Wofür es sich zu sterben lohnt - Schweden-Krimi - Åsa Nilsonne - E-Book

Wofür es sich zu sterben lohnt - Schweden-Krimi E-Book

Åsa Nilsonne

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Beschreibung

Der fünfte Monika-Pedersen-Krimi, bei dem die Ermittlungen die schwedische Polizistin nach Äthiopien führen: Als ein Junge erstochen aufgefunden wird, glauben alle, dass der äthiopische Mitschüler Theo der Täter war. Doch bevor Pedersen diesen befragen kann, setzen er und seine Mutter sich nach Addis Abeba ab. Pedersen folgt ihnen dorthin und macht eine wichtige Entdeckung. Schon bald wird auch klar, dass Theo und seine Mutter in Lebensgefahr schweben. Pedersen muss schnell handeln, um den Fall noch rechtzeitig zu lösen!Die fünf Kriminalromane rund um die ehrgeizige Stockholmer Polizistin Monika Pedersen kreisen nicht nur um spannende Fälle in bester skandinavischer Krimitradition, sondern handeln auch von ihrer persönlichen und professionellen Entwicklung.

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Åsa Nilsonne

Wofür es sich zu sterben lohnt - Schweden-Krimi

Deutsch von Gabriele Haefs

Saga

Wofür es sich zu sterben lohnt - Schweden-KrimiÜbersetzt Gabriele Haefs OriginalEtt liv att dö för Coverbild / Illustration: Shutterstock Copyright © 2007, 2020 Åsa Nilsonne und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726445091

1. Ebook-Auflage, 2020

Format: EPUB 2.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk

– a part of Egmont www.egmont.com

Die schwedische Originalausgabe erschien 2006 unter dem Titel »Ett liv att dö för« bei Forum, Stockholm.

PROLOG

Islamabad, Pakistan, 2004

»Ärzte sind sehr gut darin, anderen Menschen das Leben zu retten. Wenn sie sich selbst retten sollen, taugen sie nichts.«

So hatte sein neuer Arbeitgeber die Lage zusammengefasst.

Und seltsamerweise sollte sich diese Behauptung bewahrheiten.

Der junge Sicherheitsposten am Haupteingang des Krankenhauses hätte eine Hand ausstrecken und ihn anhalten können, so dicht war der Mann an ihm vorbeigegangen, aber der hatte nicht einmal aufgeschaut.

Die teuren Maschinen, die Leben retten sollten, blinkten nicht, als er vorbeischritt.

Er verlor sich unsichtbar im Strom von Patienten und Personal.

Es stimmt nicht, dachte er plötzlich, dass Krankheit und Armut überall gleich riechen. Er war zum ersten Mal in Pakistan, und die Körper, die sich gegen ihn pressten, hatten einen fremden Geruch. Er mochte diesen Geruch nicht, konnte auf solche Kleinigkeiten jetzt aber keine Rücksicht nehmen. Er wusste genau, wohin er musste. Zwei Treppen hoch, dann nach links. Er ging langsam, ließ sich mit dem Strom zur Röntgenabteilung treiben.

Er musste zur dritten Tür rechts, es war vierzehn Minuten nach drei. Vierzehn Minuten von Professor Deepak Chanandrapuris Telefonsprechstunde waren bereits vergangen. Vierzehn Minuten, die der Professor mit Sicherheit in seinem Zimmer verbrachte und wo er nun mit sehr großer Wahrscheinlichkeit allein war. Vor dem Zimmer leuchtete ein rotes Lämpchen.

Er schaute noch einmal auf die Uhr. Um Punkt Viertel nach drei drückte er auf die Klinke und ging hinein.

Es war wirklich viel zu einfach.

Professor Chanandrapuri saß mit dem Telefonhörer in der Hand an seinem Schreibtisch. Der Besucher hatte sich gut vorbereitet. Er hätte eine detaillierte Skizze des Zimmers anfertigen können. Er registrierte, dass alles so aussah wie einige Tage zuvor, als das Zimmer für ihn auf Video aufgenommen worden war.

Der Professor schaute auf, runzelte die Stirn und sagte ins Telefon:

»Ja, er ist gerade zur Tür hereingekommen. Das ist doch überflüssig, warum sind die Bilder nicht wie sonst geschickt worden?«

Der Mörder mit den blauen Augen ging auf den Professor zu, grüßte und war überrascht, dass der Professor mit seinem braunen Teint leuchtend blaue Augen hatte, ebenso blau wie seine eigenen Augen hinter den braunen Kontaktlinsen. Er überreichte einen steifen Umschlag und staunte, weil der Professor noch immer keine Angst zeigte. Noch so ein arroganter Arsch.

