Wo die Seele atmen kann - John Eldredge - E-Book

Wo die Seele atmen kann E-Book

John Eldredge

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Beschreibung

Der neue Entschleunigungs-Ratgeber von Bestseller-Autor John Eldredge. Unser Leben nimmt immer mehr an Geschwindigkeit zu, wir werden in ein digitales schwarzes Loch hineingesogen. Abends kommen wir völlig ausgelaugt nach Hause und finden kaum noch zur Ruhe. Für uns ist das inzwischen normal geworden – aber was macht das mit unserer Seele? Aus eigener Erfahrung weiß John Eldredge: Was uns fehlt, ist mehr von Gott. Wie wir ihn als kraftspendende Quelle anzapfen können, um wieder tiefer gegründet und weniger in innerer Hektik zu sein, zeigt der Seelsorger in 14 unkomplizierten Wegen. Sie führen zu einem Leben, in dem wir einfach sein dürfen, statt immer nur leisten oder funktionieren zu müssen. Aus dem Inhalt: • Erlaube deiner Seele echte Übergangszeiten, statt von einer Sache zur nächsten zu hetzen. • Geh raus! Jeden Tag! Erfahre die Schöpfung mit allen Sinnen! • Lebe wohl, gekränktes Ich! Ich lass dich gehen, überlass dich Jesus. • Liebe Gott, auch und gerade im Leid – dann wirst du mehr von ihm in deinem Leben haben

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John Eldredge

WO DIE SEELE

ATMEN

KANN

Wege zur Entschleunigung

Deutsch von Beate Zobel

Published by arrangement with Thomas Nelson, a division of HarperCollins Christian Publishing, Inc. © 2020 by John Eldredge

Titel der Originalausgabe: Get Your Life Back

© 2020 by John Eldredge

Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung von Thomas Nelson, einem Imprint von HarperCollins Christian Publishing.

Bibelzitate folgen, wo nicht anders angegeben, dem Bibeltext der Neuen

Genfer Übersetzung – Neues Testament und Psalmen. Copyright

© 2011 Genfer Bibelgesellschaft. Wiedergegeben mit freundlicher Genehmigung. Alle Rechte vorbehalten.

Weitere verwendete Übersetzungen sind wie folgt gekennzeichnet:

Hfa © Übersetzung Hoffnung für alle®, Copyright © 1983, 1996, 2002 by Biblica, Inc.®. Verwendet mit freundlicher Genehmigung von Fontis – Brunnen Basel.

NLB – Neues Leben. Die Bibel

© 2002 und 2006 SCM-Verlag GmbH & Co. KG, Witten.

ELB – Revidierte Elberfelder Bibel

© 1985/1991/2006 SCM-Verlag GmbH & Co. KG, Witten.

EU – Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift

© 1980 Katholische Bibelanstalt, Stuttgart.

NeÜ – NeÜ bibel.heute © 2010 Karl-Heinz Vanheiden, www.derbibelvertrauen.de, und Christliche Verlagsgesellschaft Dillenburg, www.cv-dillenburg.de

SLT – Bibeltext der Schlachter. Copyright

© 2000 Genfer Bibelgesellschaft. Wiedergegeben mit freundlicher

Genehmigung. Alle Rechte vorbehalten.

© 2020 Brunnen Verlag Gießen GmbH

Lektorat: Konstanze von der Pahlen

Umschlagfoto: Stocksy

Umschlaggestaltung: Jonathan Maul

Satz: DTP Brunnen

ISBN Buch 978-3-7655-0747-2

ISBN E-Book 978-3-7655-7570-9

www.brunnen-verlag.de

Für Brian HamptonVon Anfang an warst du mein Freund.Du bist uns vorausgegangen, während wir an diesem Buch gearbeitet haben. Bis bald, Kumpel!

Möge der Sohn Gottes, der in dir schon Gestalt gewonnen hat, in deinem Herzen zunehmen und ins Unermessliche wachsen, möge er dein Inneres weiten und mit Lachen und Jubel füllen und dir zu einer Freude werden, die niemand rauben kann. Isaak von Stella

Inhalt

EinführungWo die Seele atmen kann

EinsEine Minute Pause machen

ZweiWohltuenden Abstand gewinnen

DreiSchönheit trinken

VierOffline sein

FünfSich selbst Gutes tun

SechsSich selbst Übergangszeiten gewähren

SiebenAn die frische Luft gehen

AchtDas Herz erinnern, wen es liebt

Kleine VerschnaufpauseEine Minute Pause

NeunDem Ego den Kampf ansagen

ZehnWunde Punkte behandeln

Kleine VerschnaufpauseSagen, was man will

ElfErinnern tut gut

ZwölfDer Glaube

DreizehnMit Gott verbunden

VierzehnEinfache Dinge für den Alltag

Das tägliche Gebet

Quellenangaben

Einführung

Wo die Seele atmen kann

Unsere Welt wird immer verrückter und ich finde, wir sollten darüber reden. Schließlich haben wir nur dieses eine Leben und wir dürfen nicht zulassen, dass es dem Wahnsinn zum Opfer fällt.

Das erste Problem ist die Geschwindigkeit. Unser Hamsterrad dreht sich atemberaubend schnell.

Neulich habe ich einigen Freunden eine Nachricht geschickt, die mir wirklich wichtig war. Ihre Antwort bestand lediglich aus Daumen-hoch-Emojis. Mehr bedeutet euch meine Nachricht nicht?, dachte ich enttäuscht. Habt ihr keine Zeit, ein paar Worte für mich zu tippen?

Als das Briefeschreiben von E-Mails abgelöst wurde, erschien uns der Fortschritt riesig. Dann kamen Textnachrichten auf und fühlten sich an wie Raketentreibstoff der Kommunikation. Aber anscheinend haben wir nichts gewonnen. Verzweifelt kämpfen wir darum, mit dem immer schneller werdenden Tempo Schritt zu halten. Wir wischen, statt zu tippen, wir liken, statt zu kommentieren. Das Leben lässt uns so wenig Zeit, dass wir es uns nicht leisten können, auch nur einen Satz zu schreiben.

