Wo wir gerade von belegten Brötchen reden - Jochen Busse - E-Book

Wo wir gerade von belegten Brötchen reden E-Book

Jochen Busse

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Beschreibung

Grandseigneur des deutschen Kabaretts, Ikone der TV-Unterhaltung, Stammgast auf den Boulevardbühnen — Jochen Busses Weg führt quer durch die Humorlandschaft, gesäumt von großartigen Kollegen, verehrten Frauen und jeder Menge Zufälle. So abwechslungsreich wie seine Karriere, so vielgestaltig ist auch sein Leben, von dem er in diesem Buch erzählt. »Busse ist von jeher Humanist, Bonvivant — und vor allem erstaunt über das, was ihm in der Welt so alles begegnet.« Frankfurter Rundschau

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Das Buch

Man kennt ihn in ganz unterschiedlichen Rollen: als mal schurkenhaften, mal blödelnden Schauspieler in Film und Fernsehen, als politischen Kabarettisten, als Comedian und nicht zuletzt als Theaterschauspieler. Jochen Busse hat die letzten fünf Jahrzehnte bundesrepublikanischer Kabarettgeschichte mitgestaltet und später die Comedy-Unterhaltung beim Privatfernsehen mitgeprägt. So vielfältig seine jahrzehntelange Karriere sich darstellte, so viele interessante Geschichten haben sich in seinem Leben angesammelt.

Der Autor

Jochen Busse, geboren 1941 in Iserlohn, holte sich sein handwerkliches Rüstzeug in München: als Statist an den Kammerspielen, als Autowäscher ohne Führerschein, als Kleindarsteller bei großen Produktionen und auf den Brettern des Studentenkabaretts. Er spielte am Düsseldorfer Kom(m)ödchen und zählte zum Ensemble und Autorenteam der Münchner Lach- und Schießgesellschaft. Im Fernsehen war er Dreh- und Angelpunkt der Sketchreihe Nur für Busse, spielte in der erfolgreichen Serie Das Amt und moderierte die legendäre RTL-Show 7 Tage, 7 Köpfe. Er tourte zusammen mit Henning Venske und danach mit seinem Soloprogramm Wie komm ich jetzt da drauf? Heute steht er Abend für Abend auf der Theaterbühne. Busse wurde u. a. mit dem Bambi, dem Deutschen Kleinkunstpreis, dem Bayerischen Kabarettpreis sowie zwei Mal mit dem Deutschen Comedypreis ausgezeichnet.

Jochen Busse

Wo wir gerade von belegten Brötchen reden

Die Komödie meines Lebens

Unter Mitarbeit von Sabine Dultz

Ullstein

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ISBN 978-3-8437-1177-7

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2015Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, MünchenUmschlagmotiv: © Florian Froschmayer

E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

Inhalt

Über das Buch und den Autor

Titelseite

Impressum

Intro

1 Kindheit in Iserlohn

Fümpf Fennich für ein Eis

Der Kuckuck auf dem Teppich

2 Leere Schuljahre

Junge, exponier dich nicht

Mit Frack und Chapeau Claque

Der runde Docht von Paris

Nicht zu retten

3 Auf Glückssuche in München

Bohnerwachs und Sauerkraut

Münchner Kammerspiele als Schule des Lebens

Ganz einfach unattraktiv

4 Der will nur spielen

Aus Liebe zu Friedrich Hollaender

Tritt in den Hintern

Abteilungsleiter ohne Abteilung

Grass, Walser, Neuss & Co.

Immer auf Seiten derer, die unten sind

5 Nicht gerade Hollywood – die Filmkarriere

Du bist sehr begabt, aber du kannst nichts

Sohn aus gutem Haus in schlechten Filmen

Abstecher nach Bumshausen

Ich bin mein eigener Narr

6 Im Herzen des Kabaretts

Endlich Festanstellung: das Kom(m)ödchen

Ein Anruf von der Lach & Schieß

Als Nichtfußballer in der Mannschaft

Vier mäßig gekleidete Leute mittleren Alters

Die Liebe zum Einstecktuch

Umarmt von der Politik

Im Zweifel links

Abschied und Neubeginn

7 Geld und Gunst

In den »Niederungen« der Unterhaltung

Vorstadtcasanova aus Schwabing

Alptraum Skifahren

Kraft durch Yoga und Ayurveda

8 Sieben Tage und ein Amt

Meister im Handkuss

13 Jahre Rudi Carrell

7 Tage, 7 Köpfe

Von Kompromissen und Lebenslügen

Deutschlands beliebtestes Arschloch

Zwei Schläge auf die Nase

9 Die Wahrhaftigkeit der Bühne

Einmal Theaterdirektor sein

Immer im Dienst

Kinder, bückt euch

Das Niveau bestimmt man selbst

Eine Frage des Geschmacks

Der Koffer ist immer dabei

Die Küche der Schwiegermütter

10 Die Frauen meines Lebens

Zauber der Weiblichkeit

Die Schöne und der Hund – natürlich ein Weibchen

Die Schule der Frauen

11 Finale in Berlin

Dreiviertelhundert

Nach Berlin der Liebe wegen

Es ist immer ein bisschen Tragödie dabei

Rendezvous mit der ganzen Welt

Bühne statt Rente

Epilog: Zuversicht

Abbildungen

Feedback an den Verlag

Empfehlungen

Intro

Ich habe keine schrecklichen Krankheiten gehabt, keine Pleite erfahren und musste in kein Dschungelcamp. Ich habe Helmut Kohl und vier Ehen überstanden. Wie kann man nur so verdammt viel Glück haben? Drum frage ich mich nach einem Dreivierteljahrhundert: War das etwa ein ideales Leben? Wo ist der Haken daran? Thomas Mann hat sinngemäß gesagt, das Leben eines Menschen sei es wert, ein Buch darüber zu schreiben. Warum sollte er sich bei mir geirrt haben?

In meinem Leben haben sich keine Dramen abgespielt. Warum das so ist, beschäftigt mich durchaus. Wieso bin ich verschont geblieben? Ich hatte eine Zeitlang eine Lebensgefährtin – wenn die ihre Lebensgeschichte erzählt hat, sind die Psychotherapeuten heulend aus dem Sprechzimmer gelaufen.

Das alles hat es bei mir nie gegeben. Meine Eltern haben sich aus meinem Leben verabschiedet, ohne dass sie mir je in irgendeiner Weise zur Last gefallen sind, die sich mit Geld nicht hätte regeln lassen. Nach ein paar lächerlichen Hungerjahren ist es mit mir stetig aufwärtsgegangen, und als ich mit 65 Jahren RTL verließ, wusste ich, dass ich ausgesorgt hatte für den Rest meines Lebens und dass ich, ginge ich wieder an so etwas Ähnliches wie an die Arbeit, nur noch das tun würde, was mir wirklich eine Herzensangelegenheit ist.

