das »Unbewusste« oder das »Es«, »Ich« und »Über-Ich«. Auch vom Freudschen Versprecher haben Sie bestimmt schon mal gehört. Von einem solchen spricht man, wenn sich in der Art des Versprechers enthüllt, wie jemand wirklich über eine Sache denkt. Wenn Sie sich nun vorstellen sollen, was während einer psychotherapeutischen Sitzung so passiert, dann denken Sie vermutlich an einen Menschen, der auf einer Couch liegt und von seinen Erinnerungen an seine Zeit als Kleinkind berichtet. Hinter ihm sitzt dabei der Psychoanalytiker, kritzelt mysteriöse Dinge auf seinen Schreibblock und sagt hin und wieder etwas Tiefgründiges. Der Einfluss der Psychoanalyse zeigt sich auch in der heutigen Alltagssprache, wie z. B. in der Redewendung, jemand müsse wohl mal »auf die Couch«.

Nun der zweite Teil des Tests: Wer oder was fällt Ihnen spontan zum Begriff »Verhaltenstherapie« ein? Wenn Sie hier nur ein Achselzucken parat haben, dann geben Sie mit dieser Reaktion bereits die typische Antwort. Ich habe diese Frage so einigen Leuten gestellt und in etliche ahnungslose Gesichter geblickt. Dies ist erstaunlich, wenn man bedenkt, dass Verhaltenstherapie heutzutage die am weitesten verbreitete Form der Psychotherapie ist. Aber auch in der Popkultur, die ja häufig ein Bewusstsein für Dinge der Gegenwart schafft, ist diese Form der Therapie wenig präsent. Ist sie vielleicht weniger spannend oder kontrovers als das Werk des bärtigen Seelenforschers vom Anfang des letzten Jahrhunderts, in dem es um Sex, Träume und Geheimnisse geht?

Verhaltenstherapie ist eine Therapieform, die im Verlauf der vergangenen 70 Jahre diverse philosophische Trends durchlebt hat – mit ihren jeweiligen Stars und kuriosen Geschichten. Diese Entwicklungsphasen sind heute als die drei »Wellen« der VT bekannt, von denen das vorliegende Buch erzählen möchte. Sie werden von den therapeutischen Ideen erfahren, die im Laufe der Jahrzehnte auftauchten, den Techniken, die zur Anwendung kamen, und wie all dies dazu führte, dass Klienten im Jahr 2024 Rosinen an ihr Ohr halten, um zur Verbesserung der psychischen Gesundheit winzige Geräusche zu entdecken.

Die 1. Welle der Verhaltenstherapie

Die erste Welle der Verhaltenstherapie umfasst im Groben die Jahre zwischen 1950 und 1970 und ist durch den Begriff »Behaviorismus« geprägt. Es sind die Gründungsjahre, in denen sich aus tierexperimenteller Forschung allmählich erste psychotherapeutische Anwendungen für den Menschen herauskristallisierten. Angesichts der besonderen Entstehungsgeschichte ist es kein Wunder, dass Kritiker die neu entstandene Therapiemethode gerne als »Rattenpsychologie« schmähten. Aber was genau ist eigentlich »Behaviorismus«?

Behaviorismus

Die Abkehr der Psychologie von der Psyche

Manche finden ja, dass »Verhaltenstherapie« eine etwas merkwürdige Bezeichnung für eine psychotherapeutische Methode ist. Und tatsächlich klingt der Begriff ja auch eher nach einer erzieherischen Maßnahme für Leute, die sich nicht gut benehmen können. Wer an depressiver Verstimmung, Ängsten oder einem vergleichbaren Problem leidet, erhofft sich meist eher die Verringerung entsprechender Symptome, wie etwa Panikattacken oder Schlafstörungen, als eine »Therapie« des eigenen Verhaltens. Aus Marketing-Perspektive ist der Begriff eine echte Katastrophe.