Mit wem ich auch rede, alle fühlen sich gestresster als früher. Die Musiker in meinem Freundeskreis haben kaum noch Zeit zum Musizieren, die Gartenbesitzer kommen nicht mehr dazu, neue Pflanzen in die Erde zu setzen. Ich lese im Moment acht verschiedene Bücher und in keinem bin ich bis jetzt über das erste Kapitel hinausgekommen.

Das rasante Tempo, mit dem wir durch den Alltag gejagt werden, macht niemandem so richtig Spaß.

Dazu kommt das zweite Problem: die Flut von Nachrichten, die unsere Aufmerksamkeit fesseln. Pro Tag verbringen wir durchschnittlich drei Stunden mit unseren Smartphone-Apps, zehn Stunden sind wir verschiedenen Medien ausgesetzt. Die Informationen, die wir pro Woche aufnehmen, würden ausreichen, um einen Laptop zum Abstürzen zu bringen.1 Wir reden von Handyfasten, sind aber gleichzeitig den sozialen Medien ergeben – das Karussell von Liebe und Hass dreht sich, banal, erschreckend, sensationslüstern und unerbittlich, und wir drehen uns mit. Jede Nachricht macht etwas mit uns und verlangt eine Reaktion. Persönliche Kämpfe und Katastrophen gab es schon immer, aber nun poppen auch noch pausenlos Schicksalsschläge der ganzen Welt auf unseren Handydisplays auf.

Das ist für die Seele nicht gut. Wer traumatischen Ereignissen ausgesetzt ist, kann davon auch selbst traumatisiert werden – und wie viel Leid ereignet sich laufend vor unseren Augen?2 Es ist, als wären wir in das Gravitationsfeld eines digitalen schwarzen Lochs geraten, das uns jedes Fünkchen Leben entzieht.

So weit nichts Neues. Alarmiert wurde ich erst, als ich bemerkte, wie mich diese Realität als Person bereits verändert hat. Reaktionen wie diese sind jetzt keine Seltenheit mehr:

Ein Freund schickt mir eine Nachricht, fragt, ob ich Zeit habe – und ich antworte nicht. Ich drücke mich davor, meine E-Mails zu lesen, aus Angst vor den Erwartungen, die darin an mich gestellt werden. Beim Autofahren verliere ich wegen Kleinigkeiten die Nerven. Traurige Nachrichten lassen mich kalt. Was ist los mit mir? Verwandle ich mich gerade in eine kalte, lieblose Person? Für ein Treffen mit Freunden finde ich in meinem Terminkalender keine Lücke und Dinge, die mir guttun, müssen warten – Waldspaziergänge, Essen gehen, Schwimmen im See. Nehme ich mir gelegentlich doch Zeit dafür, bin ich so wenig bei der Sache, dass ich es auch hätte lassen können.

Schließlich dämmert mir: Es fehlt mir nicht an Liebe und Barmherzigkeit. Was ich an mir selbst beobachte, sind Symptome einer Seele, die zu viel Druck abbekommen hat, die überdehnt wurde, die ausgelaugt ist und nicht mehr richtig funktioniert. Meine Seele kann mit dem Tempo, das die Smartphones vorlegen, einfach nicht Schritt halten. Trotzdem habe ich es von mir selbst verlangt und ich fürchte, wir verlangen es alle voneinander.

Ich gehe davon aus, Ihnen geht es ähnlich wie mir, sonst hätten Sie nicht zu diesem Buch gegriffen. Ihre Seele zeigt Mangelerscheinungen, sehnt sich nach etwas anderem. Aber wonach? Wenn wir uns die folgenden Fragen anschauen, was verraten unsere Antworten über den Zustand unserer Seele?

Sind Sie meistens glücklich?

Wie oft fühlen Sie sich unbeschwert?

Denken Sie mit Freude an Ihre Zukunft?

Fühlen Sie sich von Herzen geliebt?

Wann waren Sie zuletzt sorglos unterwegs?

Ich weiß, diese Fragen darf man eigentlich gar nicht stellen. Unsere Seelen sind trüb geworden, verletzt, besudelt. Trotzdem können wir immer noch lieben, hoffen und träumen. Aber am Abend kommen wir erschöpft nach Hause. Die meisten von uns sind ausgelaugt, unsere Seele ist bestenfalls wie betäubt, oft auch böse zugerichtet. Oder um es in den Worten von Bilbo Beutlin zu sagen, einem Hobbit aus „Herr der Ringe“: „Ich komme mir dünn vor, sozusagen gestreckt … wie zu dünn aufs Brot gestrichene Butter.“3

Unsere Welt ist außer Kontrolle, und wenn wir nicht achtsam sind, reißt sie unsere Seele mit sich in den Abgrund.

Ob es einen Ausweg aus diesem Dilemma gibt? Ich glaube, wir bräuchten mehr von Gott in unserem Leben, das würde helfen. Dann könnten wir uns an seiner Liebe sättigen, aus seiner Kraft leben, uns von seiner Weisheit beraten und mit Belastbarkeit ausstatten lassen. Immerhin ist er die Quelle des Lebens. „Menschen suchen Zuflucht im Schatten deiner Flügel. Sie dürfen den Reichtum deines Hauses genießen, und aus einem Strom der Freude gibst du ihnen zu trinken. Bei dir ist die Quelle allen Lebens, in deinem Licht sehen wir das Licht“ (Psalm 36,8-10). Wenn mehr von seinem übersprudelnden Leben durch uns strömen würde, wäre das eine Wohltat für unsere gequälten Seelen.

Aber diese hektische, vergängliche Welt saugt unsere Seelen aus, lässt sie austrocknen und verschrumpeln, bis ihr Zustand an Rosinen erinnert, die kein Leben mehr aufnehmen können.

In der Chemie spricht man von einer Doppelbindung. Das schnelle und von Informationen überflutete Leben setzt der Seele so zu, dass sie nicht mehr in der Lage ist, sich an der Quelle, beim Schöpfer, zu erfrischen und aufbauen zu lassen. So scheint die Lage in zweifacher Hinsicht aussichtslos.

Nachdem ich festgestellt hatte, wie sehr meine Seele schon gelitten hatte, machte ich mich auf die Suche nach Abhilfe. Schnell erkannte ich: Gottes Nähe ist das Heilmittel. Wenn ich mehr von ihm erfüllt bin, kann ich dem Alltag besser standhalten. Also tat ich, was man als Christ so tut: beten, Bibel lesen, Gott anbeten, Abendmahl feiern.