Das würde er bald bereuen.

Der Professor sagte gerade:

»Wenn das wirklich nötig ist, kann ich sie mir sofort ansehen. Warten Sie einen Moment.«

Er legte den Hörer hin, zog aus dem soeben erhaltenen Umschlag einige Röntgenbilder, stand auf und klemmte sie an einen Leuchtschrank, der sie von hinten beleuchtete. Es waren gespenstische grauweiße Bilder von menschlichen Körperteilen.

Der Professor kehrte dem Besucher den Rücken, wie einem Bekannten. Als wisse er, dass er nichts zu befürchten habe. Er schien auf einem Bild ein interessantes Detail zu entdecken und beugte sich vor.

Währenddessen streifte der blauäugige Mörder rasch dünne Latexhandschuhe über.

Selbst schuld, dachte er, als er zu der grapefruitgroßen, geschliffenen Kristallkugel auf dem Schreibtisch des Professors griff – ein Preis der Internationalen Radiologischen Vereinigung. Er bewegte sich rasch, zielgerichtet, und der Professor konnte seine Bewegung nur noch kurz registrieren, ehe die schwere Kugel seinen Hinterkopf traf und er lautlos zusammenbrach.

Der Mörder mit den blauen Augen stellte die schwere Glaskugel vorsichtig zurück und zog dann eine noch verpackte Wäscheleine aus seiner Hosentasche. Mit zwei raschen Knoten knüpfte er zwei Schlaufen, eine kleine und eine große. Dann zog er die glatte weiße Leine durch die große Schlaufe und erhielt so eine Schlinge, die er dem Professor um den Hals legte. Er schob die rechte Hand durch die kleine Schlaufe, packte die Leine und zog daran. Die Leine glitt fast reibungslos an Ort und Stelle. Sie schnitt tief in die nach Rasierwasser duftende weiche Haut des Professors ein, sie zerquetschte die Ader, die lebenswichtigen Sauerstoff zum Gehirn transportiert, und langsam nahte der Tod des Professors.

Der Mörder wickelte die Leine noch einmal um den Hals des Professors und machte einen Knoten.

Er würde jetzt sieben Minuten warten müssen, um sich seiner Sache ganz sicher sein zu können.

Während er wartete, zog er ein kleines Bündel von Zehndollarscheinen aus einer Plastikmappe. Sie waren neue, ungefaltete Scheine, sie wiesen keinerlei Fasern aus seiner Tasche oder irgendwelche Fingerabdrücke auf. Er verstreute sie auf dem in sich zusammengesunkenen Körper des Professors. Er fand das unnötig theatralisch, aber sein Auftraggeber hatte eben zu bestimmen. Wenn dieser die Leiche mit Dollarnoten dekoriert haben wollte, ja, dann bekam er seine Dollarnoten.

Er nahm die Röntgenbilder vom Leuchtschrank, schob sie wieder in den Umschlag und zog die Handschuhe aus.

Dann ging er zum Telefonhörer. Mit dem Zeigefingernagel tippte er dreimal gegen die Sprechmuschel und hörte ein Klicken, als die Verbindung unterbrochen wurde.

Der Auftrag war ausgeführt.

Der Hörer sollte liegen bleiben. Der Anruf war über die Telefonzentrale gelaufen und konnte nicht zurückverfolgt werden.

Das Ganze hatte nur zehn Minuten gedauert, und es würde mindestens weitere fünfunddreißig Minuten dauern, bis jemand sich ins Zimmer des Professors wagte.

Er ging wieder hinaus auf den geschäftigen Gang und spazierte langsam zurück zu dessen Ende. Er musste sich Mühe geben, um langsame Schritte zu machen. Schließlich erreichte er den Fahrstuhl, und bald befand er sich draußen auf der Straße, auf dem Weg zum Flughafen.

Er hatte bisher nicht gewusst, dass es in seinem Metier Sinekuren gab, leichte und ungefährliche Arbeiten, für die sehr gut bezahlt wurde.

Genf, 2002

Zu spät.

Sie kam zu spät. Schon wieder. Sie unterdrückte den Impuls, sich zu beeilen – alle Ansprüche an sie mussten schließlich irgendwo eine Grenze haben.

Stattdessen schlenderte sie langsam in den dunkler werdenden Abend hinaus.

Als sie endlich die Wohnungstür aufschob, sah sie, dass die Luft drinnen grau vor Rauch und gelb vor Bier war.

Das war unmöglich. Der schwere Biergeruch konnte doch nicht sichtbar geworden sein?

»Mariam! Bist du das?«

Sie gab keine Antwort, sondern lief in die Küche und fing an, mit den Kochtöpfen zu klappern. Das würde ihn sicher beruhigen – das Geräusch einer Frau, die, wenn auch verspätet, Essen kocht.