Der Grund für diese Benennung ist, dass Verhaltenstherapie in ihrer ursprünglichsten Form auf dem »Behaviorismus« basiert, einer psychologischen Denkschule aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Dieser Ansatz beschäftigte sich damit, wie sich Verhalten beeinflussen lässt, und kam mit einer originellen Idee daher: Das innere Erleben – also das, was ein Mensch so denkt – wurde bei dieser Art psychologischer Forschung komplett ausgeklammert. Das klingt erst mal nach einem völlig kuriosen Plan. So, als würden Astronomen ankündigen, künftig völlig darauf zu verzichten, die Gestirne in den Blick zu nehmen. Der entscheidende Punkt aber war hier, dass man selbst Milliarden Lichtjahre entfernte Sterne klarer sehen kann als einen einzigen Gedanken. »Innere« Dinge wie Träume, Sehnsüchte, Fantasien oder Vorstellungen wurden vom Behaviorismus daher als etwas aufgefasst, das sich nicht objektiv wissenschaftlich untersuchen ließe und demnach auch nicht Gegenstand seriöser Forschung sein könnte. Diese Auffassung war eine radikale Abkehr von der damals weit verbreiteten Psychoanalyse, in der gerade die Beschäftigung mit dem nicht sichtbaren Inneren ganz wesentlich war.

Die Kritik der Behavioristen an der Psychoanalyse: Dinge wie einen »Ödipuskomplex« oder ein »Introjekt« kann es geben oder aber auch nicht – wie will man es sicher herausfinden? Behavioristen beschränkten ihre Forschung daher auf das, was objektiv messbar ist: Reize und Reaktionen. Was glauben Sie: Würde sich Ihr Zigarettenkonsum reduzieren, wenn Sie jedes Mal beim Ziehen einen kleinen Elektroschock bekämen, der zumindest so stark wäre, dass er Sie kurz hüpfen ließe? Wenn Sie kein Raucher sind, dann ersetzen Sie dies einfach durch das Knabbern am Finger, das endlose Scrollen durch Stories auf Instagram oder eine sonstige lästige Angewohnheit. Wenn Sie der Ansicht sind, dass sich Ihr Verhalten vermutlich dadurch ändern würde, dann sind Sie schon mittendrin im behavioristischen Denken. Die zentrale Frage lautet hier: Welcher Input (z. B. Schock nach jedem fünften Zug) erzeugt welchen Output (z. B. Anzahl gerauchter Zigaretten pro Tag)? Was währenddessen im »Inneren« passiert, also z. B. das Nachdenken über die gesundheitsschädliche Wirkung des Rauchens, ist hier nicht interessant. Dieser von außen nicht einsehbare Bereich des inneren Erlebens wurde »Black Box« genannt.

Ein Großteil der Verhaltensforschung wurde ursprünglich mit Tieren durchgeführt. Burrhus Frederic Skinner, einer der berühmtesten Behavioristen der damaligen Zeit, entwickelte hierzu einen speziellen Apparat – die »Skinner-Box«. Das ist ein kleiner Kasten, in dem das Verhalten eines Tieres mittels Belohnung und Bestrafung gezielt geformt werden kann. Ratten lernten darin z. B. die Benutzung von kleinen Hebeln, um Futter zu bekommen, schmerzhaften Elektroschocks zu entgehen, oder sich sogar eine elektrische Hirnstimulation mitten ins »Glückszentrum« zu verpassen.1 Bevor Sie nun googeln, wo Sie einen solchen Hirnbeglückungs-Apparat für Menschen herbekommen, seien Sie gewarnt: Diese Ratten taten im Leben überhaupt nichts anderes mehr, als ständig ihren Glückshebel zu betätigen. Wie bitte? Sie sind immer noch interessiert? Dann sei noch hinzugefügt, dass die Ratten alle verhungert wären, hätten die Versuchsleiter die Stimulations-Orgie nicht beendet.

Das Ziel der frühen Verhaltensforschung war nicht die Entwicklung von Psychotherapie, sondern es ging um völlig andere Dinge. Beispielsweise arbeitete Skinner im Zweiten Weltkrieg an einer ungewöhnlichen neuen Waffentechnik mit dem Codenamen »Project Pigeon«. Hier wurde versucht, die Treffgenauigkeit von Raketen zu verbessern, indem diese mit einer ungewöhnlichen Crew bemannt wurden: Tauben. Diese waren speziell darauf trainiert, während des Flugs auf bestimmte Bereiche eines Bildschirms zu picken und so das Geschoss präzise ins Ziel zu steuern – bevorzugt in feindliche Kriegsschiffe. Das Vertrauen des Militärs in die Flattermänner war allerdings so gering, dass keine Taube eine solche Kamikaze-Mission absolvieren musste.2

