Wo wir stolpern und wo wir fallen - Abubakar Adam Ibrahim - E-Book

Wo wir stolpern und wo wir fallen E-Book

Abubakar Adam Ibrahim

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Beschreibung

Für den Drogendealer Reza ist der Einbruch in das Vorstadthäuschen der Witwe Binta Zubairu bloß die Routine eines heißen Vormittags. Einen Herzschlag später wissen beide: Das, was hier geschieht, dürfte nicht sein. Die Anziehungskraft, die sie erfasst, das Begehren, das ihnen selbst ein Rätsel bleibt, verstößt gegen alle Regeln der traditionellen muslimischen Gesellschaft der Stadt Jos. Und doch: Vor dem Hintergrund der politischen und religiösen Gewalt in Nigeria entfaltet sich die sinnliche, kämpferische und verzweifelt unmögliche Liebesgeschichte zwischen einer alternden Frau, die ihren Sohn verloren hat, und dem um 30 Jahre jüngeren Anführer der Gang des Viertels. Ein üppig erzählter Roman, das lebendige Porträt einer zwischen Tradition und Moderne zerrissenen Gesellschaft – und ein Tabubruch.

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Abubakar Adam Ibrahim

Wo wir stolpern und wo wir fallen

Roman

Aus dem Englischen übersetzt von Susann Urban

© Abubakar Adam Ibrahim, 2015

Die englische Originalausgabe ist unter dem Titel

»Season of Crimson Blossoms«

im Verlag Cassava Republic Press, Abuja und London, erschienen.

© 2019 Residenz Verlag GmbH

Salzburg – Wien

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

www.residenzverlag.at

Alle Rechte, insbesondere das des auszugsweisen Abdrucks und das der fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Thomas Kussin/buero 8

Lektorat: Jessica Beer

ISBN e-Book 978 3 7017 4616 3

ISBN Print 978 3 7017 1712 5

Für Jos, meine geliebte Stadt, ewig gezeichnet vom Blut der Unschuldigen und von der Erinnerung an die hingeschlachtete Unschuld

Inhalt

ERSTER TEIL

1 Egal, wie hoch ein Stein geworfen wird, er fällt unweigerlich herunter.

2 Der Schmetterling hält sich für einen Vogel, bloß weil er fliegen kann.

3 Der Reiher war bereits weiß, da war die Mutter des Seifenmachers noch lange nicht geboren.

4 Sieh nicht dorthin, wo du gefallen, sondern dorthin, wo du gestolpert bist.

5 Wer einen alten Mann verspeist, darf sich nicht beschweren, wenn er anschließend graue Haare spuckt.

6 Schlange bleibt Schlange, so oft sie sich auch häutet.

7 Das Böse dringt ein wie ein Splitter und breitet sich aus wie eine Eiche.

8 Der Elefant trägt nie schwer an seinen Stoßzähnen.

9 Ein Vogel, der vom Boden auf einen Ameisenhügel flattert, weiß nicht, dass er sich noch immer am Boden befindet.

10 Mit der Suche nach einer schwarzen Ziege sollte man lange vor Einbruch der Dunkelheit anfangen.

11 Die Hyäne riecht ihren eigenen Gestank nicht.

12 Eine Schlange wird immer etwas Langes zeugen.

13 Wessen Mutter am Herd steht, dessen Suppenschale ist nie leer.

14 Was Hörner hat, sollte man nicht in einem Sack verstecken.

15 Einem schlauen Vogel legt man die Schlinge am besten um den Hals.

16 In dunklem Wasser kann sogar ein Flusspferd unsichtbar werden.

17 Alten Frauen ist es stets unangenehm, wenn in einem Sprichwort von verdorrten Knochen die Rede ist.

18 Es benötigt mehr als einen Eimer Farbe, um die Farbe des Meeres zu ändern.

ZWEITER TEIL

19 Wo sich Hengste tummeln, sollte sich der verkrüppelte Esel fernhalten.

20 Ein ausgemergelter Elefant ist immer noch besser als zehn Frösche.

21 Kein Rascheln im Palmenhain ohne Wind.

22 Nur ein Weiser sieht das Grau im Schafspelz.

23 Bei dunklen Wolken am Himmel sollte man nicht gleich das Wasser aus dem Krug wegschütten.

24 Nur ein dummer Blinder lässt sich auf einen Streit mit seinem Führer ein.

25 Wenn wir nicht wüssten, woher der Geier stammt, hätte er behauptet, er sei aus Medina.

26 Unter Widdern wird sich die Schnecke nie ihrer Hörner rühmen.

27 Bohnenbällchen mit dem Speer zu essen, ist unpraktisch.

28 Ehre ist wie Milch: einmal verschüttet, für immer verdorben.

29 Im Gerichtshof der Falken wird das Huhn nie freigesprochen.

30 Wenn Hyänen und Perlhühner herumstreifen, werden sie sich irgendwann begegnen.

31 Nur weil die Wehklage süß klingt, ist der Verlust nicht weniger herb.

32 Wenn du unter die Geier fällst, versuch, am Leben zu bleiben.

Danksagung

Glossar

ERSTER TEIL

Hajiya Binta Zubairuwird zum zweiten Mal geboren.(1956–2011 und danach)

1

Egal, wie hoch ein Stein geworfen wird, er fällt unweigerlich herunter.

Hajiya Binta Zubairu wurde im Alter von fünfundfünfzig Jahren endlich zum Leben erweckt, als ein Gauner mit dunklen Lippen und kurzem Stachelhaar, das wie ein Feld mit winzigen Ameisenhügeln aussah, über ihren Zaun kletterte und mitsamt seinen Stiefeln im Tümpel ihres Herzens landete.

An diesem Morgen hatte sie der durchdringende Geruch von Kakerlaken geweckt und ihr schwante, dass Unheil bevorstand. Es war das gleiche Gefühl wie an jenem weit zurückliegenden Tag, an dem ihr Vater hereingestürmt war und verkündet hatte, sie werde an einen Fremden verheiratet. Oder wie an jenem Tag, an dem dieser Fremde, Zubairu, ihr langjähriger Ehemann, dem wüsten Zorn der Gemeinde zum Opfer gefallen war, als sich ein Mob berauschter Fanatiker auf ihn stürzte. Oder wie an dem Tag, an dem ihr Erstgeborener, Yaro, sanft von Gesicht und Gemüt wie seine Mutter, von der Polizei erschossen wurde. Oder sogar wie an jenem Tag, an dem Hureira, ihre unbeherrschte Tochter, heulend ins Elternhaus zurückgekehrt war, weil ihr Lump von Ehemann sich hatte scheiden lassen.

Binta wurde also aus dem Schlaf gerissen und stürzte sich, angetrieben von dem ekelerregenden Gestank, in eine Putzorgie. Sie schnappte sich die Taschenlampe vom Nachttisch und leuchtete in jeden Winkel, jede Ecke, auch wenn sie in ihrem tiefsten Inneren wusste, diese Jagd würde, genau wie die zuvor, vergebens sein.

Wahrscheinlich war ihre Nichte Fa᾽iza geweckt worden, als Binta den Kleiderschrank verschoben hatte. Mit dem typischen Gesichtsausdruck eines Teenagers, der sich nicht für diese Welt interessiert, lehnte sie am Türrahmen von Bintas Schlafzimmer. Sie trug ihre weiß-lila Schuluniform und dick aufgetragenen, grauen Lippenstift.

»Hajiya, was suchst du denn?«

Binta, die mittlerweile die Schublade ihres Nachttischs durchwühlte, richtete sich mühsam auf, stemmte die Arme ins schmerzende Kreuz. »Kakerlaken. Ich kann sie riechen.«

Fa᾽iza zog eine Grimasse. »Die erwischst du sowieso nicht.«

Binta betrachtete ihre Nichte und zog die Augenbrauen hoch. »Was für eine Schule ist das, in der Mädchen sich schminken dürfen, als würden sie in die Disko gehen?«

Fa᾽iza hatte sich bereits umgedreht, da rief Binta sie zurück.

»Los, wisch den albernen Lippenstift ab. Du siehst aus, als wärst du krank. Und deine Uniform ist untenrum zu eng. Du solltest dich schämen.«

»Schämen? Aber Hajiya, das trägt man jetzt so. Du bist echt altmodisch, wallahi, du hast keine Ahnung von Mode.«

Schmollend wischte sich Fa᾽iza mit einem Taschentuch den Mund ab.

»Entweder ziehst du einen Hidschab an, der weiter ist, oder du verlässt das Haus nicht.«

Murrend stampfte Fa᾽iza erst mit dem linken, dann mit dem rechten Bein auf, als stünde sie in einer Kolonie Feuerameisen.

»So wie ihr Mädchen heutzutage herumstolziert, sind die Engel im Himmel den ganzen Tag mit Fluchen beschäftigt. Schau dich mal an, niemand käme auf die Idee, dass du erst fünfzehn bist, so aufreizend, wie du dich anziehst. Fürchte Allah, du freches Kind!«

Fa᾽iza stampfte in ihr Zimmer, und Binta, die sichergehen wollte, dass ihren Anweisungen Folge geleistet wurde, wartete auf sie im Wohnzimmer.