Wenn einer solch eine Vorstellung von Arbeit hat, zeigt sich daran schon, dass für ihn eine Vorstellung letztlich gar keine Arbeit in ihrer eigentlichen Bedeutung ist. Ich habe ein ideales Leben gehabt, bin jetzt Mitte 70, gut in Form und denke immer nur: Warum ist mir das so beschieden? Gibt’s jemanden dort oben, der das regelt? Aber das wäre dem doch gar nicht zuzumuten, sich um mich zu kümmern; er wird ja schon mit den Katastrophen, die sich überall auf der Welt ereignen, nicht fertig. Aber warum überhaupt da oben? Vielleicht geht’s ja auch eine Nummer kleiner, und ich habe jemanden neben mir herlaufen, eine Art Schutzengel. Aber wer hat den für mich bestellt? Außerdem glaube ich nicht an Engel.

Nein, offensichtlich ist das Unglück dieser Welt genauso ungerecht verteilt wie das Glück. Oder die Schönheit, das Geld, das Talent oder die Dummheit.

Nun habe ich kürzlich in einer mir sympathischen Tageszeitung auf der Seite Wissen gelesen, wir hätten alle in unserem Gehirn eine Art Regisseur, der unsere Erinnerungen gerne so arrangiert, dass wir mit ihnen sehr gut beziehungsweise überhaupt irgendwie leben können. Ob es daran liegt? Denn wenn ich zurückschaue, denke ich oft: Hatte ich ein Schwein! Schon beim so bedeutenden ersten Mal, von dem gesagt wird, es präge das gesamte spätere Liebesleben eines Menschen, hatte ich eine zwei Jahre andauernde Glückssträhne. Ich war 16 und lernte ein Mädchen kennen. Nein, ich lernte das Mädchen kennen.

Dazu muss ich sagen, dass ich zu einer Zeit in meine Jugend gestartet bin, die mehr als prüde war. Das Wort »Moral« stand ausschließlich für Triebunterdrückung. Doch dann kam die Pille. Das bedeutete, die Angst, vielleicht doch nicht im richtigen Moment aufgepasst zu haben, gab es auf einmal nicht mehr. Nach der Pille folgte die sexuelle Freiheit. Mit Oswald Kolle wurde der Sex zum Thema und das Wort gebräuchlich. In die Kinos kamen Filme, in denen den Besuchern vorzugsweise unter »wissenschaftlichen Aspekten« gezeigt wurde, wie man »es« macht – und vor allem richtig.

Da war ich um die 30 und habe natürlich mitgemacht. Jedenfalls in einigen dieser Filme. Das ging so bis Ende der 70er, Anfang der 80er. Ich hatte inzwischen geheiratet, und zwar die Frau meines Lebens – was ich letztlich immer wieder getan habe –, und alles lief in beinahe bürgerlich geordneten Bahnen. Dann kam plötzlich Aids auf. Für mich war das kein Schrecken, denn ich war körperlich nicht mehr auf der Suche und somit auch nicht an Leib und Leben bedroht.

Und jetzt? Jetzt bin ich ein alter Mann, zum vierten Mal verheiratet – und was hat die Pharmaindustrie für solche Männer entwickelt? Viagra. Ich habe wirklich nur Glück gehabt in meinem Leben.

Glück zu haben ist das eine. Seinen Platz im Leben zu finden das andere. Das habe ich, und daran war ich selbst schon früh nicht unwesentlich beteiligt. Als ich 13 war, wollte ich unbedingt Schauspieler werden, und zwar in München, der Stadt, die ich Anfang der 50er Jahre anlässlich einer Geschäftsreise meines Vaters besuchte. Damals schon herrschte in München eine Atmosphäre, die mich bis heute fasziniert.

Mein Vater besaß in meiner Heimatstadt Iserlohn einen Betrieb für Kleineisenverarbeitung. Und so wie das klingt, verhielt es sich auch. Aber immerhin leistete er sich einen Repräsentanten für ganz Süddeutschland und Baden-Württemberg. Dieser wohnte in Gräfelfing bei München und stammte aus Riga. Er begrüßte meine Mutter stets auf »baltische Art«: mit Handkuss, Hacken zusammenschlagen und unverwechselbarer Wortwahl. Nach drei Tagen konnte ich den nachmachen. Viele Jahre später habe ich einen baltischen Baron in einem Fernsehspiel gegeben. Um die Rolle zu bekommen, musste ich vorsprechen bei Günter Gräwert, einem beliebten Regisseur, der daraufhin von sich gab: »Sie können das ja wirklich.«

Mein Vater reiste also mit seinen zwei Kindern in den Ferien nach Bayern und verband das Geschäftliche mit dem Privaten. Urlaub machten wir dann am Starnberger See. Mein Bruder, der vier Jahre älter ist als ich, war zwei Jahre zuvor schon einmal mit den Eltern in Ammerland im Schloss des berühmten Kasperl-Larifari-Erfinders Franz Graf von Pocci gewesen, dessen Nachfahren in den 50er Jahren Feriengäste aufnahmen, weil sie von nichts anderem als von ihrem schönen Grundbesitz leben konnten. Heute können sie das immer noch: Sie haben ihn verkauft und Eigentumswohnungen darauf gebaut. Ein kleines, von liebenswerten Menschen gemietetes Refugium am See, der mir seit jenen Kindertagen in glücklicher Erinnerung blieb, habe ich heute noch, überlassen von Vermietern, die man in Gold fassen möchte, und gar nicht weit vom Pocci-Schloss. Wie sich das für einen Glücksmenschen gehört.

Als wir damals zum Ferienende aus Bayern zurückkehrten ins Sauerland, stand mein Entschluss endgültig fest: Ich werde Schauspieler. Zunächst habe ich den Vorsatz zwar lieber noch für mich behalten, aber mit 14 bin ich zu Hause damit rausgerückt. Umgehend bekam ich den erwarteten Krach – für so einen Berufswunsch hatte man in meinem Umfeld keinerlei Verständnis. Mein Vater lehnte alles, was mit Bühne zu tun hatte, kategorisch ab. Er hatte dafür, wie mir als Heranwachsendem schien, ganz eigentümliche Gründe. Er selbst verwies auf ein olfaktorisches Problem: Er hasste den Geruch von Puder, Schminke, Schweiß und abgestandenen Textilien, der ihm seiner Meinung nach von jeder Bühne entgegenwehte. Was bei ihm in Wahrheit zu dieser unüberwindlichen Abneigung gegen alles Theatralische führte, habe ich nie ergründen können. Mein Vater hatte einen seltsamen Widerwillen gegen jede Art von Flitter. Für ihn war das alles »Talmi«, alles »Tingeltangel«. Wäre er jemals zufällig in eine von diesen später in Mode gekommenen Travestieshows geraten, er hätte vermutlich gekotzt.