Ein gigantischer Shitstorm wehte Skinner 1945 entgegen, nachdem er im »Ladies Home Journal« seine neueste Erfindung vorgestellt hatte, die er für die eigene Tochter im Säuglingsalter gebaut hatte: eine Art Hightech-Kinderkrippe mit lärmschluckender Glasscheibe, Luftfilter sowie regulierbarer Temperatur und Luftfeuchtigkeit. Gedacht war es als Wohlfühlkammer fürs eigene Kind. Der Titel des Artikels (»Baby in a Box«) sowie das Foto von Skinners Tochter Deborah im Inneren erzeugten allerdings einen fatal falschen Eindruck vom Zweck der Konstruktion. Blitzschnell verbreitete sich das Gerücht, es handele sich in Wirklichkeit um eine weitere Skinner-Box, in der die Kleine wie eine Laborratte vom Vater für psychologische Experimente missbraucht werde. Selbst als Skinners Tochter schon erwachsen war, entwickelten sich die Gerüchte weiter. Nun hieß es, dass Deborah durch die grausamen Experimente psychotisch geworden sei, ihren Vater verklagt habe und letztlich in einem Bowlingcenter Selbstmord begangen habe. Noch im Jahr 2004 muss Deborah Skinner Buzan als nun 60-jährige Frau gegen diese erfundenen Geschichten ankämpfen, die immer noch im Umlauf sind.3 Die berühmt gewordene Box wurde übrigens unter dem Namen »Heir Conditioner« verkauft.

Premium-Brutkasten oder Kinder-Konditionierer? Der »Heir Conditioner«.

Klassische Konditionierung

Iwan Pawlows einflussreiche Idee

Die frühe Verhaltenstherapie bediente sich einer Technik, bei der viele heute an einen ganz bestimmten Vierbeiner denken: den »Pawlowschen Hund«. Das ist der, dem immer Speichel im Mund zusammenlief, wenn er ein Glöckchen hörte. Und zwar deswegen, weil das Glöckchen vorher immer dann geläutet wurde, wenn es Futter gab. Und so funktioniert es:

1. Vor der Konditionierung löst der Stimulus »Futter« eine natürliche Reaktion aus, nämlich Speichelfluss. Das Futter ist ein »unkonditionierter Stimulus« und der Speichelfluss eine »unkonditionierte Reaktion«.

2. Vor der Konditionierung löst das Klingeln der Glocke keine besondere Reaktion aus. Die Glocke ist ein »neutraler Stimulus«.

3. Der unkonditionierte Stimulus wird nun mit dem neutralen Stimulus »gekoppelt«. Eine Kopplung ist die gemeinsame Darbietung zweier Stimuli, z. B. gleichzeitig oder nacheinander.

4. Nach der Kopplung löst jetzt auch das Glockengeräusch Speichelfluss aus. Der vorher neutrale Stimulus ist nun ein »konditionierter Stimulus«. Der Speichelfluss beim Klingeln ist nun eine »konditionierte Reaktion«.

Bei einer klassischen Konditionierung geht es also darum, dass Reize miteinander verknüpft werden und sich dadurch automatisch bestimmte Erwartungen ausbilden. Allerdings hätten Behavioristen hier nicht von »Erwartungen« gesprochen, denn dieses Wort bezeichnet etwas, das unsichtbar in der »Black Box« stattfindet. Hier würde das Geschehen eher folgendermaßen ausgedrückt werden: Reize werden in einer bestimmten Anordnung dargeboten, wodurch neue Reiz-Reaktion-Verbindungen entstehen.

Das Herrchen des Pawlowschen Hundes war natürlich der Namensgeber selbst – Iwan Petrowitsch Pawlow, russischer Mediziner und Nobelpreisträger. Bei seiner Forschung zur Physiologie der Verdauung entdeckte er die Mechanismen, die später als »klassische Konditionierung« bekannt wurden. Man sollte sich Pawlow und Hund allerdings nicht als Duo vorstellen – der Pawlowsche Hund war in Wirklichkeit ein ganzes Rudel an Laborhunden. Nehmen wir mal an, einer davon würde zu Ihnen zur Verhaltenstherapie kommen. Der Hund ist etwas unglücklich darüber, nach seiner klassischen Konditionierung nun jedes Mal unwillkürlich zu sabbern, wenn ein Glöckchen erklingt. Wie könnten Sie als Verhaltenstherapeut das Prinzip klassischer Konditionierung nun anwenden, um dieses Problem zu lösen? Eine denkbare Vorgehensweise könnte z. B. darin bestehen, den Hund ein paar Tage lang immer wieder mit dem Glockengeräusch zu konfrontieren, ohne dass es währenddessen oder im Anschluss daran Futter gibt. Der voraussichtliche Effekt: Die »assoziative Verbindung« zwischen dem Geräusch und der Futtergabe wird schwächer. Oder anders gesagt: Das Glöckchenklingeln verliert die Bedeutung, das baldige Eintreffen von Futter vorherzusagen. Nach einiger Zeit sollte daher auch kein Speichel mehr fließen, wenn es klingelt. Diesen Mechanismus klassischer Konditionierung nennt man »Löschung« oder auch »Extinktion«.

