»Wo warst du, Gott?« - Andreas Stahl - E-Book

»Wo warst du, Gott?« E-Book

Andreas Stahl

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Beschreibung

Gewalt ist in unserer Gesellschaft weit verbreitet, auch in jeder Kirchengemeinde gibt es Betroffene. Das Buch öffnet dafür die Augen. Es informiert über die daraus resultierenden Verletzungen und vermittelt wichtiges Grundwissen über Traumata. Sodann fragt es: Was macht Gewalt mit dem Glauben der Betroffenen? Wie muss sich unser Nachdenken über Gott und den Glauben verändern, wenn wir die Erfahrungen von Gewaltopfern ernst nehmen? Wie können Kirchen zu traumasensiblen Gemeinschaften wachsen? Und wie kann christliche Spiritualität diesen Abgründen begegnen? Pflichtlektüre für alle Seelsorger*innen und kirchlich Engagierten. Verlässliche Erstinformation für Betroffene, deren Freund*innen und Angehörige.

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„WO WARST DU, GOTT?“

Andreas Stahl

„WO WARST DU, GOTT?“

Glaube nach Gewalterfahrungen

Für Erika Kerstner, Barbara Haslbeck und alle Gottsuchenden

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2022

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlagkonzeption: Verlag Herder

Umschlagmotiv: © sankai/Getty Images

Satz: Röser MEDIA GmbH & Co. KG, Karlsruhe

E-Book-Konvertierung: Röser MEDIA GmbH & Co. KG, Karlsruhe

ISBN E-Book (E-Pub) 978-3-451-83331-1

ISBN E-Book (PDF) 978-3-451-83332-8

ISBN Print 978-3-451-39330-3

Inhalt

Geleitwort

Vorwort

1. Gewalt – ein schmerzhaftes Thema, das Christen betrifft

Was ist Gewalt?

Wie verbreitet ist Gewalt?

Gewalt gegen Frauen

Gewalt gegen Männer

Gewalt gegen Kinder

Gewalt gegen Menschen mit Behinderung

2. Traumata – Verletzungen, die bleiben

Was bedeutet „Trauma“?

Eine kurze Geschichte der Traumaforschung

Das traumatische Ereignis

Die Posttraumatische Belastungsstörung

Die komplexe Posttraumatische Belastungsstörung

Dissoziation

Weitere Traumafolgen

Wann ist Gewalt traumatisierend?

Von Trauma zu Trauma

Die Vernarbung der Wunden

3. Spirituelle Traumaspuren – Wunden, die den Glauben zeichnen

Verliert ein Mensch durch ein Trauma den Glauben?

Wie verändert ein Trauma den Glauben?

Was trägt zu einer Veränderung des Glaubens bei?

Ändert sich durch ein Trauma das Bild von Gott?

Hilft der Glaube bei der Verarbeitung eines Traumas?

Kann Religion den Umgang mit Traumata erschweren?

Welche Erfahrungen machen Betroffene mit der Kirche?

Mit welchen Themen tun sich Betroffene schwer?

4. Traumasensible Theologie – worüber wir nachdenken müssen

Gewalttexte in der Bibel

Frauenbilder

Familienbilder

Kirchenbilder

Sexualmoral

Kriterien für Sexualethik

Sünde, Schuld und Scham

Vergebung

Leiden

Gott im Leid

Gottesbilder

Kreuz, Auferstehung und Karsamstag

5. Traumasensible Gemeinschaften – wohin Kirche wachsen muss

Missbrauch in der Kirche

Was Betroffene von Kirchengemeinden brauchen

Was einzelne Gemeindeglieder tun können

6. Traumasensible Spiritualität – Gott auch in Wüsten suchen

Spiritualität

Grundlagen traumasensibler Spiritualität

Zwischenruf: Spiritueller Missbrauch

Konkretionen traumasensibler Spiritualität

Schlusswort

Anmerkungen

Dank

Ausgewählte Literaturempfehlungen

Informationen für Betroffene

Über den Autor

Geleitwort

Auf den ersten Blick scheinen es verschiedene Welten zu sein, auf den zweiten Blick gehört beides unmittelbar zusammen: Wer vom Glauben redet, kann von Gewalt nicht schweigen. Das ist die mutige Grundeinsicht dieses Buches, für das ich seinem Autor Andreas Stahl sehr dankbar bin. Denn wenn Gott bei den Menschen wohnt, so verspricht es das große Hoffnungsbild der Johannesoffenbarung, dann wird er alle Tränen abwischen, es wird keinen Tod mehr geben, kein Leid, kein Geschrei und keinen Schmerz. Was Menschen sich gegenseitig antun können, wird verwandelt durch Gottes grenzenlose Liebe zum Leben und zu den Menschen. Das glauben Christinnen und Christen.

