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Meister Eckehart gilt als der bedeutendste deutsche Mystiker. Er war ein großer, kühner und moderner Geist und ein begnadeter Prediger, der mit seinen auf Deutsch verfassten Werken zeitlose Wahrheiten über Gott und die menschliche Seele den »einfachen Leuten« zugänglich machen wollte. Bis heute laden seine Lehren ein zu mehr Ruhe, Reflexion und Gelassenheit.
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Seitenzahl: 304
Meister Eckehart
Die schönsten Predigten
Herausgegeben von Josef Quint
Diogenes
Wer diese Rede nicht versteht, der bekümmere sein Herz nicht damit. Denn solange der Mensch dieser Wahrheit nicht gleicht, solange wird er diese Rede nicht verstehen. Denn es ist eine unverhüllte Wahrheit, die da gekommen ist aus dem Herzen Gottes unmittelbar.
Meister Eckehart
Das sind die Reden, die der Vikar von Thüringen, der Prior von Erfurt, Bruder Eckhart, Predigerordens, mit solchen (geistlichen) Kindern geführt hat, die ihn zu diesen Reden nach vielem fragten, als sie zu abendlichen Lehrgesprächen beieinander saßen.
Wahrer und vollkommener Gehorsam ist eine Tugend vor allen Tugenden, und kein noch so großes Werk kann geschehen oder getan werden ohne diese Tugend; wie klein anderseits ein Werk sei und wie gering, es ist nützer getan in wahrem Gehorsam, sei’s Messelesen oder -hören, Beten, Kontemplieren oder was du dir denken magst. Nimm wiederum ein Tun, so geringwertig du nur willst, es sei, was es auch sei: Wahrer Gehorsam macht es dir edler und besser. Gehorsam bewirkt allwegs das Allerbeste in allen Dingen. Fürwahr, der Gehorsam stört nie und behindert nicht, was einer auch tut, bei nichts, was aus wahrem Gehorsam kommt; denn der versäumt nichts Gutes. Gehorsam braucht sich nimmer zu sorgen, es gebricht ihm an keinem Gute.
Wo der Mensch in Gehorsam aus seinem Ich herausgeht und sich des seinen entschlägt, ebenda muss Gott notgedrungen hinwiederum eingehen; denn wenn einer für sich selbst nichts will, für den muss Gott in gleicher Weise wollen wie für sich selbst. Wenn ich mich meines Willens entäußert habe in die Hand meines Oberen und für mich selbst nichts will, so muss Gott darum für mich wollen, und versäumt er etwas für mich darin, so versäumt er es zugleich für sich selbst. So steht’s in allen Dingen: Wo ich nichts für mich will, da will Gott für mich. Nun gib Acht! Was will er denn für mich, wenn ich nichts für mich will? Darin, wo ich von meinem Ich lasse, da muss er für mich notwendig alles das wollen, was er für sich selbst will, nicht weniger noch mehr, und in derselben Weise, mit der er für sich will. Und täte Gott das nicht – bei der Wahrheit, die Gott ist –, so wäre Gott nicht gerecht, noch wäre er Gott, was (doch) sein natürliches Sein ist.
In wahrem Gehorsam darf kein »Ich will so oder so« oder »dies oder das« gefunden werden, sondern nur vollkommenes Aufgeben des Deinen. Und darum soll es im allerbesten Gebet, das der Mensch beten kann, weder »Gib mir diese Tugend oder diese Weise« noch »Ja, Herr, gib mir dich selbst oder ewiges Leben« heißen, sondern nur »Herr, gib mir nichts, als was du willst, und tue, Herr, was und wie du willst in jeder Weise!« Dies übertrifft das Erste (Gebet) wie der Himmel die Erde; und wenn man das Gebet so verrichtet, so hat man wohl gebetet: Wenn man in wahrem Gehorsam aus seinem Ich ausgegangen ist in Gott hinein. Und so wie wahrer Gehorsam kein »Ich will so« kennen soll, so soll auch niemals von ihm vernommen werden »Ich will nicht«; denn »Ich will nicht« ist wahres Gift für jeden Gehorsam. Wie denn Sankt Augustin sagt: »Den getreuen Diener Gottes gelüstet nicht, dass man ihm sage oder gebe, was er gern hörte oder sähe; denn sein erstes, höchstes Bestreben ist zu hören, was Gott am allermeisten gefällt.«
Das kräftigste Gebet und nahezu das allmächtigste, alle Dinge zu erlangen, und das allerwürdigste Werk vor allen ist jenes, das hervorgeht aus einem ledigen Gemüt. Je lediger dies ist, umso kräftiger, würdiger, nützer, löblicher und vollkommener ist das Gebet und das Werk. Das ledige Gemüt vermag alle Dinge. Was ist ein lediges Gemüt?
Das ist ein lediges Gemüt, das durch nichts beirrt und an nichts gebunden ist, das sein Bestes an keine Weise gebunden hat und in nichts auf das Seine sieht, vielmehr völlig in den liebsten Willen Gottes versunken ist und sich des Seinigen entäußert hat. Nimmer kann der Mensch ein noch so geringes Werk verrichten, das nicht hierin seine Kraft und sein Vermögen empfinge.