1

Kindheit in Iserlohn

Fümpf Fennich für ein Eis

Meine Kindheit war geprägt durch die Nachkriegszeit. In Deutschland lag noch alles in Schutt und Asche, wobei meine Stadt selbst kaum von Bomben getroffen worden war. Betroffen waren wir insofern, dass uns die Besatzungstruppen – erst die Amerikaner, dann die Engländer – insgesamt acht Mal umziehen ließen. Und wer den Schwund kennt, den allein schon ein Umzug erzeugt, weiß, wie viel wir am Ende noch besaßen …

Ich war vier, fünf Jahre alt, fand alles ganz doll aufregend und bekam von einem Amerikaner eine Orange geschenkt, die damals noch Apfelsine hieß – und von mir dann auch mitsamt der Schale wie ein Apfel gegessen wurde.

Ich war ein glückliches Schlüsselkind, denn meine Eltern gingen immer wieder hamstern in den Dörfern des Sauerlandes. Manchmal wurde ich mitgenommen, um mit meinem verhungerten Aussehen die weibliche Landbevölkerung mildtätig zu stimmen. Verglichen mit den vielen damals in die Stadt strömenden Flüchtlingen aus Schlesien ging es uns jedoch gut – jedenfalls vom Ansehen her.

Als unterernährtes, noch nicht schulpflichtiges Kind wurde ich zum Aufpäppeln in ein Heim nach Bad Rothenfelde gegeben. Dort war ich dann vier Wochen krank – erst vor Heimweh, danach an meiner Hylusdrüse, was bewirkte, dass ich über viele Jahre anfällig blieb für Erkältungskrankheiten. Unser Kinderarzt prophezeite damals meinen Eltern: »Das wird der Junge sein Leben lang nicht wieder los.« Jahrzehnte später meinte ein kompetenter Pneumologe in Köln: »Das kommt im Alter wieder.« Beide sollten recht behalten. Aber wenn mich zu Lebzeiten weiter nichts plagt als ständig wiederkehrender Husten, soll es mir recht sein.

Nach der Währungsreform machten sich meine Eltern daran, ihre kleinbürgerliche Reputation und den dazugehörenden Besitzstand zu bewahren und zu mehren. Weil beide arbeiteten, schickten sie meinen Bruder und mich tagsüber in ein Kinderheim, das auch als Waisenhaus fungierte. Mein Bruder litt, ich hingegen war ja bereits vorgebildet. Meine Ganztagsbeschäftigung war Liebsein, und bald schon wurde ich von den Schwestern als Gegenleistung gut behandelt, was wahrhaftig nicht allen Kindern zuteilwurde. Genau genommen nur sehr wenigen.

Als meine Mutter schwer erkrankte, mussten mein Bruder und ich nunmehr auch im Heim schlafen. Wie viele solcher Institutionen war das städtische Kinderheim in einer hochherrschaftlichen Villa untergebracht, umgeben von einem gepflegten Park. Da bin ich später auch noch als Schuljunge manchmal hingegangen, einfach nur zum Spielen und auch, weil es dort immer ganz gut zu essen gab – nun ja, vielleicht nicht immer gut, aber dafür reichlich. Zu den Schwestern, Tante Ida und Tante Berta – in Bethel ausgebildete Diakonissinnen, die von den Amerikanern Sonderzuteilungen erhielten –, pflegten meine Eltern ein gutes Verhältnis. So kamen sie an ein bisschen Schokolade und Kekse, die ich zu Ostern 1947 in meiner vom Vater eigenhändig gebastelten Schultüte fand.

Richtig gut erinnern an ein »normales« Leben kann ich mich erst ab den Jahren 1948/49. Damals bekam ich mein erstes Eis – ich schmecke es heute geradezu noch. Da kriegte das Kind für »fümpf Fennich« eine Kugel auf einer runden Pappe. Wenn das Kind die Pappe nicht richtig hielt, rutschte das Eis runter und lag im Dreck.

Seit dieser Zeit bin ich eissüchtig. Ich kann Berge davon vertilgen, und zwar in rekordverdächtigem Tempo. Wenn ich erst einmal damit anfange, höre ich so bald nicht wieder auf. Weil ich als kleiner Junge so dünn war, musste ich immer erst ein Stück Kuchen essen, bevor ich Eis durfte. Damals hatten meine Eltern noch keine Ahnung, wie viele Kalorien in so einer Portion Speiseeis stecken. Hätten sie mich doch lieber gleich Eis essen lassen – wir wären alle glücklicher gewesen.

Viel ist mir von Iserlohn nicht in Erinnerung geblieben. Es ist ja auch nicht gerade eine musische Stadt. Außer dass die Brüder Aloys und Alfons Kontarsky, ein zu ihrer Zeit berühmtes Pianistenduo, das sehr viel Stockhausen uraufgeführt hat, in dieser Stadt geboren und aufgewachsen sind, gibt es von dort nichts Besonderes zu vermelden. Mit Alfons am Flügel habe ich Anfang der 90er Jahre im Parktheater auf der Iserlohner Alexanderhöhe fürs Westdeutsche Fernsehen »Oh du mein schönes Iserlohn« gesungen … Aber ob das zu den Highlights der Stadtgeschichte zählt?

Wenn ich heute in meiner Heimatstadt gastiere – was überhaupt erst in letzter Zeit häufiger vorkommt –, ziert jedes Mal ein »Ausverkauft« die Plakate. Aber die wenigsten Leute dort wissen, dass ich aus ihrer Stadt stamme. So treffen mich dort nicht selten verwunderte Blicke:

»Was machen Sie denn bei uns in Iserlohn auf dem Friedhof?«

»Ich besuche hier meine Mutter.«

»Ja, nee … wieso das denn?«

Ich gehöre halt nicht zum Stadtbild. Der Kulturamtsleiter und die Zeitung, der Iserlohner Kreisanzeiger mit seinem tüchtigen Chefredakteur, sowie ein paar noch lebende Spiel- und Schulkameraden sprechen vom »Sohn unserer Stadt« – in der ich trotz hinreichend belegter Begabung zum Glück nie ganz zu Hause gewesen bin. Dabei spielt vermutlich auch die Tatsache eine Rolle, dass meine Eltern in Iserlohn, wie sie meinten, wirtschaftlich und gesellschaftlich gescheitert sind.