Was geschieht, wenn dieser Glaube auf reale Gewalterfahrungen trifft? Was, wenn Leid, Schmerz und Geschrei nicht mehr loslassen? Was, wenn keine Tränen abzuwischen sind, weil sie nicht herausfinden und der Schrecken nicht nachlässt?

Wer dieses Buch in die Hand nimmt, sollte innerlich gewappnet sein. Es setzt sich mit Gewalterfahrungen und mit Traumatisierungen auseinander. Es lässt Betroffene zu Wort kommen und geht Gewalt in unserer Lebenswelt nach. Das kann unerwünschte innere Reaktionen auslösen und es kann nötig werden, das Buch für eine Weile beiseitezulegen. Und doch ist es wichtig, dass christliche Gemeinden sich damit auseinandersetzen. Denn Gewalt ist eine Dimension menschlichen Lebens, die den Glauben nicht unberührt lassen kann.

Das zeigen schon die zahlreichen Gewaltgeschichten, die die Bibel in beiden Testamenten zu erzählen weiß. Das Grund- und Hoffnungssymbol des Christentums, das Kreuz, ist ja ursprünglich erst einmal ein Folterinstrument. Auch die Symbolik von Taufe und Abendmahl trägt – neben ihrer unbestrittenen Heilsbedeutung – Abgründe in sich. Daraus ergeben sich Fragen, auf die christliche Gemeinden vorbereitet sein sollten.

Dies umso mehr, als das Bewusstsein für die Folgen von Gewalt und die Langzeitwirkungen von Traumata immer weiter wächst. Die Erfahrungen von Kriegskindern und Kriegsenkeln haben die Augen dafür besonders geöffnet. Aber auch Betroffene von häuslicher und sexualisierter Gewalt sprechen immer häufiger offen darüber. Wer vom Glauben redet, trifft dabei immer auch auf Menschen, die zutiefst verstörende Bilder und Erfahrungen in sich tragen, Wunden, die nicht heilen wollen. Was bedeutet das für eine Kirche, die ihren seelsorglichen Zugang zu den Menschen ernst nimmt?

Die Auseinandersetzung mit Gewalt und ihren Folgen ist unverzichtbare Aufgabe jeder Kirchengemeinde. Dies auch deswegen, weil Gewalt auch um die Kirche keinen Bogen macht. Die Aufarbeitung sexualisierter Gewalt im Raum der Kirche ist dabei das augenfälligste aktuelle Beispiel. Aber auch die „schwarze“ Pädagogik in Familien oder in Einrichtungen ist allzu oft mit religiösen, mit „christlichen“ Vorstellungen verbunden worden. Eine Ethik der Duldsamkeit hat Widerspruch erschwert und Gewalt befördert. Wir haben allen Grund, das Thema Gewalt aus christlicher Perspektive neu durchzubuchstabieren.

Hierzu nimmt Andreas Stahl die Leserin und den Leser dankenswerterweise an die Hand. Er führt in die Thematik sachkundig ein, sensibilisiert die Leser:innen auf kluge, verständige Weise und ermutigt, die Schätze unserer Tradition zu heben, die von Heilung und innerer Versöhnung wissen. Möge dieses Buch Augen öffnen und Herzen berühren.

Kirsten Fehrs

Bischöfin im Sprengel Hamburg und Lübeck

(Ev.-Luth. Kirche in Norddeutschland)

Vorwort

Liebe Leserin, lieber Leser,

Sie wenden sich einem wichtigen Thema zu. Nicht erst seit der Aufdeckung der Missbrauchsskandale, der MeToo-Bewegung und der Berichterstattung über häusliche Gewalt während der Corona-Krise ist deutlich: Gewalt und eben auch traumatische Gewalt ist ein weit verbreitetes Phänomen. Insofern richtet sich das Buch an alle Menschen, denn Gewalt ist ein Thema, das alle angeht. Das Buch ist jedoch aus einer bestimmten Perspektive geschrieben, der des christlichen Glaubens. Es wendet sich also vor allem an Menschen, die selber Christinnen und Christen oder aus anderen Gründen an christlicher Theologie interessiert sind. Sich mit traumatischer Gewalt auseinanderzusetzen, führt Christinnen und Christen in das Zentrum ihres Glaubens. Denn Jesus Christus ist selbst Opfer von Gewalt geworden. Die Perspektive von Gewaltopfern bringt also näher an Jesus Christus heran.

Auch haben Betroffene Wichtiges über den christlichen Glauben zu sagen. Sie bringen wichtige Perspektiven und wichtige Anfragen mit.

Bei diesem Buch handelt es sich nicht um ein Selbsthilfebuch oder ein Buch speziell für Betroffene. Der Inhalt richtet sich an ein breites Publikum, egal welche Rolle Gewalt in der eigenen Biographie bisher gespielt hat. Dennoch werden alle, die das Buch aus der Betroffenenperspektive lesen, vielleicht die ein oder andere wertvolle Entdeckung machen. Dabei will das Buch kein therapeutisches Buch sein und auch niemanden zu therapeutischer Arbeit anleiten. Auch kann das Buch keine Wunden heilen. Aber es will Nicht-Betroffene für diese Wunden sensibilisieren und Betroffene dabei unterstützen, einige dieser Wunden zumindest zu reinigen.