So kraftvoll soll man beten, dass man wünschte, alle Glieder und Kräfte des Menschen, Augen wie Ohren, Mund, Herz und alle Sinne sollten darauf gerichtet sein; und nicht soll man aufhören, ehe man empfinde, dass man sich mit dem zu vereinen im Begriffe stehe, den man gegenwärtig hat und zu dem man betet, das ist: Gott.
Die Leute sagen: »Ach, ja, Herr, ich möchte gern, dass ich auch so gut zu Gott stünde und dass ich ebenso viel Andacht hätte und Frieden mit Gott, wie andere Leute haben, und ich möchte, mir ginge es ebenso oder ich wäre ebenso arm«, oder: »Mit mir wird’s niemals recht, wenn ich nicht da oder dort bin und so oder so tue, ich muss in der Fremde leben oder in einer Klause oder in einem Kloster«.
Wahrlich, darin steckt überall dein Ich und sonst ganz und gar nichts. Es ist der Eigenwille, wenn zwar du’s auch nicht weißt oder es dich auch nicht so dünkt: Niemals steht ein Unfriede in dir auf, der nicht aus dem Eigenwillen kommt, ob man’s nun merke oder nicht. Was wir da meinen, der Mensch solle dieses fliehen und jenes suchen, etwa diese Stätten und diese Leute und diese Weisen oder diese Menge oder diese Betätigung – nicht das ist schuld, dass dich die Weise oder die Dinge hindern: Du bist es (vielmehr) selbst in den Dingen, was dich hindert, denn du verhältst dich verkehrt zu den Dingen.
Darum fang zuerst bei dir selbst an und lass dich! Wahrhaftig, fliehst du nicht zuerst dich selbst, wohin du sonst fliehen magst, da wirst du Hindernis und Unfrieden finden, wo immer es auch sei. Die Leute, die da Frieden suchen in äußeren Dingen, sei’s an Stätten oder in Weisen, bei Leuten oder in Werken, in der Fremde oder in Armut oder in Erniedrigung – wie eindrucksvoll oder was es auch sei, das ist dennoch alles nichts und gibt keinen Frieden. Sie suchen völlig verkehrt, die so suchen. Je weiter weg sie in die Ferne schweifen, umso weniger finden sie, was sie suchen. Sie gehen wie einer, der den Weg verfehlt: Je weiter der geht, umso mehr geht er in die Irre. Aber, was soll er denn tun? Er soll zuerst sich selbst lassen, dann hat er alles gelassen. Fürwahr, ließe ein Mensch ein Königreich oder die ganze Welt, behielte aber sich selbst, so hätte er nichts gelassen. Lässt der Mensch aber von sich selbst ab, was er auch dann behält, sei’s Reichtum oder Ehre oder was immer, so hat er alles gelassen.
Zu dem Worte, das Sankt Peter sprach: »Sieh, Herr, wir haben alle Dinge gelassen« (Matth. 19, 27) – und er hatte doch nichts weiter gelassen als ein bloßes Netz und sein Schifflein –, dazu sagt ein Heiliger: Wer das Kleine willig lässt, der lässt nicht nur dies, sondern er lässt alles, was weltliche Leute gewinnen, ja selbst, was sie nur begehren können. Denn wer seinen Willen und sich selbst lässt, der hat alle Dinge so wirklich gelassen, als wenn sie sein freies Eigentum gewesen wären und er sie besessen hätte mit voller Verfügungsgewalt. Denn was du nicht begehren willst, das hast du alles hingegeben und gelassen um Gottes willen. Darum sprach unser Herr: »Selig sind die Armen im Geist« (Matth. 5, 3), das heißt: an Willen. Und hieran soll niemand zweifeln: Gäb’s irgendeine bessere Weise, unser Herr hätte sie genannt, wie er ja auch sagte: »Wer mir nachfolgen will, der verleugne zuerst sich selbst« (Matth. 16, 24); daran ist alles gelegen. Richte dein Augenmerk auf dich selbst, und wo du dich findest, da lass von dir ab; das ist das Allerbeste.
Du musst wissen, dass sich noch nie ein Mensch in diesem Leben so weitgehend gelassen hat, dass er nicht gefunden hätte, er müsse sich noch mehr lassen. Der Menschen gibt es wenige, die das recht beachten und darin beständig sind. Es ist ein gleichwertiger Austausch und ein gerechter Handel: So weit du ausgehst aus allen Dingen, so weit, nicht weniger und nicht mehr, geht Gott ein mit all dem Seinen, dafern du in allen Dingen dich des Deinen völlig entäußerst. Damit heb an, und lass dich dies alles kosten, was du aufzubringen vermagst. Da findest du wahren Frieden und nirgends sonst.