Der Kuckuck auf dem Teppich

Meine Eltern haben das Haus, das mein Vater Anfang der 50er Jahre gebaut hat, im Jahr 1963 mit ziemlichen Verlusten und unter großen Schmerzen verkaufen müssen. Für meine Mutter ging damit das letzte Symbol ihres gesellschaftlichen Ansehens in der Stadt verloren. Mein Vater erlitt bald darauf einen Schlaganfall und saß fortan im Rollstuhl. Das Haus ging plus minus null auf in Schulden, und meine Eltern zogen in eine Sozialwohnung, was für sie den endgültigen sozialen Absturz bedeutete.

Mein Vater war nie ein begabter Geschäftsmann gewesen, aber er sah sich als anständigen Menschen. Er hat nicht versucht, sich aus den Schulden herauszumogeln, denn nach bürgerlichem Recht war er nun einmal alleinhaftender Inhaber der Firma und hatte als solcher für deren Schulden aufzukommen. Die Firma hatte in ihren besten Tagen 40 Beschäftigte und einen stattlichen Jahresumsatz, der sich allerdings von Jahr zu Jahr verringerte. Die immer größeren finanziellen Löcher wurden mit dem ererbten Privatvermögen gestopft. Das ging so lange gut, bis kein Vermögen mehr da war. Am Ende musste mein Vater auch die drei letzten verbliebenen Mitarbeiter entlassen und alle Maschinen verkaufen.

Was aber hatte zu dieser Pleite geführt? Über Jahre hinweg hatten meine Eltern ihre wirtschaftliche Situation ignoriert; sie hatten sie sich schöngeredet. Und wohin hat ihre Lebenslüge meine Eltern gebracht? Das habe ich mich damals schon als pubertierender Heranwachsender gefragt. Es sollte das Thema meines Lebens werden. Die Lebenslüge wurde zum wesentlichen Kern aller meiner Rollen, ob im Fernsehen oder in sämtlichen Komödien auf der Bühne. Wie die Lebenslüge verzweifelt aufrechterhalten und letztendlich doch entlarvt wird, ist Gegenstand aller Komik.

Zu einem kleinen bürgerlichen Trauerspiel allerdings wurde sie in meiner Familie. Einer ihrer Kernsätze lautete: »Wenn die damals nicht den Scheiß-Kunststoff erfunden hätten, dann hätten wir weiter von unseren ringlosen Vorhanggarnituren gut leben können. Unsere waren die besten, weil unsere Qualität die beste ist.« So klang das Standard-Lamento meines Vaters.

Zweifellos, unsere Messing- und Aluminiumschienen waren von hoher Qualität, genau wie die dazugehörigen Rollringe. Darauf hatte mein Vater großen Wert gelegt. Das war solide produziert, mit erstklassigen Maschinen und gutem Draht. »Alles ausse Gegend«, wie mein Vater zu sagen pflegte. Die Region um Iserlohn war die Heimat vieler kleiner erstklassiger Drahtziehereien, die dem Umland großen Wohlstand bescherten. Sauerländer »Drahtzöger«, wie sie sich nannten, waren durchwegs stillreich, das heißt, sie machten kein Wesen von dem, was sie besaßen. Und sie produzierten Qualität.

Aber Qualität erweist sich durch Haltbarkeit. Und was nicht kaputt geht, muss auch nicht ersetzt werden. Wer sich in der Zeit des Wiederaufbaus das von uns gefertigte Dekorationszubehör für seine Fenster anschaffte, hatte für die nächsten zwei Jahrzehnte seine Ruhe. Das aber bedeutete, dass die Aufträge mit der Zeit nachließen und die Firma langsam, aber sicher den Baarbach runterging (so heißt das Flüsschen, an dem Iserlohn liegt) – was unter beinahe lächerlichen Anstrengungen meiner Mutter auf keinen Fall in unserer Stadt bekannt werden durfte. Ein wirtschaftlicher Misserfolg galt nun mal als persönliches Versagen.

Kein Wunder also, dass ich fast mein ganzes Leben lang von Existenzangst geplagt wurde. Als ich zwölf war, zeichnete sich ab, dass mein Vater diesen Laden nicht mehr hochbringen würde. Das kriegte ich alles mit, denn ich wurde von meiner Mutter, die keinen anderen Gesprächspartner für ihre Sorgen hatte, in das ganze Desaster direkt miteinbezogen. Ich war in dieser Situation quasi ihre einzige Bezugsperson. Mit meinem Vater war nicht zu reden – er wollte das alles nicht wahrhaben, sagte immer wieder, dass sie nichts davon verstehe, setzte sich in den Sessel (den ich heute noch besitze), nahm die Zeitung und war nicht mehr ansprechbar. Meine Mutter machte dann stets einen Rückzieher, war beleidigt, trug ihre Sorgen mit sich herum, und wenn ich in den Ferien zu Hause war, wurde im Erker unseres Wohnzimmers beim nachmittäglichen Kaffee alles mit allen denkbaren Schuldzuweisungen durchgekaut.

Neben den Schuldzuweisungen wuchsen auch die Schulden. Schulden zu haben war für meine Mutter so etwas wie eine epidemische Krankheit, was insofern den Vergleich aushält, dass es kaum Chancen auf Heilung gab. Darum stand eines Tages Herr Koch vor der Tür. Herr Koch war der Obergerichtsvollzieher von Iserlohn. Meine Mutter hatte gerade noch fliehen können, denn sie hatte Herrn Koch durchs Erkerfenster gesehen. Sie überließ mir Zwölfjährigem, die Sache zu regeln. Ich habe mich dann einfach dumm gestellt und gesagt, meine Eltern seien nicht zu Hause. Ja, ob er denn mal ins Wohnzimmer dürfe, fragte Herr Koch. »Nein, ich darf niemanden ins Wohnzimmer lassen.«

Es wäre auch keine gute Idee gewesen, ihn hineinzulassen, denn der gedeckte Kaffeetisch hätte alles verraten. Herr Koch füllte seinen Pfändungsbefehl aus und sagte, er käme noch einmal wieder, denn er müsse sich ja die Möbel anschauen.

Beim nächsten Mal habe ich ihn dann ins Haus lassen müssen, und er hat den sehr schönen Art-déco-kaukasisch-Nussbaum-Schrank, den sich mein Großvater als Bücherschrank hatte anfertigen lassen, mit einem Pfandsiegel beklebt. Nach einer Weile fiel dieser Kuckuck ab, lag für alle sichtbar auf dem Teppich und wurde von der Putzfrau entdeckt. Die wurde nun wieder mit irgendeiner schlecht erfundenen, fadenscheinigen Geschichte ins Vertrauen gezogen. Es häuften sich weitere Hochnotpeinlichkeiten, Lügenmärchen und Halbwahrheiten, die sich kein Mensch merken konnte und einer gewissen Komik nicht entbehrten.

