Wo ist deine Heimat? - Andy Hermann - E-Book

Wo ist deine Heimat? E-Book

Andy Hermann

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Beschreibung

Eine Liebesgeschichte, die unter die Haut geht, über mehrere Schichten der Wirklichkeit hinweg. Jeder bringt seine Vergangenheit mit, aber haben sie eine gemeinsame Zukunft? Kann ein Mord eine Beziehung beenden, oder ist er erst der Anfang davon? Stimmt es, dass man sich im nächsten Leben wieder begegnen kann? Vera, eine junge aufstrebende Journalistin aus Hamburg will die Wahrheit schreiben. Ali, ein radikalisierter Deutschtürke will den Westen in die Luft sprengen. Daniel, ein Forstwissenschaftler will Südamerika aufforsten und Otto aus Wien möchte Führer der PRO werden, der Partei für Recht und Ordnung. Wer ist der Vater ihres Kindes, und wer ist das Kind? Wie groß ist der Skandal, wenn sich eine Linke und ein Rechter ineinander verlieben, wenn Intrigen, Verleumdungen und Drohungen in den Sozialen Medien toben und Vera ständig in Gefahr gerät, ganz real ermordet zu werden?

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Seitenzahl: 487

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Andy Hermann

Wo ist deine Heimat?

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Vorbemerkung

Danksagung

Vorwort

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Vom Autor sind bisher erschienen

Anhang

Impressum neobooks

Vorbemerkung

Diese Geschichte und sämtliche darin handelnden Personen und Organisationen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen, Organisationen und politischen Parteien sind rein zufällig und erlauben keine wie immer gearteten Rückschlüsse auf diese oder deren Meinungen und Handlungen.

Danksagung

Ohne die aktive Mithilfe von Andrea, Barbara, Evelyn, Veronika, Christian und vielen anderen hätte die Geschichte in der vorliegenden Form nicht geschrieben werden können. Sie alle haben mir bei den medizinischen, spirituellen und technischen Details geholfen, so dass diese dem Stand der Forschung, der Technik und der Erkenntnis entsprechend in diese Story aufgenommen werden konnten.

Vorwort

Viele Menschen beginnen zu ahnen, dass der Mensch nicht nur aus Materie besteht, sondern dass es da noch etwas anderes gibt. Intuitiv fühlen wir Verbindung zu etwas Feinem, Nichtmateriellen, das uns umgibt, und aus dem auch wir bestehen. Dieser unser feinstofflicher Körper hat viele Namen. Seele, Energiekörper oder Aura sind nur einige von ihnen.

Und die Wissenschaft beginnt zu begreifen, dass sie mit dem reinen Materialismus in eine Sackgasse geraten ist. Die in der Quantenphysik beobachtbaren Teilchenverschränkungen lassen sich mit einem rein auf Materie basierenden Weltbild nicht mehr erklären, ebenso die Homöopathie, die ihre volle Wirksamkeit erst ausspielen kann, wenn kein Materieteilchen mehr im Medikament enthalten ist, sondern alle Wirkung durch eine noch zu erforschende Energie stattfindet.

In dieser Geschichte wird beschrieben, dass diese feinstoffliche Welt nur einen Herzschlag von unserer materiellen Welt entfernt ist, was besonders dann erlebt wird, wenn unser Herzschlag plötzlich aussetzt und der Tod unvermeidlich erscheint.

Über die Erfahrungen auf der anderen Seite der Wirklichkeit, wenn die Materieschwelle überschritten worden ist, haben schon viele Leute berichtet, die von der Medizin im letzten Moment wieder zurückgeholt worden sind, bevor sie das Diesseits ganz verlassen hatten.

Doch letztendlich sind das persönliche Erfahrungen, die zwar alle gewissen Mustern folgen, die aber jeder für sich erlebt, und die sich einer wissenschaftlichen Erforschung nach den derzeitigen Maßstäben der Wissenschaft noch entziehen.

Kosmologen versuchen in den Weiten des Universums die Rätsel der dunklen Energie und der dunklen Materie zu lösen, und möglicherweise vermessen sie bereits das feinstoffliche Universum, von dem in dieser Geschichte die Rede ist, da in den kosmischen Abmessungen ganzer Galaxien die Menge des Feinstofflichen so groß ist, dass sogar die grobstofflichen Instrumente der Kosmologen anzeigen, dass es hier etwas gibt, was nicht in unsere rein materielle Welt passt.

Das aber ist das Spannende an der Sache, dass wir als Menschen lernende Wesen sind, die Schritt für Schritt dem Universum und dem Sinn unsers eigenen Daseins auf die Spur kommen.

Kapitel 1

Das Gedränge wurde immer schlimmer. Was für eine absurde Idee, knapp vor Weihnachten ein Ballkleid kaufen zu wollen. Es schien, als hätten sich alle Bewohner Hamburgs in den Einkaufspassagen der Stadt verabredet. Vera Bauer konnte sich nur mühsam durch die Menschenmenge zwängen.

Es war Freitag und der Beginn des zweiten vorweihnachtlichen Wochenendes. Die noble Shopping Mall in der Innenstadt war daher zum Bersten voll. Die Weihnachtsdekoration, heuer in schneeweiß und mit riesigen Eiskristallen versehen, war kunstvoll über drei Stockwerke im riesigen Luftraum in der Mitte des Zentrums drapiert. Rund um diesen Luftraum waren die offenen Galerien mit den einzelnen Geschäften angeordnet. Und zwischen den Geschäften hatte man zu allem Überfluss noch Weihnachtsbäume in Kübeln aufgestellt, damit die Durchgänge noch ein wenig enger würden und die Leute länger vor den Auslagen verweilen mussten.

Nach Weihnachten hätte auch gereicht, war die Ansicht von Vera, aber Anke, ihre Mutter, hatte darauf bestanden, jetzt zu gehen, denn das Kleid, das sie im Auge hatte, sei nach Weihnachten sicher nicht mehr zu haben.

Vera Bauer, in einen dicken Anorak gezwängt, da es laut Kalender ja Winter sein sollte, brach in dieser überheizten Einkaufspassage der Schweiß aus. Sie konnte ihre Mutter nirgendwo entdecken.

Normalerweise kam sie mit ihrer Mutter sehr gut aus, aber da dieses Schuljahr das letzte war und im Frühjahr das Abitur anstand, machte sich in der Familie Bauer Stress und Hektik breit. Denn Vera hatte sich in den Kopf gesetzt, Medizin zu studieren. Sie hatte einen sehr guten Notenschnitt, aber wenn sie Pech hatte, ging es sich wegen diesen verdammten Numerus Clausus gerade um einen Zehntelpunkt nicht aus. Mathematik könnte da zum Problem werden.

Und jetzt hatte ihre Mutter diesen Termin reingequetscht. Nur wegen des dummen Abendkleides für den Abiturball, der noch in weiter Ferne lag, an einem Freitagnachmittag im Weihnachtstrubel einkaufen gehen. Vera empfand das als eine Zumutung.

Aber Anke hatte zu Veras Protest gemeint, an anderen Terminen habe sie selbst keine Zeit, Zeiteinteilung sei das halbe Leben, das müsse Vera eben noch lernen. Und vor Weihnachten ist die Auswahl größer, und das Kleid, sei nach Weihnachten sicher nicht mehr zu haben, das sei etwas ganz Besonderes.

So war Vera nichts anderes übriggeblieben, als hier aufzukreuzen und sich das Kleid zeigen zu lassen. Sie nahm sich dabei fest vor, wenn es ihr nicht gefiele, würde sie es sich auf keinen Fall einreden lassen. Eigentlich hielt sie nichts von Kleidern. Jeans und Pulli waren ihr lieber, aber beim Abiturball ging es eben nicht anders.

Vera lebte als Einzelkind mit ihren Eltern in einem recht geräumigen alten Haus aus der vorletzten Jahrhundertwende draußen in Othmarschen, einem gut situierten Villenvorort. Georg, ihr Vater war Geschäftsführer der Hamburger Niederlassung eines weltweit operierenden IT Konzerns. Anke, Ihre Mutter, liebte ihren Job als Lehrerin für Physik und Mathe an der nahen Realschule.

Der Wunsch nach einem Geschwisterchen war Vera schon als Kind nicht erfüllt worden. Ihre Eltern hätten gerne noch mehr Kinder gehabt, aber irgendwie hatte es nicht funktionieren wollen, bis sie sich schließlich damit abgefunden hatten. Und Vera konnte sich nicht beklagen, sie hatte liebevolle Eltern und war in einer behüteten Umgebung aufgewachsen.

Anke, klein, zierlich und quirlig, lud sich immer so viele Verpflichtungen und Termine mit Schule und anderen Hilfsaktivitäten auf, dass Vera oft erklärte, es würde sie nicht wundern, wenn Anke einmal an zwei Orten gleichzeitig gesehen würde.

