Woanders, vielleicht - Ulrich Grode - E-Book

Woanders, vielleicht E-Book

Ulrich Grode

0,0

Beschreibung

»Ja, weißt du denn nicht, dass wir Künstler alle ein bisschen ver-rückt sein müssen?«, sagte Caroline. »Jeder will Geschichten erzählen. Der Fotograf, die Malerin, der Musiker, der Schriftsteller. Auf jedem guten Bild wird eine Geschichte erzählt. Die Welt ist voller Geschichten. Sie wollen erzählt werden.«

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 133

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



»... das schlimmste Übel ist, aus dem Kreis der Lebenden zu scheiden, ehe man stirbt.«

Seneca (um 4 v. Chr. – 65 n. Chr.)

Inhaltsverzeichnis

I

II

III

I

Ich schreibe nicht mehr.

Gestern war Halloween-Treffen im Verlag. Das Gebäude liegt ein wenig über den Innenstadt-Ring hinaus, vorn die Ausfallstraße zur A7 und weiter gen Westen, hinten fast im Grünen. Vier oder fünf Stockwerke hoch, kompakt; wie ein Kreuzfahrtschiff liegt es da. Vor der Tür Kinderkarussell, Würstchenbude, Strohballen. Überall Figuren mit spitzen Hüten. Hin und wieder ein Knochenmann. Ich musste an alte, vergessene Autoren des Verlags denken, zu denen ich emporgeschaut hatte, damals, als ich anfing. Makaber.

Im ersten Stock war Empfang. Stimmengewirr. Alles scharte sich um den neuen Shootingstar. Alte Lady mit spitzer Zunge. Am liebsten gräbt sie in Biografien von Künstlern und Adligen aus längst vergangener Zeit und erzählt dann von prächtigen Gütern inmitten tief verschneiter Parks. Im Salon wird der Tee serviert. Schwere Teppiche dämpfen jede Bewegung, jedes Wort. Letztes fahles Licht, Glut im Kamin, Kerzen. Auf den Tasten des Klaviers einige Notenblätter, Chopin, Liszt. Die Gräfin reicht dem jungen Musiker die zarte, feuchte und sehr heiße Hand, sie fiebert beständig, er haucht einen Kuss in den warmen Schoß ihrer Finger, wie ein Versprechen. Nebenan erschießt sich ihr Ehemann.

Zum Beispiel.

Ihr neuer Roman, »Hinter den Knicks«, soll es in sich haben. Sündhaft reiche Tochter eines amerikanischen Multimilliardärs heiratet verarmten Aristokraten, der in seinen heruntergekommenen Schlössern inmitten einer lebensmüden Verwandtschaft Haltung zu bewahren versucht. Irres Cover. »Hinterknicksig« wird wohl in der Literaturszene das Wort des Jahres werden. Es bezeichnet das, was im Verborgenen bleiben soll, was die Öffentlichkeit scheut.

Ich weiß, wie viel Arbeit hinter ihrem Erfolg steckt. Wenn sie eine Spur wittert, wird sie zum Bluthund, wühlt sich durch Korrespondenzen, Archive, Museen, Kirchenbücher. Eine echte Jägerin und Sammlerin. Die Frau hat Willensstärke, Disziplin und nur begrenzt Geduld. Das Buch muss raus. Zack.

Als ich den Raum betrat, spielte die Band »When the saints go marching in«.

Ich bedankte mich mit einer leichten Verbeugung. Die Jungs sind in meinem Alter und so was wie die Hausband des Verlags.

Die neue Lektoratsleiterin sprach ein paar Worte. Halloween als Programm. Gruselig. Witzig. Schrill. Geheimnisvoll. »Mit einem Wort«, sie lächelte, dehnte die Aussprache ins Laszive und ging dabei ein wenig in die Knie: »Hinterknicksig!« Jung, schwarzer Rock, hohe, enganliegende Stiefel, lila Bluse, langes, dunkles Haar. Kaninchenzähne. Jeder bekam ein Halloween-Geschenk. In meiner Tüte waren fünf edle schwarze Moleskine-Hefte, drei große und zwei kleine. Cahiers blancs. Das Papier hat einen warmen Farbton, wie die neuen Laternen bei uns in der Straße. Zwei ganz weiche Bleistifte. Ein Gruß vom Verleger, der sich im Übrigen entschuldigen ließ. Oktober und November seien »dicht, absolut dicht«.