Damals habe ich bereits begriffen: Komisch ist eine Situation nur für den Außenstehenden; der Betroffene leidet wie ein Tier. Mein Vater hat das alles sicher schmerzhaft empfunden. Jahre danach hat er einmal zu mir gesagt: »Junge, du darfst alles werden, nur nicht wie dein Vater ein Versager.«

Die Versagensängste, die meinen Vater quälten, haben sich geradezu genetisch auf mich übertragen, obwohl ich objektiv keinen Grund dazu hatte. Sie waren wohl familiär bedingt. Es gab bei uns zu Hause niemanden, der mal gesagt hat: »Was kostet die Welt?« Immer haben alle gestöhnt, was das alles koste. Immer waren die Zeiten schlecht. Und alle anderen besaßen weit mehr als man selbst.

Meine Mutter litt beinahe physisch, wenn es anderen besser ging als uns. Ich merkte, wie es meinen Vater bedrückte, wenn sie von einem Besuch nach Hause kam und erzählte, die Steins hätten sich einen neuen Perserteppich angeschafft, vier mal drei Meter, wunderschön, passt gar nicht zu den Möbeln, aber wunderschön. Oder Onkel Hans habe jetzt Tante Inge einen Ring geschenkt, war nicht mal ein runder Geburtstag, mit zwölf Brillanten … Meine Mutter orientierte sich sehr an äußerlichen Dingen, die sie gern zum Maßstab für die Beurteilung eines Menschen erhob. Dieser Charakterzug hat mich im Laufe der Jahre von ihr entfernt.

Wohl auch deswegen habe ich bis heute etwas gegen Statussymbole. Ich trage nichts Wertvolles – keine edle Uhr, keine handgearbeiteten Schuhe. Und ich bilde mir ein, dass grundsätzlich jede Jeans an mir aussieht wie von Armani oder dass sich ein Anzug von der Stange an meinem Körper verwandelt in maßgeschneidert. Ich habe halt eine klassische Figur mit der Konfektionsgröße 52, die entspricht den Sehgewohnheiten. Alles sitzt in den Schultern, die sind nun mal gerade, die Proportionen stimmen, die Beine sind schön lang; ich bin nicht geradezu auffallend gutaussehend, aber in Klamotten stimmt mein Gesamterscheinungsbild eben. Das war mein ganzes Leben so, und auf der Bühne wirkt das alles noch mal um eine Klasse besser; knallt ein Scheinwerfer drauf, wird bei mir Satin zu Seide. Einfach Glück gehabt.

Ich musste mich also nie mit Statussymbolen aufpäppeln. Und mit zunehmendem Alter hat sich auch meine Existenzangst langsam gelegt. Was werde ich mich jetzt noch aufregen? Die letzten Jahre meines Lebens wird es schon noch gutgehen. Ich haue ja nicht auf den Putz.

Dennoch, ganz befreien konnte ich mich von dieser Angst, die mein Vater so folgenschwer erfahren hatte, nie. Später stellte sich bei ihm heraus, dass die steuerlichen Forderungen, die den Verkauf des Hauses erzwungen hatten, zu Unrecht erhoben worden waren. Da hatte mein Vater einfach nicht aufgepasst, oder sein Steuerberater hatte geschlafen. Das war überhaupt die Crux unserer Kleinstadt: Man pflegte vielfach berufliche Beziehungen oder Freundschaften, die man unter keinen Umständen aufkündigte. Wenn man in Iserlohn mit einem Steuerberater befreundet war und der aus Altersgründen seinem Beruf nicht mehr gerecht wurde, blieb man trotzdem bei ihm. Mit Anwälten verhielt es sich genauso. Man war gesellschaftlich immer an diese Honoratioren gebunden, denn sie verkörperten den Mittelstand. Und dazu gehörte man selbst, egal, wie es ausging. Am Ende hatte man immerhin für alles einen Schuldigen.

2

Leere Schuljahre

Junge, exponier dich nicht

Meine Eltern wollten, dass ich Mittelmaß werde. »Junge, exponier dich nicht«, beschwor mich meine Mutter bei jeder Gelegenheit. Das sollte bedeuten: Fall auf keinen Fall auf, weder schlecht noch gut. »Wenn du in der Schule so gerade mitkommst, das reicht«, fand auch mein Vater. Sie wollten beide unbedingte Unauffälligkeit von mir.

Aber ich war nun einmal nicht ganz so unauffällig. Ich erinnere mich noch, wie einmal ein Freund meines Vaters zu Besuch war. Im Radio spielte Schlagermusik, und ich tanzte dazu. Alle schauten hin und fanden das lustig. »Der Junge ist ja begabt«, meinte der Gast – und schlagartig war für meine Eltern Schluss mit lustig. Sie haben mir fortan jegliche Freude am Spielen ausgetrieben. Ich war zwar erst zehn Jahre alt, aber nun sagten meine Eltern mir, jetzt habe der Spaß ein Ende, jetzt käme ich auf die Oberschule, jetzt beginne der Ernst des Lebens.

Der Ernst des Lebens – damit verband meine Mutter: immer gewaschene Hände, immer »nett angezogen sein« und vor allem nicht mehr rumtoben, sondern immer mit diesen und jenen Schülern »aus gutem Hause« gesellschaftlich gleichziehen. Das waren Jungs, mit denen ich eigentlich nichts am Hut hatte. Natürlich war ich im Internat sehr froh darüber, dieser elterlichen Kontrolle zu entgehen.

Es gab also auch eine Zeit, in der mein Vater genug Geld verdiente und er es sich leisten konnte, zwei Jungs auf ein Internat zu schicken. Mein Bruder ging mit der mittleren Reife ab, um auf einer Fachhochschule zu studieren und Ingenieur zu werden. Allein aber wollte ich auf keinen Fall im Landschulheim bleiben. Möglicherweise war das ein Fehler, denn ich war auf diesem Internat in Garenfeld bei Westhofen (ein Ort, den man heute nur durch lange Staumeldungen kennt) ein wirklich guter Schüler. Ich hätte dort wahrscheinlich locker mein Abitur geschafft. Aber der Leidensdruck war zu hoch. Es roch alles nach verknöchertem Lehrbetrieb, nach Regelwut, quasi nach Professor Unrat. Darum habe ich auch Bücher wie dieses so gern gelesen; sie schufen eine wohltuende Distanz zu dem, was ich in Wirklichkeit erlebte.