Die Leute brauchten nicht so viel nachzudenken, was sie tun sollten; sie sollten vielmehr bedenken, was sie wären. Wären nun aber die Leute gut und ihre Weise, so könnten ihre Werke hell leuchten. Bist du gerecht, so sind auch deine Werke gerecht. Nicht gedenke man Heiligkeit zu gründen auf ein Tun; man soll Heiligkeit vielmehr gründen auf ein Sein, denn die Werke heiligen nicht uns, sondern wir sollen die Werke heiligen. Wie heilig die Werke immer sein mögen, so heiligen sie uns ganz und gar nicht, soweit sie Werke sind, sondern: Soweit wir heilig sind und Sein besitzen, soweit heiligen wir alle unsere Werke, es sei Essen, Schlafen, Wachen oder was immer es sei. Die nicht großen Seins sind, welche Werke die auch wirken, da wird nichts daraus. Erkenne hieraus, dass man allen Fleiß darauf verwenden soll, gut zu sein – nicht aber so sehr darauf, was man tue oder welcher Art die Werke seien, sondern wie der Grund der Werke sei.
Der Grund, an dem es liegt, dass des Menschen Wesen und Seinsgrund, von dem des Menschen Werke ihre Gutheit beziehen, völlig gut sei, ist dies: dass des Menschen Gemüt gänzlich zu Gott (gekehrt) sei. Darauf setze all dein Bemühen, dass dir Gott groß werde und dass all dein Streben und Fleiß ihm zugewandt sei in allem deinem Tun und Lassen. Wahrlich, je mehr du davon hast, desto besser sind alle deine Werke, welcher Art sie auch sein mögen. Hafte Gott an, so hängt er dir alles Gutsein an. Suche Gott, so findest du Gott und alles Gute (dazu). Ja, fürwahr, du könntest in solcher Gesinnung auf einen Stein treten, und es wäre in höherem Grade ein gottgefälliges Werk, als wenn du den Leib unseres Herrn empfingest und es dabei mehr auf das Deinige abgesehen hättest und deine Absicht weniger selbstlos wäre. Wer Gott anhaftet, dem haftet Gott an und alle Tugend. Und was zuvor du suchtest, das sucht nun dich; wem zuvor du nachjagtest, das jagt nun dir nach; und was zuvor du fliehen mochtest, das flieht nun dich. Darum: Wer Gott eng anhaftet, dem haftet alles an, was göttlich ist, und den flieht alles, was Gott ungleich und fremd ist.
Ich wurde gefragt: Manche Leute zögen sich streng von den Menschen zurück und wären immerzu gern allein, und daran läge ihr Friede und daran, dass sie in der Kirche wären – ob dies das Beste wäre? Da sagte ich »Nein!« Und gib Acht, warum.
Mit wem es recht steht, wahrlich, dem ist’s an allen Stätten und unter allen Leuten recht. Mit wem es aber unrecht steht, für den ist’s an allen Stätten und unter allen Leuten unrecht. Wer aber recht daran ist, der hat Gott in Wahrheit bei sich; wer aber Gott recht in Wahrheit hat, der hat ihn an allen Stätten und auf der Straße und bei allen Leuten ebenso gut wie in der Kirche oder in der Einöde oder in der Zelle; wenn anders er ihn recht und nur ihn hat, so kann einen solchen Menschen niemand behindern.
Warum?
Weil er einzig Gott hat und es nur auf Gott absieht und alle Dinge ihm lauter Gott werden. Ein solcher Mensch trägt Gott in allen seinen Werken und an allen Stätten, und alle Werke dieses Menschen wirkt allein Gott; denn wer das Werk verursacht, dem gehört das Werk eigentlicher und wahrhaftiger zu als dem, der da das Werk verrichtet. Haben wir also lauter und allein Gott im Auge, wahrlich, so muss er unsere Werke wirken, und an allen seinen Werken vermag ihn niemand zu hindern, keine Menge und keine Stätte. So kann also diesen Menschen niemand behindern, denn er erstrebt und sucht nichts, und es schmeckt ihm nichts als Gott; denn der wird mit dem Menschen in allem seinem Streben vereint. Und so wie Gott keine Mannigfaltigkeit zu zerstreuen vermag, so auch kann diesen Menschen nichts zerstreuen noch vermannigfaltigen, denn er ist eins in jenem Einen, in dem alle Mannigfaltigkeit Eins und eine Nicht-Mannigfaltigkeit ist.
Der Mensch soll Gott in allen Dingen ergreifen und soll sein Gemüt daran gewöhnen, Gott allzeit gegenwärtig zu haben im Gemüt und im Streben und in der Liebe. Achte darauf, wie du deinem Gott zugekehrt bist, wenn du in der Kirche bist oder in der Zelle: Diese selbe Gestimmtheit behalte und trage sie unter die Menge und in die Unruhe und in die Ungleichheit. Und – wie ich schon öfter gesagt habe – wenn man von »Gleichheit« spricht, so meint man (damit) nicht, dass man alle Werke als gleich erachten solle oder alle Stätten oder alle Leute. Das wäre gar unrichtig, denn Beten ist ein besseres Werk als Spinnen und die Kirche eine würdigere Stätte als die Straße. Du sollst jedoch in allen Werken ein gleichbleibendes Gemüt haben und ein gleichmäßiges Vertrauen und eine gleichmäßige Liebe zu deinem Gott und einen gleichbleibenden Ernst. Traun, wärest du so gleichmütig, so würde dich niemand hindern, deinen Gott gegenwärtig zu haben.