Für die Lektüre eines Buches über Glaube und Gewalt ist die Perspektive des Autors relevant. Ich bin nicht selbst Betroffener, jedoch persönlich und fachlich mit vielen Betroffenen im Gespräch. Einige davon kommen aus meinem nahen Umfeld. Ich bin also nicht Opfer, doch das Thema betrifft mich. Ehrenamtlich engagiere ich mich in der Initiative Gottes-Suche (www.gottes-suche.de), die sich in der Seelsorge für Betroffene einsetzt. Hauptberuflich bin ich Pfarrer und evangelischer Theologe und habe über traumasensible Seelsorge meine Doktorarbeit geschrieben.

Zur Einführung in die Thematik wird im 1. Kapitel über Gewalt informiert. Dabei geht es vor allem um Taten in sozialen Nahräumen, also in Beziehungen und Familien.

Das 2. Kapitel vermittelt so allgemeinverständlich wie möglich Grundlagen über Traumata. Es geht also darum, die Wunden besser zu verstehen, die durch traumatische Gewalt verursacht werden.

Im 3. Kapitel wird die Frage nach Zusammenhängen zwischen christlichem Glauben und traumatischen Erfahrungen gestellt. Also zum Beispiel, wie sich Traumata auch auf den Glauben auswirken können und ob Glaube eine Unterstützung in der Bewältigung von traumatischen Erfahrungen sein kann.

Das 4. Kapitel dreht sich um traumasensible Theologie. Was erleben Betroffene mit dem christlichen Glauben und wie können ihre Perspektiven helfen, ihn tiefer zu verstehen?

Im 5. Kapitel wird die Rolle von christlichen Gemeinden und Gemeinschaften thematisiert. Es geht um Missbrauch in der Kirche, was Gemeinden für Gewaltbetroffene insgesamt tun und welchen Beitrag Einzelne leisten können.

Das 6. Kapitel widmet sich traumasensibler Spiritualität. Welche geistlichen Übungen können bei der Bearbeitung von Traumata helfen? Dabei wird grundsätzlich über Spiritualität nachgedacht und welche Grundlagen für traumasensible Spiritualität wichtig sind. Schließlich werden konkrete Übungen vorgeschlagen.

1. Gewalt – ein schmerzhaftes Thema, das Christen betrifft

Tamar war eine schöne, junge Frau, die Tochter von König David. Sie gehörte im alten Israel zur Oberschicht und der angesehensten Familie ihres Landes, zu den besten Kreisen der Gesellschaft sozusagen. Sie hatte im Rahmen der damaligen Möglichkeiten ein Leben voller Perspektiven. Doch dann geschah etwas, das ihr Leben brutal erschütterte.

Ihr Halbbruder Amnon hatte ein lüsternes Auge auf Tamar geworfen. Amnon war jemand, der bereit war, sich notfalls mit Gewalt zu nehmen, was er wollte. Und seine Begierde wuchs. Nachdem er sich mit einem Freund beraten hatte, fasste er den Entschluss, Tamar eine Falle zu stellen. Er nutzte ihr Vertrauen aus und lockte sie unter einem Vorwand in sein Haus. Er plante alles sorgfältig und schaffte Umstände, unter denen Tamar schutzlos war. Dann vergewaltigte er sie.

Nachdem er dieses Verbrechen begangen hatte, scheuchte Amnon sie aus seinem Haus. Tamar war völlig verstört, trauerte und schrie. Als sie auf ihren Bruder Absalom traf – die Geschichte erzählt nicht, ob sie ihn aufsuchte oder er sie fand –, kann sie zwar bei diesem bleiben. Doch er fordert sie auf, das Geschehene möglichst zu verdrängen. So ein Ereignis hätte wohl die Familienehre beschmutzt. „Nun, meine Schwester, schweig still; er ist dein Bruder. Nimm dir die Sache nicht so zu Herzen“, soll er ihr gesagt haben. Verstört und einsam bleibt Tamar im Hause Absaloms zurück.

Tamar verschwindet von der Bildfläche. Später wird erzählt, wie Absalom wiederum Amnon in eine Falle locken und töten lassen wird. Tamar aber taucht nicht mehr auf. Wir hören nicht, wie ihr Leben weiterging. Wir erfahren nicht, ob oder wie sie mit der erlebten Gewalt fertig wurde. Wir erfahren nicht, ob König David die Gewalt gegen seine Tochter beweinte, wie er dies mit der Tötung seines Sohnes Amnon tat. Tamar verstummt und verschwindet.