Doch es war trotz bester Literatur für mich in dieser Schule nicht auszuhalten. Rückblickend kann ich mit einiger Berechtigung sagen: Es ging dort paramilitärisch zu. Ich habe zusehen müssen, wie ein bei allen sehr beliebter, zarter, vielleicht etwas mädchenhafter Schüler von einem hochcholerischen Schulleiter durchs ganze Haus geprügelt wurde, um ihn unter die Ampel zu jagen. Denn das Unter-der-Ampel-Stehen war eine Strafmaßnahme, und zu der hatte man ihn wegen irgendeiner Nichtigkeit verdonnert. Wenn sich das Lehrpersonal nämlich mit einem Schüler nicht abgeben wollte, wurde er in den Vorflur des Direktionszimmers unter eine dort hängende Jugendstilampel geschickt, um dort so lange zu zittern, bis der Direktor sich seiner annahm.

Eines Tages war ich an der Reihe. Mitschüler hatten mir geraten, ich solle, sobald ich den Chef kommen hörte, auf der nahegelegenen Toilette verschwinden. Ich konnte das nicht. Ich bin sicher kein allzu mutiger Mensch, aber ich kann mich nicht drücken. Denn das ist mir vor mir selber peinlich. Ich kann auch nichts klauen, nicht mal einen Kuli im Hotel. Ich habe auch nie in meiner Schulzeit beim Nachbarn abgeschrieben. Meine Lehrer haben mir das nicht geglaubt. Als ich in Chemie eines Tages in einer Klassenarbeit statt der üblichen Fünf eine Zwei zurückbekam, weil ich das logische Prinzip begriffen hatte, war mein Lehrer, Herr Grader, felsenfest davon überzeugt, das sei nicht mit rechten Dingen zugegangen.

Mit dieser lebensuntüchtigen Ehrpussligkeit stand ich nun also unter der Lampe, als sich die Tür zum Direktionszimmer öffnete und dieser massige Unheilstellvertreter erschien – und mich nicht sah. Er ging an mir vorbei und beachtete mich einfach nicht. Er kam zurück – und sah mich wieder nicht.

Als ich am Ende der Schulstunde das Klassenzimmer betrat und alle Mitschüler mich neugierig angafften, fragte der diensthabende Lehrer, was Herr Hille denn mit mir gemacht habe.

»Nix!«, antwortete ich.

»Nichts?«

»Nein, überhaupt nix.«

»Glück gehabt!«, meinte der Lehrer.

Ja, das war es wohl. Glück gehabt.

1954 verließ ich Garenfeld mit seinen zahlreichen nationalsozialistischen Lehrkräften. Ein Lehrer hat mir einmal stolz seinen SS-Dolch gezeigt und verraten, er habe neben seinem Bett einen schweren Steigbügel bereitliegen, um jederzeit den damit bewerfen zu können, der ihn wegen seiner Nazi-Vergangenheit holen käme. Ich ging zurück nach Iserlohn, wo ich schulisch dermaßen hinterherhinkte, dass ich schließlich auch das dortige Gymnasium verlassen musste. 1956 fand ich im niedersächsischen Melle eine neue Heimat. Dort verbrachte ich meine letzten Schuljahre.

An Melle habe ich sehr schöne Erinnerungen. Nicht nur, weil ich mich zu dieser Zeit zum ersten Mal so richtig verliebte, sondern auch, weil ich mich in der Stadt wie ein echter Schauspieler fühlte.

Melle hatte ein Alumnat, ein Schulwohnheim. Von dort aus besuchten die Zöglinge eine öffentliche Schule. Das Heim war in einer alten Prachtvilla untergebracht, der Residenz eines Seifenfabrikanten, der pleitegegangen war.

Ich sehe mich noch wie heute auf der großen Raucherterrasse stehen, umgeben von meinen Mitbewohnern, von denen natürlich jeder meinen Berufswunsch kannte, zumal ich in Schulaufführungen bereits einige Kostproben meines Talents geben durfte. Einmal sagte unvermittelt ein dort vor sich hin paffender Erzieher zu mir: »Wenn du wirklich Schauspieler werden willst, muss dir klar sein, dass du 20 bist, wenn du die Ausbildung abgeschlossen hast, und dass es dann noch einmal 20 Jahre dauern kann, bis du vielleicht so was wie einen künstlerischen Durchbruch erlebst – wenn du Glück hast.«

Mir war das nicht so klar, doch ich antwortete tapfer: »Na und? Dann dauert es eben so lange.«

Ich hatte keine Vorstellung davon, wie lang 20 Jahre sein können – ich war ja erst 15. Der Mann sollte recht behalten: Es hat genau so lange gedauert. Als ich 40 war, am 28. Januar 1981, meinem Geburtstag, kam der Anruf von Sammy Drechsel, dem Gründer und Chef der berühmten und legendären Münchner Lach- und Schießgesellschaft, den ich bis dahin nur oberflächlich kannte. Jetzt rief er höchstselbst mich an, und in dem Moment wusste ich: Das ist das Geburtstagsgeschenk meines Lebens.

»Mein Junge, wie sieht es denn bei dir in den nächsten Jahren so aus?«

»Ich habe drei feste Engagements«, stotterte ich.

»Kannste die lösen? Ick würd dich gerne ins Ensemble nehmen.«

Ich habe sie gelöst, denn in den Laden wollte ich immer schon. Es folgten zehn Jahre Lach- und Schießgesellschaft, und das war, was Popularität und Wirkungsfeld angeht, mein Durchbruch. Ich hatte vorher schon Fernsehen gemacht, ich hatte auch schon Theater gespielt, es gab sogar hin und wieder kleine Popularitätsschübe, aber so richtig vorhanden fürs deutsche Publikum bin ich erst seit diesem Anruf von Sammy.

Doch all das wusste ich natürlich noch nicht, als ich seinerzeit auf der Terrasse der Villa in Melle stand, einer Stadt, von der der damalige Gymnasialdirektor Jansen sagte, sie befände sich eigentlich nach wie vor atmosphärisch in den 20er Jahren. Hier hatte ich meine gefühls- und charakterbildenden Erlebnisse – die ersten wichtigen und prägenden Begegnungen meines Lebens.

Meinem Deutschlehrer Dr. Joachim Voigt, Mitglied der CDU (was mir damals egal war), habe ich viel zu verdanken. Er war ein feiner Mann. Während seiner Studienzeit in Göttingen hatte er am Theater bei Heinz Hilpert hospitiert, und er inszenierte nun in Melle die ersten Schulaufführungen, in denen ich mitspielen durfte: Der Igel als Bräutigam, Des Kaisers neue Kleider, Der zerbrochne Krug (darin gab ich den Schreiber Licht). Dieser Lehrer wusste, wie’s geht. Von Melle aus fuhren wir auch ab und zu mit dem Bus ins nahe Osnabrück, um im dortigen Theater Operettenaufführungen beizuwohnen: dem Vetter aus Dingsda, dem Land des Lächelns und auch der Fledermaus. Das habe ich mir alles sehr genau angeschaut, denn mir war ja damals schon klar, dass ich auch zum Theater gehen würde.