Wem aber Gott nicht so wahrhaft innewohnt, sondern wer Gott beständig von draußen her nehmen muss in diesem und in jenem, und wer Gott in ungleicher Weise sucht, sei’s in Werken oder unter den Leuten oder an Stätten, der hat Gott nicht. Und es mag leicht etwas geben, was einen solchen Menschen behindert, denn er hat Gott nicht, und er sucht nicht ihn allein noch liebt noch erstrebt er ihn allein. Und darum hindert ihn nicht nur böse Gesellschaft, sondern ihn hindert auch die gute, und nicht allein die Straße, sondern auch die Kirche, und nicht allein böse Worte und Werke, sondern auch gute Worte und Werke. Denn das Hindernis liegt in ihm, weil Gott in ihm noch nicht alle Dinge geworden ist. Denn wäre dies so bei ihm, so wäre ihm an allen Stätten und bei allen Leuten gar recht und wohl; denn er hat Gott, und den könnte ihm niemand nehmen, noch könnte ihn jemand an seinem Werk hindern.
Woran liegt nun dieses wahre Haben Gottes, dass man ihn wahrhaft besitze?
Dieses wahrhafte Haben Gottes liegt am Gemüt und an einem innigen, geistigen Sichhinwenden und Streben zu Gott, nicht (dagegen) an einem beständigen, gleichmäßigen Darandenken; denn das wäre der Natur unmöglich zu erstreben und sehr schwer und zudem nicht das Allerbeste. Der Mensch soll sich nicht genügen lassen an einem gedachten Gott; denn wenn der Gedanke vergeht, so vergeht auch der Gott. Man soll vielmehr einen wesenhaften Gott haben, der weit erhaben ist über die Gedanken des Menschen und aller Kreatur. Der Gott vergeht nicht, der Mensch wende sich denn mit Willen von ihm ab.
Wer Gott so, (d.h.) im Sein, hat, der nimmt Gott göttlich, und dem leuchtet er in allen Dingen; denn alle Dinge schmecken ihm nach Gott, und Gottes Bild wird ihm aus allen Dingen sichtbar. In ihm glänzt Gott allzeit, in ihm vollzieht sich eine loslösende Abkehr und eine Einprägung seines geliebten, gegenwärtigen Gottes. Vergleichsweise so, wie wenn es einen in rechtem Durst heiß dürstet: So mag der wohl anderes tun als trinken, und er mag auch wohl an andere Dinge denken; aber was er auch tut und bei wem er sein mag, in welchem Bestreben oder welchen Gedanken oder welchem Tun, so vergeht ihm doch die Vorstellung des Trankes nicht, solange der Durst währt; und je größer der Durst ist, umso stärker und eindringlicher und gegenwärtiger und beharrlicher ist die Vorstellung des Trankes. Oder wer da etwas heiß mit ganzer Inbrunst so liebt, dass ihm nichts anderes gefällt und zu Herzen geht als (eben) dies, und er nur nach diesem verlangt und nach sonst gar nichts: Ganz gewiss, wo immer ein solcher Mensch sein mag oder bei wem oder was er auch beginnt oder was er tut, nimmer erlischt doch in ihm das, was er so sehr liebt, und in allen Dingen findet er (eben) dieses Dinges Bild, und dies ist ihm umso stärker gegenwärtig, je mehr die Liebe stärker und stärker wird. Ein solcher Mensch sucht nicht Ruhe, denn ihn behindert keine Unruhe.
Dieser Mensch findet weit mehr Lob vor Gott, weil er alle Dinge als göttlich und höher erfasst, denn sie in sich selbst sind. Traun, dazu gehört Eifer und Hingabe und ein genaues Achten auf des Menschen Inneres und ein waches, wahres, besonnenes, wirkliches Wissen darum, worauf das Gemüt gestellt ist mitten in den Dingen und unter den Leuten. Dies kann der Mensch nicht durch Fliehen lernen, indem er vor den Dingen flüchtet und sich äußerlich in die Einsamkeit kehrt; er muss vielmehr eine innere Einsamkeit lernen, wo und bei wem er auch sei. Er muss lernen, die Dinge zu durchbrechen und seinen Gott darin zu ergreifen und den kraftvoll in einer wesenhaften Weise in sich hineinbilden zu können. Vergleichsweise so wie einer, der schreiben lernen will. Fürwahr, soll er die Kunst beherrschen, so muss er sich viel und oft in dieser Tätigkeit üben, wie sauer und schwer es ihm auch werde und wie unmöglich es ihn dünke: Will er’s nur fleißig üben und oft, so lernt er’s doch und eignet sich die Kunst an. Fürwahr, zuerst muss er seine Gedanken auf jeden einzelnen Buchstaben richten und sich den sehr fest einprägen. Späterhin, wenn er dann die Kunst beherrscht, so bedarf er der Bildvorstellung und der Überlegung gar nicht mehr, und dann schreibt er unbefangen und frei, und ebenso ist es auch, wenn es sich um Fiedeln oder irgendwelche Verrichtungen handelt, die aus seinem Können geschehen sollen. Für ihn genügt es völlig zu wissen, dass er seine Kunst betätigen will; und wenn er auch nicht beständig bewusst dabei ist, so vollführt er sein Tun doch, woran er auch denken mag, aus seinem Können heraus.