Bei mir ratterte es natürlich sofort los, was mir dieses Geschenk sagen sollte. Um allein zu sein, schlenderte ich ein wenig durch die Gänge. Als ich wie zufällig an seinem Zimmer vorbeikam und mit meinen Gedanken noch nicht viel weiter war, fasste ich nach. Tatsächlich. Abgeschlossen. »Dicht«. Seine Räume liegen völlig unscheinbar in der zweiten Etage. Viele vermuten die Räume des Chefs immer ganz oben, nehmen den Fahrstuhl und suchen dann dort nach weiteren Treppen oder benutzen, ganz schlau, gleich die Feuerleiter, die außen angebracht ist. Die wundern sich, wenn sie dann auf dem Dach stehen. Nein, zweite Etage, links, am Ende des Ganges. Die rote Tür. Sieht eigentlich mehr nach Abstellkammer aus. Aber nichts da, helle, luftige Räume mit einladenden Sitzecken. In den Regalen das Verlagsprogramm. Kaffeemaschine vom Feinsten.

Auf dem Weg zurück traf ich Anna, eine alte Kollegin. Wir hatten früher mal ein schönes Projekt zusammen gemacht. Das war die Zeit nach den großen Erfolgen mit »Tipp-Ex auf Kassandras Träume« und »Wohin, wenn nicht jetzt«. Sie hatte eine ganz eigene Sprache, konnte Gedanken und Gefühle so konkret und trocken ausdrücken, dass es mich jedes Mal an die Musik von Keith Jarrett und Charlie Haden erinnerte. Jetzt war sie längere Zeit in Finnland gewesen und froh, zurück in Deutschland zu sein. »Ich genieße es, in den Supermärkten wieder dieses Riesenangebot zu haben«, sagte sie. Dann erzählte sie aufgeregt, dass sie gerade Stunden im Netz damit zugebracht habe, den Stromanbieter zu wechseln. »Stromanbieter?«, fragte ich nach. »Ja, natürlich«, und ihre Stimme klang auf einmal schrill, »du glaubst gar nicht, was du zuviel bezahlst. Du müsstest das auch mal machen.« Ich war völlig durcheinander und erzählte ihr von dem Mönch, der seinen Meister fragte: »Was würdest du sagen, wenn ich mit Nichts zu dir käme?« Der Meister antwortete: »Wirf es zu Boden.« Der Mönch protestierte: »Ich sagte, ich hätte nichts, was soll ich dann loslassen?« »Gut, dann trag es weg«, erwiderte der Meister. Sie lachte und meinte, sie habe vor kurzem an mich gedacht: Falls ich immer noch, wie ich ihr einmal schrieb, mit dem Bleistift die Grauzone zwischen Melancholie und Depression erkunden würde, dann könnte sie mir einen Test mailen. Beantworte man mehr als drei Fragen mit Ja, dann sei man depressiv.

»Du Grundgute«, sagte ich.

Wir gingen zur Eröffnung einer Bilderausstellung im untersten Flur. Zunächst das übliche Grußwort eines Offiziellen. In der Kunst reflektiere die Gesellschaft über sich, Kunst bedeute, eine andere Perspektive, neue Anstöße zu gewinnen usw. Also das, was man immer sagen kann, ohne ein einziges Bild betrachtet zu haben. Nichts Konkretes. Das diffuse Gefühl, dass er als Politiker die Kunst noch nicht ganz aufgeben mag, solange es noch Menschen, das heißt potenzielle Wählerinnen und Wähler gibt, die sich offenbar dafür interessieren. Es folgte die Künstlerin, Monika Rathlev. Im Grunde sei auf ihren Bildern ja nichts drauf. Allgemeines Lachen. Ich sah mir die Bilder an. Schöpfung eine Rolle rückwärts. Himmel und Erde. Und die Erde war wüst und leer. Tag und Nacht. Horizonte. Inseln im Meer. Nur Spuren von Leben. Länder im hohen Norden fielen mir ein, die ich in den Erdkundestunden in der Schule besucht hatte, wenn wir den Dierke-Weltatlas vor uns liegen hatten, um irgendwelche Tabellen zu analysieren, und ich die eisbepackten, ausgefransten Küsten, die endlosen Flüsse und Seen mit dem Finger hinauffuhr, Namen von Abenteurern und Entdeckern entzifferte, auf deren Spuren ich mich sah. War das nicht meine Seelenlandschaft geblieben, mein Arkadien? Farben, in denen Anfang und Ende ineinander übergingen und die Gegenwart bedeutungslos wurde. Diese Sehnsucht nach unberührter Weite. Noch ist die Bühne leer, die Leinwand weiß. Zu hören ist nur der Wind.