Aber nein. Plötzlich stand er in der Tür, obwohl es im Fernsehen Fußball gab.

Ungewaschen, angetrunken, teilnahmslos.

»Und was zum Teufel war in diesem Scheißkrankenhaus diesmal wieder wichtiger als deine Familie?« Seine unsichere Stimme klang so verloren wie er selbst. »Brauchte Seine Hoheit der Professor deine Hilfe? Oder ein armer Trottel, der nicht in Ruhe sterben durfte? Irgendein hilfloses Wrack, das du noch bis zur letzten Sekunde quälen musstest?«

Er kam schwankend auf sie zu. Sie wich zurück. Er beugte sich zu ihr vor, redete auf sie ein, sein Gesicht war viel zu dicht an ihrem, seine Stimme viel zu laut.

»Du hast die Chance deines Lebens. Ich dagegen habe kein Leben. Ich muss den Babysitter eines Fünfzehnjährigen spielen, der nie zu Hause ist. Und dir ist das egal, denn du denkst nur an dich.«

Sie konnte nicht weiter zurückweichen, der Küchentisch bohrte sich in ihre Oberschenkel, in ihren Ohren kreischte es. Er kam noch immer auf sie zu, bald würde sich sein ganzer heißer, ungewaschener Körper an ihren drücken.

Sie brüllte zurück:

»Schrei mich nicht an. Und meine Schuld ist es nicht, dass du nichts zu tun hast. Kann ich dafür, dass du den ganzen Tag auf dem Sofa sitzt und rauchst? Und was glaubst du eigentlich, wie schön das Nachhausekommen ist?«

Wieder hatten sie eine oft betretene Sackgasse erreicht.

Sie versuchte, ihn wegzuschieben.

»Mach, dass du wegkommst. Du zerquetschst mich ja. Und du stinkst schlimmer als ein Penner.«

Sie sah seine Hand nicht kommen, sie spürte nur den Knall des Trommelfells, das tief in ihrem einen Ohr barst, merkte, wie die Kraft seines Schlages sie an die Wand presste. Ausnahmsweise war ihm ein Volltreffer gelungen.

Danach geschah etwas ganz Neues, etwas, das ihr größere Angst machte, als er selbst ihr einjagen konnte. Die Wut, die sie Monat für Monat unterdrückt hatte, überwältigte sie jetzt. Sie durchjagte sie, rasch wie elektrischer Strom, und riss die Herrschaft an sich.

Sie ließ sie den nächstbesten Gegenstand an sich reißen, ein Schneidebrett, und, so hart sie konnte, damit gegen seinen Kopf schlagen.

Die Schuldgefühle, die sie bisher abgehalten hatten, waren verflogen. Die Liebe war verflogen. Die Gedanken an Gesetze, Verbrechen und Strafe waren verflogen.

Sie wollte ihn nur noch vernichten. Wollte sein schweißnasses Gesicht loswerden, seinen abstoßenden Körper.

Sie versuchte, ihn zu erschlagen.

Aber der Schlag war schwach und schlecht gezielt. Das Brett war alt, es landete an seiner Wange, es zerbrach, und sie hörte sich mit neuer schriller Stimme schreien:

»Verschwinde! Verschwinde!«

Er stand ganz still da, überrumpelt. Dann hob er langsam die Hand an die aus einer Schramme blutende Wange.

Er betastete das heiße Blut zuerst mit den Fingerspitzen, dann mit der ganzen Hand, als könne er nicht glauben, was da passiert war. Sein Gesicht wurde mit Blut beschmiert. Der metallische, warme Geruch füllte die Luft.

Das Blut hob ihren Zorn für einen Moment auf. Sie sah sich von außen, an den Tisch gelehnt, keuchend, mit einem zerbrochenen Schneidebrett in der Hand, um noch einmal zuzuschlagen. Sie sah ihn dicht vor sich stehen, während das Blut über sein Gesicht strömte. Sie sah, wie das Blut schwer auf den Boden tropfte.

Das alles konnte doch einfach nicht möglich sein?

So schlimm konnte es doch einfach nicht kommen, für sie, für ihn und für sie beide?

Aber offenbar war es doch möglich, denn er packte ihre Oberarme, ihre hellrosa Bluse färbte sich mit seinem Blut, und sie versuchte, sich loszureißen.

Das ging nicht.

Wie konnte er noch immer so stark sein? Sie würde blaue Flecken bekommen, dachte sie noch, große blaue Flecken an den Armen.