So auch soll der Mensch von göttlicher Gegenwart durchdrungen und mit der Form seines geliebten Gottes durchformt und in ihm verwesentlicht sein, sodass ihm sein Gegenwärtigsein ohne alle Anstrengung leuchte, dass er überdies in allen Dingen Bindungslosigkeit gewinne und gegenüber den Dingen völlig frei bleibe. Dazu gehört zu Beginn notwendig Überlegung und ein aufmerksames Einprägen wie beim Schüler zu seiner Kunst.
Man findet’s bei vielen Leuten, und leicht gelangt der Mensch dahin, wenn er will: dass ihn die Dinge, mit denen er umgeht, nicht hindern noch irgendeine haftende Vorstellung in ihn hineinsetzen; denn, wo das Herz Gottes voll ist, da können die Kreaturen keine Stätte haben noch finden. Daran aber soll’s uns nicht genügen; wir sollen uns alle Dinge in hohem Maße zunutze machen, sei’s was immer es sei, wo wir sein, was wir sehen oder hören mögen, wie fremd und ungemäß es uns auch sei. Dann erst sind wir recht daran und nicht eher. Und nimmer soll der Mensch darin zu Ende kommen; vielmehr kann er darin ohne Unterlass wachsen und immer mehr erreichen in einem wahren Zunehmen.
Und der Mensch soll zu allen seinen Werken und bei allen Dingen seine Vernunft aufmerkend gebrauchen und bei allem ein einsichtiges Bewusstsein von sich selbst und seiner Innerlichkeit haben und in allen Dingen Gott ergreifen in der höchsten Weise, wie es möglich ist. Denn der Mensch soll sein, wie unser Herr sprach: »Ihr sollt sein wie Leute, die allzeit wachen und ihres Herrn harren« (Luk. 12, 36). Traun, solche harrenden Leute sind wachsam und sehen sich um, von wannen er komme, dessen sie harren, und sie erwarten ihn in allem, was da kommt, wie fremd es ihnen auch sei, ob er nicht doch etwa darin sei. So sollen auch wir in allen Dingen bewusst nach unserm Herrn ausschauen. Dazu gehört notwendig Fleiß, und man muss sich’s alles kosten lassen, was man nur mit Sinnen und Kräften zu leisten vermag; dann wird’s recht mit den Leuten, und sie ergreifen Gott in allen Dingen gleich, und sie finden von Gott gleich viel in allen Dingen.
Wohl ist ein Werk anders als das andere; wer aber seine Werke aus einem gleichen Gemüt täte, wahrlich, dessen Werke wären auch alle gleich, und mit wem es recht stünde, wem Gott so (eigen) geworden wäre, fürwahr, dem leuchtete Gott ebenso unverhüllt im weltlichen wie im allergöttlichsten Werk. Traun, nun ist das aber nicht so (zu verstehen), dass der Mensch selbst etwas Weltliches oder Unpassendes tun solle; sondern was ihm von äußeren Dingen her im Sehen und Hören zufällt, das soll er zu Gott kehren. Wem Gott so in allen Dingen gegenwärtig ist und wer seine Vernunft im Höchsten beherrscht und gebraucht, der allein weiß vom wahren Frieden, und der hat ein rechtes Himmelreich.
Denn wer recht daran sein soll, bei dem muss je von zwei Dingen eines geschehen: Entweder muss er Gott in den Werken zu ergreifen und zu halten lernen, oder er muss alle Werke lassen. Da nun aber der Mensch in diesem Leben nicht ohne Tätigkeit sein kann, die nun einmal zum Menschsein gehört und deren es vielerlei gibt, darum lerne der Mensch, seinen Gott in allen Dingen zu haben und unbehindert zu bleiben in allen Werken und an allen Stätten. Und darum: Wenn der anhebende Mensch unter den Leuten etwas wirken soll, so soll er sich zuvor kräftig mit Gott versehen und ihn fest in sein Herz setzen und all sein Trachten, Denken, Wollen und seine Kräfte mit ihm vereinen, auf dass sich nichts anderes in dem Menschen erbilden könne.
Der Mensch soll auch nie ein Werk so gut beurteilen noch als so recht ausführen, dass er je so frei oder so selbstsicher in den Werken werde, dass seine Vernunft je müßig werde oder einschlafe. Er soll sich ständig mit den beiden Kräften der Vernunft und des Willens erheben und darin sein Allerbestes im höchsten Grade ergreifen und sich äußerlich und innerlich gegen jeden Schaden besonnen vorsehen; dann versäumt er nie etwas in irgendwelchen Dingen, sondern er nimmt ohne Unterlass in hohem Grade zu.