Die kleine Ummi saß auf dem Sofa und stopfte Brot in sich hinein, das sie mit großen Schlucken Tee hinunterspülte.

»Ina kwana, Hajiya?« Lächelnd sah sie zu Binta hoch.

Die fegte ihr die Brösel von der Schuluniform. »Und wie geht’s meiner Lieblingsenkelin heute?«

»Gut, Hajiya. Rat mal, was Fa᾽iza heute Morgen nach dem Aufwachen gemacht hat?« Ummi schnalzte so zweideutig mit der Zunge, dass ihrer Großmutter wieder einmal durch den Kopf ging, wie frühreif sie für eine Achtjährige war.

»Nein, was denn?«

Ummi erhob sich halb und flüsterte Binta etwas ins Ohr, die zwar so gut wie nichts verstand, aber trotzdem lächelte. Strahlend setzte sich Ummi wieder.

Immer noch schmollend, die Schulbücher unter den Arm geklemmt, kam Fa᾽iza aus ihrem Zimmer, ein Hidschab, dessen Fransen ihre Knie umspielten, verhüllte ihre schmale Gestalt. Sie zerrte an Ummis Arm, ließ dem Kind kaum Zeit, die Schultasche mitzunehmen.

»Willst du nicht erst frühstücken?« Binta stemmte die Arme in die Seiten und musterte die Mädchen.

»Später.« Fa᾽iza stapfte, Ummi im Schlepptau, bereits aus dem Haus.

Binta rief ihnen ein paar Abschiedsworte hinterher. Und weil sie mittlerweile den Kakerlakengestank vergessen hatte, überlegte sie, wobei sie vorhin unterbrochen worden war.

Sie ging in ihr Zimmer und setzte sich auf den dicken blauen Gebetsteppich mit den Fransen. Und wie jeden Tag, seit sie erfahren hatte, dass Binta, ihre Freundin aus Kindertagen und Namensvetterin, umgekippt und an Herzversagen gestorben war, ließ sie ihre Gebetskette durch die Finger gleiten. Sie nahm sich Zeit, betete für verstorbene Freunde und Verwandte, bat um ein erfülltes Leben und dass Gott sie mit offenen Armen empfangen möge, wenn ihre Zeit gekommen sein würde. Leider mischte sich der aufdringliche Schaitan in ihre Zwiesprache mit Gott, wies auf das Kleid für Kandiya hin, das auf Bintas Nähmaschine lag. Sie hatte versprochen, es an diesem Tag fertigzustellen. Außerdem musste sie noch in die Madrasa, wo Frauen in Glaubensfragen unterrichtet wurden.

Nachdem sie rasch geduscht hatte, schlang Binta ihr Frühstück hinunter. Sie nahm die Lesebrille vom Nachttisch, die sie am Abend zuvor auf »Die großen Sünden« gelegt hatte, die Übersetzung von Adh-Dhababis Buch »Al-Kaba᾽ir«.

Dann ölte und reinigte sie ihre Nähmaschine, die in der Nische Platz gefunden hatte, wo ein Esstisch stehen würde, wenn sie denn einen hätte, nahm Kandiyas Waxprint-Stoff mit dem Phantasieblumenmuster und trat aufs Pedal. Die Arbeit ließ ihre Muskeln verkrampfen. Während sie einen der Ärmel einnähte, wurden ihre Rückenschmerzen schlimmer. Da es ohnehin fast Zeit für die Madrasa war, legte Binta einen Hidschab an, schulterte ihre Tasche, schloss das Haus ab und ging.

Ustaz Nura, ihr bärtiger Lehrer, hatte sich krankgemeldet, und so waren die Frauen an diesem Tag sich selbst überlassen. Sie beschlossen, die Zeit gut zu nutzen, indem sie die vorigen Lektionen wiederholten, konnten sich aber nicht einigen, ob sie mit Hadith, Tarikh oder Fiqh beginnen sollten. Binta, ihren Bücherstapel vor sich, betrachtete die beratschlagenden Frauen über den Rand ihrer Lesebrille hinweg. Nach einer langatmigen und fruchtlosen Diskussion, bei der es nicht an schlecht verhohlenen, sarkastischen Seitenhieben mangelte, gingen sie auseinander. Binta schloss sich einer Gruppe älterer Frauen an, die sich über verschiedene Anzeichen drohender Vergreisung unterhielten, über die Dummheit der eigenen Enkelkinder und darüber, dass früher alles besser gewesen sei, damals in ihrer Jugend. Bis eine nach der anderen abbog, um heimzugehen.

Binta drückte ihr Haustor auf, durchquerte den schmucklosen Hof, wo in der Morgendämmerung kleine Finken, Wandertauben und andere Vögel herumhüpften und die Körner und Krumen aufpickten, die sie ihnen gelegentlich hinstreute. Zu ihrer Überraschung stellte sie fest, dass die Haustür angelehnt war.

»Subhanallahi!« Vielleicht war Fa᾽iza ja früher von der Schule heimgekommen. Leicht gereizt ob der zunehmenden Überspanntheit ihrer Nichte betrat Binta das Haus.

Ein starker Arm packte sie von hinten, eine Hand presste sich auf ihren Mund. »Wenn du schreist, wallahi, mach ich dich kalt, kapiert«, sagte eine raue Männerstimme. Obwohl es nur ein Flüstern war, zersprang Binta beinahe das Herz, das bereits vom Alter und von vielen Schicksalsschlägen mitgenommen war. Eine Dolchspitze wurde an ihren Hals gedrückt. Sie nahm den durchdringenden Geruch von Marihuana wahr. Dieser verbotene Gestank wirbelte Erinnerungen auf. Verängstigt wimmernd wehrte sie sich.

»Geld, Schmuck!« Der Mann packte fester zu. Als sie nickte, verstärkte sich der Druck seines linken Arms auf ihre Brust, das Messer in seiner rechten Hand bohrte sich in ihr Fleisch, ein kleiner Tropfen Blut zeigte sich.

Er ließ ihr Zeit, wieder zu Atem zu kommen. Weder Decoder noch DVD-Player standen auf ihrem Platz, sie befanden sich wohl bereits in dem khakifarbenen Seesack, der auf dem Wohnzimmertisch lag. Offenbar war er auf Dinge aus, die sich problemlos mitnehmen ließen.

»Bitte, ich bin alt, saurayi.« Die Stimme und die starken Arme hatten ihr verraten, dass es sich um einen jungen Mann handelte. »Ich möchte noch Frieden mit meinem Gott schließen, bevor meine Zeit kommt. Bitte lass mich leben.«

»Geld, Handy, Schmuck!« Seine Stimme drang in ihr Ohr und ihr Herz. Sie machte eine Bewegung, er umschlang sie fester, sein Arm zerquetschte beinahe ihre Brüste. Selbst in diesem umnebelten Schockzustand wurde ihr schlagartig bewusst, dass ihr seit dem Tod ihres Gatten vor zehn Jahren kein Mann so nahegekommen war.

»Subhanallahi! Subhanallahi!« Vielleicht würde die gemurmelte Lobpreisung Gottes ihr den Kopf freimachen. Leise verfluchte sie den verdammten Schaitan, der den Menschen unausgesetzt derart gottlose Gedanken einflößte.

»Handy!«

Sie deutete auf ihre Handtasche unter den Hidschab-Falten und er erlaubte ihr, sie hervorzuholen. Doch seine Erfahrungen hatten ihn misstrauisch werden lassen, und so vermutete ihr Angreifer, Binta könnte versuchen, ihn reinzulegen. Wie die Frau, die ihm zu Beginn seiner Laufbahn Parfüm in die Augen gesprüht hatte. Daher versuchte er, Binta ihren Hidschab über den Kopf zu ziehen, aber sie wehrte sich. Beim anschließenden kurzen, chaotischen Gerangel fiel ihr die Brille aus der Tasche und wurde zertreten.

»Ich schlitz dich auf, ich schwör’s.«

Sie spürte, das würde er auch tun. Sie ließ sich den Hidschab abnehmen und er schnappte sich die Handtasche, deren Inhalt er auf den Boden kippte. Er durchwühlte die Innenfächer und fand eine dünne Rolle Geldscheine. Auf dem Boden lag zwischen den Büchern ihr Handy. Er stopfte sich Geld und Mobiltelefon in die Hosentasche und richtete sich auf. »Schmuck!«

Zum ersten Mal betrachtete Binta ihn. Er war Mitte zwanzig, seine Lippen dunkel und sein Kopf mit dem kurzen, krausen Haar sah aus wie ein Feld voll kleiner Ameisenhügel. Rasch umfasste er sie wieder von hinten. Mit gezücktem Dolch schob er sie ins Schlafzimmer. Sein Atem an ihrem Hals und die Wärme seines Körpers ließen ihr die Knie derart weich werden, dass sie mehrmals beinahe zusammenbrach. Er hielt Binta so fest, dass sie wie ein schwerfälliger Vierbeiner herumtaumelten. Ihr Hintern rieb an seiner Jeans, die sich im Schritt zu wölben begann. Er drückte sich fester an sie.