Trotzdem wurde ich das Gefühl nicht los, dass meine Beschäftigung mit Gott sich nur oberflächlich auswirkte. Es war, als würde ich das Wasser des Lebens löffelweise zu mir nehmen, statt es in großen Schlucken zu trinken; als würde ich nur darin waten, statt ganz in die Fluten einzutauchen. Meine Seele fühlte sich an wie eine flache Pfütze, aber eigentlich ist sie ja alles andere als das. Sie ist tief und weit, voller Symphonien und Heldenmut. Aus dieser Tiefe wollte ich leben, aber ich fühlte mich wie gefangen in seichten Gewässern.

Es ist sicher kein Zufall, dass eines der erfolgreichsten Bücher über unsere heutige Welt und den Einfluss der modernen Technologie den Titel trägt: „The Shallows: What the Internet Is Doing to Our Brains“ (etwa: Seichte Gewässer: Was das Internet mit unserem Denken macht).4 Wir verlieren die Fähigkeit, fokussiert zu denken und uns über einen längeren Zeitraum zu konzentrieren. Wir verteilen Likes und scrollen uns durch Artikel, ohne in die Tiefe zu gehen.5

Das ist nicht nur ein intellektuelles Problem unserer Zeit, sondern es wird zu einer Gewohnheit, die sich auch im Geistlichen auswirkt. Können wir hören, wie „eine Tiefe die andere ruft“6, während wir von dieser hektischen Welt in die seichten Bereiche unserer Seele gedrängt werden?

Glücklicherweise hörte Jesus auch meine oberflächlichen Gebete. Er kam mir zu Hilfe und begann, mich in eine Reihe von Übungen einzuführen, die ich als pure Gnadengaben empfand. Es sind einfache Dinge wie zum Beispiel einminütige Pausen, die man leicht im Alltag einbauen kann, um neue Kraft zu tanken. Auf diesem Weg lernte ich, Dinge loszulassen. Statt nahtlos von einer Sache zur nächsten zu hetzen, hielt ich bewusst inne und nahm die Schönheit wahr, die Gott in den ruhigen Momenten vor mir ausbreitete.

Langsam begann meine Seele, sich zu erholen, sich besser zu fühlen, besser zu funktionieren – wie auch immer man es beschreiben mag. Mein Leben mit Gott begann, mir wieder Freude zu machen, und schließlich erlebte ich dieses Mehr von ihm, das ich mir so sehr gewünscht hatte. Leben kehrte in meine Seele zurück.

Dann zählte ich eins und eins zusammen …

Gott möchte gern zu uns kommen, er will unsere Kraft und unser Leben erneuern. Und er tut es auch. Aber wenn es unserer Seele nicht gut geht, ist es uns fast unmöglich, ihm zu begegnen. Trockener, verdorrter Boden kann den Regen nicht aufnehmen, den er so dringend braucht.

C. S. Lewis hat das so beschrieben: „Die Seele ist nichts als eine Hohlform, die von Gott ausgefüllt wird.“7 Statt „Hohlform“ könnte man auch „Gefäß“ sagen und an ein kunstvolles, schönes Behältnis denken. Unsere Seele ist ein Kunstwerk, eine von Gott geschaffene Schale, die er hergestellt hat, um sie zu füllen. Ich stelle mir das oberste, geschwungene Becken eines eleganten Etagenbrunnens vor, aus dem unaufhörlich Wasser herabfließt, überfließt wie nie endendes Leben. Hat Gott uns nicht genau das versprochen? „Wenn jemand an mich glaubt, werden aus seinem Inneren, wie es in der Schrift heißt, Ströme von lebendigem Wasser fließen“ (Johannes 7,38).

Unsere Aufgabe ist es, Bedingungen herzustellen, unter denen seine Hilfe uns erreichen kann. Dann wird er unsere niedergedrückte, erschöpfte Seele wiederherstellen und unsere innere Kraft erneuern. Wir werden übernatürliche Freude und viele andere wunderbare Früchte seiner Gnade genießen können. Gleichzeitig wird unsere Seele immer mehr von Gott aufnehmen können, was allein schon eine Gnade ist. So werden wir dieses sprühende Leben und die unerschütterliche Beständigkeit erlangen, nach der wir uns sehnen. Lebendiges Wasser wird aus unserem Innern sprudeln und wir werden unsere Lebensfreude und Lebenskraft zurückgewinnen.

Aber das geht nicht über Nacht. Es ist ein Prozess, der umsetzbar und nachhaltig sein muss. Was haben wir nicht schon alles versucht – Sport, Diäten, Bibelleseprogramme … Immer sind wir voller Elan gestartet, doch irgendwann ist alles wieder im Sand verlaufen und jeder neue Anlauf wurde zwischen den Mühlen des Alltags zerrieben.

Ja, ich gehöre auch zu denen, die für die Mitgliedschaft in einem Fitnesscenter bezahlen, ohne hinzugehen. In meiner Wohnung liegen Bücher, die ich nie zu Ende lesen werde, auf dem Handy füllt sich der Speicher mit ungehörten Vorträgen, die ich mir heruntergeladen habe. Ich kenne das.

Von daher – machen Sie sich keine Sorgen: Was ich hier beschreiben werde, sind Gnadengeschenke, die mit dem ganz normalen, alltäglichen Leben vereinbar sind. Sie werden überrascht sein, wie einfach, nachhaltig und erfrischend sie sind.

Gott will uns stärken und unsere Seelen erneuern; Jesus möchte sich immer wieder neu an uns verschenken. Willkommen sind alle Erschöpften, alle, die schwere Lasten tragen. „Kommt alle her zu mir, die ihr euch abmüht und unter eurer Last leidet! Ich werde euch Ruhe geben. Vertraut euch meiner Leitung an und lernt von mir, denn ich gehe behutsam mit euch um und sehe auf niemanden herab. Wenn ihr das tut, dann findet ihr Ruhe für euer Leben. Das Joch, das ich euch auflege, ist leicht, und was ich von euch verlange, ist nicht schwer zu erfüllen“ (Matthäus 11,28-30 Hfa).