Diese Geschichte steht in der Bibel im zweiten Samuelbuch. Sie beschreibt, wie in Familien und Institutionen normalerweise mit Gewalt umgegangen wird. Sie wird verleugnet und verdrängt und die Opfer der Gewalt verstummen. Solche biblischen Geschichten decken auf, was Menschen gerne verborgen halten. Die Bibel beschreibt oft nicht, wie die Welt sein soll, sondern wie sie ist. Indem die Geschichte beschreibt, wie mit Tamar umgegangen wird, stellt sie Fragen: Wie hätte die Gewalt verhindert werden können? Was hätte Tamar nach der Vergewaltigung gebraucht? Wie geht ihr mit den Tamars in eurer Mitte um?

Außerdem macht die Erzählung einige Aussagen:

Gewalt – in diesem Fall sexuelle Gewalt – passiert. Und sie kann überall geschehen, in jeder sozialen Schicht bis hinein in die „besten“ Familien. Die Täter sind dabei oft keine Fremden, sondern kommen aus der Familie und dem Bekanntenkreis.

Gewalt traumatisiert. Nach der Vergewaltigung ist nichts mehr wie vorher. Und wir wissen nicht, ob und wie Tamar mit dem Trauma weiterleben konnte.

Gewalt wird verdrängt. Absalom fordert Tamar auf, sich die Sache nicht zu Herzen zu nehmen. Abgesehen von einem Anflug von Zorn wird von einer Reaktion Davids nicht berichtet. Das Geschehene wird unter der Decke gehalten. Niemand will wahrhaben, dass so etwas in einer Königsfamilie passiert.

Das Interesse an den Tätern ist stärker als das Interesse an den Opfern. Im Lauf der Erzählung wird die Rache von Absalom an Amnon beschrieben. Das ist häufig so: Vor allem bei sexueller Gewalt geht es der Öffentlichkeit um eine harte Bestrafung der Täter. Nach dem, was die Opfer brauchen, wird selten gefragt.

Die Geschichte von Tamar stellt denen, die sie lesen, viele Fragen. Einigen davon wollen wir nachgehen. In diesem Kapitel geht es darum, Gewalt, wie sie vor allem im Familienund Bekanntenkreis vorkommt, näher zu verstehen. Das ist als Grundlage wichtig. Nur so können wir Antworten auf die oben genannten Fragen suchen.

Was ist Gewalt?

Was meinen wir eigentlich, wenn wir von „Gewalt“ reden? Für das Verständnis von Gewalt, das in diesem Buch zugrunde liegt, sind vor allem die Kinderschutz- und die Frauenbewegung wichtig, die ab den 1960er und vor allem 1970er Jahren im deutschsprachigen Raum wirksam wurden. Beide Bewegungen machten mit je eigenen Schwerpunkten auf die Gewalt gegen Frauen und Kinder aufmerksam. Beide setzten sich auf verschiedenen Wegen für eine gesellschaftliche Sensibilisierung für die Thematik ein. Beide Bewegungen wurden in ihrem Einsatz auch konkret und praktisch. Dass wir heutzutage diese Gewalt als ein gesellschaftliches Problem betrachten, ist zu einem großen Teil ihr Verdienst.

Dieser Fokus auf Frauen und Kinder hat eine gewisse Berechtigung. Denn Frauen und Kinder sind besonders oft betroffen von traumatisierender Gewalt. Dennoch soll der Blick darauf nicht verstellen, dass auch Männer Opfer werden, ebenfalls in homo- oder heterosexuellen Partnerschaften. Dies gilt auch für Menschen, die sich nicht einfach dem männlichen oder weiblichen Geschlecht zuordnen lassen. Eben weil diese anders als die Mehrheit der Gesellschaft sind, kann die Akzeptanz und Unterstützung geringer und die Aggression im nahen Umfeld größer sein.

In der Wortwahl für das Buch ist überwiegend von „Betroffenen“ statt von „Opfern“ die Rede. Die Bezeichnung „Opfer“ markiert zwar das klare Gegenüber zum „Täter“, reduziert Menschen jedoch häufig auf ihr Opfersein, und das ist nicht hilfreich.

Was meint nun Gewalt?

Ich will Sie, liebe Lesende, möglichst wenig mit Definitionen strapazieren. An dieser Stelle ist es aber wichtig. Denn an der Definition von Gewalt lassen sich verschiedene Aspekte aufzeigen, die für die nächsten Kapitel wichtig sind. Die folgende Definition ist nur eine unter vielen möglichen:

Gewalt isteine zu verantwortende, schädigende Handlung (was Tun oder Unterlassen einschließt) in physischer, psychischer oder sexueller Form, unter Ausnutzung bestehender Machtverhältnisse.