Höhepunkt des Tages sollte das Artist Speed Dating sein. Man sitzt sich vier Minuten gegenüber und erzählt von seinen Ideen und Projekten. Dann rutscht man weiter. Bis jeder mal mit jedem gesprochen hat. Das soll die Kreativität fördern. Und das Crossover.

Zuerst hatte ich einen Werbemenschen: ein zarter, weicher, sehr verletzlich aussehender Mann in mittleren Jahren. Als Junge muss er viel mit dem Quietscheentchen in der Badewanne gespielt haben. Der zeigte mir auf seinem Apparat in rasender Geschwindigkeit eine Powerpoint-Präsentation zur Entwicklung unserer Stadt. Seine Aufgabe: mehr Menschen in die Stadt zu locken. Das Design Outlet Center sei gut, das Einkaufszentrum im Bau, sehr gut, aber wenn die Menschen da herauskommen, dann sollen sie doch mindestens noch eine Runde drehen und weiter shoppen, shoppen, shoppen. Und Kaffee trinken, Kuchen essen und sich ihre Einkaufstüten zeigen. Ob ich so eine Art »Story« der Stadt hätte, die die Menschen neugierig machen kann auf den Rest der Stadt.

Ich sagte, dass die Geschichte der Stadt wohl ablesbar sei an den Straßen und Plätzen, den Fassaden, Innenräumen, Hinterhöfen, Kirchen, auffindbar in Museen, Briefen, Erzählungen. Aber das meinte er ja nicht. Er zeigte mir ein Bild. Ein junger Mann hält einen sehr großen Fisch im Arm, zeigt ihn einer älteren Frau mit Hut und lacht. Er sagte, das sei in Seattle. Dort habe man mit einem Fischmarkt erfolgreich Menschen in die Innenstadt geholt. Die »Story« sei also, Seattle ist eine Stadt mit einem großen Fischmarkt.

Ich sah ihn an. »Seattle«, sagte ich schließlich. »Das liegt doch am Pazifik, Schiffsrouten nach Alaska und Asien. Benannt nach einem Indianerhäuptling. Erinnerungen an ›Wolfsblut‹, ›Ruf der Wildnis‹. Das hat natürlich was. Aber mit unserer kleinen Schwale, von ein paar Auen gespeist, ein paar Kilometer, zum Teich gestaut, was...« Er war schon weiter, schüttelte den Kopf und schwärmte von den Kösten, die unheimlichen Erfolg hätten: Stoff-, Wein-, Holstenköste usw. Was fehle, sei ein Slogan. Ein Königreich für einen Slogan. Ob ich einen Slogan hätte.

»Kösten Sie mal!«,

sagte ich ihm. Er schwieg. Dann wippte er unruhig auf seinem Stuhl hin und her. »Das könnte einer sein«, sagte er. »Name und Logo der Stadt und darunter ›Kösten Sie mal‹. Das könnte...« Er tippte hektisch auf seinen Apparat.

Ich setzte mich dann einer jungen Frau gegenüber, die ganz ruhig da saß und ein Stück Ton knetete und formte, bis eine kleine Figur erkennbar wurde. Sie hatte ein Foto vor sich auf dem Tisch liegen. Es war ein altes Schwarz-Weiß-Bild, auf dem Schulmädchen mit ihrem Lehrer zu sehen waren. Die Mädchen mochten elf oder zwölf Jahre alt sein und trugen Schuluniformen, die mich auf den ersten Blick an die Matrosenanzüge aus dem Kaiserreich erinnerten. Es waren aber Kleider, und die Gesichter der Mädchen trugen asiatische Züge. Hinter den Mädchen auf dem Foto standen Bäume. Die Frau sagte nichts. Sie schien sich zu langweilen. Wahrscheinlich nervte es sie, nicht in ihrer Werkstatt zu sein, inmitten der Bilder, Gerüche, Töne, die sie brauchte. Ich stellte mir vor, dass Chefdesigner Gott – mal angenommen, dass... –, damals ähnlich lässig, nachlässig und wie nebenbei den Menschen geschaffen haben könnte. Das würde einiges erklären.