Wir können uns das Leben zurückerobern und wieder frei und unbeschwert leben. Die Welt bleibt grausam, aber Gott ist sanft; er weiß, was es heißt, in dieser Welt zu leben. Wir müssen nur die Orte aufsuchen, an denen seine Hilfe uns erreichen kann. An diese Orte möchte ich Sie jetzt führen.

Eins

Eine Minute Pause machen

Unsere Pferde sind heute sehr unruhig. Mit gewölbtem Nacken, erhobenem Schweif und nervös schnaubend rennen sie wie wild über die Koppel. Etwas hat sie in höchste Alarmbereitschaft versetzt. Ich bin mir ziemlich sicher – in der Nacht muss ein Löwe in der Nähe gewesen sein.

Meine Frau und ich haben im Moment zwei Pferde, eines davon ist ein sogenannter Pinto. Es ist ein prächtiges Tier, braun-weiß gescheckt, mit weißer Mähne und schwarzem Schweif. Wer den Westernfilm Silverado gesehen hat, weiß, was ich meine – das Pferd, das Kevin Costner dort reitet, sieht ganz ähnlich aus. Die Indianer fanden diese Schecken so schön, dass sie tatsächlich ihren einfarbigen Pferden Flecken aufs Fell malten.8

Unser zweites Pferd ist ein Brauner mit schwarzer Mähne und schwarzem Schweif. Sein Fell ist so dicht und glänzend, dass es an einen Biberpelz erinnert. Früher hatten wir insgesamt acht Ponys, aber als unsere Söhne nach und nach das Elternhaus verließen, reduzierten wir den Bestand, bis unsere Herde immer überschaubarer wurde. Heute sind uns selbst die zwei Pferde fast schon zu viel.

Pferde sind kraftstrotzende, beeindruckende Wesen, aber das ist ihnen selbst gar nicht bewusst. Sie wissen um ihre Verletzlichkeit. Als Beutetiere nehmen sie, ähnlich wie Elche und Hirsche, ihre Welt auf ganz bestimmte Weise wahr. Sie sind immer auf der Hut, immer bereit zur Flucht. Egal ob sie in den Weiten Nordamerikas oder in Europa leben: Sie wissen um die Gefahr, die ihnen von den großen Raubtieren droht, deren Nahrung sie sind.

Im späten Pleistozän waren die endlosen nordamerikanischen Steppen das Jagdrevier riesiger Löwen, die viel größer waren als ihre afrikanischen Verwandten. Mit ihnen konkurrierten verschiedene Arten von Geparden, tonnenschwere Riesenfaultiere, blutrünstige Wölfe, gefräßige Kurznasen-Bären und eine ganze Schar weiterer superschneller Raubtiere. Unter diesen Lebensbedingungen erwarben die Pferde ihr nervöses, leicht zu verunsicherndes Wesen. Wenn sie sich zwischen Kampf und Flucht entscheiden müssen, dann wählen sie die Flucht.

Den Sommer verbringen meine Frau und ich immer in unserem Ferienhaus im Westen Colorados, die Pferde nehmen wir mit. Dort gibt es auch heute noch eine Menge Raubtiere – ganze Rudel von Kojoten leben dort, dazu Schwarzbären, Rotluchse und andere Luchsarten. Berglöwen gibt es auch. Sehr viele sogar. Einmal ritt ich durch die Landschaft, als mein Pferd aus heiterem Himmel in Panik geriet. Vermutlich hatte es plötzlich einen Löwen gewittert. Es war gar kein Löwe in der Nähe, aber die männlichen Tiere hatten dort wohl ihr Revier markiert. Mein Pferd explodierte förmlich unter mir, ich landete im Dreck und das Pferd war weg.

Raubtiere nutzen den Schutz der Nacht. Für die Pferde bedeutet das, in der Dunkelheit besonders aufmerksam sein zu müssen. Wollen wir am Morgen mit ihnen ausreiten, müssen wir sie zuerst beruhigen. Wir führen sie am Halfter, als würden wir den Acker pflügen – so lange, bis sie sich innerlich auf uns eingestellt haben und wieder ruhig und sicher sind. Ist dieser Zustand erreicht, stoßen sie einen wunderbaren Seufzer aus. Aus ihren großen Nüstern kommt ein tiefer, langer Schnaufer. Gleichzeitig entspannt sich ihre Muskulatur und sie senken den Kopf. Sie haben ihre Wachsamkeit aufgegeben, die Alarmbereitschaft abgeschaltet. Ich liebe diesen Moment. Wer mit Pferden zu tun hat, kennt dieses Seufzen und wünscht sich so oft wie möglich diesen Zustand bei seinem Tier.

Auch Menschen können so seufzen, wenn sie an einem sicheren Ort gut angekommen sind.

Ich denke, Sie kennen das von sich. Nach einem langen Tag kommt man nach Hause, kickt die Schuhe in die Ecke, schnappt sich etwas zu trinken, vielleicht noch eine Tüte Chips, lässt sich in den Lieblingssessel fallen und zieht sich eine Decke über die Beine. Das ist der Moment, in dem dieses tiefe Seufzen aufsteigt.

Auch in besonders schönen Augenblicken seufzen wir so – am Strand bei Sonnenuntergang oder wenn der Wanderweg plötzlich den Blick auf einen Bergsee freigibt, der unbewegt wie ein glänzender Spiegel vor uns liegt. Überwältigt von der Schönheit der Natur atmen wir tief durch. So ein Moment ist wie ein tiefer Trost. Alles ist gut. Manchmal stoßen wir diesen langen Seufzer auch aus, wenn wir uns an eine kostbare Wahrheit erinnern. Wir lesen einen Satz, der uns sagt, wie sehr Gott uns liebt. Dann lassen wir das Buch sinken, lehnen uns zurück und atmen auf, während die Seele Trost empfängt. Erst heute Morgen ging es mir so.

Gut, wenn wir so seufzen können. Es zeigt, dass wir zur Ruhe gekommen sind und den Alarmzustand hinter uns gelassen haben.

Kampf oder Flucht

Wir leben in einer Welt, in der unsere Seelen viel zu oft in Alarmbereitschaft sind. Das Leben ist komplex geworden, die Anforderungen sind überwältigend. Ständig wechseln wir die sozialen Settings, laufend wird ein anderes Verhalten von uns verlangt. Dazu begleiten wir unzählige Menschen gleichzeitig durch traumatische Erfahrungen. Auch die Geräusche der Stadt erhöhen den Stresspegel rund um die Uhr, die dröhnenden Bässe aus dem Auto, das vier Fahrspuren neben uns unterwegs ist, lässt unseren ganzen Körper vibrieren. Es klingt alarmierend, bedrohlich wie entferntes Gewehrfeuer.