Du musst wissen, dass der Anstoß zur Untugend für den rechten Menschen niemals ohne großen Segen und Nutzen ist. Nun hör’ zu! Da sind zwei Menschen: Der eine sei so geartet, dass er von keiner Schwäche angefochten wird oder doch nur wenig; der andere aber ist solcher Natur, dass ihm Anfechtungen zustoßen. Durch das äußere Gegenwärtigsein der Dinge wird sein äußerer Mensch erregt, sei’s etwa zu Zorn oder zu eitler Ehrsucht oder vielleicht zu Sinnlichkeit, je nachdem, was ihm entgegentritt. Aber in seinen obersten Kräften steht er völlig fest, unbewegt und will den Fehl nicht begehen, weder das Erzürnen noch irgendeine der Sünden, und ficht also kräftig gegen die Schwäche an; denn vielleicht handelt es sich um eine in der Natur liegende Schwäche, wie ja mancher Mensch von Natur zornig oder hoffärtig ist oder sonstwie und doch die Sünde nicht begehen will. Ein solcher soll weit mehr gelobt sein, und sein Lohn ist viel größer, seine Tugend edler als des Ersten; denn Vollkommenheit der Tugend kommt nur aus Kampf, wie Sankt Paulus sagt: »Die Tugend wird in der Schwachheit vollbracht« (2 Kor. 12, 9).
Die Neigung zur Sünde ist nicht Sünde, aber sündigen wollen, das ist Sünde, zürnen wollen, das ist Sünde. Wahrlich, hätte der, um den es recht bestellt wäre, die Gewalt zu wünschen, er würde nicht wünschen wollen, dass ihm die Neigung zur Sünde verginge, denn ohne die stünde der Mensch unsicher in allen Dingen und in allen seinen Werken und unbesorgt gegenüber den Dingen und auch der Ehre des Kampfes, des Sieges und des Lohnes ermangelnd. Denn der Anstoß und die Erregung durch die Untugend bringen die Tugend und den Lohn für das Bemühen. Die Neigung nämlich macht den Menschen allwegs beflissener, sich in der Tugend kräftig zu üben, und sie treibt ihn mit Macht zur Tugend und ist eine scharfe Geißel, die den Menschen zur Hut und Tugend antreibt; denn je schwächer sich der Mensch findet, desto besser muss er sich mit Stärke und Sieg wappnen, liegt doch Tugend wie Untugend im Willen.
Der Mensch soll über nichts groß erschrecken, solange er sich in einem guten Willen findet, noch soll er sich betrüben, wenn er ihn nicht in Werken zu vollbringen vermag; wiederum soll er sich nicht als fern von der Tugend achten, wenn er einen rechten, guten Willen in sich findet, denn die Tugend und alles Gute liegt im guten Willen. Dir kann’s an nichts gebrechen, wenn du einen wahren, rechten Willen hast, weder an Liebe noch an Demut noch an irgendwelcher Tugend. Vielmehr, was du kräftig und mit ganzem Willen willst, das hast du, und Gott und alle Kreaturen können dir das nicht wegnehmen, wenn anders der Wille ein ganzer und ein recht göttlicher Wille und auf die Gegenwart gerichtet ist. Nicht also: »Ich möchte nächstens«, das wäre noch erst zukünftig, sondern: »Ich will, dass es jetzo so sei!« Hör zu: Wäre etwas tausend Meilen weit weg, will ich es haben, so habe ich’s eigentlicher als das, was ich in meinem Schoß habe und nicht haben will.
Das Gute ist nicht minder mächtig zum Guten als das Böse zum Bösen. Merk dir: Wenn ich auch nimmer ein böses Werk täte, dennoch: Habe ich den Willen zum Bösen, so habe ich die Sünde, wie wenn ich die Tat getan hätte; und ich könnte in einem entschiedenen Willen so große Sünde tun, wie wenn ich die ganze Welt getötet hätte, ohne dass ich doch je eine Tat dabei ausführte. Weshalb sollte das Gleiche nicht auch einem guten Willen möglich sein? Fürwahr, noch viel und unvergleichlich mehr!
Wahrlich, mit dem Willen vermag ich alles. Ich kann aller Menschen Mühsal tragen und alle Armen speisen und aller Menschen Werke wirken und was du nur ausdenken magst. Gebricht’s dir nicht am Willen, sondern nur am Vermögen, fürwahr, so hast du es vor Gott alles getan, und niemand kann es dir nehmen noch dich nur einen Augenblick daran hindern; denn tun wollen, sobald ich’s vermag, und getan haben, das ist vor Gott gleich. Wollte ich ferner so viel Willen haben, wie die ganze Welt hat, und ist mein Begehren danach groß und umfassend, wahrhaftig, so habe ich ihn; denn was ich haben will, das habe ich. Ebenso: Wenn ich wahrhaft so viel Liebe haben wollte, wie alle Menschen je gewannen, und wenn ich Gott ebenso sehr loben wollte, oder was du sonst ausdenken magst, das hast du wahrhaftig alles, wenn der Wille vollkommen ist.
Nun könntest du fragen, wann der Wille ein rechter Wille sei. Dann ist der Wille vollkommen und recht, wenn er ohne jede Ich-Bindung ist und wo er sich seiner selbst entäußert hat und in den Willen Gottes hineingebildet und -geformt ist. Ja, je mehr dem so ist, desto rechter und wahrer ist der Wille. Und in solchem Willen vermagst du alles, es sei Liebe oder was du willst.