Bei einem dieser Besuche habe ich erstmals so einen Lokalmatador erlebt. Der hieß Hans Müller und war ein begabter Komiker, der auch singen konnte, also ein Spielbuffo. Müller hatte etwas Sonniges. Selbst wenn er abends nicht auf der Bühne stand, ging er dennoch in die Vorstellung, zeigte sich den Leuten und wurde dafür vom Publikum beklatscht und begrüßt. Eine lokale Größe. Ansonsten hat Osnabrück bei mir keinen großen Eindruck hinterlassen. Da war Bielefeld schon besser mit seinem Stadttheater und mit Curth Anatol Tichy, dem späteren Burgschauspieler, dem Fernsehpublikum bekannt geworden als schusseliger Assistent Schrammel in Kottan ermittelt, oder Werner Schumacher, der in den 70er und 80er Jahren den Tatort-Kommissar Eugen Lutz spielte. Als ich später einmal mit ihm zusammen in einem Hörspiel mitwirkte, erzählte ich ihm, dass ich ihn als Schüler in Bielefeld auf der Bühne in Schillers Der Parasit gesehen hatte. Das sorgte sofort für eine gewisse Vertrautheit.

Obwohl ich nicht gerade aus einem musischen Haus stamme, hat mich, den Halbwüchsigen, all das, was auf Bühnen vor sich ging, wahnsinnig interessiert. In Iserlohn gab es ein Schauspielstudio. Da bin ich immer mal wieder hingegangen, um mir anzusehen, was und wie die spielen. Iserlohn hatte kein eigenes Theater, aber es kamen das Tourneetheater »Der grüne Wagen« und mitunter auch das Düsseldorfer Schauspielhaus zu Gastspielen in die Stadt. Ich erinnere mich noch gut an Die Caine war ihr Schicksal von Herman Wouk, mit Heinz Drache und Rudolf Fernau in den Hauptrollen. Und ich habe Ibsens John Gabriel Borkman mit den damaligen Burgtheater-Größen Ewald Balser, Helene Thimig und Wilma Degischer gesehen – eine Aufführung, die mich allerdings überhaupt nicht beeindruckte. Die haben nur stundenlang aufeinander eingeredet – ich wusste gar nicht, worum es eigentlich ging. Der Grund für mein Missfallen lag sicher nicht nur darin, dass ich zu jung für das Stück war, ich glaube, es lag auch an der Aufführung selbst. Die war, wie das ganze Nachkriegstheater, eine sehr selbstgefällige Kunstausübung, die vor allem Wert legte auf den hohen, um nicht zu sagen hohlen Ton des gesprochenen Wortes und in keiner Weise von der Wirklichkeit berührt war. Das hat mich wohl daher nicht erreicht.

Ein Urerlebnis war für mich zu jener Zeit der aus Detmold kommende Rezitator Joseph Plaut. Der hatte damals schon eine eigene Fernsehsendung, Plautereien mit Joseph Plaut. Er war einer der Letzten seiner Branche und spielte mit dem Iserlohner Schauspielstudio und dessen Leiter Ferdinand Held-Magney den Raub der Sabinerinnen. Plaut gab natürlich den sächsischen Theaterprinzipal Striese. Das hat mich mit meinen 16 Jahren so fasziniert, dass ich Jahre später in München, als ich bei der Eignungsprüfung vor der Paritätischen Kommission, bestehend aus Vertretern des Deutschen Bühnenvereins, also der Arbeitgeber, und der Genossenschaft deutscher Bühnenangehöriger, also der Arbeitnehmer, ein Vorsprechen absolvieren musste, den Striese vorgesprochen habe, und zwar so, wie ich ihn von Plaut in Erinnerung hatte.

Mein Vater hatte in Dresden studiert, stattliche 19 Semester. Wenn er gefragt wurde, warum er denn so lange dort gewesen sei, antwortete er: »Um die Landessprache zu studieren.« Er konnte hervorragend Sächsisch, folgerichtig war das der erste Dialekt, den ich gelernt habe: ein richtig feines Dresdner Sächsisch. Damit habe ich mich in München hingestellt und den Striese gegeben. Die Jury war begeistert. Ich war zwar viel zu jung für die Rolle, aber ich habe die Prüfung bestanden. Das hatte ich nur Joseph Plaut zu verdanken. Nie habe ich einen besseren Striese gesehen. Wobei man in seiner Erinnerung ja gerne zum Glorifizieren neigt – zumal dann, wenn es sich um eine solch glückliche Fügung handelt.

Mit Frack und Chapeau Claque

Wenn ich heute darüber nachdenke, habe ich alles wieder vor Augen – wie man damals, Ende der 50er Jahre, so aussah; was man trug, weil es zur Mode und zur Kleiderordnung gehörte. Darauf habe ich mein Leben lang Wert gelegt. Schon als 16-Jähriger war ich mit Stockschirm und Doppelreiher-Mantel, mit Schlips und Kragen, Anzug und Weste unterwegs. Es gibt Fotos von mir, darauf sehe ich wirklich aus wie mein eigener Großvater. Das ist ein Ergebnis der Erziehung, die ich durch mein kleinstädtisches Elternhaus erfahren habe, nebst der elterlichen Einstellung: Wenn äußerlich alles in Ordnung ist, wird’s das auch irgendwann innerlich sein. Erst einmal muss man einen anständigen Eindruck machen.

»’n anständ’gen Eindruck!« Mein Vater hatte diesen Offiziersjargon am Leibe. »Ordentlich angezogen!« Ihm selber war das ganz und gar unmöglich. Er trug zwar auch einen Anzug mit Schlips und Kragen, bei ihm sah das jedoch immer so aus, als hätte er ihn schon zwei Tage lang am Leibe.

Vielleicht, weil es mir zu Hause nie besonders gefiel, vielleicht auch, weil ich als Kind viel Zeit in tristen Internaten zugebracht habe, hatte ich früh einen »Hang zum Schönen«. Ich habe mich schon immer gern gut eingerichtet und gut gekleidet. Als ich 15 war, wünschte ich mir zu Weihnachten ein Abonnement von Schöner Wohnen – und bekam es auch, denn in dieser Hinsicht haben meine Eltern stets versucht, mir alle Wünsche zu erfüllen. Zum Beispiel war es – ebenfalls in jungen Jahren – mein Traum, einen Frack zu besitzen. Ich musste allerdings lange betteln, bis meine Eltern ihn mir zugestanden. Was ich damit wollte? Ihn anziehen natürlich und für mich darin spielen. Dumm war nur, dass so leicht gar kein passender Frack aufzutreiben war – ich war doch ein Teenager und noch viel zu dünn für alle gängigen Frackmodelle. Die, die in den Geschäften angeboten wurden, waren natürlich für gestandene Herren geschneidert, nicht für pubertäre Hänflinge.