Dank Smartphone und Internet strömt Tag für Tag eine Flut von Informationen auf uns ein, in einem Ausmaß, wie es sich frühere Generationen nie hätten vorstellen können. Und diese Informationen sind nicht neutral, man präsentiert uns das Leiden des gesamten Planeten. Von morgens bis abends werden uns im Minutentakt Katastrophen gemeldet. Bedenkt man dann noch, in welchem Tempo wir leben müssen, gibt es selten Situationen, in denen wir tief durchatmen können, entspannt seufzen und spüren, dass wir sicher sind. Das Seufzen fehlt uns – und die Erfahrung, die damit verbunden ist, auch.

Wir leben geistlich und emotional unter den gleichen Bedingungen wie die wilden Pferde, die im späten Pleistozän über die weite Prärie jagten.

Heute Morgen kann ich nicht wirklich feststellen, ob meine Seele eher im Kampf- oder im Fluchtmodus ist. Auf jeden Fall ist mein Zustand unangenehm. Gestern Abend konnte ich wieder einmal nicht einschlafen. Das Abschalten fiel mir schwer, nachdem tagsüber ununterbrochen so viel auf mich eingestürmt war. Als ich endlich zur Ruhe kam, war es so spät, dass ich heute Morgen verschlafen habe. Seither werde ich das Gefühl nicht los, wichtige Dinge zu verpassen oder zu vergessen.

Zum Frühstücken fehlte heute Morgen natürlich die Zeit, und als meine Frau mir noch irgendetwas sagen wollte, war ich viel zu hektisch unterwegs, um ihr zuzuhören. Ich schnappte mir ein Brötchen und stürmte aus dem Haus – wichtige Besprechungstermine erwarteten mich. Seither fühle ich mich unsicher und unausgeglichen. Ich kenne den Zustand und mag es gar nicht, wenn ich so bin. In dieser Verfassung bin ich schnell genervt und reagiere anders als sonst. An solchen Tagen ist es mir auch fast unmöglich, Gottes leise Stimme zu hören. Das Gefühl, nicht mehr in der engen Verbindung mit ihm zu stehen, ist das Schlimmste dabei.

Dann rede ich mir ein: Essen würde jetzt helfen. Ich brauche etwas Süßes, Gehaltvolles, dann wird es mir bestimmt gleich besser gehen. Wenn ich innerlich so aus dem Gleichgewicht geraten bin und mir alles zu viel wird, suche ich unwillkürlich nach Möglichkeiten, mein inneres Gleichgewicht wiederzuerlangen. Das ist normal. Diese seelische Schräglage ist unangenehm und wir sind froh, wenn wir einen „Stoff“ finden, der uns wieder stabilisiert. Ich frage mich, ob nicht die meisten Abhängigkeiten so ihren Anfang nehmen – auf der Suche nach ein bisschen Erleichterung, einem schnell wirksamen Trost.

Wir leben in einer Welt, die einen wirklich verrückt machen kann. Was stürmt da nicht alles auf uns ein, pausenlos, mit ungeheurer Wucht? Sind wir nicht von morgens bis abends überlastet? Immer seltener finden wir Zeit für die Dinge, die uns guttun würden – entspanntes Plaudern, ziellos durch den Park streifen, in Ruhe kochen und essen. Das passt in der Regel einfach nicht in unseren Tag. Ganz ehrlich, ich glaube, die meisten von uns führen ihr alltägliches Leben in einem Zustand irgendwo zwischen Dauerstress und absoluter Überlastung.

Erst am späten Vormittag finde ich endlich Zeit für das, was ich schon die ganze Zeit hätte tun sollen: Ich gönne mir eine Pause. Tief durchatmen und mich wieder auf Gott und mich selbst besinnen. Meine Atemzüge werden langsamer und gleichmäßiger. (Mir war gar nicht bewusst gewesen, dass ich immer wieder mit angehaltenem Atem unterwegs gewesen war.) Das Gefühl, zwischen den Aufgaben eingekeilt zu sein, lässt nach, als würde ich von der Enge in die Weite treten. Das tut gut!

Genau in dem Moment geht vor meinem Fenster ein Laubbläser los. Dieser Tiefpunkt des menschlichen Erfindungsgeistes, der Todfeind von Ruhe und Entspannung, löst sofort wieder die ganze Anspannung aus. Meine Muskeln verhärten sich. Da ich gerade ganz ruhig war, kann ich genau beobachten, wie sich mein Körper und meine Seele verändern. Der Krach des Laubbläsers und all die anderen, ganz normalen Reize unserer verrückten Welt schrecken uns immer wieder auf und lassen keine dauerhafte Entspannung zu.

Kleine Testfrage: Wie geht es Ihnen jetzt gerade? Sind Ihre Muskeln locker oder sind Sie angespannt? Sind Ihre Atemzüge tief und ruhig oder flach und hektisch? Genießen Sie das Lesen oder haben Sie das Gefühl, schnell durch das Buch kommen zu müssen? Die meiste Zeit des Tages werden wir von unzähligen Aufgaben und Pflichten gejagt, haken Punkte auf unseren To-do-Listen ab und haben Dinge zu erledigen. Weil das so anstrengend ist, greifen wir dankbar nach allem, was für uns ein Seelentröster oder Nervennahrung ist. Natürlich ist uns dabei klar, dass Kaffee und Kuchen unsere Lage nicht wirklich verbessern können. Seufzend stehe ich auf und schließe das Fenster, um mich wenigstens ein bisschen vor dem Getöse da draußen zu schützen. Dann versuche ich es erneut:

Ich lege eine Mini-Pause ein.

Sie dauert nur etwa sechzig Sekunden. Ich habe gelernt, für diese kurze Zeit wirklich zur Ruhe zu kommen.