Es gibt Themen, mit denen man sich nicht beschäftigen kann, ohne sich zu positionieren. Gewalt ist ein solches Thema. Sie lässt sich nicht wertfrei beschreiben. Wo stehen wir? Auf Seiten der Betroffenen, der Täter oder scheinbar unbeteiligter Beobachter? Probieren Sie es aus: Je nachdem, welchen Blickwinkel Sie einnehmen, wird sich Ihr Blick auf das Thema „Gewalt“ verändern. Wir wollen uns im Folgenden aus gutem Grund auf die Seite der Betroffenen stellen. Aus dieser Perspektive kann Gewalt kein moralfreies Geschehen sein. Sie ist immer zuverantworten.

Für die Opfer geht Gewalt mit einer Schädigung einher. Wichtiger als die Absicht der Täter ist das Erleben der Betroffenen. Um eine Schädigung zu beurteilen, muss dem Opfer – unter Einbeziehung auch relativ objektiver Faktoren – die Deutungshoheit über die eigenen Verletzungen eingeräumt werden.

Gewalt in dieser Definition meint eine Handlung. Es gibt auch so etwas wie strukturelle Gewalt. Dies meint gesellschaftliche Bedingungen, die bestimmte Gruppen stark benachteiligen. Gewalt von Männern gegen Frauen wird oft dadurch unterstützt, dass viele Frauen wirtschaftlich von Männern abhängig sind. Diese wirtschaftliche Ungleichheit lässt sich als strukturelle Gewalt bezeichnen. Strukturelle Gewalt ist ein wichtiges Thema und wird im Folgenden auch immer wieder durchscheinen. Der Fokus dieses Buch liegt aber anders. Das Verständnis von Gewalt ist hier auf Handlungen eingegrenzt.

Gewalt kann sich auch in Unterlassen äußern. Vernachlässigung ist eine Form von Gewalt, unter der Kinder häufig leiden.

Gewalt kann mehr sein als rohe physische Gewalt. Demütigungen, Kontaktverbote und wirtschaftliche Erpressung sind nur einige Beispiele für die weniger sichtbare psychische Gewalt. Auch sexuelle Gewalt ist ein eigener Bereich. Auch wenn sie ohne physischen Zwang passiert, ist sexuelle Gewalt für die Seele der Opfer brutal.

Schließlich hat Gewalt, vor allem wenn sie im näheren sozialen Umfeld geschieht, fast immer mit der Ausnutzung bestehender Machtverhältnisse zu tun. Die Macht kann aufgrund körperlicher Unterschiede, Alter, Status oder wirtschaftlichen Möglichkeiten bestehen.

Auch wenn jeder Mensch intuitiv zu verstehen meint, was Gewalt ist, sind diese Bestimmungen wichtig. In gesellschaftlichen Debatten kommt es häufig vor, dass die Bedeutung des Begriffs stark ausgeweitet wird. Alles ist dann Gewalt und jeder irgendwie Opfer. Der Begriff „Gewalt“ hat dann keine Beschreibungskraft mehr, und den tatsächlichen Opfern von Gewalt wird Unrecht getan.

Auch ist es zentral zu verstehen, dass man Gewalt unterschiedlich definieren kann. Im Umgang mit Studien sollte darauf geachtet werden. Da kann die eine Studie sagen, 4 % aller Kinder erleben sexuelle Gewalt. Die andere Studie redet von 16 %. Eine Möglichkeit, diesen Unterschied zu erklären, könnte sein, dass das zugrunde gelegte Verständnis von Gewalt unterschiedlich ist.

Wie verbreitet ist Gewalt?

Um diese Frage zu beantworten, sollen einige Studienergebnisse dargestellt werden. Die Studiendaten wurden in Deutschland erhoben, dürften allerdings auch für andere europäische Länder aussagekräftig sein. Es werden im Folgenden die wichtigsten Zahlen aus den jeweiligen Studien genannt. Die Darstellung gliedert sich nach den jeweiligen Gruppen, die Opfer von Gewalt wurden.

Wie bereits bei der Definition von „Gewalt“ angemerkt, müssen Studien sehr genau betrachtet werden, um ihren tatsächlichen Aussagewert beurteilen oder sie mit den Ergebnissen anderer Studien vergleichen zu können. Wichtig ist unter anderem die Frage, ob es sich um Hellfeld- oder Dunkelfeldstudien handelt. Hellfeld-Daten liefert zum Beispiel die Polizeiliche Kriminalstatistik. Dabei geht es dann um die angezeigten Fälle häuslicher Gewalt. Solch eine Zahl macht nur eine Aussage über die Fälle, die der Polizei gemeldet werden, nicht darüber, wie oft häusliche Gewalt tatsächlich passiert.

Ebenso sind – neben vielem anderen – die Fragen wichtig, wie bestimmte Begriffe in den Studien verstanden werden, welche Bevölkerungsgruppen ein-, aber auch ausgeschlossen wurden (z. B. Heimkinder, Gefängnisinsassen, Menschen ohne festen Wohnsitz) und mit welchen Methoden die Daten erhoben wurden. Je nachdem, wie hier einzelne Entscheidungen getroffen werden, können die Ergebnisse von Studien sehr unterschiedlich ausfallen. Studien sind also nie ein exaktes Abbild der Realität, sondern im besten Fall eine Annäherung aus einer bestimmten Perspektive.