Sie fragen sich jetzt vielleicht, ob auch Sie selbst auf irgendeine Weise klassisch konditioniert sein könnten. Dann überlegen Sie doch mal, ob es Geräusche gibt, die Sie automatisch und blitzschnell mit etwas Unangenehmen oder Angenehmen verbinden. Bei mir selbst sind das z. B. akustische Signale des PC – kaum höre ich den Windows-Sound »kritischer Fehler«, zucke ich innerlich schon zusammen.

Eignet sich klassische Konditionierung als Instrument zur psychotherapeutischen Behandlung von Menschen? Aber für welche Art von Problemen? Zur Beantwortung dieser Frage wurde in der behavioristischen Anfangszeit insbesondere die Entstehung von Ängsten bzw. »Phobien« beforscht. Hierzu wurden Experimente durchgeführt, die heutzutage jede Ethikkommission in Aufruhr versetzen würden. Traurige Berühmtheit erlangte ein neun Monate alter Proband namens »kleiner Albert«.4 Um herauszufinden, ob eine Phobie vor einer flauschigen weißen Ratte erlernbar sei, erschreckte man den kleinen Albert mit einem lauten Geräusch immer dann, wenn er nach der Ratte greifen wollte. Der Versuchsleiter, der US-Psychologe John Watson, schlug hierzu hinter dem Kind mit einem Hammer immer wieder kräftig auf eine Eisenstange. Vor dieser Prozedur hatte Albert überhaupt keine Angst vor dem Tier. Danach jedoch zeigte der Junge bei Anwesenheit der Ratte und anderer Objekte »aversive Regungen« (z. B. Verziehen des Gesichts), was von den Forschern als Angst interpretiert wurde. Ob der Kleine am Ende aber wirklich Angst vor der Ratte hatte oder vor Watson mit seiner Eisenstange, bleibt eine letztlich ungeklärte Frage.

Während bei Albert eher das Gegenteil von Therapie durchgeführt wurde, versuchte sich die Entwicklungspsychologin Mary Cover Jones 1924 an einer echten psychotherapeutischen Behandlung. Therapieziel war es, die Kaninchen-Phobie eines dreijährigen Jungen namens Peter zu beheben. Die Behandlung bestand in einer Kombination aus klassischer Konditionierung und Lernen am Modell. Bei Letzterem wurde Peter mit anderen Kindern zusammengebracht, die von flauschigen Kaninchen außerordentlich begeistert waren und diese mit Freude streichelten. Im Konditionierungs-Teil erhielt Peter Süßigkeiten, während das Kaninchen in seiner Nähe platziert wurde. Die Idee hinter dieser Vorgehensweise: Die durch Süßigkeiten ausgelöste Freude sollte die Angstreaktion blockieren, die durch das Kaninchen getriggert wird.

Die Therapie war ein Erfolg: Nach etwa 40 Behandlungstagen streichelt Peter das Kaninchen, und lässt es an seinen Fingern knabbern.5 Ob dies nun an den Süßigkeiten oder aber dem Kennenlernen junger Kaninchenfans gelegen haben mag, bleibt aufgrund der Methodenmixtur leider unklar. Fallstudien wie die von Mary Cover Jones legten den Grundstein für die kommenden Entwicklungen in der Verhaltenstherapie.