Das Loslassen ist dabei der erste Schritt. Bewusst lege ich die Themen zur Seite, die in den Besprechungen heute Morgen behandelt wurden, auch die Dinge, die jetzt als Nächstes anstehen, zusammen mit dem Gefühl, in allen Bereichen im Rückstand zu sein. All das lasse ich ganz bewusst los, indem ich bete. Jesus, ich gebe dir jetzt alle Menschen und Themen. Dieses Gebet wiederhole ich so lange, bis ich wirklich spüre, dass ich die Dinge innerlich abgegeben habe. Gott, ich gebe dir alle Menschen und Themen.

Mein Ziel ist dabei nicht, irgendwelche Dinge oder Personen grundsätzlich und für immer loszulassen. Das wäre etwas für Fortgeschrittene, was nur die wenigsten von uns schaffen. Es geht mir nur um den kurzen, vorübergehenden Moment des Luftholens, nur eine Minute lang. (Das ist der Trick: Für eine so kurze Zeit kann man eigentlich immer alles loslassen.) Während ich alles an Gott abgebe und das auch laut ausspreche – ich gebe dir alle Menschen und Themen –, wird meine Seele ruhig. Die Anspannung löst sich.

Und dann seufze ich sogar, dieses ganz bestimmte, tiefe, schöne Seufzen.

Im nächsten Schritt bitte ich Gott um seine Nähe: Jesus, ich brauche mehr von dir. Erfülle mich noch mehr mit dir selbst, lass uns wieder ganz eng verbunden sein, dein Leben soll in mir pulsieren.

Es ist erstaunlich, wie viel sich in einer einzigen Minute verändern kann. Man kann so eine kleine Pause eigentlich immer und überall einlegen – am Steuer, im Zug, nach einem Telefongespräch. Das ist für jeden machbar, egal wie gestresst man ist. Die Übung ist wirklich einfach, aber in ihrer Wirkung nicht zu unterschätzen. Je öfter wir sie machen, desto größer ist der Effekt.

David hat diese Pausen vermutlich auch gekannt, denn er beschreibt den Effekt so: „Ich habe meine Seele besänftigt und beruhigt.“ Oder in anderen Worten: „Ich bin zur Ruhe gekommen, mein Herz ist zufrieden und still“ (Psalm 131,2 Hfa). Wie viele Leute in unserem Büro, im Fitnessstudio oder im Stau des Feierabendverkehrs können von sich sagen, dass sie ihre Seele besänftigt und beruhigt haben? Unser ganz normaler, alltäglicher Lebensstil ist das Gegenteil dessen, was die Seele eigentlich braucht und wofür Gott sie geschaffen hat. „Das weite Tor und der breite Weg führen ins Verderben, und viele sind auf diesem Weg“ (Matthäus 7,13).

Wir können unsere Welt nicht ändern und die Entwicklung nicht aufhalten. Stress und Überforderung sind unsere Realität. Unter diesen Bedingungen müssen wir unsere berufliche Laufbahn gestalten und es ist auch das Setting, in dem unsere Kinder aufwachsen. Wir können dem nicht grundsätzlich entfliehen, aber wir können lernen, immer wieder zurückzutreten und kleine Auszeiten einzulegen. Dafür müssen wir Methoden entwickeln, die einfach umzusetzen sind. Die Mini-Pause ist ein guter, erster Schritt. Wir können für einige wenige Sekunden in die Ruhe eintreten, die nötig ist, damit Gott unsere Seele berühren kann.

Die Wüstenväter im dritten und vierten Jahrhundert waren ein bunter Haufen mutiger Leute, Nachfolger Jesu, die dem Wahnsinn ihrer Welt entflohen waren, um in der Stille ein Leben der Schönheit und Einfachheit mit Gott zu suchen. Sie lebten in der Wüste, weil sie ihre Welt damals als „ein untergehendes Schiff“ bezeichneten, von dem jeder, der nicht mit in die Tiefe gerissen werden wollte, so schnell wie möglich wegschwimmen sollte.9 Man stelle sich das vor: Damals gab es noch keine Smartphones, kein Internet, überhaupt keine Medien, nicht ein einziges Auto, kein Fast Food und keine Laubbläser. Die einzigen Nachrichten, die man erfuhr, stammten aus dem eigenen Dorf, das Leid der restlichen Welt kannte niemand. Man ging grundsätzlich zu Fuß, entsprechend bewegte man sich mit einer Geschwindigkeit von etwa fünf Stundenkilometern (!) fort. Doch auch unter diesen Bedingungen hatten die Leute das Gefühl, ihnen wird zu viel Kraft geraubt, und sie kamen zu der Einsicht, dass sie selbst etwas ändern und aus ihrer Welt heraustreten mussten.

Im Gegensatz dazu leben wir in einer absolut wahnsinnig gewordenen Welt. Wer heute mit Gott zusammen einen guten Lebensstil entwickeln will, dem können die Übungen, die ich im Folgenden vorstelle, eine Anregung sein. Es wäre ja schon eine Hilfe, wenn unser Alltag in Ruhe ablaufen würde und wir nicht immer so gestresst und übernächtigt wären.

Dezente Hinweise

Meine Frau und ich leben die meiste Zeit des Jahres in einem Vorort, einer kleinen Siedlung am Rande unserer Stadt. Lange bevor es das Amt für Stadtentwicklung gab, haben die Schwestern des Heiligen Franziskus hier ein Kloster gebaut. Die Abtei besteht aus wunderschönen Sandsteingebäuden, die in eine hügelige Landschaft mit Kieferwäldchen und Wacholdersträuchern eingestreut sind.

Die Nonnen haben die schöne Gewohnheit, jeden Tag schon um sechs Uhr morgens feierlich ihre Glocken zu läuten. Es ist nicht das drängende Geläut, das am Ende einer Hochzeit erklingt, es sind bedächtige, tiefe Schläge, die zum Gebet rufen. Auch abends um sechs Uhr ertönen sie. Ich liebe diesen Klang der alten Glocken. Wie ein Relikt aus tausend Jahren Vergangenheit prägen sie die Atmosphäre in unserem Tal. Sie laden ein zur Stille und zum Gebet.

Eines Tages entschied ich mich, dem Ruf zu folgen und immer, wenn das Läuten ertönt, eine kleine, bewusste Pause einzulegen. Kurz darauf entstand die Idee, diese Übung auch in unseren Büroräumen einzuführen. Immer um 10 Uhr morgens und um 14 Uhr am Nachmittag ertönt im ganzen Haus eine Art von „Glockenläuten“. Dann legen die Mitarbeiter ihre Arbeit kurz zur Seite, entspannen sich, lassen innerlich bewusst alles los und fokussieren sich auf Jesus.