Im Schlafzimmer ließ er sie los, damit sie sich frei bewegen konnte. Binta beugte sich über die Truhe, die neben ihrem Bett stand, um ihren Schmuck herauszuholen, und streckte ihm dabei den Hintern entgegen. Als sie sich mit dem Kästchen in der Hand umdrehte, das ihre Wertsachen enthielt, sah er, dass sie gar nicht so alt war. Vielleicht waren die Hüften etwas füllig, die Brüste etwas schwer. Aber insgesamt durchaus noch attraktiv. Und als er den Goldzahn in ihrem Mund blitzen sah, war es um seine Beherrschung beinahe geschehen. »Haba! Bitte, mein Junge, ich bin so alt, ich könnte fast deine Mutter sein!«, rief sie, als er näherkam.

Da blieb er stehen. Binta konnte seinen Gesichtsausdruck nicht deuten.

»Du weißt nichts über meine Mutter, nichts.«

Verblüfft sah sie, wie er das Messer unter sein Hemd steckte und die Hände hob, sie hielt den Atem an, als er ein Tuch aus einer Tasche seiner Jeans zog.

»Du blutest.« Er tupfte die Stelle ab, in die sich sein Dolch gebohrt hatte. Betrachtete den Schnitt und tupfte nochmals. »Es ist nicht tief, okay?«

Nur zwei Zentimeter von ihm entfernt hoben und senkten sich ihre Brüste. Er sah ihr in die Augen und ihr Atem stockte.

»Ich geh jetzt, okay?« Er machte einen Schritt zurück. »Ich wollte das nicht. Ich … es ist nur … ich …« Er drehte sich um und verließ das Schlafzimmer.

Als er gegangen war, hatte er ihre Sachen mitgenommen und die Saat eines Erwachens in sie gesät, aus der eine gigantische, nach Aas stinkende Blüte sprießen würde, deren Geruch sich weiter verbreiten würde, als sie sich jemals hätte vorstellen können.

Hadiza war verblüfft. Weshalb waren ihrer Mutter auf geheimnisvolle Weise einige Elektrogeräte abhandengekommen? Weshalb war ihre Brille kaputt? Ohne etwas vom Raubüberfall des Vortages zu ahnen, war Hadiza aus Kano zu Besuch gekommen.

Ummi war an ihrer Tante hochgesprungen, als diese ihre Reisetasche im Wohnzimmer abstellen wollte. »Tante Hadiza, gestern waren Diebe in unserem Haus!«

»Inna lillahi wa inna ilaihi raji᾽un!« Hadiza schüttelte das Mädchen ab und richtete sich auf. Sie wandte sich an ihre Mutter, die schwach lächelte und begütigend mit den Händen wedelte. »Hajiya, was ist passiert?«

»Was passiert ist?« Fa᾽iza tauchte aus ihrem Zimmer auf. »Während wir in der Schule waren, haben sie das Schloss aufgebrochen und den DVD-Player, den Decoder und … keine Ahnung was noch geklaut, das ist passiert.«

Grimmig starrte Binta die Mädchen an. »Begrüßt man so einen Gast, hm? Diese Mädchen!«

Und so wurde Hadiza mit maßvoller Erregung und subtilen Ausweichmanövern im Haus ihrer Mutter empfangen.

Später saß Hadiza auf Bintas Bettkante und blätterte durch adh-Dhababis »Die großen Sünden«, verblüfft, auf welchen Quell des Wissens sie in dieser Wüste zufällig gestoßen war. Hin und wieder nickte sie oder gab glucksende Kehllaute von sich.

»Ich hatte keine Ahnung, dass es so viele Todsünden gibt, Mutter.«

Als sie keine Antwort erhielt, sah sie vom Buch auf.

Hajiya Binta saß immer noch auf dem Gebetsteppich neben ihrem Bett, auf dem sie vor Kurzem das Maghrib gesprochen hatte. Ihr gesamter Körper war in einen zitronengelben Hidschab gehüllt, dessen geraffter Saum den zu ihren Füßen liegenden Koran nicht berührte. Sie hatte nach dem Gebet darin lesen wollen, aber ihre Tochter war auf einen Schwatz hereingekommen. Und weil Binta den Kopf der flachsfarbenen Wand zugewandt hatte, konnte Hadiza ihren Gesichtsausdruck nicht sehen.

Hadiza widmete sich wieder dem Buch, blätterte darin und sammelte Weisheiten, die ein lang verstorbener Scheich in ein Papyrusfeld gepflanzt hatte. Nachdem sie sich von den Grenzen ihres Wissens überzeugt hatte, die viel enger gesteckt waren als vermutet, klappte sie seufzend das Buch zu. Anerkennend strich sie über das verschlungene orientalische Muster auf dem Buchrücken. Kopfschüttelnd fragte sie sich, wie es wohl wäre, ein Buch zu schreiben, das noch Jahrhunderte später voll staunender Bewunderung gelesen wurde. Vorsichtig legte sie es auf den Nachttisch, stieß dabei versehentlich gegen die Lesebrille ihrer Mutter, fing sie aber noch im Fall auf.

»Weshalb ist deine Brille kaputt, Mutter?«

Binta regte sich unter dem Schutz ihres Hidschabs, schwieg aber.

»Hajiya!«

»Mmm.«

»Ich rede mit dir, seit ich hereingekommen bin, und du hast noch kein Wort gesagt.«

»Ich war einfach mit den Gedanken woanders. Was hast du gesagt?«

»Deine Brille, was ist damit passiert?«

»Sie ist kaputt.«

»Aha. Wie das?«

»Ich bin gegen die Wand gelaufen.«

Hadiza blieb der Mund vor Staunen offen. »Wie ist dir das denn gelungen, Hajiya?«

»Es war dunkel.«

»Oh.« Seit sie mit ihrem Köfferchen im Schlepptau eingetroffen und von der Vormittagssonne herzlicher begrüßt worden war als vom abwesenden Lächeln der Mutter, störte sich Hadiza daran, wie unaufmerksam diese war. Sie hatte Schuldgefühle, weil sie sich sieben Monate lang nicht bei Hajiya Binta hatte blicken lassen. Seit ihre Mutter an den Stadtrand von Abuja gezogen war. Nun fragte sie sich, ob ihr Besuch eine Enttäuschung werden würde.

Im Alter von siebenundzwanzig Jahren hatte Hadiza, Bintas Jüngste, bereits einen Ehemann und drei Kinder zu versorgen; drei Jungs, die unausgesetzt das Wohnzimmer demolierten und ihre Schulbücher zerfetzten. Sie nutzte jegliche Unordnung als Ausrede, um das Haus umzugestalten. Ständig arrangierte sie die Möbel anders, pflanzte und verpflanzte auf jedem verfügbaren Quadratzentimeter ihres Gartens Hecken und Blumen. Oft kam ihr Mann Salisu, der eine Brille trug und beim Reden weibisch gestikulierte, heim und musste feststellen, dass das Sofa oder der Tisch woanders standen. Inzwischen war er des Meckerns müde und setzte sich einfach dorthin, wo es bequem war.

Bei ihrer letzten Begegnung hatte Hadiza, die zutiefst verstört gewesen war, weil in Frankreich mittlerweile Verschleierungsverbot herrschte – die entsprechenden Nachrichten hatte sie mit Hingabe verfolgt –, gerade angefangen, einen Niqab zu tragen. Ihre Hände und Füße waren in schwarzen Handschuhen und Socken verschwunden. Diesmal war sie jedoch mit mehreren paillettenbestickten Jilbabs angereist, sowie mit Hidschabs, die mit aufwendigen Spitzenborten verziert waren und in Brusthöhe endeten.

Binta seufzte. Hadiza seufzte ebenfalls. Sie legte die Brille weg und drehte sich wieder zu ihrer Mutter, deren Gesicht noch immer abgewandt war. »Hajiya, das hängt aber nicht mit dem Einbruch zusammen?«

Als Binta lächelte, war Hadiza eher verstört als beruhigt.

»Natürlich nicht.«

»Was genau ist denn passiert?«

»Ich bin gegen die Wand gelaufen.«

»Nein, ich meinte den Einbruch.«

»Ach, nichts. Nur so ein paar kleine ῾yan iska, die Geld für Drogen brauchen.«

»Aha. Was genau haben sie denn geklaut?«

Binta starrte wieder die Wand an.

Hadiza beugte sich vor. Ihre Mutter wirkte abwesend, als sähe sie durch die Mauer hindurch in die anbrechende Nacht auf etwas Rätselhaftes.

Als Binta bemerkte, dass Hadiza ihr Gesicht neugierig musterte, drehte sie ihr den Rücken zu. »Denkst du manchmal an ihn?«

»An wen? Vater?«

»An deinen Bruder.«

»Munkaila?«

Binta schwieg kurz. »Deinen anderen Bruder.«

»Yaro?« Hadiza klang perplex.

»Manchmal frage ich mich, was aus ihm geworden wäre, wenn er noch am Leben wäre.« Und dann ließ Binta zu, dass das Schweigen ihre Gedanken schluckte.