Gewalt gegen Frauen

Um ein genaueres Bild über Gewalt gegen Frauen in Deutschland zu erhalten, hat das Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend in den Jahren 2002–2004 eine große Studie durchführen lassen: „Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland“. Die Studie lässt sich online herunterladen.1 Auch wenn diese Untersuchung inzwischen etwas in die Jahre gekommen ist – bis zum Jahr 2025 soll eine ähnliche Studie durchgeführt werden –, bietet sie mit die besten Daten, die wir zur Verfügung haben. Sie basiert auf einer Stichprobe von Frauen im Alter von 16–85 Jahren und umfasst Daten aus 10.264 Interviews und dazugehörigen Fragebögen. Insgesamt ist davon auszugehen, dass es sich bei vielen der Angaben um Mindestwerte handelt. Denn Gewalt, vor allem durch nahestehende Menschen verübt, ist ein mit viel Scham und Tabus besetztes Thema.

In der Studie gaben 37 % der befragten Frauen an, nach dem 16. Lebensjahr irgendeine Form körperlicher Gewalt erlebt zu haben, davon 61 % als schwer eingestufte Gewalt. Für unseren Zusammenhang wichtig ist der Blick auf den Täterkreis: 50,2 % der Frauen erlitten Gewalt durch PartnerInnen oder Ex-PartnerInnen und 30,1 % durch jemanden aus der Familie. 71,4 % der betroffenen Frauen haben Gewalt nur durch Männer, 18,9 % sowohl durch Frauen als auch Männer und 9,6 % nur durch Frauen erlebt. Dem entspricht, dass die eigene Wohnung der am häufigsten genannte Tatort ist. Das Zuhause ist also der gefährlichste Ort. Gewalt kommt der Studie zufolge in jeder sozialen Schicht ungefähr in gleichem Maße vor. In einer Ärztefamilie gibt es also nicht weniger Gewalt als in der Familie der Reinigungskraft, welche die Praxis putzt.

Auch über sexuelle Gewalt trifft die Studie Aussagen. Sie versteht darunter „erzwungene sexuelle Handlungen unter Anwendung von körperlichem Zwang oder Drohungen“. Nach dieser Definition gaben etwa 10 % aller Frauen an, sexuelle Gewalt erlebt zu haben, etwas mehr als die Hälfte von ihnen mehrfach. Je näher sich Opfer und Täter standen, desto häufiger kam es zu wiederholten Vorfällen von Gewalt. Auch war die Wahrscheinlichkeit für Frauen, die in der Kindheit sexuelle Gewalt erlebt hatten, um ein Vierfaches höher, dies auch im Erwachsenenalter erfahren zu müssen. Die größte Tätergruppe bei sexueller Gewalt waren auch hier (Ex-)Partner und Menschen aus dem näheren sozialen Umfeld. 99 % der Täter waren männlich. Auch hier ist die eigene Wohnung der häufigste Tatort.

Diese Studienergebnisse unterstreichen, dass Gewalt in den meisten Fällen durch Menschen aus dem nahen sozialen Umfeld verübt wird. Nicht Fremde, sondern Vertraute sind häufig die Täter.

Gewalt gegen Männer

Für die Erhebung von Gewalt gegen Männer ist die Datenlage deutlich schlechter. Es gibt bisher keine vergleichbaren umfassenden Untersuchungen. Eine Studienauswertung aus dem Jahr 2013 im Auftrag der Männerarbeit von evangelischer und katholischer Kirche versucht der Thematik näher auf den Grund zu gehen. „Männer – die ewigen Gewalttäter?“ lautet diese Auswertung. Sie bezieht sich auf Interviews von 1.470 Männern und 970 Frauen. Nach dieser Studie erleben auch Männer häufig Gewalt durch Personen aus dem näheren sozialen Umfeld. Innerhalb von Paarbeziehungen sind Männer aber sehr viel seltener von schwerer physischer und sexualisierter Gewalt betroffen. Männer neigen stärker zur Anwendung physischer und Frauen zur Anwendung psychischer Gewalt. Die Studie trifft leider keine näheren Aussagen zu Gewalt in homosexuellen Partnerschaften. Diesbezüglich gibt es in Deutschland noch keine repräsentativen Studien.

Gewalt gegen Männer ist der Studienauswertung zufolge ebenfalls ein wichtiges Thema, ist in verschiedenen Punkten jedoch anders gelagert als Gewalt gegen Frauen.

Ein Forschungsbereich, der in der nächsten Zeit aufgrund der demographischen Entwicklung noch an Gewicht gewinnen wird, ist Gewalt gegen alte Menschen. Hierbei geht es vor allem um extreme Vernachlässigung, z. B. in der Pflege.