Vera war da ganz anders, ruhiger und auf eine Sache konzentriert. Sie war hübsch, empfand sich aber selbst nicht so, da sie sich zu burschikos fand. Und außerdem war sie zu groß, wie sie sich erfolgreich bei einsvierundsiebzig einzureden versuchte. Ihre Freundinnen waren alle kleiner als sie und sie gefiel sich mit ihrer Figur gar nicht. Ihre Mutter war ganz anderer Meinung und fand Vera wunderhübsch, aber was zählte schon die Meinung der eigenen Mutter, wenn es um Schönheit ging.

Vera fingerte ihr Smartphone aus der Tasche um ihre Mutter anzurufen, denn sie hatte keine Ahnung, wie sie den Laden finden sollte, in dem das Traumkleid ihrer Mutter hing. Anke hatte das viel zu vage beschrieben. „Irgendwo auf der zweiten Galerie“, hatte sie gesagt.

„Nimm die Rolltreppe und komm herauf“, war die Antwort ihrer Mutter, „Ich kann dich von oben schon sehen, wo bleibst du nur so lange.“

Anke machte Stress, das war das einzige, was sie an ihrer Mutter hasste. Da hatte sie sich nach einem langen Schultag mit der überfüllten S-Bahn ins Zentrum gequält und zerging hier fast vor Hitze, und dann noch Vorwürfe. Das Leben war nicht fair. Ober ihr konnte sie nur Weihnachtsdekoration sehen, ihre Mutter war nicht auszumachen.

Sie wollte die Kleideraktion rasch hinter sich bringen und drängte auf der Rolltreppe an vielen Leuten vorbei nach oben. Erste Etage, und hinüber zur anderen Rolltreppe, zweite Etage und dann stand sie unvermittelt vor ihrer Mutter, die auf ein Kleid in einer Auslage deutete und statt einer Begrüßung sagte: „Na, wie gefällt es dir, ist es nicht wunderhübsch, es passt perfekt zu dir.“

Genau in der Mitte der Auslage einer teuren Boutique hing ein wunderschönes gelbes Ballkleid mit Spitzenbesatz und einem eng geschnittenen tief dekolletierten Oberteil aus gelbem Satin.

„NEIN“, entfuhr es Vera, „KEIN GELBES KLEID“!

Ein Gedankensplitter an ein gelbes Minikleid stieg in ihr hoch, sie wusste nicht warum, bekam aber plötzlich die Panik. Dieses Gelb vom Ballkleid war genau dasselbe, wie von dem Minikleid, dass sie in einem kurzen Flash Back deutlich vor sich sah. Ein Gefühl von Tod und Sterben durchflutete sie, ihr Verstand setzte völlig aus.

„Weg, nur schnell weg“, war der einzige Gedanke, der in ihrem Kopf war. Die Unlogik ihres Verhaltens drang nicht in ihr Bewusstsein.

Sie drehte sich ruckartig vom Ballkleid und ihrer Mutter weg und begann zu laufen, während ihre Mutter ihr fassungslos nachsah und rief, „Vera, was hast du, wir können ja auch ein anderes Kleid kaufen, wenn du so dagegen bist“. Doch Vera hörte nicht, was ihre Mutter rief, sondern rannte unbeirrt weiter und rempelte dabei einige Leute, die ihr im Weg standen, unsanft beiseite. Völlige Panik hatte sie erfasst.

Hier oben auf der zweiten Etage war das Gedränge nicht ganz so schlimm, wie unten im Erdgeschoss, so dass Vera schon etliche Meter zurückgelegt hatte, als eine mächtige unsichtbare Faust sie von hinten erfasste und ihre Beine mit Wucht nach vorne geschleudert wurden. Sie verlor das Gleichgewicht, wurde mitgerissen und als die Druckwelle verebbte, krachte sie mit dem Hinterkopf auf den Steinboden und verlor das Bewusstsein. Den dumpfen Knall der Explosion hatte sie nicht mitbekommen.

Kapitel 2

Es ist ein unbeschwerter Sommer und es sind Ferien. Eineinhalb Jahre vor den Ereignissen in der Shopping Mall radelte Vera durch die engen winkeligen Gässchen von Othmarschen, einem Hamburger Villenvorort.

Die Sonne schien heiß, doch unter den schattigen alten Bäumen, die es hier überall gab, war es angenehm kühl und fast ein wenig zu schattig.

Vera war zu spät dran, sie war zum Tennis verabredet und hatte sich mit ihrem Tablet in der Zeit vergoogelt und in ihrer Community zu lange Messages getauscht. Zuerst Tennisstunde und dann eine Partie mit Marie, ihrer besten Freundin. Und der Tennislehrer schätzte es gar nicht, wenn sie zu spät kam. Da könnte sie sich wieder etwas anhören, von wegen Pünktlichkeit.

Sie beeilte sich mächtig und trat kräftig in die Pedale. Sie sah nicht nach links und rechts, als aus dem Schatten eines Quergässchens ein anderer Radfahrer wie aus dem Nichts von rechts auftauchte, und seitlich in ihr Vorderrad krachte.

Dessen Geistesgegenwart war es zu verdanken, dass sie beide nicht zu Sturz kamen, da er Vera gesehen hatte, und eine veritable Notbremsung hinlegte, die aber erst in Veras Vorderrad ihr Ende fand.

Sie schlitterten mit ihren Rädern ineinander verkeilt schräg über die kleine Kreuzung und kamen erst beim Randstein zu stehen. Beide noch immer die Lenkstangen ihrer verkeilten Räder in der Hand, die Füße aber schon auf dem sicheren Boden.

„Hast du keine Augen im Kopf, du hast Nachrang!“, rief der unbekannte Radfahrer heftig aus.

Vera war so erschrocken, dass sie im ersten Moment gar nichts sagen konnte. Dann erst sah sie den Fremden an, der so unmittelbar und ganz nahe vor ihr stand, da die Kotschutzbleche sich ineinander verhakt hatten und noch keiner der beiden abgestiegen war.

Es war ein hübscher junger Mann mit rabenschwarzem Haar mit einer angesagten Igelfrisur stilisiert, die den richtigen Kontrast zu seinem dunklen Dreitagesbart abgab. Das enganliegende Radtrikot verdeckte einen muskulösen und trainierten Oberkörper.

Er sah Vera an, die sich nur rasch ein T-Shirt zur Radlerhose übergeworfen hatte, denn ihre Tennissachen hatte sie im Club, wie wenn er noch nie ein Mädchen so nahe gesehen hätte.

Vera, die sich nun von ihrem Schreck erholt hatte, erkannte sehr rasch, dass sie Nachrang gehabt hatte und sah ihrerseits den jungen Mann groß an.

„Tja, ich glaube, da habe ich nicht geschaut, …“, meinte sie schließlich verlegen.

„Ich bin Ali“, entgegnete dieser und klang dabei auch recht verlegen.

„Ich heiße Vera“, erwiderte sie und wunderte sich, wieso sie auf einmal so verlegen war.

„Migrationshintergrund, na klar“, schoss es Vera politisch korrekt durch den Kopf. „Typischer südlicher Typ, etwas dunkle Hautfarbe, aber irgendwie nett“, dachte Vera weiter.

„Du sprichst sehr gut Deutsch“, sagte sie, um irgendwas zu sagen.

„Ich bin hier geboren“, erwiderte Ali mit leichten Unmut in der Stimme. „Mein Großvater ist aus der Türkei eingewandert, schon mein Vater ist hier geboren.“

„Entschuldige, ich wollte dich nicht beleidigen, es hätte ein Kompliment sein sollen.“

Noch immer standen sie über ihre Räder gezwungenermaßen viel zu nahe zusammen. Vera überlegte, wie sie jetzt ohne peinliche Verrenkungen von ihrem Rad runterkäme ohne an Ali anzustreifen, da die Räder so ineinander verhakt waren, dass sie sie nicht auseinanderbekämen, ohne vorher abzusteigen.

Beide machten einige hilflose Versuche abzusteigen, ohne den jeweils anderen zu berühren, dann sahen sie sich an und mussten beide plötzlich lachen. Denn die Sache war ja zu komisch, wie sie da an der Straßenecke mit ihren Rädern verhakt standen und keinen Abstand einnehmen konnten. Wenn sie ein Bekannter so sähe, der würde sich was Schönes denken.

Endlich schaffte es Ali, seinen Fuß über den Sattel zu schwingen, ohne Vera dabei zu streifen. Nun war es auch ein Leichtes für Vera, sich von ihrem Rad zu befreien.

Nachdem sie ihre Räder getrennt hatten, ging es an die Schadensbesichtigung. Beide Vorderräder waren so kräftig verbogen, dass eine Weiterfahrt ohne Reparatur nicht möglich war. Und beide Räder waren bis eben fast fabrikneu gewesen.

Vera dachte an ihr Taschengeld, das würde teuer werden. Zwei neue Vorderräder waren zu bezahlen.

Aber von neuen Rädern wollte Ali nichts wissen, er habe einen Freund, der kenne jemanden in einer Fahrradwerkstatt, das sei kein Problem, die kriegen das hin.