Nun fragst du: »Wie könnte ich die Liebe haben, solange ich sie nicht empfinde noch ihrer gewahr werde, wie ich es an vielen Menschen sehe, die große Werke aufzuweisen haben und an denen ich große Andacht und wunders was finde, wovon ich nichts habe?«
Hier musst du zwei Dinge beachten, die sich in der Liebe finden: Das eine ist das Wesen der Liebe, das andere ist ein Werk oder ein Ausbruch der Liebe. Die Stätte des Wesens der Liebe ist allein im Willen; wer mehr Willen hat, der hat auch mehr Liebe. Aber wer davon mehr habe, das weiß niemand vom andern; das liegt verborgen in der Seele, dieweil Gott verborgen liegt im Grunde der Seele. Diese Liebe liegt ganz und gar im Willen; wer mehr Willen hat, der hat auch mehr Liebe.
Nun gibt’s aber noch ein Zweites: Das ist ein Ausbruch und ein Werk der Liebe. Das sticht recht in die Augen, wie Innigkeit und Andacht und Jubilieren, und ist dennoch allwegs das Beste nicht. Denn es stammt mitunter gar nicht von der Liebe her, sondern es kommt bisweilen aus der Natur, dass man solches Wohlgefühl und süßes Empfinden hat, oder es mag des Himmels Einfluss oder auch durch die Sinne eingetragen sein; und die dergleichen öfter erfahren, das sind nicht allwegs die Allerbesten. Denn sei’s auch, dass es wirklich von Gott stamme, so gibt unser Herr das solchen Menschen, um sie zu locken oder zu reizen und auch wohl, auf dass man dadurch von anderen Menschen recht ferngehalten wird. Wenn aber diese selben Menschen hernach an Liebe zunehmen, so mögen sie leicht nicht mehr so viel Gefühle und Empfindungen haben, und daran erst wird ganz deutlich, dass sie Liebe haben: Wenn sie (auch) ohne solchen Rückhalt Gott ganz und fest Treue bewahren.
Gesetzt nun, dass es voll und ganz Liebe sei, so ist es doch das Allerbeste nicht. Das wird aus Folgendem deutlich: Man soll nämlich von solchem Jubilus bisweilen ablassen um eines Besseren aus Liebe willen und um zuweilen ein Liebeswerk zu wirken, wo es dessen nottut, sei’s geistlich oder leiblich. Wie ich auch sonst schon gesagt habe: Wäre der Mensch so in Verzückung, wie’s Sankt Paulus war, und wüsste einen kranken Menschen, der eines Süppleins von ihm bedürfte, ich erachtete es für weit besser, du ließest aus Liebe von der Verzückung ab und dientest dem Bedürftigen in größerer Liebe.
Nicht soll der Mensch wähnen, dass er dabei Gnaden versäume; denn was der Mensch aus Liebe willig lässt, das wird ihm um vieles herrlicher zuteil, wie Christus sprach: »Wer etwas lässt um meinetwillen, der wird hundertmal so viel zurückerhalten« (Matth. 19, 29). Ja, fürwahr, was der Mensch lässt und was er aufgibt um Gottes willen – ja, sei’s auch, dass, wenn er heftig nach solchem Trostempfinden und nach Innigkeit verlangt und alles dazu tut, was er vermag, Gott es ihm aber nicht verleiht, er ihm dann entsagt und willig darauf verzichtet um Gottes willen –, fürwahr, er wird’s genau so in ihm (d.h. in Gott) finden, wie wenn er alles Gut, das es je gegeben hat, in vollem Besitz gehabt, sich aber willig seiner entäußert, entschlagen und begeben hätte um Gottes willen; er wird hundertmal so viel empfangen. Denn was der Mensch gern hätte, aber verschmerzt und entbehrt um Gottes willen, sei’s leiblich oder geistig, das findet er alles in Gott, als wenn es der Mensch besessen und sich willig seiner entäußert hätte; denn der Mensch soll aller Dinge willig um Gottes willen beraubt sein und in der Liebe sich allen Trostes entschlagen und begeben aus Liebe.
Dass man solche Empfindung bisweilen aus Liebe lassen soll, das bedeutet uns der liebende Paulus, wo er sagt: »Ich habe gewünscht, dass ich von Christo geschieden werden möge um der Liebe zu meinen Brüdern willen« (Röm. 9, 3). Das meint er nach dieser Weise, nicht dagegen nach der ersteren Weise der Liebe, denn von der wollte er nicht einen Augenblick geschieden sein um alles, was im Himmel und auf Erden geschehen mag, er meint damit: den Trost.
Du musst aber wissen, dass die Freunde Gottes nie ohne Trost sind; denn was Gott will, das ist ihr allerhöchster Trost, sei’s nun Trost oder Untrost.