Die Stille verstärkte Hadizas Verblüffung noch. Redeten sie wirklich und wahrhaftig über Yaro? Es war das erste Mal seit seinem Tod vor fünfzehn Jahren, dass ihn ihre Mutter überhaupt erwähnte. Ihr war es immer so vorgekommen, als hätten sie nicht nur seinen Leichnam beerdigt, sondern auch seinen Namen, der kein Name war. Und die Erinnerungen an ihn obendrein. Sie rutschte näher an ihre Mutter heran. »Geht’s dir gut, Hajiya?«

Da platzte Fa᾽iza herein. »Tante Hadiza –«

»Nenn mich nicht so. Wie oft muss ich dir noch sagen, du sollst mich Khadija nennen. Das ist mein richtiger Name. Sag Tante Kha-di-ja.«

»Tante Khadija? Aber alle anderen sagen doch auch Hadiza. Und wenn man’s genau nimmt, bist du ja gar nicht meine Tante.«

»Lallai, dieses Mädchen! Respekt ist wirklich ein Fremdwort für dich. Hadiza ist eine verstümmelte Version von Khadija. Und denk dran, ich bin keine deiner Freundinnen, ob ich nun deine Tante bin oder nicht. Wenn man’s genau nimmt.«

»Okay, Tante Khadija.« Fa᾽iza setzte sich aufs Bett, raffte ihr Kleid und nahm geübt, mit im Schoß gefalteten Händen, die Haltung einer Königin ein, die Hof hält. Diese Pose hatte sie sich bei den Kannywood-DVDs abgeschaut, mit denen sie den Großteil ihrer Freizeit verplemperte, wenn sie nicht gerade Soyayya-Schmonzetten las. Nie hätte sie zugegeben, am wenigsten gegenüber Hajiya Binta, dass sie von ihnen geradezu besessen war. Ihre Zuflucht vor den dunklen Schatten in ihrem Kopf.

Fa᾽iza lebte bei ihrer Tante, seit ihre Mutter Asabe – Bintas jüngere Schwester – in ihr Dorf zurückgekehrt war, weil sie ihren ersten Mann und den einzigen Sohn bei den Unruhen verloren hatte, die Jos seit Längerem erschütterten. Als ihre Mutter beschlossen hatte, wieder zu heiraten, war Fa᾽iza von ihrer Wahl peinlich berührt. Sie fühlte sich dem Andenken ihres verstorbenen Vaters verpflichtet, dessen Tod unabänderlich war und der keine Frau mehr brauchte.

Sie fand alles an diesem Mann, der sich nun damit brüstete, der Ehemann ihrer Mutter zu sein, verachtenswert – seine vorstehenden Zähne, seine ständig dreckigen Füße und dass er, wie das einfache Volk vom Land, weniger kultiviert war als ihr Vater. Sie hätte in diesem Dorf unter keinen Umständen leben können.

Doch es ging nicht nur um die Ablenkung durch die romantischen Liebesgeschichten, die in Kano produzierten Filme und Groschenromane boten ihr eine Flucht vor den bedrückenden Erinnerungen an Jos, auf die sie sich gierig stürzte. Wenn sie im Dorf leben würde, wäre sie außerdem für einen Klassemann wie Ali Nuhu so gar nicht begehrenswert. Ihr Teenagerzimmer war eine einzige Hommage an den angebeteten Filmstar: Sticker zierten die Ecken des Spiegels, den lackierten Schrank, die cremefarbenen Wände, Tür und Fensterscheiben sowie Schulhefte. Sogar die Staffelei, an der sie sich im Malen versucht hatte und die nun unbeachtet hinter dem Schrank stand.

Was sollte Ali Nuhu denn mit einem Landei anfangen?

Der Stadtrand von Abuja, genauer gesagt, der weitläufige Vorort Mararaba, war natürlich nicht mit dem Stadtzentrum vergleichbar, aber zumindest konnte sie hier ihren romantischen Träumen nachhängen. Sie schminkte sich, klebte das Zimmer mit Postern voll, sah sich Kannywood-Filme an und las Soyayya-Romane, in denen sich gut aussehende Männer, die Limousinen fuhren, in schöne junge Frauen mit Mondaugen und Adlernasen verliebten. Frauen, die ihrer Cousine Hadiza nicht unähnlich waren.

»Deine Henna-Bemalung ist toll.« Fa᾽iza hielt Hadizas Hände und bewunderte die verschlungenen Muster, die sich von der zarten Haut abhoben. Sie sah hinauf in Hadizas lächelndes Gesicht. »Wenn ich Soyayya-Romane schreibe, muss dein Gesicht aufs Cover.«

Hadiza lachte. »Dummes Ding, mein eifersüchtiger Mann würde dich umbringen und dein gesamtes Geschreibsel verbrennen. Wer liest dieses Zeug denn überhaupt?«

»Dieses Mädchen liest nichts anderes.«

Beide drehten sich zu Binta um.

Binta starrte weiterhin geradeaus. »Den lieben langen Tag liest sie diese Schmonzetten, wenn sie nicht gerade Filme auf Africa Magic glotzt. Ich habe mich gefragt, wo sie das Zeug herhat, bis ich herausbekam, dass die Kurzen es anschleppen.«

»Kai, Hajiya!«, protestierte Fa᾽iza.

»Welche Kurzen?«

»Irgendwelche klein geratenen Mädchen hier aus der Nachbarschaft, mit denen sie sich angefreundet hat.«

»Und die du offenbar so gar nicht magst, Hajiya.«

»Das sind so ganz Oberschlaue. Mir wäre es lieb, wenn Fa᾽iza mit ihnen keinen Umgang mehr hätte.«

Hadiza runzelte die Stirn. »Fa᾽iza! Benimm dich anständig und halte dich von schlechten Einflüssen fern, mara kunyar yarinya.«

Beleidigt drehte Fa᾽iza sich weg.

»Jetzt, wo der Decoder gestohlen ist, kann sie jedenfalls nicht mehr stundenlang diese Trash-Sender schauen.« Hadiza schob ihr Kopftuch zurecht.

»Trash-Sender? Haba, Tante Khadija. Bestimmt ersetzt Alhaji Munkaila alles, was gestohlen worden ist, insha Allah.«

»Hat er das zu dir gesagt?« Aus dem Zusammenhang gerissene Erinnerungen lasteten schwer auf Bintas Stimme.

»Mir? Nein.« Fa᾽iza klang schnippisch. »Er hat uns ja die ganzen elektronischen Geräte geschenkt, insha Allah, deshalb ersetzt er sie bestimmt auch.«

Hadiza wandte sich an ihre Mutter. »Ist der Einbruch der Polizei gemeldet worden?«

»Der Polizei?« Binta lachte in sich hinein. »Er ist Allah gemeldet worden.«

»Seit wann ist Allah Polizist, Hajiya?«

»Er wird auf Seine Art für Gerechtigkeit sorgen. Sogar bei der Polizei, die draußen herumläuft und Unschuldige erschießt. Allah wird über sie richten.«

Bintas scharfer Ton ließ Hadiza zusammenzucken. Die Verbitterung ihrer Mutter hatte bestimmt mit der überraschenden Erwähnung von Yaro zu tun. Damit, dass diese verschütteten Erinnerungen ausgegraben worden waren. »Ich finde trotzdem, du hättest Anzeige erstatten sollen. Man weiß nie.«

Es kam Binta gerade recht, dass der Muezzin zum Isha-Gebet rief. »Hol deine Schwester, Fa᾽iza. Bestimmt spielt sie nebenan.«

»Ich?« Fa᾽iza schnellte hoch, als hätte sie auf einer Feder gesessen, warf sich den Schleier über die Schultern und rauschte hinaus. Ein intensiver Parfümgeruch blieb zurück. Genüsslich sog Hadiza den Duft ein, machte dann eine nachlässige Handbewegung, als wollte sie ihn wegwedeln. Ihr Blick wanderte durch den Raum, blieb bei den Gardinen hängen, die das reinste Trauerspiel waren, dem Schmutzwäschehaufen in der Ecke und dem Abfall auf dem Boden.

»Hajiya, ich glaube, wir sollten dein Bett umstellen und das Zimmer umräumen.«

Rasch hob Binta den vor ihr liegenden Koran auf, reichte ihn Hadiza, stand auf und sprach die Iqama.

Seufzend legte Hadiza den Koran auf »Die großen Sünden«, die sich bereits auf dem Nachttisch befanden. Sie raffte ihr Kleid zusammen und ging aus dem Zimmer.

Hadiza, die viel zu aufgewühlt zum Einschlafen war, wälzte sich auf ihrer Matratze hin und her. »Was ist bloß mit Hajiya los?«

Eine Zeit lang war nur Ummis leises Schnarchen zu hören. Schließlich sah Fa᾽iza, die sich auf der anderen Seite des Zimmers mit Ummi eine Matratze teilte und im Schein ihrer Handytaschenlampe ein Buch las, seufzend auf. »Hajiya? Keine Ahnung.« Sie vergrub sich wieder in ihre Lektüre.