Ihre Wut war in voller Stärke wieder da. Er stand so dicht vor ihr, dass sie ihn nicht treten konnte, sie konnte ihr Knie nicht in die Stelle rammen, wo es am schmerzhaftesten war. Sie konnte ihre Arme nicht bewegen.

Deshalb beugte sie den Kopf vor und bohrte die Zähne in seine Hand. Ihre Zähne versanken in der Haut, schlossen sich um das dünne Skelett der Hand. Sie biss mit aller Kraft zu. Er brüllte vor Schmerz und ließ los, trat einen halben Schritt zurück.

Sie spuckte aus – auch sie hatte jetzt Blut im Mund.

Dann stieß sie ihn so hart an, wie sie nur konnte ― er taumelte rückwärts, knallte gegen den Herd, richtete sich auf, schaute verwirrt seine verletzte Hand an. Richtete dann seinen trüben Blick auf sie.

Und fiel wieder über sie her.

Diesmal war sie besser vorbereitet – sie bohrte ihm die Faust in den Bauch, er krümmte sich, und sie stieß ihn um.

Danach trat sie ihm in die Rippen. Sie balancierte auf dem rechten Fuß, zog den linken zurück und ließ ihn gegen seinen Brustkorb knallen, so hart, dass ihr Fuß knackte.

Sie hatte das Gefühl zu fliegen, den besten Rausch aller Zeiten zu erleben, sich aus einer Betonfessel befreit zu haben.

Aber er streckte die Hand aus, packte ihren Fuß und riss daran. Sie stürzte, und er wälzte sich über sie, drückte sie mit seinem Gewicht zu Boden.

»Ich bring dich um . . .«

Seine Stimme war heiser, heiß.

»Idiot! Das kannst du nicht, lass mich los.«

In ihrer Stimme lang nicht sehr viel Furcht, eher Verachtung.

Ihm fiel nichts Besseres ein, als zu wiederholen:

»Ich bring dich um!«

Und über seiner Schulter sah sie plötzlich Theo, ihren Sohn. Seine angstvollen Augen nahmen sein ganzes schmales Gesicht ein.

Wann war er nach Hause gekommen?

Theo packte Mikael an der Schulter und versuchte, ihn rückwärtszuziehen, aber Mikael war zu schwer.

Sie sah, wie Theo die Hand nach dem Messerblock ausstreckte und ein scharfes kleines Messer hervorzog, das im Licht funkelte. Sie sah ihn da stehen, voller Angst und unschlüssig mit dem Messer in der Hand. Sie versuchte ihm zuzurufen, er solle es weglegen, die Lage sei nicht so gefährlich, wie sie aussähe.

Ihre Stimme gehorchte ihr nicht.

Mikael erhob sich auf die Knie, schaute sich um, kehrte Theo ein Gesicht zu, das aussah wie eine rotbraune Maske, und schrie:

»Du bist also auch gegen mich!«

Und dann richtete er sich unsicher auf und versuchte, Theo das Messer wegzunehmen. Theo wich zurück, noch immer das Messer in der Hand. Mikael packte Theos Hand, in der das Messer drohend funkelte. Theo versuchte sich loszureißen. Sein dünner Körper stemmte sich Mikael entgegen, der geriet ins Schwanken, und plötzlich hatte das Messer eine lange Wunde in Theos anderen Arm geschnitten.

Die Innenseite des Armes war, vom Ellbogen bis zum Handgelenk, aufgeschlitzt wie ein Fischbauch.

Jetzt geschah alles in Zeitlupe.

Niemand sagte etwas, niemand bewegte sich. Im ganzen Zimmer gab es nur eins, das sie sahen, nämlich Theos Unterarm. Der dunkelrote Muskel war freigelegt, kleine Blutperlen bildeten sich wie makabere Dekorationen an den Rändern der Wunde.

Mikael ließ langsam los, schlug die Hände vor sein blutiges Gesicht und sank zu Boden. Seine Schultern bebten.

Mariam erhob sich vorsichtig. Ihre eine Schulter tat weh, ihre Hüfte, aber alles schien zu funktionieren.

»Ist schon gut, Lieber«, log sie. »Ist schon gut.«

Aber Theo war wie gelähmt. Er hielt noch immer das Messer in der rechten Hand, der linke Arm war ausgestreckt, wie um ein Geschenk entgegenzunehmen. Er blutete überraschend wenig.

Das Einzige, was im Zimmer zu hören war, war Mikaels röchelnder Atem.

Ich muss etwas tun, dachte Mariam. Wie immer bin ich diejenige, die etwas tun muss.

Ich muss etwas finden, womit ich die Wunde verbinden kann. Sie hatten doch sicher Verbandszeug im Haus? Im Badezimmer?