Gewalt gegen Kinder

So wie Menschen am Ende ihres Lebens tendenziell verwundbarer werden, so sind sie es auch am Anfang. Gewalt gegen Kinder ist ein gravierendes gesellschaftliches Problem. Nach der sukzessiven Aufdeckung zahlreicher Missbrauchsfälle in vor allem kirchlichen Einrichtungen seit dem Jahr 2010 führte das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen eine umfassende Untersuchung zu Gewaltbetroffenheit in Deutschland durch. Die Studie bietet umfassendes Datenmaterial, das sich auf eine in vielerlei Hinsicht repräsentative (z. B. Bundesland, Stadt-Land-Verteilung, Bildungshintergrund) Stichprobe bezieht. Erfasst wurden allerdings nur Menschen zwischen 16–40 Jahren, da Menschen ab 40 Jahren schon repräsentativ in einer vorhergehenden Studie erfasst wurden. Deswegen ist davon auszugehen, dass es sich bei den Angaben um Mindestwerte handelt. Denn manchmal können Menschen erst sehr spät in ihrem Leben über die erlebte Gewalt sprechen. Die Auswertung basiert auf 11.438 Datensätzen, die anhand selbstständig ausgefüllter Fragebögen erhoben wurden. In Bezug auf physische Gewalt erhob die Studie nur solche, die durch die Eltern verübt wurde, nicht jedoch durch Geschwister oder andere Verwandte zugefügte. Dies ist ein weiteres Argument dafür, dass die Werte eher Mindestwerte sind. Den Studienergebnissen zufolge wurden 51,4 % der Befragten völlig gewaltfrei erzogen. 35,7 % erlebten leichte Gewalt, während 13 % von schwerer Gewalt durch die Eltern berichten. Diese Quote lag bei Befragten mit türkischem Migrationshintergrund bei 16 % und mit russischem Migrationshintergrund bei 17,5 %. Über das Gewalterleben sprachen knapp die Hälfte der weiblichen Befragten mit jemandem, jedoch weniger als ein Drittel der männlichen Befragten. Wurde Gewalt zwischen den Eltern beobachtet, war die Wahrscheinlichkeit, selbst Opfer zu werden, um fast ein 13faches erhöht. Gewalt kommt insgesamt in allen Schichten, relativ unabhängig vom Bildungsstand vor.

Sexuelle Gewalt wurde in dieser Studie erfasst als eine sexuelle Handlung eines mindestens fünf Jahre älteren Erwachsenen an einem bis zu einschließlich 16 Jahre alten Kind/ Jugendlichen. Der Studie zufolge haben 4,4 % der deutschstämmigen Bevölkerung sexuelle Gewalt in Kindheit oder Jugend erlebt; 1,4 % einmalig, 3 % mehrmalig. Nach Geschlecht differenziert waren 1,5 % der männlichen und 7,4 % der weiblichen Befragten betroffen. In fast der Hälfte der Fälle waren die Täter männliche Familienangehörige. Die angegebenen Zahlen sind aufgrund der Scham- und Tabubesetzung aber insgesamt eher als Mindestwerte anzusehen. Doch selbst wenn diese Zahl von 4,4 % zutrifft, so ist dies eines unter 23 Kindern. Also ca. ein Kind in jeder Schulklasse.

Gewalt gegen Menschen mit Behinderung

Abschließend sei auf die besonders verwundbare Gruppe der Menschen mit Behinderung hingewiesen. Eine Studie des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend aus dem Jahr 2013 wendet sich den Frauen innerhalb dieser Bevölkerungsgruppe zu („Lebenssituation und Belastung von Frauen mit Behinderung und Beeinträchtigung in Deutschland“).2 Die Studienautorinnen kommen zu dem Ergebnis, dass Frauen mit Behinderung und Beeinträchtigung von allen Gewaltformen deutlich häufiger betroffen sind als Frauen im Bevölkerungsdurchschnitt. So sind sie z. B. zwei bis dreimal häufiger von sexueller Gewalt in Kindheit und Jugend betroffen.

2. Traumata – Verletzungen, die bleiben

Gewalt und besonders schwere Gewalt geht an Menschen nicht spurlos vorüber. Rufen wir uns noch einmal die Geschichte von Tamar in Erinnerung. Die Lutherbibel beschreibt den Zustand von Tamar nach der Vergewaltigung in 2. Sam 13,20 mit den Worten: „So blieb Tamar einsam im Hause ihres Bruders Absalom.“ Ähnlich klingt die Einheitsübersetzung von 2016, in der es heißt: „Von da an lebte Tamar einsam im Haus ihres Bruders Abschalom.“ Doch diese Übersetzung ist eigentlich nicht richtig. Denn das hebräische Wort schamam, das hier mit „einsam“ übersetzt wird, meint der hebräischen Urbedeutung nach etwas anderes. Es lässt sich wiedergeben mit starr vor Entsetzen sein, verstört sein, erstarrt sein, benommen sein, entsetzt sein und verwüstet sein. Tamar lebte also nicht einfach einsam im Hause Absaloms, sie war verstört, erstarrt und benommen.