Erneut wälzte sich Hadiza herum. »Seit wann ist sie so?«

»Seit wann? Keine Ahnung, seit gestern wahrscheinlich.«

Hadiza seufzte. »Ich verstehe das nicht. Und ich verstehe nicht, warum sie urplötzlich von Yaro spricht. Sie hat noch nie über ihn gesprochen.«

»Yaro? Dein Bruder, der gestorben ist?«

Hadiza nickte und kratzte sich an der Stirn. »Und die Erklärung, wie ihre Brille kaputtgegangen ist, war absolut nicht plausibel. Was genau ist eigentlich passiert?«

»Was passiert ist?« Seufzend legte Fa᾽iza Buch und Mobiltelefon auf den Teppich neben der Matratze. Auf dem Cover war ein schönes, großäugiges Frauengesicht abgebildet, darüber stand fett gedruckt der Titel »Biyayar Aure«. Das Licht der Handytaschenlampe verbreitete sich im Zimmer und scheuchte die Dunkelheit in die Ecken. Fa᾽iza drehte sich auf den Rücken und zog sich das Laken über die Brust. »Als ich von der Schule heimkam, stand die Haustür offen, der Decoder und der DVD-Player waren weg und Hajiyas Brille lag zerbrochen auf dem Boden, das ist passiert. Ich hab ihr die Brille in ihr Zimmer gebracht und da saß sie dann so auf dem Bett.« Fa᾽iza machte sich zu Demonstrationszwecken ganz steif. »Ich habe gefragt, was passiert ist, und sie seufzte, ungefähr so … hmmmm … und sagte, jemand habe eingebrochen.«

Da Hadiza lange nichts erwiderte, drehte sich Fa᾽iza auf die Seite und blieb still liegen. Die kleine Ummi gab im Tiefschlaf leise Geräusche von sich und seufzte. Fa᾽iza zog eine Grimasse.

Hadiza wälzte sich auf ihrer Matratze herum. Ein männerloses Haus war ein gefundenes Fressen für Schurken wie diese Einbrecher. Oder war ihre Mutter möglicherweise nur einsam? Wie hatte sie zehn Jahre ohne Mann leben können?

»Was ist mit dem Mann, der sich um sie bemüht?«

»Dieser Mann?« Fa᾽iza schnaubte verächtlich. »Dieser schmierige Alte, Mallam Haruna? Der hat schon zwei Frauen, wallahi.«

»Ach, weißt du, Hajiya ist doch auch alt. Mag sie ihn?«

»Ihn mögen? Haba! Wie kann sie den mögen?«

Hadiza schwieg eine Weile. Als Fa᾽iza leise anfing zu schnarchen, bat Hadiza, sie möge die Taschenlampe ihres Handys ausschalten.

»Ich? Nein, ich will nicht im Dunkeln schlafen«, murmelte Fa᾽iza und schnarchte kurz darauf weiter.

Hadiza lauschte den Nachtgeräuschen. In irgendeiner Mauerritze veranstaltete eine Grille ihr Solokonzert. Das Miauen einer Katze draußen im Dunkeln ließ Hadiza aufschrecken, es hörte sich an wie das Greinen eines neugeborenen Säuglings. Es dauerte eine Weile an, dann herrschte wieder Stille. Die unvermittelt von zwei Katzen zerrissen wurde, die sich im Mondschein balgten. Endlich breitete sich allmählich wieder Ruhe aus, unterbrochen nur von Fa᾽izas leisem Schnarchen, das sich zu einem nervösen Stöhnen steigerte.

»Nein … Nein!« Fa᾽iza schlug um sich, kämpfte mit den Schatten, die ihre Träume bevölkerten, und strampelte das Laken weg. Erschrocken setzte sich Hadiza auf, hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, zu flüchten, und dem Drang, das Mädchen aufzuwecken. Mittlerweile wimmerte Fa᾽iza wie ein geprügelter Hund. Schließlich rollte sie sich wie ein Fötus zusammen. Bald darauf hatte sie sich beruhigt, nur ihr pfeifender Atem zupfte zart an der Nacht wie Finger an einer Gitarre.

2

Der Schmetterling hält sich für einen Vogel, bloß weil er fliegen kann.

Das erste Mal wurde Binta 1973 während des Harmattans von unheilverkündendem Kakerlakengestank geweckt. Sechzehn oder siebzehn war sie damals. Ihr genaues Alter kannte sie nicht, denn ihre Mutter, die nie eine Schule besucht hatte, merkte sich, wie die meisten in Kibiya, Daten anhand wichtiger Ereignisse. Aus Gesprächen, die Binta belauscht hatte, schloss sie, dass sie in dem Jahr geboren worden war, in dem die englische Königin Nigeria besucht hatte.

An jenem Morgen, vor vielen, vielen Jahren, war sie vor Sonnenaufgang aufgewacht und hatte die Sturmlampe angezündet. Sie schüttelte die Matratze aus, was bei ihrer jüngeren Schwester Asabe, die noch schlief, Protestgemecker auslöste. Binta hatte die Lampe genommen und die beengte Hütte abgesucht, sie hob die Matten hoch, untersuchte gründlich die kwalla, die ihre Kleidung enthielt, ebenso die Kalebassen. In der ersten fand sie eine fast zerbröselte Spinnenhaut und die Überreste eines Bockkäfers. Nachdem sie mit einem Besenstiel in den breitesten Mauerritzen herumgestochert und nichts gefunden hatte, gab Binta auf.

Draußen verrichtete sie ihre Waschung und sprach das Subhi-Gebet. Dann setzte sie sich, wie sie es jeden Morgen seit Jahren tat, im zarten Licht der aufgehenden Sonne zu ihrer wortkargen Mutter. Schweigend drückten sie fermentiertes Guineakornmehl durch ein dünnes Tuch. Ihre würdevolle Mutter, schlank bis auf die füllige Mitte, sprach kaum ein Wort mit ihr. Binta war ihre Erstgeborene, und wie es Brauch war, schenkte sie ihr kaum Beachtung, redete sie auch nie mit Namen an, damit man sie nicht für unbescheiden hielt. Doch jedes Mal, wenn Binta ihrer Mutter verstohlen in die Augen sah, erhaschte sie eine heimliche Liebe darin, die gleich darauf weggeblinzelt wurde. Eine Liebe, die sie so gern festgehalten und ausgekostet hätte. Alles hätte sie darum gegeben, den Klang ihres Namens aus dem Mund der Mutter hören zu dürfen. Alles.

Nachdem die Sonne ganz aufgegangen war, band sich Binta den gelben Schleier um die Hüften, zog los, das Tablett mit kamu-Küchlein auf dem Kopf, und bot das Gericht in der Nachbarschaft an. Sobald sie ausverkauft war, flitzte sie heim, wusch sich, trank kunun tsamiya und aß kosai, frittierte Bohnenbällchen, zum Frühstück und flitzte dann mit schlenkerndem Ranzen – einem zurechtgeschnittenen Mehlsack, an dem ein Tragriemen befestigt war – zur Schule.

Sie ging bei ihrer Freundin Balaraba vorbei, die schon vor dem Haus wartete. Gemeinsam marschierten sie zu Hajjo und dann zu Saliha. Saliha war noch nicht daheim – sie hatte wohl ihre kosai noch nicht alle verkauft –, daher gingen sie weiter zu Bintalo.

Die Schule bestand lediglich aus ein paar Bastmatten, die vor einem alten Tamarindenbaum ausgebreitet waren, an dem eine Tafel lehnte. Mallam Na᾽abba, der Lehrer, hatte oft zu Binta gesagt, dass sie klug sei. Dass sie, vorausgesetzt ihr Vater gebe seine Zustimmung, weiter die Schule besuchen und eines Tages vielleicht Gesundheitsinspektorin werden könne. Jedes Mal, wenn er das sagte, lächelte sie und nagte mit abgewandtem Gesicht an ihrem Zeigefinger. Es war ein ferner Traum. So viel wusste sie damals schon. Aber Mallam Na᾽abba war brennend an seiner Verwirklichung interessiert. Er war derjenige, der ihren widerstrebenden Vater überzeugte, dass sie weiterhin auf die Schule gehen durfte. Von ihrem Wissen könne ganz Kibiya profitieren. Ihr Vater, skeptisch wie stets, hatte zugestimmt, aber seine Stirn noch tagelang in tiefe Sorgenfalten gelegt.

Nach der Schule gingen die Mädchen heim und trafen die pummelige Saliha, die unter dem Moringabaum vor ihrem Elternhaus herumhing. Wenn Saliha nicht auf Verkaufstour war, bekam sie aus heiterem Himmel Kopfweh, Rückenschmerzen oder fiebrige Anfälle, die sie meistens am Schulbesuch hinderten. Sobald kein Unterricht mehr drohte, verschwand die Krankheit. Da sie offenbar von keinem Gebrechen geplagt war, beschlossen die Mädchen, unter dem verdorrten Dattelbaum gada zu spielen.