Sie stürzte los und traf auf ein groteskes Spiegelbild. Sie hatte Blut am Mund, am Kinn, und ihre Zähne waren rosa. Sie nahm sich die Zeit, sich zu waschen, ehe sie in die Küche zurückging und Theos Arm verband.

Sie sprach zu ihm wie zu einem kleinen Kind.

»Das wird alles gut werden. Jetzt fahren wir ins Krankenhaus, da können sie alles in Ordnung bringen. Alles wird gut, Theo, Lieber. Mach dir keine Sorgen. Sag Bescheid, wenn es wehtut. Bin gleich so weit. Sehr gut. Jetzt rufe ich ein Taxi.«

Im Krankenhaus nähte ein Kollege Theos Arm. Er schien die Erklärung zu glauben, dass er geschnitzt und dabei mit dem Stuhl gekippelt habe, der Stuhl sei umgekippt, und er sei auf das Messer gefallen. Er schien zu glauben, dass Mariams Zähne klapperten, weil sie sich um Theo Sorgen machte.

Die folgenden zwei Tage verbrachten sie in einem Hotel. Mariam sorgte dafür, dass Mikael seine wenigen Habseligkeiten packte und nach Hause fuhr, zurück nach Addis Abeba. Sie sprach ebenso mit sich selbst wie mit Theo, wenn sie sagte, es werde jetzt besser werden, und auch Papa werde es besser haben, zu Hause, wo er Freunde und Familie hatte.

Theo selbst wollte nicht über das Vorgefallene sprechen. Er aß nicht viel, schien kaum zu schlafen, fügte sich aber all ihren Vorschlägen ohne Widerworte.

Später betrachtete Mariam das alles als schicksalhaften Wendepunkt. Warum hatte sie nicht die Wahrheit gesagt?

Warum hatte sie Theo in dem Glauben gelassen, sie gerettet zu haben? Die Wahrheit war, dass er eine traurige und unnötige Komplikation verursacht hatte.

Warum hatte sie Theo glauben lassen, dass sie sich vor Mikael fürchtete, wo die Wahrheit doch die war, dass sie Angst vor sich selbst hatte? Wo die Wahrheit war, dass sie bereit gewesen war, Mikael umzubringen. Nur für einen Moment, aber mehr als ein Moment ist ja auch nicht nötig.

Sie hatte diese Lüge für ungefährlich gehalten. Sie hatte geglaubt, die Lüge sei schonender als die Wahrheit und deshalb besser. Sie hatte geglaubt, die Lüge spiele keine Rolle.

Ohne Mikael wurde der Alltag ruhiger. Niemand wurde laut, niemand ließ Gegenstände fallen, die zerbrachen und daran erinnerten, wie zerbrechlich das meiste im Leben ist. Aber ganz verschwunden war er nicht. Niemand setzte sich in seine durchgesessene Ecke auf dem Sofa, und Mariam glaubte bisweilen, seine müden Umrisse in irgendeiner vom Licht nicht richtig erfassten Ecke zu ahnen. Sein Auszug schien so plötzlich gekommen zu sein, dass nicht der ganze Mikael hatte folgen können.

Sie hatte den Verdacht, dass auch Theo manchmal Mikael sah, aber sie stellte keine Fragen. Es war besser, das Geschehene hinter sich zu lassen.

Mit der Zeit würde alles besser werden.

Nach zehn Tagen wurden die Fäden gezogen. Die Wunde war verheilt, aber Theo musterte erschrocken seinen Unterarm, wo die Haut geschwollen war und die rote Narbe noch immer zu bluten schien. Mariam versuchte, ihn damit zu trösten, dass die Narbe mit der Zeit verblassen würde, wie das mit allen unseren Verletzungen geschieht. Sie wusste, dass sie log. Manche Narben wachsen nur, sie bilden am Ende dicke Klumpen aus blankem, stark durchblutetem Gewebe, das sich operativ nicht entfernen lässt.

Daran wollte sie nicht denken. Sie hatte jetzt keine Zeit zum Grübeln.

Sie sammelte Wissen mit der Besessenheit einer einsamen Goldsucherin. Voller Engagement, stur, so lange sie nur konnte und danach noch etwas länger. Sie näherte sich dem Ende ihres Dienstes an einer der bestausgerüsteten Röntgenabteilungen der Welt und musste jede Minute ausnutzen. Wenn ihr ab und zu der Gedanke kam, sie müsste mehr Zeit mit Theo zu Hause verbringen, tröstete sie sich damit, dass sie für ihn arbeitete. Für ihn und alle Kinder in ihrer Heimat, die eine Zukunft brauchten, an die sie glauben konnten.