Denn er wollte Vera wiedersehen, hatte aber keine Ahnung wie, und so war ihm die Fahrradwerkstatt eingefallen.

Vera wollte protestieren, aber warum, denn eigentlich wollte sie Ali auch wiedersehen, gestand sich den wahren Grund aber nicht ein.

Die Tennisstunde war ohnehin schon gelaufen, zu Fuß würde sie es nicht schaffen und direkten Bus gab es keinen. Sie schickte eine SMS an den Tennislehrer, in der sie einen Fahrraddefekt angab. Für den konnte sie ja schließlich nichts.

Ali hatte zur Elbe gewollt, um sich die großen Containerschiffe anzusehen, die dort ständig vorbeifuhren. Auf so einem Schiff wollte er einmal Offizier sein.

Vera und Ali schoben ihre Fahrräder dann nebeneinander her und gingen langsam in Richtung Veras Zuhause. Ali ging einfach neben ihr her und sie erzählten sich zwanglos aus ihrem Leben.

Irgendwie fand Vera, das könnte endlos so weitergehen. Doch bald waren sie vor ihrer Villa angekommen und Ali meinte beeindruckt: „Wow, in so einem Schloss wohnst du.“

Vera war peinlich berührt, denn sie dachte, eine solche Villa würden sich Alis Eltern vermutlich nie leisten können.

„Halb so wild, das Haus ist uralt, nur außen frisch gestrichen.“

„Du brauchst dich nicht zu verstecken, ich sehe doch, was ich sehe, den Garten, die Doppelgarage, den gepflegten Rasen und die Sonnenschirme, deine Eltern müssen reich sein.“

„Nein, nur wohlhabend, wir sind nicht reich, da gibt es ganz andere Villen“, wollte Vera ihren Luxus entkräften.

„Ich wäre auch gerne so reich“, entgegnete Ali entwaffnend ehrlich.

Dann verabredeten sie sich für den nächsten Tag wegen der Fahrradreparatur und Ali verabschiedete sich von Vera auf höflichste Art und Weise, so richtig altmodisch.

Vera schob ihr kaputtes Rad möglichst rasch und unauffällig in den Schuppen hinter dem Haus, wo die Räder und Gartengeräte aufbewahrt wurden und beschloss, möglichst nichts über Ali, den Unfall und die missglückte Tennisstunde zu Hause zu erzählen.

Kapitel 3

Ali hatte Wort gehalten und am nächsten Morgen das Rad von Vera mit einem kleinen Lieferwagen abgeholt. Ali war schon neunzehn und hatte den Führerschein. Er arbeitete nebenbei bei seinem Vater im Betrieb mit, wollte das Abitur aber irgendwann nachholen.

Sein Vater hatte einen kleinen Bäckerladen von seinem Vater, Alis Großvater, geerbt und diesen mit viel Fleiß und Geschick zu einer Bäckereikette mit zwanzig Filialen, verstreut im Großraum Hamburg, ausgebaut.

Alis Großvater war in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts aus Ostanatolien mit einem Gastarbeiterkontingent nach Deutschland gekommen und hatte als Arbeiter bei einer der großen Hamburger Werften begonnen. Vom einfachen Hilfsarbeiter hatte er es bis zum ausgebildeten Schweißer geschafft. Dann konnte er gesundheitlich nicht mehr, sein Rücken machte Probleme, er musste den gut bezahlten Schweißer Job aufgeben und erwarb mit seinem letzten Geld einen in Konkurs gegangenen Bäckerladen samt Backstube.

Da er zwar Schweißen gelernt hatte, aber nach zwanzig Jahren in Deutschland kaum Deutsch sprach, war der Bäckerladen nur für türkische Kunden interessant.

Aber in der Nachbarschaft gab es inzwischen genug türkischstämmige Einwanderer und das Geschäft blühte rasch auf.

Seine Frau, die er aus Anatolien hatte nachkommen lassen, war ihm dabei eine große Hilfe. Seine beiden Söhne und seine beiden Töchter halfen ebenfalls im Laden tatkräftig mit, so dass bald die Kunde in der Straße lief, bei ihm gebe es das beste türkische Fladenbrot und die süßesten Ciloglu und Halawa, eine Art süßen Aufstrich, weit und breit.

Hassan, als ältester Sohn und Vater von Ali, übernahm schließlich den Laden, als sich der Großvater zur Ruhe setzte und baute ihn mit viel Geschick und auch durch seine Verbindungen in der türkischen Community zu der ansehnlichen Bäckereikette aus, die es heute gibt.

Hassan hatte ein Gespür für das Geschäftliche, obwohl er nur die Bäckerlehre bei seinem Vater gemacht hatte. Aber er konnte schon besser Deutsch und mit dem Magistrat verhandeln, wenn es um die Genehmigung für weitere Filialen ging. Seinen Bruder und seine beiden Schwestern hatte er im Betrieb angestellt, aber Entscheidungen traf nur er alleine, denn er war ja jetzt der Familienälteste.

Ali war der älteste Sohn von Hassan und sollte natürlich einmal den Betrieb übernehmen, zeigte aber wenig Lust dazu. Er wollte viel mehr die Welt sehen und andere Länder kennen lernen.

Sein Vater wollte ihn im Geschäft sehen, das war praktischer, als nutzlos in der Welt herumzustreifen. Als Kaufmann könne er helfen, den Bäckereibetrieb größer zu machen, neue Filialen zu gründen und das Vermögen der Familie zu mehren.

Das alles und noch vieles mehr erzählte Ali Vera, wenn sie sich heimlich trafen. Denn es war eine merkwürdige Art von Beziehung zwischen den beiden entstanden.

Die Fahrräder waren bald repariert und niemandem in Veras Familie war aufgefallen, dass ihr Vorderrad kaputt gewesen war. Doch sie hatte Ali danach wiedersehen wollen und ihn ganz direkt nach seiner Mobilnummer gefragt, was diesen heftig verwirrt hatte. Denn dass ein Mädchen die Initiative ergriff, kam in seinem Umfeld einfach nicht vor. Mädchen hatten schön brav zu Hause zu bleiben und zu warteten, bis sie an der Reihe waren und verheiratet wurden.

Aber bei Vera war für Ali alles anders. Er freute sich darauf, mit ihr zusammen sein zu können und mit ihr einfach nur zu plaudern.

So saßen sie in den Ferien einfach Nachmittage lang zusammen am Elbstrand und unterhielten sich. Vera erzählte von ihren Medizinplänen und Ali träumte davon, Schiffsoffizier zu werden. Naschmittags hatte er Zeit, denn sein Vater hatte ihn zur Auslieferung an die Filialen in den Morgenstunden eingeteilt, und da gab es ab späten Vormitttags nichts mehr zu tun. Alis Vater zeigte Verständnis, wenn sein Sohn nicht die ganze Zeit mit der Bäckerei zu tun haben wollte, das würde schon noch kommen, dachte er.

Ein seltsamer Zauber hielt die beiden umfangen und das Herzklopfen, dass sie immer deutlicher spürten, wenn sie sich trafen, wollten sie so genau nicht deuten. Es blieb alles offen und unbestimmt, aber die Abstände ihrer Treffen wurden immer kürzer. Aber beide vermieden das Thema, wie es mit ihrer Beziehung weitergehen solle und gestanden sich ihre Verliebtheit noch nicht ein.

Ali hatte das Gymnasium verlassen müssen, aber zum mittleren Schulabschluss, wie die mittlere Reife in Hamburg genannt wurde, hatte es gereicht. Die Lehrer wollten keine Türken haben, war seine feste Meinung. An ihm könne es nicht gelegen haben, er hatte ja sehr gute Noten in Deutsch, die haben die anderen Jungs mit Migrationshintergrund alle nicht gehabt. Aber alle fünf hatten gehen müssen, bei ihm war es wegen Mathe, Physik und Chemie gewesen. Das sind ja alles nur Nebengegenstände meinte Ali verächtlich.

In diesem Punkt konnte ihn Vera mit ihrem Notenschnitt von 1,2 nicht verstehen. Lernen war für sie das halbe Leben und sie begriff seine Einstellung überhaupt nicht, ließ ihn aber bei seinen Ansichten.

Ali meinte, das Abitur ja einmal in der Abendschule bei Bedarf nachholen zu können, aber für den Seeoffizier bei der Handelsmarine reiche auch die mittlere Reife, das wisse er. Ali war der erste seiner Familie, der die mittlere Reife geschafft hatte, was er nicht oft genug betonen konnte.

*

Hassan, Alis Vater hatte vor einem Jahr ein altes kleines Siedlungshäuschen irgendwo nördlich der Osdorfer Landstraße gekauft. Er wollte raus aus dem türkischen Viertel hinter dem Hauptbahnhof. Er wollte gesellschaftlich aufsteigen, da er ja inzwischen ein erfolgreicher Unternehmer war.