Du musst ferner wissen, dass der gute Wille Gott gar nicht verlieren kann. Wohl aber vermisst ihn das Empfinden des Gemütes zuweilen und wähnt oft, Gott sei fortgegangen. Was sollst du dann tun? Genau dasselbe, was du tätest, wenn du im größten Trost wärest; dasselbe lerne tun, wenn du im größten Leiden bist, und verhalte dich ganz so, wie du dich dort verhieltest. Es gibt keinen gleich guten Rat, Gott zu finden, als ihn dort zu finden, wo man ihn fahren lässt. Und wie dir war, als du ihn zuletzt hattest, so tu auch nun, da du ihn vermissest, so findest du ihn. Der gute Wille indessen verliert oder vermisst Gott nie und nimmer. Viele Leute sagen: »Wir haben guten Willen«, sie haben aber nicht Gottes Willen; sie wollen ihren Willen haben und unsern Herrn lehren, es so oder so zu machen. Das ist kein guter Wille. Man soll bei Gott nach seinem allerliebsten Willen forschen.
Darauf zielt Gott in allen Dingen, dass wir den Willen aufgeben. Als Sankt Paulus viel mit unserm Herrn redete und unser Herr viel mit ihm, da trug das alles nichts ein, bis er den Willen aufgab und sprach: »Herr, was willst du, dass ich tue?« (Apg. 9, 6). Da wusste unser Herr wohl, was er tun sollte. Ebenso auch, als Unserer Frau der Engel erschien: Alles, was sie und er auch immer reden mochten, das hätte sie nimmer zur Mutter Gottes gemacht; sobald sie aber ihren Willen aufgab, ward sie sogleich eine wahre Mutter des Ewigen Wortes und empfing Gott auf der Stelle; der ward ihr natürlicher Sohn. Nichts auch macht einen zum wahren Menschen als das Aufgeben des Willens. Wahrhaftig, ohne Aufgabe des Willens in allen Dingen schaffen wir überhaupt nichts vor Gott. Käme es aber so weit, dass wir unsern ganzen Willen aufgäben und uns aller Dinge, äußerlich und innerlich, um Gottes willen zu entschlagen getrauten, so hätten wir alles getan und eher nicht.
Solcher Menschen findet man wenige, die, ob wissentlich oder unwissentlich, nicht gern möchten, dass es mit ihnen ganz so stünde, dass sie aber dabei Großes empfänden, und sie möchten gern die Weise und das Gut haben: Das alles ist nichts als Eigenwille. Du solltest dich Gott mit allem ganz ergeben, und dann kümmere dich nicht darum, was er mit dem Seinigen tue. Es sind wohl Tausende von Menschen gestorben und im Himmel, die nie in ganzer Vollkommenheit sich ihres Willens entäußerten. Das allein (aber erst) wäre ein vollkommener und wahrer Wille, dass man ganz in Gottes Willen getreten und ohne Eigenwillen wäre. Und wer darin mehr erreicht hat, der ist umso mehr und wahrer in Gott versetzt. Ja, ein Ave Maria, gesprochen in dieser Gesinnung, wobei der Mensch sich seiner selbst entäußert, das ist nützer als tausend Psalter gelesen ohne sie; ja, ein Schritt darin wäre besser, als ohne sie über’s Meer gefahren.
Der Mensch, der sich so gänzlich mit allem dem Seinen aufgegeben hätte, wahrlich, der wäre so völlig in Gott versetzt, dass, wo man den Menschen auch anrühren sollte, man zuerst Gott anrühren müsste; denn er ist rundum in Gott, und Gott ist um ihn herum, wie meine Kappe mein Haupt umschließt, und wer mich anfassen wollte, der müsste zuerst mein Kleid anrühren. Ebenso auch: Soll ich trinken, so muss der Trank zuerst über die Zunge fließen; dort empfängt der Trank seinen Geschmack. Ist die Zunge mit Bitterkeit überzogen, fürwahr, wie süß der Wein an sich auch sein mag, er muss stets bitter werden von dem, durch das hindurch er an mich gelangt. Fürwahr, ein Mensch, der sich des Seinen ganz entäußert hätte, der würde so mit Gott umhüllt, dass alle Kreaturen ihn nicht zu berühren vermöchten, ohne zuerst Gott zu berühren; und was an ihn kommen sollte, das müsste durch Gott hindurch an ihn kommen; da empfängt er seinen Geschmack und wird gotthaft. Wie groß ein Leiden auch sei, kommt es über Gott, so leidet zuerst Gott darunter. Ja, bei der Wahrheit, die Gott (selber) ist: Nimmer ist ein Leiden, das den Menschen befällt, so geringfügig, etwa ein Missbehagen oder eine Widerwärtigkeit, dass es nicht, sofern man es in Gott setzt, Gott unermesslich mehr berührte als den Menschen und es ihm nicht viel mehr zuwider wäre, als es dem Menschen zuwider ist. Erduldet Gott es aber um eines solchen Gutes willen, das er für dich darin vorgesehen hat, und bist du willens, das zu leiden, was Gott leidet und über ihn an dich kommt, so wird es naturgemäß gotthaft, Verachtung wie Ehre, Bitterkeit wie Süßigkeit und die tiefste Finsternis wie das klarste Licht: Alles empfängt seinen Geschmack von Gott und wird göttlich, denn es artet sich alles nach ihm, was diesen Menschen ankommt, strebt er ja doch nach nichts anderem und schmeckt ihm ja nichts anderes; und darum ergreift er Gott in aller Bitterkeit wie in der größten Süßigkeit.