Sie glaubte, dass Theo zurechtkam. Sie ging davon aus, dass er auf dem richtigen Weg war, trotz des Anrufs von Ulla Andersson, die zwei Stock weiter oben in dem Haus mit Dienstwohnungen wohnte und deren Sohn Theos bester Freund war.

Ulla hatte nach einigen Wochen gefragt, was eigentlich mit Theo los sei. Der sei seit dem Unglück nicht mehr er selbst, fand sie. Ob sie etwas tun könne?

Mariam fiel nichts ein, sie bedankte sich nur noch einmal dafür, dass Theo so oft bei Familie Andersson sein durfte. Das sei jetzt besonders wichtig, wo Mikael ja nach Hause gefahren war.

Und Ulla sagte, wie immer, Theo sei wirklich willkommen. Es sei ein Vergnügen, ihn bei sich zu haben. Sie erzählte, er habe jetzt angefangen, mit ihrem jüngsten Sohn, der kein Englisch konnte, Schwedisch zu sprechen.

Mariam versuchte, nicht an Mikael zu denken. Das machte sie nur wütend und war nutzlos. Er hatte seinen Teil der Verabredung nicht eingehalten. Sie würde arbeiten, er würde sich für anderthalb Jahre um Theo kümmern. Das wäre ja nicht zu viel verlangt gewesen.

Aber jetzt war alles langsam auf dem Weg der Besserung.

In einem der vielen teuer ausgestatteten Personalräume des Krankenhauses wischte sich die sommersprossige Assistenzärztin ungeduldig eine Träne ab und machte noch einen Versuch.

»Doktor Mariam, Sie waren die beste Lehrerin, die wir in diesem Jahr gehabt haben.«

Ihre Stimme wurde ein wenig stärker.

»Wir haben gesehen, wie hart Sie gearbeitet haben. Das war nützlich, vor allem für manche . . .« Sie wartete, bis ihre Kollegen mit Kichern aufgehört hatten, dann fügte sie hinzu:

»Sie sind wirklich irgendwie unser Vorbild . . .«

Und dann errötete sie und hielt Mariam ein Päckchen hin.

Mariam, die schon oft solche Danksagungen erlebt hatte, lächelte und umarmte die junge Kollegin.

Der Professor hatte schon einige freundliche Worte gesagt, die Röntgenassistentinnen hatten einen Blumenstrauß überreicht, der Abschied dauerte jetzt ein wenig lange.

Sie musste nur noch die Tasche aus ihrem Zimmer holen. Schon am Morgen hatte jemand das Schild weggenommen, das dreimal neu geschrieben hatte werden müssen, bis es endlich richtig gewesen war. Doktor Mariam GebreSelassie.

Das kleine Zimmer wartete jetzt in abgeschälter Neutralität darauf, durch den nächsten Stipendiaten aus der so genannten Dritten Welt mit Farbe und Persönlichkeit gefüllt zu werden. Wenn es eine Frage der Geschichte der Menschheit wäre, dachte Mariam oft, dann wären die USA ungefähr die 24. Welt. Und Äthiopien die erste, denn von dort stammten alle Menschen.

Sie wurde durch Mike aus ihren Gedanken gerissenen, einen philippinischen Kollegen, der ihr im Gang entgegenkam. Er ging, als gehöre ihm das ganze Krankenhaus.

»Du haust jetzt also ab. Stimmt es, dass dir ein Posten in Kanada angeboten worden ist und dass du abgelehnt hast?«

Mariam nickte kurz. Sie konnte eingebildete Menschen nicht leiden, schon gar nicht, wenn sie noch dazu inkompetent waren.

»Aber hast du denn den Verstand verloren? Das kannst du doch nicht machen.«

Sie wollte weitergehen, aber er trat ihr in den Weg.

»Wie kannst du in dein Drecksland zurückgehen, das noch nie einen Röntgenapparat besessen hat, der nicht anderswo schon längst als unmodern galt? Warum hilfst du einem erbärmlichen, korrupten Regime, das seinen Bürgern nicht einmal Wasser und Essen verschaffen kann? Für so dumm hätte ich dich nicht gehalten, Mariam.«

Mariam grinste so hämisch, wie sie nur konnte.

»Mike. Nicht alle wollen weg von zu Hause, bloß weil du das willst. Was mein Heimatland angeht, hast du offenbar keine Ahnung. Wenn du selbstkritischer wärst, wären auch deine Röntgendiagnosen von höherer Qualität. Und dann würde vielleicht auch dir ein Posten in Kanada angeboten.«

Einen sie zufrieden stellenden Augenblick lang sah er aus, als ob er sie niederschlagen wollte. Er riss sich mit sichtlicher Anstrengung zusammen und begnügte sich damit, mit aufgesetztem Pessimismus zu sagen:

»Du weißt nicht, was für einen Fehler du da machst.«

Dann ging er, blieb dann aber stehen, drehte sich halbwegs um und rief über seine Schulter:

»Du weißt nicht, wie sehr du das bereuen wirst!«

Mariam streckte ihm die Zunge heraus.