Jetzt waren sie die einzige türkische Familie in ihrer Gasse, und Ali musste mit dem Bus weit fahren, wenn er seine alten Freunde treffen wollte. Früher hatten sie alle in derselben Straße gewohnt. An ihrer neuen Adresse kannten sie niemanden näher, auch nach einem Jahr gab es nur einige oberflächliche Bekanntschaften. Die Leute waren zwar alle freundlich, aber distanziert und es kam keine Herzlichkeit auf.

Hassan vermisste sein türkisches Cafe am Hansaplatz, gleich um die Ecke zu seiner alten Wohnung. Jetzt war das nächste Lokal, wo Türken verkehrten, zwei Kilometer von seinem Haus weg. Aber es war OK, sie hatten jetzt ein Haus mit einem kleinen Garten und Hassan durfte sich stolz als Aufsteiger fühlen.

Seine Frau hatte zu allem ja gesagt, und dem kleinen Bruder von Ali war es auch egal, dem gefiel einfach der Garten, wo Mutter begonnen hatte, Gemüse zu ziehen. Zum Ausgleich ging Hassan jetzt wieder öfter in die Moschee zum Freitaggebet. Da konnte man danach Tratsch und Klatsch austauschen und manchmal auch interessante Gespräche führen.

Kapitel 4

So war der Sommer rasch vorangeschritten und bald begann wieder die Schule. Vera würde dann keine Zeit mehr haben, Ali so häufig zu treffen. Wie sollte es mit ihrer Beziehung weitergehen.

Bisher hatte Ali keinerlei Annäherungsversuche gemacht. Er hatte ihr sogar gestanden, dass er sich noch nie mit einem Mädchen getroffen hatte. Das gäbe es bei Muslims so nicht, da würden die Eltern aufpassen und heimliche Treffen, die gingen gar nicht. Aber bei ihr sei das wohl etwas anderes, denn sie sei ja keine Muslima. Sie habe da mehr Freiheiten, wie Ali fast ein wenig neidisch einräumen musste.

Auch Vera hatte sich bisher nicht viel aus Jungs gemacht, nur einige kleinere Flirts, allesamt völlig harmlos und ansonsten war sie ihrem Ruf als Streberin und Sportlerin gerecht geworden, die anderes im Kopf hatte, als Jungengeschichten.

Aber nun war alles ganz anders und sie wartete darauf, dass Ali endlich versuchen würde, sie zu küssen. Doch dazu war Ali viel zu wohlerzogen und konservativ. Zuerst müsse er sie seinen Eltern vorstellen, und damit das möglich werde, müsse er zuerst einmal zu Hause erzählen, dass es hier überhaupt ein Mädchen namens Vera gäbe.

Bei Vera lag der Fall ähnlich, Anke hatte von der Existenz von Ali keine Ahnung. Sie dachte, Vera sei jetzt oft mit Freundinnen unterwegs, hatte aber selber wenig Zeit, denn alle Leute wollten ständig etwas von ihr. Es gab den Wohltätigkeitsbasar zu organisieren, in der Flüchtlingshilfe war sie aktiv, die kirchliche Gemeinde verlangte ihren Arbeitseinsatz, nur die eigene Tochter kam im Terminplan kaum vor, aber die war ja schon fast erwachsen und brauchte ihre Mutter ja kaum mehr, dachte Anke, wenn sie von einem Termin zum nächsten hetzte.

Und Georg, ihren Vater, sah Vera in diesen Wochen kaum. Er war fast ständig im Ausland unterwegs, um ein großes Projekt voranzubringen, das heuer unbedingt noch fertig werden musste. Sonst bekam die Konzernleitung die Krise, was übersetzt hieß, sein Bonus war für dieses Jahr ernstlich gefährdet.

So hatten Vera und Ali viel Zeit gehabt, gemeinsam die Elbstrände entlang zu spazieren und sich Geschichten aus ihrem Leben zu erzählen.

Doch in der letzten Ferienwoche geschah es.

Ali hatte Vera in die Innenstadt zur Binnenalster eingeladen und dabei ganz feierlich gewirkt. Er hatte sich auch besser angezogen als sonst, Vera hatte ihn noch nie im Jackett gesehen.

Nun saßen sie beide im Alsterpavillon bei einem Eis und Vera sah Ali erwartungsvoll an. Dieser wirkte seltsam verlegen und wusste nicht so recht, wie er beginnen sollte.

Schließlich gab er sich sichtbar einen Ruck und begann umständlich zu erklären, seine Eltern wüssten nun, dass es Vera gäbe und dass er möchte, dass die Sache eine Zukunft habe.

Seine Eltern seien sehr erfreut gewesen, und hätten keine Einwände gehabt, denn zu einem rechten Mann gehöre einmal eine rechtschaffene Frau. Das Letzte sagte Ali wohlweislich nicht zu Vera.

Er sagte ihr stattdessen, dass es ihm ernst sei und er sie liebe. Dabei sah er ihr tief in die Augen.

Vera begriff sofort, dass er es ernst meinte. „Ich bin ja erst sechzehn“, war ihre Antwort.

„Das ist doch genau das richtige Alter“, entgegnete Ali, „da bist du doch schon erwachsen.“

Sie liebte Ali schon auch, aber sie hatte das Gefühl, dass das hier plötzlich viel zu schnell ging.

Ali redete auch schon weiter, dass jetzt das Wichtigste sei, dass sich ihre Eltern einmal kennenlernen können. Denn ohne Eltern sei das ja nicht offiziell. Und dann könnte noch für heuer der Verlobungstermin angesetzt werden. Und wenn sich das organisatorisch nicht ausginge, dann Anfang nächsten Jahres.

Ali klang ganz begeistert und hatte sich jetzt richtig warm geredet. Seine anfängliche Unsicherheit war komplett verschwunden.

Vera war wie erschlagen und konnte nicht antworten. Sie sah Ali fassungslos an. Das hatte sie sich nicht vorgestellt. Hier verliebt sie sich in einen Jungen und der kommt gleich mit dem Verlobungsaufgebot. Und ihre Eltern haben von dem ganzen nicht die leiseste Ahnung.

Ali, der inzwischen bemerkt hatte, dass etwas nicht stimmte, sah Vera groß an: „Alles OK mit dir, ich weiß, wir haben einiges vor, aber ich schaffe das, du wirst sehen, ich kann eine Familie erhalten. Wenn du erst einmal meine Familie kennengelernt hast, dann wirst du sehen, das wird alles bestens. Wir lieben uns und unsere Eltern helfen uns beim Start. Mein Vater hat gesagt, ich kann ab Herbst voll in der Bäckerei einsteigen mit echtem Gehalt und dann bin ich bald stellvertretender Geschäftsführer und schmeiße mit meinem Vater zusammen den Laden. Es ist für alles gesorgt, meine Familie macht das schon. Und den Seeoffizier lasse ich bleiben, denn wenn ich Familie habe, muss ich bei meinem Vater ins Geschäft einsteigen.“

Veras Bedenken wurden mit diesen Worten nicht zerstreut, stattdessen begann in ihr Panik aufzusteigen.

„Ich muss doch erst mal das Abitur machen und dann möchte ich Medizin studieren, da ist heiraten noch viel zu früh“, entgegnete sie mit schwacher Stimme.

„Wir heiraten erst, wenn du dein Abitur hast, das verspreche ich“, warf sich Ali in die Brust, „Mein Vater hat gesagt, Ausbildung ist wichtig. Ich habe kein Problem damit, wenn du das Abitur hast“. In Wahrheit dachte er „ich habe ein Problem damit“, sagte es aber nicht.

„Nächsten Freitag, da sind deine Eltern mit dir gemeinsam bei meinen Eltern eingeladen, damit wir uns kennenlernen können. Du wirst sehen, dann lösen sich alle Probleme ganz von alleine.“

Das war in einer Woche und am Montag davor begann für Vera wieder die Schule. Eine Sekunde lang dachte sie, was ihre Freundinnen wohl dazu sagten, wenn sie einen türkischen Verlobten hätte, der sie nach dem Abitur heiraten wolle. Was ihre Mutter dazu sagen würde, konnte sie sich beim besten Willen nicht vorstellen.

Dann hatte sie sich wieder gefasst und wollte sichergehen, dass sie nichts falsch verstanden hatte.

„Du meinst also, wir sollten nach meinem Abitur so richtig heiraten, zusammenziehen und Kinder in die Welt setzen. Ist es das, was du mir heute sagen willst?“

Ali begann zu strahlen: „Genau, das wollte ich sagen, aber du hast das jetzt so schön zusammengefasst, viel besser als ich das kann.“

„Und darf ich das jetzt als dein JA verstehen“, hakte er nach.

„Und mein Medizinstudium?“, wollte Vera wissen.

„Kein Problem, wenn du zuhause bei den Kindern bist, hast du ja Zeit zum Studieren. Der Haushalt ist ja gleich erledigt, und wenn du Hilfe brauchst, dann hilft dir meine Mutter, die kennt sich mit Haushalten perfekt aus. Und Geld ist auch kein Problem, meine Eltern sind wohlhabend, und deine Eltern werden ja auch etwas beisteuern, das versteht sich ja von selbst, wenn die einzige Tochter unter den Schleier kommt.“

Das war jetzt eindeutig zu viel für Vera, hier wurde über ihr restliches Leben bestimmt, ohne dass sie überhaupt gefragt worden war, geschweige denn, dass sie hätte mitreden können.