Systematische Desensibilisierung

Das erste Anti-Angst-Programm der Verhaltenstherapie

In Anlehnung an die therapeutische Idee von Mary Cover Jones entwickelte Joseph Wolpe, ein Psychiater aus Südafrika, die erste große Therapietechnik der Verhaltenstherapie: »Systematische Desensibilisierung«. Wieder ist das Ziel die Reduzierung von Angstreaktionen. Die grundlegende Idee dahinter beschreibt Wolpe 1954 in seinem Artikel »Reciprocal Inhibition as the Main Basis of Psychotherapeutic Effects«.6 Auf Deutsch: »Wenn es gelingt, eine mit Angst unvereinbare Reaktion bei Anwesenheit eines angsterzeugenden Stimulus auftreten zu lassen, sodass es zu einer vollständigen oder teilweisen Unterdrückung der Angstreaktion kommt, wird die Verbindung zwischen dem Stimulus und der Angstreaktion abgeschwächt.«

Im Prinzip ist hier das Vorgehen von Mary Cover Jones bei der Behandlung des kleinen Peter beschrieben. Wolpe gab diesem Wirkmechanismus die Bezeichnung »reziproke Hemmung«. Während Jones eine »mit Angst unvereinbare Reaktion« durch die Gabe von Süßigkeiten herzustellen versuchte, setzte Wolpe bei der systematischen Desensibilisierung auf Entspannungstechniken. Insbesondere die »progressive Muskelentspannung« (PMR) des US-amerikanischen Arztes Edmund Jacobson war in der frühen Verhaltenstherapie äußerst populär – und ist es auch heute noch. Hier nun eine Übersicht zum Ablauf von systematischer Desensibilisierung:

Angsthierarchie

Zunächst erstellen Sie eine »Angsthierarchie«. Das bedeutet: Sie sammeln alle Orte, Objekte und Situationen, die bei Ihnen Angst auslösen, und schreiben diese auf einen Zettel. Danach bewerten Sie diese, je nach Schrecklichkeit, von 1 (löst minimale Angst aus) bis 10 (löst maximale Angst aus). Sollten Sie z. B. an Höhenangst leiden, dann ist anzunehmen, dass Ihre Angst proportional zur Entfernung vom Boden ansteigt. Eine Situation mittlerer Schwierigkeit wäre dann vielleicht: »ganz oben auf einer Leiter stehen«. Und eine »10« auf so einer Liste wäre möglicherweise: »oben auf der Aussichtsplattform des Fernsehturms an die Fensterscheiben gelehnt sein«. Falls Ihre Angst im Kontakt mit Menschen auftritt, dann besteht eine mittlere Angstsituation vielleicht darin, eine attraktive Frau oder einen attraktiven Mann im Supermarkt anzusprechen. Und eine Situation mit maximalem Angstauslöse-Potential wäre dann vielleicht, vor dem gesamten Kollegium einen Vortrag zu halten und in etliche missmutige Gesichter zu blicken. Jeder hat hier seine ganz persönlichen Horrorfantasien. Zur Feststellung der Angsthöhe betrachten Sie die Szene vor dem geistigen Auge und achten währenddessen auf eventuelle emotionale Reaktionen. Hier ein weiteres Beispiel, diesmal zum Thema Arachnophobie.

Sie ahnen vermutlich bereits, dass es letztendlich darum gehen wird, sich den Situationen aus der Angsthierarchie zu stellen – mental. Lassen Sie Ihrer Fantasie daher ruhig freien Lauf, und schreiben Sie auch Situationen auf, die völlig unrealistisch sind. Spinnendusche? Das ist wohl etwas, das in der eigenen Wohnung schwer zu realisieren sein dürfte, ohne wochenlang mit ärgerlichen Nachwirkungen kämpfen zu müssen. Und wer in der Lage wäre, derart viele Spinnen zu organisieren, dass man in ihnen baden könnte, hätte wohl auch keine systematische Desensibilisierung nötig.

Entspannung

Wenn die Angsthierarchie steht, müssen Sie es irgendwie hinkriegen, sich zu entspannen – vielleicht ja durch spezielle Techniken, wie etwa die gerade erwähnte PMR (das »R« steht hierbei übrigens für »Relaxation«). Wem das Schwierigkeiten bereitet, der kann sich mal auf YouTube umschauen; mit den Suchbegriffen »Meditation«, »Achtsamkeit«, »PMR« oder »Autogenes Training« lassen sich dort unzählige Videos mit entsprechenden Anleitungen finden. Auch eine entsprechende Akustik kann helfen: Von Asia-Sounds bis zum Geräusch von Regentropfen, die ans Fenster prasseln, lässt sich auf der Videoplattform so ziemlich alles finden.