Darauf hatte er keine Antwort.

Addis Abeba, Äthiopien, 2004

Mariams Schreibtisch war aus Holz und ziemlich klein. In einem anderen Leben konnte er ein Esstisch gewesen sein, er hätte auch in einem Mädchenzimmer oder einem Laden stehen können. Aber jetzt beherbergte er eine bunte Mischung aus Krankenberichten, Büchern und Stiften in ihrem Büro in dem kleinen Krankenhaus, in dem sie jede Woche einen Tag arbeitete. Ihre Sekretärin brachte die Post und einen duftenden kleinen Macchiato.

Genf in allen Ehren, aber die Schweizer konnten ihren Ärzten einfach keinen guten Kaffee bieten. Und sie hatten vor ihren Fenstern auch keine schönen dunkelgrünen Eukalyptusbäume. Mariam öffnete das Fenster um noch einige Zentimeter. Auch das hätte sie im Krankenhaus in Genf nicht machen können. Die Fenster dort hatten sich nicht öffnen lassen.

Jetzt saß sie im Erdgeschoss. Durch das offene Fenster hörte sie das leise Stimmengemurmel aus dem großen Wartezimmer auf der anderen Seite des kleinen Innenhofes, sie hörte Vögel, die flirteten, lockten und warnten. Alle anderen Geräusche wurden übertönt vom schrillen Geschrei eines der vielen Esel der Stadt, der etwas zu sagen hatte, das nur seine Artgenossen verstehen konnten.

Sie schloss für einen Moment die Augen und lauschte. Sie war an genau dem richtigen Platz. Sie dachte an Mike, der sich so geirrt hatte.

Es war nämlich alles gut geworden. Fast vollkommen.

Sie sah ihre Post durch. Da lag wieder ein länglicher weißer Umschlag, mit ihrem Namen in großer, flüssiger Handschrift versehen. Sie lächelte, schüttelte ein wenig den Kopf und zog die Karte heraus, auf der geschrieben stand:

Mariam!

Mariam! Mariam! Mariam! Mariam!

Dein

S. A.

PS: So sieht es im Moment in mir aus. Iss mit mir zu Abend, oder zu Mittag, oder was immer du willst.

Sie drehte die Karte um und noch einmal um, las sie langsam und horchte auf ihre eigene Reaktion.

Zeigte sie Interesse?

S. A. war Salomon Assefa, und sie hatten sich zehn Tage zuvor auf einem Fest kennengelernt. Sie hatte gewusst, wer er war. Die Salomon-Assefa-Show war eine der meistgesehenen Fernsehsendungen des Landes. Wenn etwas passierte, war Salomon zur Stelle. Er war sympathischer gewesen, als sie sich vorgestellt hatte. Aber Abendessen? Mittag?

Warum nicht? Seit ihrer Rückkehr aus Genf verbrachte sie all ihre Zeit damit, zu arbeiten und ihr Leben zu organisieren. Sie hatte ihren Bruder ausbezahlt und das gemeinsame Haus hinter der britischen Botschaft übernommen. Theo war auf die beste Schule der Stadt gekommen.

Ihr Chef hatte recht gehabt – sie konnte jetzt mehr verdienen. Ihre neuen Kenntnisse hatten einen hohen Marktwert, und sie war immer schon bereit gewesen, hart zu arbeiten. Während dieser Zeit hatten Männer gelegentlich durchaus herauszufinden versucht, ob sie zugänglich sei. Aber sie hatte sich diese Männer durch Selbststeuerung vom Leib gehalten, ohne Engagement. Bei Salomon war das anders – er hatte ihr Interesse geweckt.

Aber sie wollte jetzt nicht an ihn denken, ein Assistenzarzt hatte sie um Hilfe gebeten, und sie hatte versprochen zu kommen, sowie sie ihre Post geordnet hätte.

Als sie die Röntgenbilder durchgesehen hatten, fragte der Assistenzarzt:

»Stimmt es, dass in Genf alle Apparate funktioniert haben?«

Mariam nickte.

In dem kleinen Krankenhaus waren viele Geräte defekt. Die schweren Apparate standen zumeist noch immer dort, wo sie ihren Geist aufgegeben hatten, teilweise auseinandermontiert, wie zerfallene Dinosaurierskelette. Der Assistenzarzt strich vorsichtig über eine Reihe von Hebeln, die an nichts mehr angeschlossen waren.