„Ich komme noch lange nicht unter den Schleier, und unter einen türkischen schon gar nicht, und deinen Haushalt kannst du von deiner Mutter führen lassen, ich bin nicht deine Haushälterin“, begann Vera heftig zu werden.

Sie dachte, sie hätte Ali geliebt, aber was sie hier hörte, das klang doch zu sehr nach islamischem Mittelalter, und dabei hätte sie gedacht, Ali sei anders. Kein so ein islamischer Macho.

Sie war vom Tisch aufgestanden, bekam sich wieder unter Kontrolle und sah Ali ganz ernst an.

„Ich dachte, wir könnten zusammen sein, ohne großes Theater, einfach wir beide und sonst niemand. Damit wir uns näher kennenlernen und uns lieben können. Dann sehen wir ja, ob wir zusammenpassen, oder nicht. Ich will mich jetzt noch nicht fix binden, das hat doch noch Zeit bis nach meinem Studium. Ich meine heiraten, Kinder kriegen und all diese Sachen.“

Ali unterbrach sie: „Du liebst mich nicht, sonst würdest du versuchen, mich zu verstehen. Bei uns zählt die Tradition, es geht nicht, dass wir auf Dauer zusammen sind und unsere Familien kennen sich nicht, oder sind nicht einverstanden. Früher haben das alles nur die Eltern alleine entschieden, da hat der Bräutigam die Braut erst bei der Hochzeit das erste Mal gesehen. Meine Eltern sind da viel moderner, sie haben mir die Freiheit gelassen, dich kennen zu lernen und haben nichts dagegen gesagt und nichts verboten. Aber jetzt müssen wir die Sache offiziell machen, wenn du mich liebst, dann müssen wir verlobt sein und bald heiraten, so ist das einmal, das gehört sich so und das wird auch so bleiben.

„Aber ihr seid doch gar nicht so religiös“, warf Vera ein.

„Stimmt, wir gehen selten zum Freitagsgebet, aber Muslims sind wir schon. Das ist nicht nur die Religion, das ist unsere Tradition und unser Lebensstil, und dass ist es, worauf es ankommt. Ich bin Türke, und ich bin stolz darauf, auch wenn ich jetzt hier in Hamburg lebe. Und wenn du mit mir zusammen sein willst, dann musst du das schon akzeptieren. Ich gebe ja auch viel auf, ich verzichte auf den Schiffsoffizier und bleibe an Land bei dir. Ich arbeite in der Bäckerei und wir sehen uns jeden Tag, wenn ich nach Hause komme.“

„Ich dachte, du bist Deutscher“, entfuhr es Vera.

„Ja, auch, was die Staatsbürgerschaft betrifft, aber ich fühle mich immer noch der Türkei verbunden, denn meine Familie und alle Verwandten sind von dort, auch wenn viele jetzt hier leben. Wir sind nun einmal Türken und bleiben Türken.“

„Und du erwartest, dass ich meinen Lebensstil aufgebe und den türkischen ganz selbstverständlich annehme, nur weil das bei euch so Tradition ist“, erklärte Vera ganz ruhig.

„Wie die Familie lebt, bestimmt der Mann, das ist seit der Zeit des Propheten so, und das wird sich auch nicht ändern. Jeder bekommt seine Rolle und du kannst dich nicht beklagen, denn du bist schließlich ein Mädchen und das war immer so und wird immer so bleiben.“

„Schade, dass es so ist, und du es nicht ändern willst, ich hätte dir mehr zugetraut“, erwiderte Vera, in der ein Entschluss herangereift war.

„Aber das Gute an der Sache ist, dass du so ehrlich warst und die Wahrheit gesagt hast. Das erspart uns viele fruchtlose Diskussionen und Streit. Dafür mag ich dich und die Erinnerung an diesen Sommer, die kann uns niemand mehr nehmen.“

Zwei kleine Tränen rannen über die Wange von Vera. Es fiel ihr gewiss nicht leicht, aber es ging nicht anders. Alis Tradition ließ keine anderen Möglichkeiten zu.

„Aber jetzt trennen sich unsere Wege für immer, und ich wünsche dir von Herzen, dass du ein Mädchen aus der Türkei findest, die so ist, wie du dir das vorstellst. Ich bin es nicht.“

Ali war wie vor den Kopf geschlagen, damit hatte er nicht gerechnet, Vera wusste doch, dass er Türke und Muslim war, wieso plötzlich dieser Rückzieher. War er ihr etwa zu minder, gab es da noch jemanden anderen? Ali verstand die Welt nicht mehr und rief laut aus: „Vera, ich liebe dich, was habe ich falsch gemacht. Verlass mich nicht, ich brauche dich doch. Das kannst du doch nicht tun.“

Einige Gäste an den Nachbartischen drehten daraufhin ihre Köpfe in ihre Richtung.

Vera, die neben dem Tisch stand, an dem Ali noch immer saß, hoffte nur, dass es von den Nachbarn keine dummen Meldungen über Ausländer gäbe, doch da nichts weiter geschah, ließ das allgemeine Interesse auch gleich wieder nach.

Da Ali keine Anstalten machte, aufzustehen, bedankte sie sich für das Eis und steuerte auf den Ausgang zu.

Erst da sprang Ali auf, ließ einige Euro am Tisch liegen und lief ihr nach.

Draußen vor dem Lokal wollte er Vera aufhalten und hielt sie am Arm fest. Sie riss sich los und beschleunigte ihre Schritte. Ali war knapp hinter ihr. „Überleg es dir doch noch einmal“, rief er ihr nach.

„Hör auf, mich zu verfolgen, du machst es nur noch schlimmer“, zischte sie zurück.

Das sah Ali auch ein und blieb stehen, aber er hatte ja ihre Nummer, er konnte sie jederzeit anrufen.

Das tat er dann auch so häufig, dass zwei Tage später seine Nummer auf der Sperrliste von Veras Smartphone eingetragen war und sie seine Anrufe gar nicht mehr erhielt.

Vera tat Ali leid, aber sie hatte keine andere Wahl gehabt, eigentlich mochte sie ihn noch immer, aber das war jetzt Vergangenheit.

Und Ali würde Vera nie vergessen, aber er war in seiner Tradition gefangen. Und alles nur, weil Vera keine Muslima war, dachte Ali, denn wäre sie eine oder wäre sie konvertiert, dann hätte sie ihn nicht abgewiesen.

Es wäre alles ganz anders gekommen, aber so nahm das Schicksal seinen Lauf.

Kapitel 5

Er konnte nichts sehen, rund um ihn herum war nur ein hellgrauer milchiger völlig undurchdringlicher Nebel.

Er fühlte sich stolz, aber auch ein klein wenig ängstlich. Die gewaltige Anspannung der letzten Tage war völlig von ihm abgefallen. Ruhig und langsam setzte er Schritt für Schritt durch diesen seltsamen Nebel. Er wusste nicht, wo er sich befand.

Er hatte es getan. Er hatte gemacht, was ihm aufgetragen worden war. Er hatte gegen die Ungläubigen gekämpft und sie getötet. Wie viele es waren, wusste er nicht, aber das war ihm jetzt auch egal. Nun war er ein Held und die Freuden des Paradieses warteten auf ihn. So hatte man es ihm gesagt und er hatte es bereitwillig geglaubt.

Nun würde er seinen gerechten Lohn erhalten. Er war jetzt ein Krieger Gottes im heiligen Krieg gegen die Ungläubigen. Ihm war das Paradies versprochen. Hüris, Paradiesjungfrauen würden auf ihn warten, ihm süße Früchte kredenzen und alle seine Wünsche erfüllen. Seine Tat erfüllte ihn mit Stolz und Freude, er war jetzt ein Held und würdig für das Paradies.

Doch vorerst war nur dieser seltsame Nebel um ihn. Der Boden, auf dem er stand, schien fest und war auch von grauer Farbe. Wenn er seine Hand ausstreckte, konnte er sie sehen, aber nach drei Metern war die ganze Umgebung durch diesen Nebel verhüllt. Das Paradies musste doch anders aussehen, dachte er bei sich, als er zögerlich einen Schritt vor den anderen setzte, um nicht irgendwo dagegen zulaufen.

Doch hier gab es nichts, wogegen er hätte laufen können, der Boden war glatt und völlig ohne Hindernisse.

Er blieb stehen und sah sich um, nichts als Nebel ringsum und dann stand SIE vor ihm.

Eine so schöne Frau hatte er noch nie gesehen. Er war überwältigt. Sie trug ein langes in Falten geworfenes helles Gewand. Ihre Haare waren züchtig mit einem Schleier verhüllt und ihr Gesicht zeigte nicht den geringsten Makel, sondern nur strahlende Schönheit. Sie lächelte ihn freundlich an und sagte: „Ich bin Ayasha, willkommen in deinem Paradies, du großer Krieger.“

Dabei streckte sie ihm verheißungsvoll die Hand entgegen. „Lass dir dein Paradies zeigen, komm“, lud sie ihn ein.