Lachend rannten sie aufs Feld, wo sie ihre Schultaschen unter den Baum legten. Da Bintalo die Energischste der gesamten Clique war, kam sie als Erste dran. Die Mädchen bildeten einen Halbkreis, und Bintalo ließ sich wieder und wieder in ihre ausgebreiteten Arme fallen. Sie fingen sie jedes Mal auf, warfen sie lachend und singend mit Schwung wieder zurück in eine aufrechte Position. Saliha war die Nächste, und dann kam Binta dran, die bei jedem Wurf spürte, wie die Knöspchen auf ihrer Brust hüpften. Währenddessen sangen sie:

Karuwa to saci gyale

Ca ca mu cancare

Ta boye a hammata

Ca ca mu cancare

Ta ce kar mu bayyana

Ca ca mu cancare

Mu kuma ῾yan bayyana ne

Ca ca mu cancare

Am Feldrain stand Mallam Dauda, strich sich durch seinen angegrauten Bart und beobachtete die hüpfenden Knospen auf Bintas Brust. Warum sie sich wie Schlampen benähmen? Ob sie nicht zu Hause helfen müssten?

Die Mädchen schnappten ihre Schultaschen und machten sich auf den Heimweg. Was ging es ihn denn an, wenn sie von einer Prostituierten sangen, die einen gestohlenen Schleier unter ihrem Arm versteckte, und ihre Knospen dabei hüpfen ließen? Sie verabredeten sich für später unter dem schiefen Papayabaum, wo sie im Mondlicht tashe spielen wollten.

Mallam Dauda machte sich auf den Weg, um ein ernstes Wörtchen mit Bintas Vater, Mallam Sani Mai Garma, zu reden.

An diesem Abend kam ihr Vater von der Farm mit Stirnfalten heim, tief wie noch nie, und hinkte besonders deutlich mit dem Bein, das seit einer Kinderlähmungserkrankung geschwächt war. Binta stand vom Geschirrspülen auf und wollte ihm die schwere Hacke abnehmen. Er schob sie weg und rief ihre Mutter nach drinnen.

Binta hörte ihn toben, wie groß seine Tochter unter seinem Dach geworden sei und wie die Männer glotzten, wenn sie ihre Melonen in aller Öffentlichkeit hüpfen lasse. Es sei an der Zeit, dass sie eine eigene Familie gründe. Er stürmte nach draußen und versetzte dabei seinem Abendessen einen Tritt. Binta rannte in die Hütte und weinte zu Füßen ihrer Mutter. Die Frau drehte das Gesicht zur Wand, ihre Hand schwebte zögernd über ihrem Unterleib.

Zwei Tage später wurde Binta mit Zubairu, Mallam Daudas Sohn, verheiratet, der in Jos bei der Bahn arbeitete.

Diesmal wurde sie von einem Geräusch im Wohnzimmer geweckt. Holz quietschte über die Fliesen wie ein geschundenes Tier, und sie fragte sich, was da wohl los war. Dann hörte sie, wie Hadiza Fa᾽iza Anweisungen gab, und Fa᾽iza sämtliche Fragen wiederholte.

»Fa᾽iza, nimm das Ende da.«

»Ich? Das Ende da?«

»In die Richtung.«

»Die Richtung?«

»Haba! Fa᾽iza, Herrgott noch mal, was machst du denn?«

»Was ich mache? Aber Tante Hadiza, ich mach doch bloß, was du gesagt hast.«

Hajiya Binta, die nach ihrem Frühmorgengebet wieder eingeschlafen war, lauschte dem Lärm im Wohnzimmer. Sie lag da und meinte, ihre Leber zu spüren und dass diese schwerer geworden sei. Von draußen drang unbekanntes Vogelgezwitscher herein, volltönend und zuversichtlich, und wenn das Gewicht ihres Körpers nicht so schwer auf ihr gelastet hätte, wäre sie zum Fenster gegangen und hätte nach dem Vogel Ausschau gehalten.

Sein Gesang erfüllte ihr Herz mit Gelassenheit, mit geschlossenen Augen kostete sie dieses Gefühl aus. Bilder von ihrem verstorbenen Mann schossen durch ihren Kopf, Zubairu, der Fremde, mit dem sie den Großteil ihres Lebens verbracht hatte. Jedes Mal, wenn sie an ihn dachte, schien er zu lächeln, was zu seinen Lebzeiten eher selten der Fall gewesen war. Die Erinnerung an seine Berührung war von einem Jahrzehnt Spinnweben überzogen. Nur vage erinnerte sie sich, wie er ihre Schultern niederdrückte, sich auf die Unterlippe biss, um ein Grunzen zu unterdrücken, während sein Körper sich über ihrem krümmte. Ihr fiel ein, wie er an seinen Fingern geknabbert hatte, wenn er log, und wie er immer zweimal auf seine Tasche klopfte, ehe er sich den Kaftan auszog. Diese Erinnerungen waren deutlicher. Ein starker Arm, der sie umfasste, ihre Brust zusammenquetschte. Ein starker Körper hinter ihr. Ein Unterleib, der seine Wölbung hart gegen ihren Hintern drückte. Warmer, verzweifelter Atem, der ihr in den Nacken blies. Ein junges Gesicht, gekrönt von Stachelhaar. Binta bemerkte, dass sie ihre Schenkel zusammengepresst hatte, und dass sie dort unten feucht war. Ein klein wenig nur.

»Subhanalla!« Sie schüttelte den Kopf und die Bilder lösten sich auf wie eine Spiegelung im unruhigen Wasser. Sie setzte sich auf, griff nach dem Koran auf ihrem Nachttisch. Ihre zerbrochene Brille erwies sich als nutzlos, also legte sie sie wieder weg. Aber unverdrossen schlug sie das Buch auf und versuchte zu lesen. Die eleganten Schnörkel der arabischen Buchstaben verschwammen vor ihren Augen zu einem geheimnisvollen Muster, das sie nicht enträtseln konnte. Seufzend küsste Binta den Koran, legte ihn auf den Nachttisch zurück und stand auf, um nachzusehen, was im Wohnzimmer los war.

Hadiza und Fa᾽iza diskutierten, wo das Bild eines mit roten Blüten verzierten Wasserfalls, das an der Wand neben ihnen gehangen hatte, am besten zur Geltung kommen würde. Fa᾽iza hielt das Gemälde, während Hadiza, die sich für einen Platz auf der gegenüberliegenden Seite entschieden hatte, einen Nagel in die hellbraune Wand hämmerte.

Ummi stand neben Hadiza, in der Hand eine Pappschachtel mit Nägeln, in den Augen einen hoffnungsvollen Blick. »Tante Hadiza, bringst du uns den Decoder zurück?«

Hadiza biss sich auf die Unterlippe und hämmerte weiter. Ummi wiederholte ihre Frage und klapperte, als niemand antwortete, mit der Nagelschachtel. »Heute ist Samstag. Ich will Cartoon Network sehen.«

An die Tür gelehnt, betrachtete Binta ihr verändertes Wohnzimmer. Eine kleine Katastrophe. Die Stühle standen anders, der Fernsehtisch kuschelte sich in eine Ecke, und die kornblumenblaue Vase, die bisher danebengestanden hatte, thronte nunmehr auf dem Fernseher. In der Essecke war die Nähmaschine an die Wand geschoben worden.

Als sie schließlich etwas sagte, war ihre Begrüßung ein bloßes Murmeln. »Sannun ku da aiki.«

Die drei drehten sich zu ihr um.

Hadiza musterte ihre Mutter derart gründlich, dass sich diese unbehaglich fühlte. »Hajiya, lafiya ko?«

»Ja. Mir geht’s gut. Warum?«

»Du wirkst so … komisch, sonst nichts. Wie auch immer, ich wollte dich nicht wecken. Aber nachdem du schon mal wach bist, räume ich auch gleich dein Schlafzimmer um, sobald ich hier fertig bin.«

»Nein!« So aggressiv hatte Binta gar nicht klingen wollen. Was war bloß los mit ihr? Sie holte tief Luft und fügte in einem sanfteren Tonfall hinzu: »Bitte nichts umräumen. Putzen reicht, danke.«

Ihr wurde klar, dass sie sich wohl mürrisch angehört hatte. Binta seufzte. Die Bilder, mit denen sie aufgewacht war, hatten sie mehr erregt und aufgebracht, als sie sich eingestehen wollte. Schon allein der Gedanke, dass ihre lang vernachlässigte Weiblichkeit offenbar wegen jemandem feucht geworden war, der sie an Yaro erinnerte, verstörte sie zusätzlich.

Hadiza stand da, den Hammer in der Hand. Ummi nahm einen krummen Nagel aus der Schachtel und steckte ihn sich zwischen die Lippen.

Binta machte eine ungeduldige Handbewegung. »Fa᾽iza, hol mir Wasser. Ich will baden.«

»Ich? Heißes Wasser.«

»Ja, du, verdammt noch mal.«

Ummi fiel der Nagel aus dem Mund, der über den Boden klirrte und die entstandene Stille durchbrach. Binta drehte sich um und verschwand in ihrem Schlafzimmer.

Noch ehe sich Hadiza und die Mädchen von Bintas Ausbruch erholen konnten, ging das Tor auf und man hörte schnelle Schritte den Garten durchqueren. An der Haustür rief es »Salaam!« und eine Frau kam herein.

Fa᾽iza strahlte. »Guten Morgen, Kandiya.«

»Wo ist Hajiya?« Die Hängebacken der Frau bebten. Der khakifarbene Hidschab, der ihr schwammiges Gesicht wie ein gezackter Heiligenschein umgab, war an den Kanten schweißfeucht.