Ich wünsche mir, dass mein Team sich angewöhnt, mehrmals am Tag so innezuhalten. Schließlich beobachte ich an mir selbst, wie ich von einer Aufgabe zur nächsten eile, ohne Pause, von morgens bis abends, wenn ich nicht aktiv gegensteuere. Kaum habe ich den Hörer aufgelegt, ist schon der nächste Anruf in der Leitung. Ich beantworte eine E-Mail und empfange zehn weitere. Bevor ich sie gelesen habe, wartet schon wieder ein Gesprächstermin. Es entstehen einfach keine spontanen Pausen, es gibt keine Ruhezone, keine himmlische Oase.

Falls Gott mich im Alltag erreichen will, muss er wirklich laut und deutlich werden, sonst höre ich ihn nicht. Aber das entspricht nicht seiner Art, er schreit seine Kinder nicht an. Er will nicht erst irgendwelche Verrenkungen machen müssen, damit wir ihn wahrnehmen, genau wie wir auch nicht wie wild mit den Armen wedeln würden, um die Aufmerksamkeit unseres Ehepartners oder Freundes auf uns zu lenken.

Für mich ist diese kleine Pause wie eine Waffe, mit der ich mich dem alltäglichen Wahnsinn entgegenstelle. Ehe ich nach einem Telefongespräch etwas Neues anfange, halte ich inne. Wenn ich morgens in mein Büro komme, fokussiere ich mich zuerst auf Jesus, erst dann fange ich an zu arbeiten. Fahre ich abends nach Hause, bleibe ich noch einen Moment im Auto sitzen, bevor ich zu meiner Familie hineingehe. Ich lege meine Stirn aufs Lenkrad und lasse den Tag los.

Es klingt so einfach, als ob es uns nicht wirklich mit Gott in Verbindung bringen könnte, aber es funktioniert wunderbar. Diese Pausen geben der Seele Raum, Freiraum, sie lassen uns tief durchatmen.

Und tatsächlich, Gott erwartet uns in diesen Momenten, er begegnet uns an unserem Ort der Ruhe. Nach meiner Erfahrung bewirkt diese Übung umso mehr, je länger man sie ausübt. Die kleinen Augenblicke mit Gott haben eine große Wirkung auf mein Verhalten im Alltag. Meine Seele gewöhnt sich daran, dass es ganz normal ist, Gott zu begegnen. Nach so einem Moment in Gottes Nähe geht es mir insgesamt besser und ich bin anderen gegenüber viel freundlicher.

Einfach mal ausprobieren

Es gibt keine Regel für das, was jeder Einzelne in dieser Pause macht. Man kann beten, einfach nur still werden, auf das achten, was einem so in den Sinn kommt, sich über etwas Schönes freuen. Im weiteren Verlauf des Buches werde ich immer wieder darauf zurückkommen und neue Tipps hinzufügen.

Der erste Schritt, um diese Übung auszuprobieren, erfordert einen Blick in den Terminkalender. Wir suchen in unserem Tagesablauf nach ein oder zwei Zeitfenstern, in denen uns voraussichtlich keiner stören wird. Für mich ist das zum Beispiel immer dann, wenn mein Auto abends in die Garage rollt. Niemand zwingt mich, sofort aus dem Wagen zu springen. Diesen Moment kann ich mir erlauben. Ich schalte den Motor aus, atme und lasse den ganzen zurückliegenden Tag bewusst los.

Manchmal hilft es, sich per Handy-Alarm an die Pausen erinnern zu lassen. Wir müssen dafür ja kein schrilles Benachrichtigungssignal auswählen, das uns einen unnötigen Adrenalinstoß geben würde. Ein freundlicher, sanfter Klang, der unsere Seele zu einer kleinen Pause einlädt, ist passender.

Doch egal wie wir uns die winzigen regelmäßigen Pausen organisieren, nach meiner Erfahrung kann diese einfache Übung schon dazu führen, dass wir einen neuen Lebensstil entwickeln – unsere Seele wird es uns danken.

Zwei

Wohltuenden Abstand gewinnen

Ich sitze auf einer Klippe im kargen Südwesten von Wyoming und suche mit meinem Fernglas den Horizont ab. Was ich sehe, ist überwältigend – zumindest für mich. Blühender Beifuß und hohe Gräser, so weit das Auge reicht, Hunderte von Kilometern in alle Himmelsrichtungen. Ich kann sogar die Krümmung der Erdoberfläche erkennen.

Es ist August, und obwohl es noch früh am Tag ist, flimmert die Luft schon in der Hitze und macht es mir schwer, das zu entdecken, wonach meine Augen suchen. Die meisten Leute würden sagen, diese Gegend sei trostlos, kahl und öde. Im Sommer sengende Hitze, im Winter bitterkalt. Und immer weht dieser scharfe Wind. Aber ich komme so gerne hierher, weil hier die wilden Pferde zu Hause sind. Das ist genau die Landschaft, in der sie sich sicher fühlen.

Hier im Westen Amerikas gibt es immer noch Hunderte wilder Pferdeherden. Wenn ich darüber nachdenke, macht mich das richtig froh. Unberührtes Land, eine menschenleere Weite, wo Tiere in völliger Freiheit leben können – welch ein wohltuender Gedanke für Menschen wie mich, die überwiegend in Ballungsräumen leben. Manchmal braucht es einen Ortswechsel, eine Reise in eine andere Landschaft, um der Seele weiten Raum zu geben, um mit einem leichteren Herzen weiterleben zu können. Deshalb bin ich hier.

Nur zwanzig Meter von mir entfernt sitzt ein Steinadler, ein Raubvogel von beeindruckender Größe. Die Flügelspannweite dieser Tiere liegt bei über zwei Metern und sie haben genug Kraft, um mit ihren Krallen ganze Rehkitze oder Lämmer in die Lüfte zu heben.