Die Übersetzungen reden die Traumafolgen klein. Der Urtext der Bibel ist sehr viel ehrlicher und deutlicher. Doch was ist ein Trauma eigentlich?

Was bedeutet „Trauma“?

In unserem gängigen Sprachgebrauch wird „Trauma“ sehr breit und häufig verwendet, oft als ein anderes Wort für „negatives Erlebnis“. So wird eine lange Zugfahrt oder ein schlechter Urlaub schnell als „Trauma“ bezeichnet. Doch ebenso wie im letzten Kapitel bei dem Wort „Gewalt“ gezeigt wurde, verwischt eine schwammig-breite Verwendung eines Wortes seinen sinnvollen Gebrauch. Wir müssen also auch an dieser Stelle die Bedeutung des Begriffes klären. Dazu müssen wir noch einmal zu einer alten Sprache zurück.

Das Wort „Trauma“ leitet sich von dem altgriechischen to trauma ab, das wir im Deutschen mit „Wunde“, „Verletzung“, „Leck“ (bei Schiffen) oder übertragen „Verlust“ oder „Niederlage“ übersetzen können. Ebenso verwandt damit ist das Wort to thrauma, das so viel wie „Bruchstück“ oder „Trümmer“ heißt.

In der Medizin wurde das Wort „Trauma“ lange Zeit zur Bezeichnung physischer Wunden verwendet und erst relativ spät auf die Psyche übertragen. Dies allerdings geschah aus gutem Grund. Denn nach und nach entstand ein Bewusstsein dafür, dass auch die menschliche Psyche Verletzungen erleiden kann, die nicht ohne weiteres wieder heilen. So entwickelte sich nach und nach die Psychotraumatologie, also die „Lehre von der psychischen Verletzung“.

Eine kurze Geschichte der Traumaforschung

Das Nachdenken über Traumata ist also etwas Altes und etwas Neues. Schon sehr lange – siehe die Geschichte von Tamar und viele andere mögliche Beispiele – gibt es Zeugnisse über die zerstörerische Wirkung von Gewalt, Naturkatastrophen oder Kriegen auf die menschliche Psyche. Gleichzeitig ist die systematische Erforschung dieser zerstörerischen Wirkungen unter dem Leitbegriff „Trauma“ bzw. „Psychotrauma“ etwas relativ Neues.

Wer sich außerdem näher mit der Geschichte der Traumaforschung auseinandersetzt, wird feststellen, dass diese Forschung in ihrer Geschichte oft mit Widerständen oder Verdrängung zu kämpfen hatte. Menschen setzen sich selten gerne mit ihrer eigenen Verletzlichkeit und Zerbrechlichkeit auseinander. Auch stellt die Frage nach den Wunden der Opfer die Frage nach der Gewalt der Täter. Wenn es also um Missbrauch in Familien oder Gewalt in Partnerschaften geht, werden sehr unangenehme Fragen aufgeworfen. Sowohl für Einzelpersonen als auch für ganze Gruppen und Gesellschaften gilt deswegen, dass das Thema „Trauma“ gerne unter der Decke gehalten wird.

In der Neuzeit war es erst einmal vor allem die Erforschung der Folgen von Eisenbahnunfällen, welche das Verständnis für psychische Wunden wachsen ließ. Es folgten zwei Weltkriege, die Millionen von Menschen schwer traumatisierten. Ebenso entstand in der Erforschung der damals sogenannten „Hysterie“ nach und nach eine Ahnung davon, dass traumatisierende Gewalt nicht nur auf Schlachtfeldern, sondern auch in scheinbar bürgerlichen Idealwelten geschah. Nicht nur verfeindete Nationen, sondern auch Familienmitglieder konnten sich untereinander schreckliche Gewalt antun. Und wie eine physische Wunde einen Menschen verändern, vielleicht sogar entstellen kann, so können auch psychische Wunden bleibende Spuren hinterlassen. Das wurde nach und nach klar. Ein Trauma ist dabei eine psychische Wunde, die nicht einfach verheilt.

Wenn Sie sich schon etwas mit Traumata beschäftigt haben, wird Ihnen vielleicht aufgefallen sein, dass manchmal unklar ist, ob das Wort „Trauma“ ein bestimmtes Ereignis oder die Folgen eines Ereignisses benennt. Meint das Wort also – in einem Beispiel ausgedrückt – den Autounfall an sich oder die psychischen Folgen von diesem. Tatsächlich meint das Wort „Trauma“ beides auf einmal. Für das Verständnis von Traumata ist das etwas sehr Wichtiges. Denn genau diese Doppelbedeutung beinhaltet einen zentralen Aspekt im Verstehen von Traumata: Ein Trauma ist ein Schrecken, der nicht weiß, dass er bereits vergangen ist.