Konfrontation

Nun kommt der Hauptteil: die Desensibilisierung. Systematisch. Die Ausgangsposition ist das entspannte Liegen oder Sitzen. Dann wird eine Situation aus der persönlichen Angsthierarchie ausgewählt, mit der man beginnen möchte. Gut geeignet für den Einstieg ist hier ein Szenario mittlerer Schwierigkeit, also vielleicht Angststufe 3 oder 4. Und nun die entscheidende Aufgabe: Es gilt, die Entspannung aufrechtzuerhalten, während die Szene so lebhaft wie möglich visualisiert wird. Der Moment im Flugzeug, wenn die Passagierkabine durch eine Turbulenz kräftig durchgeschüttelt wird – Sie bleiben entspannt. Der Moment während der Spinnendusche, als Sie plötzlich eine fremdartige Bewegung in der Unterhose verspüren – Sie zucken nicht mal mit der Wimper. Es ist wahrscheinlich, dass das Halten der Entspannung nicht auf Anhieb gelingt. Aber das ist kein Problem, sondern ein normaler Teil des Trainings. Setzt Anspannung ein, dann machen Sie eine kurze Pause, steigen mental aus der Szene aus, finden wieder zurück in die Entspannung und starten einen neuen Versuch.

Eine Einschränkung bei der Anwendung von systematischer Desensibilisierung besteht darin, dass diese Art der Konfrontationstherapie eine sehr lebhafte Fantasie voraussetzt (Konfrontation »in sensu«). Sollte die nicht in ausreichendem Maß vorhanden sein, besteht natürlich die Möglichkeit, zu einer Konfrontation »in vivo« überzugehen, also dem Aufsuchen der Angstsituation in der Realität. Leider ist diese Option dann meist etwas aufwendiger als die Fantasiereise. Und wenn es um Flüge geht, auch sehr viel teurer.

Systematische Desensibilisierung war in der Mitte des 20. Jahrhunderts die populärste verhaltenstherapeutische Technik zur Behandlung von Ängsten. Aber wie ist die Methode nun genau zu bewerten? Dass eine Behandlung populär ist und häufig angewendet wird, bedeutet ja nicht zwingend, dass sie auch tatsächlich wirksam ist. Zur Beantwortung dieser und weiterer Fragen führte der Psychologe Klaus Grawe eine riesige »Metaanalyse« durch, deren Ergebnisse er 1994 veröffentlichte.7 Grawes Urteil zu systematischer Desensibilisierung fällt positiv aus: Die Datenanalyse bestätige die Wirksamkeit der Methode. Im Verlauf der Zeit kam allerdings eine ganz grundsätzliche Frage auf: Ist das Element »Entspannung« eigentlich überhaupt notwendig, damit sich Angstreaktionen abschwächen? Denn in der Praxis konnte oft beobachtet werden, dass eine Konfrontation auch ohne vorherige Entspannung dazu führte, dass sich Angstreaktionen abschwächten. Oder dass die Methode sogar gerade dann besonders gut funktionierte, wenn die Angst dabei richtig groß wurde. Solche Beobachtungen standen im Widerspruch zur Theorie von Joseph Wolpe, in der ja die »mit Angst unvereinbare Reaktion« der entscheidende Wirkmechanismus war. Dies hatte zur Folge, dass Wolpes Theorie im Verlauf der Zeit an Einfluss verlor. Stattdessen setzte sich die Auffassung durch, dass ein längeres Durchleben von massiver Angst ein wichtiger Wirkfaktor bei einer Konfrontationstherapie wäre. Es entstand eine neue Methode, die so populär wurde, dass sie die Verhaltenstherapie-Szene geradezu »überflutete«.

Flooding

Angstminimierung durch Angstmaximierung

Beim Nachfolger von systematischer Desensibilisierung handelt es sich ebenfalls um eine Konfrontationstechnik zur Behandlung von Ängsten. Im Gegensatz zum Vorgänger besteht das zentrale Element bei Flooding nun darin, das Angsterleben vorübergehend maximal zu steigern. Wenn Klienten mitgeteilt wird, dass das empfohlene therapeutische Vorgehen darin besteht, die allergrößten Ängste in massiver Form zu konfrontieren, blicken Verhaltenstherapeuten oft in ungläubige und entsetzte Gesichter, die auszudrücken scheinen: »Das ist doch jetzt ein Witz, oder?«

Typischer Gesichtsausdruck während der Aufklärung, worum es sich bei Flooding genau handelt

Die grundsätzliche Vorgehensweise bei Flooding besteht darin, das gefürchtete Objekt oder den gefürchteten Ort aufzusuchen, jegliche Sicherheits- und Vermeidungsstrategien zu unterlassen und sich dem Angsterleben völlig hinzugeben. Ziel ist, dass die Angst irgendwann