Ali jubelte innerlich, es war wirklich wahr und hier war schon die erste Hüri zu sehen, die ihm gleich die Herrlichkeiten des Paradieses zeigen würde. Freudig erregt ergriff er ihre dargebotene Hand.

Der Schmerz war so überwältigend und intensiv, wie wenn er eine Hochspannungsleitung berührt hätte. Alles in ihm verkrampfte sich. Seine Versuche, sich loszureißen scheiterten. Sie hielt ihn fest und sein ganzer Körper brannte wie Feuer.

Er ging in die Knie und Ayasha hielt noch immer seine Hand und lächelte.

Dann überflutete eine Welle von Trauer seinen Geist, alles um ihn herum wurde schwarz und finster. Er fühlte sich in einem Meer von Tränen und meinte, darin ertrinken zu müssen.

„Wer bist du“, stammelte er, auf dem grauen Boden knieend und sich vor Schmerz windend.

„Jemand, der es gut mit dir meint, ich bin dein Schutzengel, und jetzt sehen wir uns einmal ein wenig um“, sprach sie mit sanfter Stimme.

Die Dunkelheit und der Nebel wichen von der Szenerie und er erkannte die Shopping Mall wieder, die er vor wenigen Augenblicken verlassen hatte. Doch wie sah es hier aus.

Deckenverkleidungen waren herabgestürzt, Mauerteile waren geborsten. Das Geländer der umlaufenden Galerie des zweiten Stockes war zerschmettert und auf die Köpfe der Menschenmenge im Erdgeschoß gekracht. Alles war voll Glasscherben und überall am Boden lagen menschliche Körper in ihrem Blut. Abgerissene Gliedmaßen waren verstreut zwischen den Trümmern der Weihnachtsdekoration.

Die Schmerzensschreie der Verwundeten wurden von den auf Hochtouren schrillenden Alarmsirenen übertönt. Blutende Leichtverletzte, denen nur die umherfliegenden Glassplitter zugesetzt hatten, taumelten unter Schock umher. Kleine Kinder, die auf den Weihnachtsmann gewartet hatten, schrien blutverschmiert nach ihren Müttern.

Über all dem lag noch der Rauch der Explosion, als die ersten Alarmeinheiten am Tatort eintrafen.

Er stand mitten im Geschehen, völlig alleine und unsichtbar für alle.

Ayasha hatte seine Hand losgelassen und stand neben ihm. Sie weinte.

Und er sah die Folgen seiner Tat und war dem Schmerz und der Verzweiflung seiner Umgebung plötzlich direkt und unmittelbar ausgeliefert. Sein Stolz wandelte sich augenblicklich in Entsetzen. Das war nicht mehr wie im Videoclip oder wie beim Egoshooter, jetzt waren die Schmerzen real. Und er war die Ursache all dieses Schmerzes. Er war jetzt ein Massenmörder, der vor seinen Opfern stand. Sein Herz verkrampfte sich. „Ich will nicht mehr leben“, stammelte er.

„Du bist schon tot“, erwiderte Ayasha mit ernster Stimme. „Die Verantwortung trägst du alleine, für das, was du hier angerichtet hast.“

„Ich habe doch nur meinen Auftrag ausgeführt“, wollte er sich rechtfertigen. „Sie haben mir gesagt, ich solle es tun.“

„Getan hast nur du es, du warst der, der die Bombe gezündet hat, nur du alleine“, entgegnete Ayasha.

„Die Leben, die du vorzeitig ausgelöscht hast, kannst du nicht wieder auf Erden lebendig machen und etliche der Überlebenden werden ihr ganzes restliches Leben ihre Wunden, Narben und Verstümmelungen mit sich tragen müssen.“

„Ich will nicht, ich bin nicht schuld, man hat mich hereingelegt“, wollte er aufbegehren.

„Du kannst es nicht ungeschehen machen, es ist passiert und es ist auf immer in die Seelen aller Beteiligten eingebrannt, und in deine ganz besonders.“

„Gnade“, schrie er, „Allah vergib mir, was habe ich angerichtet.“

„Allah braucht dir nicht vergeben, denn du sollst wissen, du bist nicht verurteilt. Du musst nur die Folgen deiner Tat tragen. Das ist etwas ganz anderes, und ein viel härteres Schicksal.“

Sanitäter rannten an ihnen vorbei und durch sie hindurch. Sie versuchten, zu retten, wen sie noch retten konnten, denn die Bombe war sehr stark gewesen.

Langsam war er an der Seite von Ayasha weitergegangen. Er hatte keine Ahnung, wie er das je wieder gut machen konnte, was er getan hatte.

Dann sah er sie liegen. Wenn ihm sein Schuldgefühl jetzt schon die Eingeweide halb zerriss, dann war jetzt die Steigerung gekommen. Sein Herz drohte zu bersten, als er sie erkannte. Dort drüben lag Vera, die er einmal geliebt hatte, die er immer noch zu lieben glaubte, am Boden und bewegte sich nicht mehr. Ali wollte seine Existenz sofort beenden und mit der Sache nichts zu tun haben, aber er konnte nicht vor sich selbst flüchten, Seine Seele lebte weiter und würde es noch lange tun. Schmerz und Wut auf alle, die ihn in diese Lage gebracht hatten und auf sich selbst, der das zugelassen hatte, brannten in ihm wie ein loderndes ewiges Feuer.

Jetzt war er endgültig in seiner Hölle angekommen, aus der es für ihn kein Entrinnen mehr geben konnte.

Kapitel 6

Vera blinzelte und öffnete ganz langsam die Augen. „Wo bin ich“, murmelte sie undeutlich.

Rings um sie war alles hell und weiß. Vera versuchte sich zu erinnern, was geschehen war, aber sie hatte irgendwie einen Filmriss. Sie wollte doch in die Innenstadt und sich mit ihrer Mutter zum Einkaufen treffen, aber wieso hat sie das nicht gemacht. Was war geschehen und wieso lag sie hier jetzt tatenlos herum. Ihr Kopf tat ihr weh und sie nahm ihre Umgebung wahr, wie durch einen Weichzeichner gefiltert. Alles wirkte gedämpft und wie in weiche Watte gepackt.

Eine Tür ging auf und eine Frau in einem weißen Mantel kam herein.

Vera erkannte in ihr eine Krankenschwester. Und als Vera jetzt den Kopf leicht drehte, sah sie die medizinische Ausrüstung, die man hinter ihrem Bett aufgebaut hatte. Mehrere miteinander wild verkabelte Monitore flimmerten und zeigten ihre Werte an. Blutdruck, Herzschlag und vieles mehr.

„Ah, sehr gut, Sie wachen langsam auf“, erklärte die Schwester, „nur schön langsam, nicht überanstrengen“.

„Wo bin ich, was ist passiert, ich kann mich nicht erinnern, wieso bin ich hier?“

„Sie haben großes Glück gehabt, Sie haben nur eine Gehirnerschütterung und sonst keine Verletzungen, Sie werden in wenigen Tagen wieder heimgehen können.“ „Ach ja, Sie sind hier bei uns im Marienkrankenhaus, da sind Sie gut aufgehoben, wir kümmern uns um alles.“

„Aber was ist passiert, warum habe ich eine Gehirnerschütterung?“, wollte Vera wissen.

„Die Erinnerung kommt ganz langsam, nichts überstürzen, Sie müssen sich jetzt schonen“, lenkte die Schwester ab.

Vera war viel zu erschöpft, um jetzt viele Fragen zu stellen. Sie gab sich mit der Erklärung der Schwester zufrieden. Und die Infusionslösung, an die man sie angeschlossen hatte, tat das ihre, um Vera in einen sanften traumlosen Dämmerschlaf zu geleiten.

Als sie wieder die Augen öffnete, saß Georg, ihr Vater neben ihrem Bett. Er sah so ganz anders aus, als sonst. Vera kannte ihren Vater immer nur gepflegt und rasiert. Meistens trug er gutsitzende Anzüge mit altmodischen Schlipsen. Doch jetzt war er unrasiert und mit zerzaustem Haar. Er trug einen seiner uralten Segelpullover zur Jeans. So würde ihn Mama doch gar nicht aus dem Haus lassen, was war passiert.

„Schön, dass es dir gut geht“, brachte ihr Vater hervor und versuchte ein Lächeln, welches ihm so gar nicht gelang.

Nun war Vera plötzlich hellwach. Was war passiert, sie wollte es jetzt wissen.