Hadiza musterte sie interessiert. »Gibt es ein Problem?« Seit vier Tagen solle ihr Kleid fertig sein, zeterte Kandiya, das habe Hajiya ihr versprochen, aber nichts sei passiert. Sie rauschte zur Essecke, schnappte sich das Kleid, das auf der Nähmaschine lag. Hielt mit Daumen und Zeigefinger der anderen Hand den noch nicht eingenähten Ärmel hoch.

»Seit vier Tagen befindet sich mein Kleid in diesem halbfertigen Zustand, obwohl ich bereits alles bezahlt habe. Genau in diesem Augenblick sollte ich es auf einer Hochzeit tragen.« Mit deutlichem Missfallen betrachtete sie das Kleid und fauchte. »Iskanci.« Sie ließ Kleid und Ärmel fallen, stürmte hinaus und schubste dabei Fa᾽iza aus dem Weg.

Als Hadiza zu ihrer Mutter ins Schlafzimmer ging, um sie wegen Kandiyas Kleid zu befragen, saß diese zusammengekauert und in ihrem Hidschab versunken auf der Bettkante, ihre Augen waren dunkel und blicklos.

Als ihr Sohn Munkaila vorbeikam, war Binta bereits besserer Laune. Sie saß in der Essecke, ölte ihre Butterfly-Nähmaschine und wollte wissen, warum er ihre Enkel nicht mitgebracht habe.

»Ich habe sie bei ihrer Mutter gelassen, sie spielten gerade so nett.« Munkaila, der sich auf der Couch niedergelassen hatte, beugte sich vor und klimperte mit den Autoschlüsseln.

Hadiza neben ihm betrachtete die Schlüssel und den Wurstfinger, der fast den ganzen Schlüsselring ausfüllte. Seine Speckfalten im Nacken, seine Wampe, die er gelegentlich tätschelte, verblüfften sie, nicht aber seine dunkle Haut – für die waren die väterlichen Gene verantwortlich. Auch seine geringe Körpergröße konnte sie sich erklären, aber nicht den sich lichtenden Haaransatz, der ihn älter aussehen ließ als vierunddreißig.

»Ich verstehe solche Strolche nicht. Wie kann man nur irgendwo einbrechen und einfach fremder Leute Sachen stehlen.« Munkaila klimperte wieder mit seinen Schlüsseln.

Binta ölte die Nadelstange. Dann fädelte sie ein. Neben ihr stand ein Riesenkarton, in dem sich einmal ein Fernseher befunden hatte und dem sie jetzt ein Stoffstück entnahm, das sie auf den Transporteur legte. Mit einem dumpfen Geräusch schnalzte der Nähfuß herunter. Den Fuß auf dem Pedal, spürte sie das Surren der Maschine, die ohne Ruckeln losratterte. Binta beugte sich vor, um sich die Stiche anzusehen, während ihr Fuß das Pedal bediente; da sie aber keine Brille trug, musste sie sich so weit vorbeugen, dass ihre Stirn die Maschine berührte. Sie korrigierte Fadenspannung und Stichlänge und nähte so lange, bis die Stiche nicht mehr ölig waren. Dann legte sie das Stoffstück beiseite und schnappte sich Kandiyas halbfertiges Kleid.

»Hajiya, warum trägst du deine Brille nicht? Oder trägst du sie nicht gern?«

»Ach, meine Brille ist zerbrochen, als … als ich gegen die Wand gelaufen bin.«

»Wie ist denn das passiert?« Munkaila klopfte mit dem Fuß auf den Boden.

»Es war dunkel. Aber ich habe mich nicht verletzt, keine Sorge.«

»Dann muss ich dir wohl eine neue besorgen. Aber du musst bitte besser auf dich aufpassen, Hajiya.«

»Mach ich.« Sie lächelte.

Der Fernseher lief, doch bis auf Ummi interessierte das niemanden, und nicht einmal diese war wirklich aufmerksam. Bald schon zog sie ein quadratisches Stück Noppenfolie hervor, das beim Umräumen aufgetaucht war, und ließ die Noppen platzen.

»Alhaji, sollen wir ein Weilchen nach draußen gehen?« Hadiza stand auf.

»Okay.« Munkaila erhob sich und gemeinsam gingen sie in den Garten, wo er kritisch das Haus beäugte.

Hadiza kam es vor, als wäre das Grinsen ihres Bruders mittlerweile festgewachsen, jedenfalls schien er sich sehr wohl damit zu fühlen. Sie schob ihr Kopftuch zurecht. »Wahrscheinlich strengt Hajiya ihre Augen zu sehr an. Vielleicht sollte sie mit dieser Näherei ganz aufhören. Mir gefällt es nicht, wie die Frauen hier hereinschneien und ihr Vorwürfe machen, weil ihre Kleider nicht fertig sind.«

Munkaila seufzte. »Sie macht es doch nur, um sich zu beschäftigen. Ich komme ja vollständig für sie auf.« Wieder klimperte er mit den Schlüsseln, und als wüsste Hadiza nicht genau Bescheid, erzählte er ihr erneut, wie er seiner Mutter das Haus gekauft und sie von Jos weggebracht habe, nachdem er zum Schluss gekommen war, dass ein Ende der Unruhen, der Morde nicht absehbar sei; wie er Satellitenfernsehen installiert habe und dass er monatlich das Abo zahle, damit sie im Alter Trost und Unterhaltung habe. »Was soll sie denn sonst mit ihrer Zeit anfangen?«

Während er schwadronierte, überlegte Hadiza, ob sich außer ihr noch jemand an den ehemals klapperdürren Studenten erinnerte, der mit einer einzigen Jeans und zwei Lycra-Hemden ein ganzes Semester überstehen musste. Die Zeit an der Ahmadu Bello University war hart für ihn gewesen. Nachdem Munkaila mit fünfundzwanzig seinen Abschluss in Volkswirtschaft in der Tasche hatte und keine Stelle fand, absolvierte er ein Praktikum beim Harka Bureau de Change. Dort verdiente er sein Geld mit dem An- und Verkauf ausländischer Währungen. Er hatte Glück und gewann das Vertrauen einiger Regierungspolitiker, die fortan ihre Devisengeschäfte über ihn abwickelten.

»Vielleicht sollte sie wieder unterrichten. Hier gibt es einige Grundschulen, wo sie arbeiten könnte. Eventuell sogar in Teilzeit. Unterrichten hat ihr immer Freude gemacht.«

Munkaila massierte sich ausgiebig den Bauch. Hadizas Vorschlag widersprach seiner Vorstellung davon, wie seine Mutter ihren Lebensabend verbringen sollte, in anmutiger Zufriedenheit nämlich. Wie eine Königinmutter.

»Ach, weißt du, ich möchte nicht, dass sie allen möglichen … Unannehmlichkeiten ausgesetzt ist. Sie soll es jetzt gemütlich und bequem haben. Sie soll nicht ihr ganzes Leben lang darben.«

»Hajiya ist nicht so alt, wie du sie hinstellst.«

»Ich weiß, ich weiß. Aber trotzdem …« Er zuckte die Schultern.

»Vielleicht sollte sie wieder heiraten.«

»Wieder heiraten?! Haba! Hadiza, wieder heiraten?«

»Klar, warum nicht. Frauen in ihrem Alter heiraten andauernd noch einmal.«

Munkaila legte den Kopf auf die Seite, als zöge er diese Idee in Erwägung. Die Vorstellung gefiel ihm ganz und gar nicht.

Hadiza erinnerte sein Gesichtsausdruck an einen Mann, der versehentlich Bitterspinat gegessen hat. »Ich als Frau weiß, wie wichtig ein Mann im Haus ist. Hajiya ist einsam. Sie findet die Idee gut. Irgendwann hat sie mal erwähnt, dass sich jemand um sie bemüht.«

»Ah-ah! Hier?« Vor Schreck blieb ihm der Mund offen stehen. Was für eine schockierende Vorstellung, seine Mutter mit einem anderen Mann als seinem Vater. Er wäre nie auf eine derart grauenvolle Idee gekommen.

»Keine Sorge, ich bin noch bis morgen da. Bestimmt ergibt sich eine Gelegenheit, mit ihr darüber zu reden. Ich lasse dich wissen, was sie gesagt hat.«

Seufzend klimperte Munkaila erneut mit seinen Schlüsseln. Er blickte hinunter auf seine Schuhe und stampfte mit dem rechten Fuß auf. Dann sah er seine Schwester an. »Dein Mann sorgt gut für dich. Wer würde glauben, dass du bereits drei Kinder hast?«

»Danke sehr.« Hadiza verbeugte sich mit der geübten Anmut einer Vollblutschauspielerin. Und sie lachten beide. »Aber dein Süßholzgeraspel hindert mich nicht, dich daran zu erinnern, dass du mir die Hadsch bezahlen musst.«

»Alles zu seiner Zeit, Hadiza, alles zu seiner Zeit. Ich hatte mir das so vorgestellt – Hajiya geht zuerst, und das war ja erst letztes Jahr, Alhamdulillah. Was dich und deine durchgedrehte Schwester betrifft, ihr müsst warten. Ich baue mir nämlich gerade ein Haus. Das verschlingt mein gesamtes Vermögen, wallahi.« Er führte aus, wie dringend er ein eigenes Haus brauche, damit er nicht mehr die exorbitante Miete zahlen müsse, wie sie in Abuja üblich sei. Und dass darin ein Zimmer für Hajiya vorgesehen sei, damit sie zu ihm ziehen könne, und wenn Hadiza das Haus erst einmal begutachtet habe, werde sie sehen, dass es das viele Geld wert sei. Und dann lud er sie ein, sie solle eine Weile auf Besuch kommen, seine Frau und die beiden Töchter würden oft nach ihr fragen. Als Hadiza seufzte, verstummte er.