In Dortmund aber gab es den Kostümverleih Otto Sommer. Der hatte einen Bühnenfrack angefertigt für einen Zauberkünstler, der kleinwüchsig war und den Anzug aus mir nicht bekannten Gründen nie abgeholt hatte. Natürlich musste die Hose verlängert und verengt werden, aber die Jacke saß. Endlich also besaß ich einen Frack, und ich fand es toll, ihn zu tragen. Bei jeder mir passend erscheinenden Gelegenheit zog ich ihn an: bei Schulfesten, bei häuslichen Besonderheiten, wenn ich irgendwo etwas vortragen durfte – immer trat ich im Frack auf. Dazu wollte ich noch gerne eine Perücke haben, graue Haare, und die möglichst gescheitelt. Die Perücke habe ich auch bekommen, und wer Frack trug, brauchte natürlich auch einen Chapeau Claque. Mein Vater schenkte mir seinen. Aber verstanden hat er mich mit meinen Wünschen nicht.

Es mutet vielleicht merkwürdig an, aber ich habe mir in diesem Frack gefallen. Irgendwie hatte ich damals doch wohl eine etwas andere Vorstellung von mir. Ich wollte immer älter sein, als ich war. Ich weiß nicht, ob das an Johannes Heesters lag, der mir damals so imponierte, oder ob Karl Schönböck oder David Niven, den ich in einem amerikanischen Film gesehen hatte, den Ausschlag gaben. Ich glaube, ich wollte so wirken wie einer von denen. Das war die Richtung, die ich als Junge anstrebte. Diese Schauspieler waren für mich der Inbegriff des eleganten Mannes, der ich ja nun gar nicht war, den ich aber mit Frack und Zylinder wenigstens spielen konnte. Dass es dann ausgerechnet der cholerische Spießer werden würde, der mir eines Tages den Durchbruch bringen sollte, ahnte ich damals noch nicht.

Das Sichverstecken, indem man in eine andere Rolle schlüpft, ist für einen jungen Menschen auf der Suche nach seiner Identität nicht selten das Motiv, Schauspieler zu werden. Wenn er dann im Laufe der Zeit mitkriegt, dass das Sichverstecken genau das nicht ist, was den Beruf ausmacht, arbeitet er sein weiteres Leben an nichts anderem, als wahrhaftig zu werden – immer in sich selbst auf der Suche nach dem, was eine Rolle verlangt.

Aber das konnte ich in Melle noch nicht wissen. Ich war in dieser Stadt ziemlich lange glücklich. Auch, weil ich Luise kennenlernte. Sie war zwei Klassen über mir, und wir spielten zusammen in einer Schulaufführung: in der Kinder-Oper Der Igel als Bräutigam von Caesar Bresgen. Ich spielte einen Narren – die Erzählerfigur. Bresgen war ein Salzburger Komponist, der recht umstritten war, weil ihn seinerzeit die Nazis sehr gefördert und hofiert hatten. Eigentümlicherweise hat sich in den 50er Jahren niemand darüber aufgeregt.

Luise hatte mir schon bei dieser Aufführung gut gefallen. Noch besser lernte ich sie kennen im Zuge der Schülermitverwaltung. Die Schulen wurden damals plötzlich demokratisch, und einzelne Schüler fungierten als eine Art Minister für bestimmte Bereiche. Weil ich beim Schultheater darstellerisch so reüssiert hatte, wurde mir die Verantwortung für die Schulfeiern übertragen. Ich war also Festminister – ein schöner Job. Ich habe ihn sehr ernst genommen. Damals trug ich bereits die Idee in mir, einmal ein Theater leiten zu wollen. Das Theater als Betätigungsfeld war für mich sowieso gesetzt, aber dass ich mehr wollte als spielen, wurde mir hier zum ersten Mal bewusst – wirken, unterhalten, organisieren, sich kümmern.

Dieses »Amt« bedeutete in Melle: »Wie sieht’s denn aus, wenn wir hier in diesem Saal ein Schulfest machen? Was brauchen Sie, damit Sie uns den zur Verfügung stellen? Zahlt man dafür Miete, oder überlassen Sie den Saal dem Gymnasium kostenlos, als Sponsor, und geben sich mit dem Umsatz zufrieden?« Wie groß müsste der Saal sein? Wie finanziert man das? Wie dekorieren wir den Saal?

Wir brauchten eine Gruppe von Schülern, die sich freiwillig fürs Dekorieren bereiterklärten. Zu dieser Dekogruppe gehörte Luise, ich habe eng mit ihr zusammengearbeitet. Das ist immer der beste Weg, jemanden für sich zu gewinnen: indem man eine gewisse Kompetenz behauptet und sich als brillant darstellt oder charmant gibt oder als besonders kreativ zeigt, um Eindruck zu schinden.

Luise stand kurz vor dem Abitur. Sie hat mir sehr imponiert. In sie habe ich mich verliebt bei diesem ersten Fest, das ein Karnevalsfest war. Diese Liebe war damals ganz harmlos, aber sie war schön. Bei Curt Götz heißt es, harmlose Schülerlieben seien etwas Wunderbares. Wenn sie weniger harmlos sind, sind sie noch wunderbarer.« So war das. Vielleicht wäre sie die Frau fürs Leben gewesen. Aber sie hätte, wie sie mir später einmal sagte, nie einen Mann vom Theater genommen. Sie wurde Apothekerin, hat geheiratet und zwei Kinder bekommen. Wir haben uns nie wiedergesehen. Sie erlitt relativ früh einen Schlaganfall, doch ich habe sie in Erinnerung als bildhübsches, vitales, leidenschaftliches junges Mädchen mit einem langen dicken blonden Zopf, den sie immer, wenn wir uns – natürlich heimlich – trafen, mit einer unvergesslichen Bewegung für mich öffnete.

Luise ist und bleibt eine schöne Erinnerung an Melle. Die weniger schöne ist, dass ich ein schlechter Schüler war. Es sah nicht danach aus, dass ich das Abitur je bestehen würde. Andererseits war auch gar nicht sicher, ob meine Eltern überhaupt noch in der Lage waren, das alles zu finanzieren.

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