Plötzlich unterbrach sie ihre Arbeit, holte eine fertige Figur aus der Tasche, die sie neben sich auf den Boden gestellt hatte, und gab sie mir. Bei diesem Mädchen wuchs ein kahles Bäumchen aus dem Kopf. Der Gesichtsausdruck war ruhig, wach, aufmerksam. Zeitlos. Jemand stand neben mir und gab mir mit einem »Husch, Husch...« zu verstehen, dass ich den Platz räumen müsste.

Dann kam einer, der einen Witz nach dem anderen erzählte. Von der Sorte: Mein Freund hat mir erzählt, ich soll Energie sparen. Wegen der hohen Preise und des Klimawandels und so. Ich soll deswegen lieber Bus fahren. Das sei besser. Nun hab ich mir ’nen Bus gekauft. Der verbraucht aber noch viel mehr Benzin. Ich dachte, die Geschichte ginge noch weiter, blieb ganz ruhig und wartete. Welche Funktion hatte der denn in unserem Kreis? Ich betrachtete die Figur, die ich immer noch in der Hand hielt. Das Bäumchen könnte auch eine Antenne sein.

Dann ein Kriminaler. Er bräuchte unbedingt irgendeinen Clou für seinen neuen Roman. Er sprach ein entsetzlich primitives Deutsch. Entweder soll das so sein, ist das sein Stil, oder er hat Angst, mir irgendein geglücktes Bild, eine glanzvolle Formulierung zu liefern. Solche Leute gibt es auch. Mir fiel ein, dass mir tags zuvor beim Friseur die Uhr an der Wand aufgefallen war, die im Spiegel eine verkehrte Zeit angezeigt hatte. Ich erzählte ihm davon. Ermittelte Zeit und Zeit, zu der ein Zeuge den Hauptverdächtigen gesehen haben will, passen nicht zueinander. Kommissar ist am Verzweifeln, sitzt dann beim Friseur, erkennt die Ursache, springt auf und rennt mit Umhang und halbem Haarschnitt usw. Er grummelte, das reiche ihm nicht. Ich ergänzte: Ermordet worden ist eine etwa fünfzigjährige Frau. Ihr Sohn hat schon während seiner Schulzeit Karikaturen gemalt, Blatt für Blatt legte er in eine Mappe auf dem Kleiderschrank. Mutter war froh, dass er irgendwie beschäftigt war. Nach dem Abi studierte er. Nach Jahren eine Ausstellung. Er wird berühmt. Auf der Suche nach den alten Blättern irrt er durchs Elternhaus. Mutter sagt ihm, dass sie diese Blätter längst in die Blaue Tonne gekippt habe, an diesen primitiven Strichmännchen sei doch nichts dran gewesen. Er bringt sie daraufhin um. Jetzt leuchteten die Augen des Autors: Da könne er eventuell etwas draus machen.

Das war bei dem alten Woller noch anders gewesen. Der hatte sich meine Texte abends in seinem Büro bei einem Glas Rotwein vorlesen lassen, hat gelächelt oder »Gut, serr gutt« geflüstert oder »Ich weiß nicht, an den letzten Zeilen musst du noch ein wenig feilen, da stimmt was nicht mit der Melodie«. Am Ende hat er dann erzählt von seinen Begegnungen mit den »Großen«, die alle schon tot waren oder gerade starben oder jetzt besser nicht mehr schreiben sollten. Und ganz zum Schluss hat er aus dem Gedächtnis rezitiert, was ihm gerade einfiel. Meist erhob er sich schwerfällig und fing an, wie ein alter Bär herumzutapsen: »Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten, die früh sich einst dem trüben Blick gezeigt...«, und seine Augen leuchteten bei Versen aus Goethes »Tagebuch« wie »... vor deinem Jammerkreuze, blutrünstger Christe, verzeih mir’s Gott, es regte sich der Iste«. Mit seiner mächtigen Stimme füllte er den Raum, und je erhabener der Anfang eines Romans oder einer Novelle erklang, desto mehr verschwanden meine Zeilen in einem ungefähren Nichts. Wenn er bei Kuttel Daddeldu oder Hans Huckebein angekommen war, rief ich die Taxizentrale an. Zum Abschied sagte er immer: »Im Grunde«, und das klang brunnentief, »im Grunde hast du doch Talent. Wir drucken das!«