»Was ist los?«

»Sie hat Yaro kurz erwähnt.«

»Tatsächlich?« Munkailas ohnehin dunkles Gesicht wurde noch dunkler.

Ohne auf seinen blendend weißen Kaftan zu achten, lehnte er sich an die Hausmauer und stützte das Kinn in die Hand.

In der darauf folgenden Grabesstille sah Hadiza sich um und stellte sich vor, wie viel Farbe ein paar Büsche und Blumen dem öden Garten verleihen würden, der ungenutzt vor ihr lag, so ungenutzt wie die vergangenen zehn Lebensjahre ihrer Mutter.

Am nächsten Morgen schlug Hadiza das Laken zurück und stand auf. Der Blick auf die Wanduhr verriet ihr, dass es bereits Viertel vor acht war. Da ihre Söhne Kabir und Ishaq rechtzeitig für die Schule fertig sein mussten und Zubair, der Kleinste, darauf bestand, gemeinsam mit seinen Brüdern zu frühstücken, war sie das Ausschlafen nicht mehr gewohnt.

Von schräg gegenüber drang Fa᾽izas leises Schnarchen zu ihr. Das Mädchen hatte das Laken weggestrampelt, beide Beine sorglos von sich gestreckt, eines lag auf der kleinen Ummi, die allerdings so tief schlief, dass sie davon nichts merkte.

Hadiza stand auf und betrachtete sich im Spiegel, dessen vier Ecken mit dem Gesicht von Ali Nuhu geschmückt waren. Sie wischte sich den öligen Schlafschimmer vom Gesicht und ging in die Küche, durchsuchte Schubladen und Schränke. Sie stieß auf eine Packung Nudeln, die sie desinteressiert wieder an ihren Platz legte. Am besten fragte sie ihre Mutter, was es zum Frühstück geben sollte.

In Bintas Zimmer lagen die Kleider, in denen ihre Mutter geschlafen hatte, auf dem Bett. Ihre Mutter badete gerade, daher setzte sich Hadiza aufs Bett und wartete.

Als Binta auftauchte, fragte sie lächelnd, ob sie gut geschlafen habe. Hadiza versicherte ihr, dass ihre Nacht durchaus erfreulich gewesen wäre.

»Hast du dich am Hals verletzt, Hajiya?«

Binta strich über die Stelle, wo sich der Dolch des Einbrechers in ihre Haut gebohrt hatte. Es war kaum mehr als ein kleiner Kratzer, dessen schwarze Kruste allmählich abfiel. »Nur ein Kratzer. Hast du mit deiner Schwester gesprochen?« Binta setzte sich auf den Hocker vor dem Schminktisch, betrachtete die fast verheilte Wunde im Spiegel. Mit einer raschen Bewegung riss sie den restlichen Schorf ab und begutachtete die neue Haut darunter.

»Nicht seit ich hier bin. Soll ich sie anrufen?«

»Vielleicht besser nicht. Hureira ist eine derartige Landplage, lass sie besser in Ruhe.« Binta cremte sich ein. »Kürzlich hat ihr Mann angerufen und sich beschwert, sie sei so herrschsüchtig. Ich habe ihm versprochen, ich rede mit ihr, aber sie geht nicht ran, wenn ich anrufe.«

»Hureira kenan!« Hadiza gluckste vor sich hin. »So temperamentvoll und aufsässig wie sie ist, wäre sie besser ein Mann geworden.«

»Lallai kam! Sie wäre schlimmer gewesen als dein Vater, möge Allah seiner Seele Frieden geben.«

»Kai, Hajiya!«

»Du weißt, dass ich recht habe.«

Hadiza schwieg. Ein wenig später stand sie auf. »Was möchtest du zum Frühstück? Fa᾽iza kann einkaufen gehen.«

»Wie wär’s mit Reisküchlein?« Binta lächelte und puderte sich das Gesicht. »Die besten masa hier in der Nachbarschaft macht Tabawa. Fa᾽iza weiß, wo sie zu finden ist.«

»Reisküchlein also, okay.«

Als Hadiza Fa᾽izas Zimmer betrat, war diese bereits auf und wischte sich mit einem Wattebausch, den sie in Reinigungsmilch getunkt hatte, den Schlaf aus den Augen. Hadiza gab ihr Anweisungen, Geld aus ihrem Portemonnaie und ging anschließend in die Küche, um Wasser aufzusetzen.

Fa᾽iza puderte sich in aller Ruhe das Gesicht und zog die Lippen mit einem Augenbrauenstift nach. Dann warf sie sich einen Hidschab über den Kopf, schnappte sich einen leeren Essensbehälter und verließ das Haus.

»Hajiya! Hajiya! Tante Hadiza! Kommt her, schaut euch das an!« Fa᾽iza klang eher begeistert als verängstigt.

Die beiden Frauen eilten herbei, um den Grund für Fa᾽izas Aufregung in Augenschein zu nehmen, Bintas Hidschab flatterte wie die Flügel eines verzweifelten Vogels. Vor der Tür stapelten sich der verschwundene Decoder und der DVD-Player. Und obenauf lag eine durchsichtige Plastiktüte, die Schmuck und ein Handy enthielt.

»Unser Decoder ist wieder da!« Die kleine Ummi, die Augen noch schlafverquollen, hatte sich zwischen Großmutter und Tante gezwängt.

»Aber das ist nicht Hajiyas Handy«, stellte Fa᾽iza fest.

3

Der Reiher war bereits weiß, da war die Mutter des Seifenmachers noch lange nicht geboren.

Das Surren des Elektromotors tönte durchs Haus. Seit Kurzem gab es wieder Strom, und da Binta die Kapriolen des Energieunternehmens nur zu gut kannte, versuchte sie so viel wie möglich herauszuholen. Nachdem sie endlich ihre Verpflichtung gegenüber Kandiya erfüllt hatte, musste sie nur noch ein paar kleinere Änderungsarbeiten erledigen, mit denen sie ruckzuck fertig war.

Anschließend wischte sie Fernseher, DVD-Player und Decoder ab, die Hadiza am Vortag auf den Fernsehtisch gestellt hatte, ehe sie Munkaila besuchen gegangen war. Während sie die paar Bücher abstaubte, die sich noch auf der kleinen Eckkommode stapelten, fiel ihr Blick auf Hemingways »Der alte Mann und das Meer«. Doch sie wählte lieber einen Roman von Danielle Steel, den sie auf die Couch warf. Als sie mit der Hausarbeit fertig war und da Fa᾽iza und Ummi noch in der Schule waren, setzte sie sich zum Lesen hin. Das Schriftbild war so groß, dass sie ohne Brille zurechtkam. Ihre Lektüre wurde durch ein Klopfen unterbrochen. War sie so vertieft gewesen, dass sie das Quietschen des Tors überhört hatte? Sie stand auf und öffnete.

Ihr Angreifer von neulich stand vor der Tür, sah diesmal aber deutlich weniger aggressiv aus. »Hajiya, bitte, ich will dir nichts tun.«

Sein Stachelhaar war unter einem schwarzen Beanie verschwunden, nur die gepflegten Koteletten lugten hervor.

Hajiya wollte sich mit ihrem ganzen Gewicht gegen die Tür werfen, da bemerkte sie, dass er nervös mit den Fingern spielte, seine Ringe glitzerten in der Morgensonne.

»Ich schreie.« Aber ihre Stimme war lediglich ein leises Knurren, beinahe übertönt vom wilden Rhythmus ihres Herzschlags.

»Bitte nicht.« Er machte einen Schritt zurück und hob beschwichtigend die Hände.

»Was willst du?«

»Ich will dir nicht wehtun, okay. Ich will nur –«

Für einen Sekundenbruchteil verhakten sich ihre Blicke. Er erinnerte sie an die zahllosen Schüler, die im Laufe ihrer jahrelangen Lehrtätigkeit vor ihr gestanden hatten, von einem Bein aufs andere tretend, weil sie dringend auf die Toilette mussten, aber nicht wussten, wie um Erlaubnis fragen.

»Ich will dich nicht ausrauben, okay?« Er wandte den Blick ab, machte noch einen Schritt zurück, sodass er fast an der Kante der Veranda stand.

Binta machte die Tür noch ein Stückchen weiter zu.

»Ich hab dir deine Sachen zurückgebracht: den Decoder, den DVD-Player, deinen Schmuck –«

»Was davon übrig ist.«