Der Steinadler sitzt auf dem Rand einer Klippe und beobachtet die karge Landschaft auf der Suche nach Beute. Er hat den perfekten Ort ausgewählt. An dem Felsen, der unter ihm steil abfällt, steigen die Winde auf und werden ihn bereitwillig über das Land tragen. Er muss bloß seine Schwingen ausbreiten und einen Schritt über die Felskante hinaus machen, und schon wird er mühelos in großer Höhe dahingleiten.

Kann es sein, dass er mich nicht bemerkt hat? Es erscheint mir unwahrscheinlich. Aber vermutlich stört ihn meine Anwesenheit nicht. Ich seufze tief, Frieden und Glück durchströmen mich.

Ich bin heute Morgen schon in aller Frühe aufgestanden, habe unseren kleinen Transporter beladen und die Straße Richtung Norden genommen. Ohne konkrete Pläne fuhr ich der Einsamkeit entgegen, für eine Woche würde ich mich dem Alltagstrubel entziehen. Die Campingausrüstung war dabei, Angelruten und Landkarten des Wind-River-Range, einer 160 Kilometer langen Bergkette der Rocky Mountains im Westen des US-Bundesstaates Wyoming. Zu diesem Gebirgszug gehören über vierzig Viertausender-Gipfel, sieben Gletscher und weit über tausend Bergseen.

Als würde das nicht reichen, hatte ich auch noch Landkarten vom Yellowstone-Nationalpark eingepackt und zusätzliche Karten des Bundesstaates Montana, der sich im Norden an Wyoming anschließt. Das Ganze war eine völlig spontane Entscheidung, weder geplant noch vorbereitet. Ich hatte aber wahrgenommen, dass Gott mich dazu drängte. Es war viele Jahre her, seit ich mir zuletzt Zeit genommen hatte, um meiner Seele etwas so Gutes zu tun und Gottes Nähe mehrere Tage lang zu suchen.

Ganz ehrlich, als ich dann im Rückspiegel beobachtete, wie mein Zuhause kleiner wurde und sich immer weiter entfernte, war das schon ein ganz besonderes Gefühl. Vor mir erstreckte sich die endlose Straße, das weite Land.

Genau das hat Jesus oft und gerne getan (allerdings ohne Auto) und das gehört zu den Dingen, die mich schon immer an ihm faszinierten. Egal, was gerade los war, er besaß den Mut, einfach abzuhauen. Er stand auf und ging an einen anderen Ort. Immer wieder ließ er Menschen und Erwartungen hinter sich und zog sich zurück.

Auch in der folgenden Geschichte wird das berichtet, am Anfang des Markusevangeliums. Viele begeisterte Menschen hatten Jesus umringt, um ihn herum war großer Trubel gewesen. Doch am nächsten Tag verschwand er einfach.

Früh am Morgen, als es noch völlig dunkel war, stand Jesus auf, verließ das Haus und ging an einen einsamen Ort, um dort zu beten. Simon und die, die bei ihm waren, eilten ihm nach, und als sie ihn gefunden hatten, sagten sie zu ihm: „Alle fragen nach dir.“ Er aber erwiderte: „Lasst uns von hier weggehen in die umliegenden Ortschaften, damit ich auch dort die Botschaft vom Reich Gottes verkünden kann; denn dazu bin ich gekommen.“ (Markus 1,32-39)

Jesus hat uns hier eine innere Freiheit und Unabhängigkeit vorgelebt, die wohl jeder von uns gerne hätte. Wie beneidenswert, dass er sich immer wieder so aus seiner Welt herauslösen konnte. Als guter Schüler meines Herrn habe ich jetzt also dasselbe versucht. Tausend Leute wollten etwas von mir – und ich bin einfach verschwunden.

Wilde Pferde kriege ich heute leider nicht zu Gesicht, dafür hätte ich vermutlich noch viel früher aufstehen müssen. Aber ich habe schon viele andere schöne Dinge gesehen. Überall am Straßenrand stehen diese Hinweistafeln, die etwas über die lokalen Besonderheiten verraten. Normalerweise rausche ich daran vorbei. Heute nicht. Ich halte an jeder einzelnen Tafel an und lese mir in Ruhe durch, welche Pflanzen und Tiere hier vorkommen und welche historischen Ereignisse mit dem jeweiligen Ort verknüpft sind.

Nein, ich bin noch nicht so ganz bei der Sache, ich habe die Hektik des Alltags noch nicht vollständig abgelegt, aber das ist nicht schlimm. Ich habe Zeit. Im Laufe der nächsten Tage werde ich bestimmt ganz eintauchen in diese herrliche Welt und unbeschwert und froh die Schönheit der Natur genießen.

Innerlich gefangen

Es ist schwerer, als ich dachte, mich innerlich freizumachen. Erst seit ich hier in dieser weiten Steppe bin und vergeblich auf die wilden Pferde warte, kehrt langsam Ruhe in meiner Seele ein. In den 24 Stunden davor hatten sich meine Gedanken noch pausenlos um eine Bemerkung gedreht, die jemand während einer Besprechung gemacht hatte.

Eigentlich war es gar nicht so böse gemeint, eher eine Beobachtung, die geteilt wurde, ein Kommentar, der im Rahmen einer großen Gesprächsrunde geäußert wurde. Aber die Beobachtung, um die es ging, bezog sich auf mich. Es wurde in diesem rund zwanzigminütigen Gespräch vieles gesagt, aber dieser eine Satz überlagerte für mich alles.

Es war wie nach einem leckeren Essen, das man schon wieder verdaut und vergessen hätte, wenn sich nicht diese eine Faser zwischen die Zähne gesetzt hätte und dort drücken und stören und die Zunge beschäftigen würde. Alle Willenskraft reicht nicht aus, um die Zunge still zu halten, ständig kehrt sie zu der Stelle zurück und versucht, die Faser aus den Zähnen herauszulösen. So etwas kann wirklich störend sein und einen von der Arbeit ablenken.

Genau das geschah in meiner Seele mit diesem einen Satz. Meine Gedanken kreisten unablässig darum und suchten nach tieferen Bedeutungen und Hintergründen, geheimen Absichten und mutmaßlichen Erklärungen. Was hatte diese Person damit gemeint? Ich nehme an, Sie kennen so etwas auch. Jemand sagt ganz beiläufig etwas zu uns, oder über uns, und wir zermartern uns das Hirn bei dem Versuch, diesen Satz zu deuten und zu bewerten.