„Du hattest einen Unfall,“, erklärte ihr Vater, „du musst dich schonen.“

Doch Veras Energien waren zurück und sie widersprach mit kräftiger werdender Stimme: „Ich will endlich wissen, was passiert ist, keiner sagt mir was und ich weiß nur, da war dieses überfüllte Einkaufszentrum, da wollte ich mich mit Mama treffen. Dann ist alles weg. Bin ich von einem Auto angefahren worden, erzähl´ endlich. Wie lange bin ich schon hier.“

Ihr Vater sah ernst drein: „Jetzt ist Sonntagabend, du liegst seit Freitag hier. Du bist mit dem Kopf auf den Steinboden gekracht, sowas kann böse ausgehen, du hast echtes Glück gehabt.“

Plötzlich hatte ihr Vater Tränen in den Augen, als er fortfuhr:“ Zehn Meter haben dir das Leben gerettet.“

Vera spürte eine unbestimmte Angst in sich aufsteigen. Da war etwas, was ihre Kehle zuschnürte, man wollte ihr nicht alles sagen.

„Wo ist Mama?“, fragte sie tonlos.

Da setzte schlagartig ihre Erinnerung ein und sie sah das gelbe Ballkleid vor sich, dass ihr ihre Mutter hatte zeigen wollen. Und dann war sie davongerannt, und dann war der Erinnerungsfilm abgerissen.

„Das Ballkleid, sie wollte mir das Ballkleid zeigen“, brachte Vera hervor und sah ihren Vater an, der seine Tränen nicht mehr zurückhalten konnte.

Er konnte nichts sagen, er brachte kein Wort heraus. Vera sah ihn entsetzt an und wusste Bescheid, sie würde ihre Mama nie wiedersehen.

So vergingen lange Minuten des Schweigens. Vera hatte sich ins Kissen geworfen und ließ ihren Tränen freien Lauf. Ihr Vater saß traurig neben dem Bett und dachte an Anke, die er nun endgültig verloren hatte.

Sie hatten eine gute Ehe gehabt, sie hatten sich geliebt und vieles zusammen unternommen. Georg dachte an die gemeinsamen Segeltörns auf der Nordsee, die sie beide so geliebt hatten. Doch in den letzten Jahren waren sie beide viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen. Anke hatte ihre vielen Verpflichtungen, die ihr Leben so ganz auszufüllen schienen und war des Abends oft bei den karitativen und sozialen Veranstaltungen, die sie selbst mitorganisierte.

Warum war das so gewesen, fragte sich Georg, dass sie in den letzten Jahren so wenig Zeit miteinander verbracht hatten.

Es kam ihm nicht in den Sinn, dass Ankes Aktivitäten ihre Antwort auf seine Firmenkarriere war. Schließlich war er ständig durch Europa gejettet und hatte Geschäftsabschlüssen hinterhergejagt, die seiner Karriere dienlich und seinem Bonus nützlich waren. Dies hatte ihm Anfangs auch großen Spaß gemacht, er hatte sich wichtig und nützlich gefühlt. Schließlich sicherte und schuf er damit eine Menge Arbeitsplätze in der Niederlassung, die er leitete, und auch bei seinen Lieferanten. Doch irgendwann war das alles zur Last geworden, die er nicht abschütteln konnte, und dann musste er weitermachen, weil das einfach von ihm erwartet wurde. Gegenüber der Konzernleitung konnte man sich keine Schwäche erlauben und etwas in den Zielen zurückstecken. Da war eine Karriere dann sehr schnell zu Ende.

Und jetzt saßen sie da und trauerten um Anke, die viel zu früh von ihnen gegangen war. Georg trauerte auch um die vielen verpassten Gelegenheiten, wo sie nichts miteinander unternommen hatten, da jeder nur „Seins“ im Kopf gehabt hatte.

Schließlich hatte sich Vera wieder soweit gefangen, dass sie die unvermeidliche Frage stellen konnte: „Und wie ist es passiert“.

„Ich weiß auch nichts Genaues, die Polizei ermittelt noch“, aber sehen wir nach“. Mit diesen Worten schaltete er den Fernsehapparat ein, der sich im Krankenzimmer befand.

Es lief gerade eine Sondersendung. Es war ein Meer von Kerzen und Blumen am Rande der Hamburger Binnenalster zu sehen. Tausende Menschen mit brennenden Kerzen in der Hand hatten sich auf dem Platz vor dem Einkaufszentrum versammelt und gedachten der zweiundfünfzig Toten, die dieser entsetzliche Terroranschlag mitten in der Weihnachtszeit gefordert hatte. Es sei der schlimmste Anschlag, der bisher je in Deutschland verübt worden ist, die Polizei fahndet unter Hochdruck nach den Hintermännern des Selbstmordattentäters.

Sie schalteten auf einen anderen Kanal, dort das gleiche Bild, nur ein anderer Text des Kommentators.

Sie schalteten auf den norddeutschen Nachrichtensender um. Der Sprecher brachte eben die neuesten Erkenntnisse der Ermittler: „Der Täter konnte nun von der Polizei identifiziert werden. Der Name wird wegen der laufenden Ermittlungen nicht bekanntgegeben. Es handelt sich um einen Deutschen, dessen Familie aus der Türkei stammt und in dritter Generation in Hamburg lebt. Nie ist von ihnen jemand durch Extremismus aufgefallen. Für die Polizei war der Täter bis zur Tat ein völlig unbeschriebenes Blatt. Es hat bisher noch keine Terrororganisation die Verantwortung für die Tat übernommen. Nach einem möglichen zweiten Täter wird intensiv gefahndet.

Georg schaltete den Fernsehapparat wieder aus. Jetzt wusste Vera, was los war, aber das machte Anke auch nicht mehr lebendig. Was Georg ihr nicht sagte, was ihm aber die Polizei gesagt hatte, wie sie Anke gefunden hatten.

Es waren zwei Sprengsätze gezündet worden, einer in der Galerie im zweiten Stock. Dort hatte man den Selbstmordattentäter gefunden. Der zweite Sprengsatz war im Erdgeschoss zeitgleich in mitten der dichten Menschenmenge detoniert, wobei dieser die meisten Toten gefordert hatte.

Unklar war für die Polizei, ob es einen zweiten Täter gab, oder ob der Täter den Sprengsatz einfach über das Geländer von der Galerie aus in die Menge geworfen hatte.

Das hatte Georg aus den Nachrichten von Samstagabend erfahren. Er war bis Freitagabend in München gewesen und hatte erst nach der Landung in Hamburg die schrecklichen Bilder über die Monitore am Flughafen flimmern gesehen. Zu dem Zeitpunkt hatte er noch keine Ahnung, dass seine eigene Familie unmittelbares Opfer geworden war. Da hatte er sich noch auf ein einigermaßen ruhiges Wochenende zu Hause gefreut.

Er hatte auch zu Hause noch keine Idee von dem was vorgefallen war. Es kam öfters vor, dass weder Anke noch Vera zu Hause waren, wenn er spätabends von einer Geschäftsreise zurückkam. Erst gegen Mitternacht begann er sich Gedanken zu machen, doch da stand bereits ein Streifenwagen der Polizei vor der Villa und eine verständnisvolle Beamtin, geschult für solche Einsätze versuchte, ihm schonend beizubringen, was geschehen war, denn Anke war bereits identifiziert worden.

Es waren viele Teams der Polizei in jener Nacht unterwegs, denn es gab Familien, die waren fast komplett ausgelöscht worden, da lebte nur mehr ein Vater, der seine Frau und seine Kinder bei den Weihnachtseinkäufen verloren hatte, oder Kinder, die an diesem Nachmittag beide Eltern verloren hatten.

Doch das alles half Georg und Vera in ihrer Trauer nicht weiter, denn schließlich war es ihre Familie, die ein grausamer Mörder zerstört hatte.

Kapitel 7

Das Lernen machte ihr keinen Spaß, früher war das alles ganz anders gewesen, aber nun saß sie vor ihren Skripten und nichts wollte in ihren Kopf. Sie war müde und unkonzentriert.

Die letzten vier Monate waren ein einziger Horrortrip gewesen. Zuerst das Begräbnis von Anke im Kreis der Familie. Vera musste die Kondolenz aller Angehörigen an der Seite ihres Vaters über sich ergehen lassen und fühlte sich noch viel mehr niedergeschlagen, da ihr alle erklärten, wie arm sie nun sei.

Dann der große Trauergottesdienst für alle Opfer in der größten Kirche Hamburgs. Da waren Fernsehen und Presse dabei. Sogar die Bundeskanzlerin war da und hielt eine kurze und ergreifende Ansprache.

In der Schule hatten alle Professoren vollstes Verständnis für Veras Situation als Opfer eines Terroristen, der ihre Mutter auf dem Gewissen hatte. In der Klasse war sie so eine Art stille Heldin. Alle betrachteten sie ehrfurchtsvoll ob ihrer dramatischen Erlebnisse, und sie selbst sagte am liebsten gar nichts dazu. Sie wollte nicht darüber reden.

Sie war auch etliche Male bei einem Psychologen gewesen, der versucht hatte, sie wiederaufzurichten. Es hatte nichts gebracht. Der Verlust von Anke saß tiefer. Hier war eine Verbindung gekappt worden, die noch sehr ausbaufähig hätte sein können, und die nun nie mehr genutzt werden konnte. Vera konnte nicht begreifen, wie ein Mensch zu so einer Tat fähig sein konnte.