Die Außenräume im Verlag haben große Fenster, bis auf den Fußboden, die ganze Wand ist dann ein Fenster. Das ist schön. Ich sah nach draußen in das noch volle, gelb-braune Herbstlaub hinein. Ein alter Mann ging mit einem Hund spazieren. Sie gingen beide ganz entspannt. Das passte gut zu den Blättern, die sich von den Zweigen gelöst hatten und ruhig fallen ließen.

Ich saß dann einer Frau gegenüber, die häkelte. Sie sah das sehr wissenschaftlich, sprach von ihrem Häkellabor, zeigte auf die vor ihr liegenden Stücke: »Fühlen Sie mal«, und lachte, als sie sah, wie ich etwas hilflos über Wölbungen und Nippel strich. »Busentopflappen«, kicherte sie, »der Verkaufsrenner, zu bestellen bei www.essen-mit-lust-und-laune.de. Aber ich mach auch sehr ernste Sachen«, fügte sie hinzu, »ich umkreise gleichsam mit der Häkelnadel unermüdlich die ewigen Fragen nach dem Wachsen und Werden, nach Ewigkeit und Endlichkeit«, sie dehnte die Worte und öffnete die Augen, beschrieb mit ihrer gewaltigen Nadel Kreise, als wolle sie mich hypnotisieren, und fügte spitz hinzu: »nach Geburt und Tod.«

Ich lächelte sie etwas hilflos an, grüßte, stand auf, ging in die kleine Cafeteria und holte mir einen Cappuccino. In einer Ecke sah ich Lisaweta sitzen und setzte mich zu ihr. Anfang 50, müdes Gesicht. Grüner, kuscheliger Pullover. Cheflektorin und mehr. Nachdem wir so eine Weile ganz ruhig gesessen hatten, fing sie an zu erzählen. »Du erinnerst mich immer an die alten Zeiten«, sagte sie. »Heute ist das eigentlich alles kulturlos, was wir hier machen. Die da oben haben nur noch Zahlen im Kopf. Meinst du, die lesen noch Manuskripte? ›Die Geschichte des Gosch-Brötchens‹ soll es bringen oder ›Hinter den Knicks‹, verfilmt mit Dieter Porsche und Katia Pruncksheim. Verrückt. Aber dafür wird Geld ausgegeben.«

»Skudi wert ist nur, was Skudi bringt«, sagte ich. »Von wem?«

»Brecht, ›Leben des Galilei‹.«

»Schlagzeilen, Events, Poetry Slams! Stell dir Kleist vor auf einem Poetry Slam. Heute soll es glitzern. Blendwerk. Ich kann kaum noch schlafen. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich sinnlose Bilderreihen vor mir oder ich arbeite das Programm des Tages durch: Termine mit dem Controlling, Etatfragen. Oder mit irgendeiner Stadtgröße: Lisaweta, schreib doch mal schnell ein schönes Grußwort! Lies dir das mal durch! Kann ich das so machen? Nein sagen mag ich auch nicht. Wer weiß... Wenn ich morgens am Fenster stehe, meinen Milchkaffee schlürfe, merke ich, der Garten wird immer enger, der Zaun kommt immer näher...«

Ich sah sie an: »Verstehe. Wer kann da lustig sein, wenn’s einem an den Kragen geht. Steh auf. Komm mit mir. Etwas Besseres als den Tod findest du überall.«

Lange schwieg sie. Dann sagte sie: »Neulich erzählte ich Kathrin aus der Verwaltung – wir arbeiten nun schon Jahre zusammen –, dass ich mal ein ausgelassenes Frühstück mit Freunden machen möchte. ›Wen willst du denn da einladen?‹, fragte sie mich.«

Ich nahm ihre rechte Hand: »Wenn ich auf meinem täglichen Gang an den Häusern des Roten Kreuzes in der Nähe des Tierparks vorbeikomme und Schilder lese wie ›Gerontopsychiatrische Abteilung‹, dann denke ich, sei froh, solange du noch vorbeigehen kannst...«