Durch glückliche Umstände erfuhr Vera nicht, dass sie den Attentäter persönlich gekannt hatte und einmal in ihn verliebt gewesen war. Die Polizei hielt die Daten über die Familie des Attentäters geheim, da sich bei dieser keinerlei Anhaltspunkte über eine Mitwisser- oder Mittäterschaft ergeben hatten. Es drang nichts an die Presse durch. Das Bild von Ali, das durch alle Medien ging, war so schlecht, er war darauf einfach nicht zu erkennen. Nur in manchen nicht öffentlichen rechten Internetforen wurde darüber gemunkelt, der Attentäter sei der Sohn des Besitzers einer Hamburger Bäckereikette gewesen, aber Beweise wurden nicht gebracht. Doch Vera war in solchen Foren nicht aktiv und öffentlich bekannt wurde nichts, da die Beweise von der Polizei unter Verschluss gehalten wurden.

Trotzdem war Hassan, Alis Vater, ein gebrochener Mann, der nicht mehr daran dachte, sein Filialnetz zu erweitern, sondern der sich aus dem Geschäftsleben zurückziehen wollte und sich schwerste Vorwürfe machte, Ali zu wenig kontrolliert zu haben. Das war nicht sein Gott, der da als Rechtfertigung für die Terroristen herhalten sollte. Allah konnte so etwas niemals befehlen. Er würde seine Filialen verkaufen und sich zurückziehen.

So blieb Hassan zumindest die Öffentlichkeit erspart, wobei die Deutschen Zeitungen nach Interviews mit der Täterfamilie geradezu gegiert hatten. Aber die Hamburger Polizei hatte richtig entschieden, es sollten nicht noch mehr Leben zerstört werden. Stattdessen gingen die Ermittlungen in Richtung einzelner Moschee Vereine, die im Ruf standen, Salafisten zu unterstützen.

Aber all das war Vera völlig egal. Sie saß alleine in der großen Villa und versuchte, ihre Gedanken auf das unmittelbar bevorstehende Abitur zu konzentrieren. Georg konnte seine Geschäfte nicht völlig vernachlässigen und sie waren auch eine willkommene Ablenkung vom Tode von Anke.

Doch so ganz alleine war sie nicht, denn Sigrid Tatenberg, eine alte Freundin ihrer Mutter, kümmerte sich um Vera. Denn Veras Großeltern, die Eltern von Georg, waren mit der Situation überfordert, und die Eltern von Anke waren schon vor Jahren gestorben. Sie hatten den Tod ihrer einzigen Tochter nicht erleben müssen.

Die Noten der letzten Schularbeiten von Vera waren in den Keller gerasselt. Sie stellte sich immer wieder die Frage, wieso Anke ausgerechnet zu dieser Boutique in diesem Moment gewollt hatte. Und sie hatte ständig ihre Vision des gelben Minikleides im Kopf und ihre eigene Panik vor dem Tod, die ihr das Leben gerettet hatte, da sie, wäre sie nicht vor dem Kleid davongelaufen, jetzt genauso tot wäre, wie ihre Mutter. Sie hatte keine Idee, was das gelbe Minikleid mit der ganzen Geschichte zu tun hatte, und wieso sie die Panik unmittelbar vor der Explosion so deutlich hatte spüren können. Sie konnte sich keinen Reim darauf machen und der Psychologe, mit dem sie versucht hatte, darüber zu sprechen, hatte das alles als Stressreaktion auf den Verlust ihrer Mutter begründet.

Als Vera ihm versuchte zu erklären, dass zum Zeitpunkt ihrer Panik ihre Mutter ja noch gelebt habe, erzählte er ihr irgendetwas über posttraumatische Belastungsstörungen, die Vera dazu brächten, ihre Erinnerungen zu vermischen. Vera glaubte dem Psychologen nicht, wusste aber bald selbst nicht, was sie glauben sollte, und was nicht.

Doch Sigrid Tatenberg hatte die Gabe, tröstende Worte zu finden und Vera zu helfen, wieder an ihre Zukunft zu denken und nicht in Trübsinn zu versinken. Sie kannte die Familie Bauer schon so lange. Sie war einmal maßgeblich an der Rettung Georgs beteiligt gewesen, als dieser von Terroristen entführt worden war, und niemand mehr sein Versteck kannte, in dem er gefangen gehalten wurde (siehe „Das Seelenkarussell“ Band 1 – Vera). Denn alle Terroristen bis auf einen, waren bereits tot. Und dieser eine wollte Georg in seinem Verließ vermodern lassen, wenn nicht Sigrid mit ihren medialen Fähigkeiten eingegriffen hätte, und sie Georg in letzter Sekunde gefunden hätten. Diese Geschichte kannte Vera gut, da sie ihr X-Mal von Anke erzählt worden war.

Und nun hatte Sigrid Vera den Rat gegeben, sich in das scheinbar Sinnlose zu fügen und einfach nach vorne zu schauen, um ihr Leben wieder leben zu können. Sie sollte versuchen, ihre Zukunft wieder aktiv zu gestalten und in die Hand zu nehmen. Ihr Leben lag ja noch vor ihr.

Vera war sich da nicht so sicher, aber sie nahm sich die Ratschläge von Sigrid zu Herzen und konzentrierte sich auf ihr Abitur.

Aus dem Weblog von Ali – Eintrag 13

Die Freitagspredigten sind so langweilig. Mein Vater will aber, dass ich in die Moschee mitkomme, aber mich interessieren die alten Geschichten vom Propheten nicht. Ich will kein Muslim sein, da hat man nur Probleme. Alle schauen dich schief an und verachten dich als rückständigen Kameltreiber und sagen „Kümmeltürke“ oder Schlimmeres zu dir. Und nichtmuslimische Mädchen kannst du auch nicht heiraten, die wollen dich alle nicht.

Aber das darf ich niemandem sagen, dass ich austreten will, denn als Muslim kann man nicht austreten, da steht die Todesstrafe drauf. Da haben es die Christen besser, die können austreten, wenn es ihnen nicht passt, und keiner hat etwas dagegen.

Im Koran steht, wer seinen Glauben verrät, der ist des Todes. Unser Prediger sagt das auch, aber was will er mir tun, hier mitten in Deutschland, das ist doch ausgemachter Unsinn, aber austreten kann ich trotzdem nicht.

Aus dem Weblog von Ali – Eintrag17

Jetzt gibt es einen neuen Prediger in der Moschee, der spricht ganz anders. Der redet viel spannender und verständlicher. Er sagt, er hat Beweise, dass wahr ist, was der Prophet gesagt hat.

Tarik, der Prediger, ist ein waschechter Deutscher, der zum Islam konvertiert ist, wie er selbst in der Predigt erzählt. Er wurde von Allah erleuchtet und hat sich zum einzig wahren Glauben bekannt. Jetzt vertritt er die wahre Lehre der Sunna und der Salafisten.

Wenn jetzt schon Deutsche übertreten, dann muss doch was am Koran dran sein. Tarik spricht viel besser, als der alte Prediger. Aber wer sind die Salafisten, das will ich wissen.

Aus dem Weblog von Ali – Eintrag 21

Tarik hat mich eingeladen, ich soll immer auch Dienstag in die Moschee kommen, das Freitagsgebet ist nur für die Muslims mit schwachem Glauben. Dienstag und Freitag hingegen treffen sich die wahren Muslims, dort sind auch Salafisten sagt Tarik. Ich bin neugierig, was das für Leute sind. Ich bin persönlich eingeladen, das macht mich stolz.

Tarik hat mir Mut gemacht: „Gib niemals auf und vergiss nie, dass du ein Muslim bist. Muslims sind die besseren Menschen. Lass dich nicht mit den Kuffar ein. Beziehungen mit Kuffars sind schlecht für wahre Muslims. Such dir eine anständige Muslima.“

Tarik hat recht, die Ungläubigen wollen keine Muslims. Das hat mir diese Vera bewiesen. Ich habe sie geliebt, aber sie hat meine Tradition mit Füßen getreten und wollte wegen meines Glaubens nicht mit mir zusammen sein. Dabei habe ich ihr den Heiratsantrag gemacht, bevor sie zum Islam konvertiert ist, das war mehr als großzügig von meiner Familie, dass sie das erlaubt hat.

Kapitel 8

Geschafft, das Abitur war abgehakt. Aber Vera hatte keine Lust, zu feiern. Die ganze Klasse war in Feierstimmung, aber Vera wollte nicht feiern.

Die offizielle Ehrung mit den Auszeichnungen und der Urkundenübergabe durch den Direktor des Gymnasiums hatte sie mitmachen müssen. Aber der Abi Ball, der heute steigen würde, das brächte sie nicht übers Herz, nachdem der versuchte Kauf eines Ballkleides direkt zum Tod ihrer Mutter geführt hatte. Ihre eigenen Verletzungen waren ja längst verheilt, aber die seelischen Wunden waren noch frisch.