»Ich finde die schön«, sagte sie. »Auch wenn sie nicht funktionieren.«

Dann stellte der Assistenzarzt erwartungsvoll die allwöchentliche Frage:

»Gibt es etwas Neues über das Röntgenzentrum?«

Mariam lächelte.

»Ja. Ich habe jetzt einen Überblick über das Patientenpotenzial, und das sieht richtig gut aus. In fast allen Nachbarländern besteht großes Interesse. Es gibt Leute genug, die eine Untersuchung brauchen, die aber kein Visum für die Länder bekommen, in denen solche Untersuchungen durchgeführt werden. Es besteht kein Mangel an Leuten, die es sich leisten könnten, herzukommen und viel zu bezahlen.«

Der Assistenzarzt hob den Daumen.

»Wenn wir nur die Finanzierung schaffen«, sagte Mariam dann. »Später möchte ich Ausbildungsplätze an ausländische Röntgenärzte verkaufen. Dann hätten wir plötzlich Geld genug – wir könnten erweitern, mehr Leute mit Spitzenkompetenz einstellen. Jetzt suche ich gerade einen gutklingenden Namen. Was hältst du von ›The Black Lion Radiology Centre‹?«

Der Assistenzarzt nickte enthusiastisch, und Mariam lächelte. Jetzt würde sie bald hier an ihrem Heimatort erstklassige Röntgenausbildung anbieten können, eine international anerkannte Fachausbildung in Radiologie. Dann würde Geld ins Land strömen. Patienten und Kollegen in Ausbildung würden in den Hotels der Stadt wohnen, in den Restaurants essen. Sie würden Taxi fahren und Waren einkaufen. Arbeitsplätze würden geschaffen werden.

Mike, der neidische Filipino, hatte die Kraft von Visionen nicht vorausgesehen.

Am Abend fuhr sie durch die aufkommende Dämmerung nach Hause, bis die Lichter eingeschaltet wurden und Addis Abeba zu funkeln und zu glitzern begann. Die angestrahlten Früchte an den Verkaufsständen glühten in der weichen Dämmerung, und die Hunde fingen an, durch die Nacht zu streunen.

Das war ihre Lieblingstageszeit.

Wenn die hohen Bäume vor der britischen Botschaft sich als schwarze Löcher vor dem reich bestirnten Nachthimmel abzeichneten, wenn die Fledermäuse wie kleine Zipfel aus samtiger, geschmeidiger Dunkelheit herumflitzten.

Sie war auf dem Weg zu ihrem eigenen Haus mit fünf Zimmern und einem geräumigen Garten. Auf dem Weg zu ihrem Sohn, der abends größer wirkte als morgens.

Sie hatte außer Mikael fast alles im Griff. Er war zu seiner Familie nach Nasaret gezogen, nur einige Fahrstunden von Addis Abeba entfernt, aber sie hatten sich noch immer nicht wiedergesehen. Über gemeinsame Freunde hatte sie gehört, dass seine Familie fand, sie vernachlässige ihn. Sie hatte die Sache auf sich beruhen lassen. Tagsüber war sie voll ausgelastet, abends auch. Das andere hatte Zeit.

Es kostete zwar Energie, nicht an Mikael zu denken, aber es kam ihr viel komplizierter vor, sich allen alten Beleidigungen stellen zu müssen. Außerdem verabscheute Mariam Schuldgefühle. Sie dachte oft vage, dass zuerst die Zeit ihre Arbeit tun solle. Sie war doch die beste Ärztin, die geduldigste Vermittlerin von allen.

An diesem Abend dachte sie an Salomon und seine Briefkarten in den langen, schmalen Umschlägen.

Wie mochte ein Mensch sein, der über die Medien ein unbekanntes Publikum umwarb? Der verführerisch lächeln konnte, hingegossen auf seinem breiten Bett, für jeden Mann, jede Frau und jedes Kind, die die Zeitung aufschlugen? Salomon ließ sich mit rassigen jungen Frauen in Nachtclubs fotografieren, er pflegte ein Rockstarimage, das sie arrogant und albern fand. Sicher, er war sexy, aber es störte sie, dass er sich so schamlos anbot.

Und doch war er sympathisch gewesen. Bescheiden und witzig. Sie fand seine Sendungen außerdem sehr gut. Vielleicht arbeitete er an einem Image – einem Alter Ego für die Allgemeinheit? Vielleicht brauchte er eine Fassade, hinter der er sich verstecken konnte? Warum sollte er sich sonst plötzlich für sie interessieren, eine alleinstehende Mutter, die fast die Mitte des Lebens erreicht hatte und die in einer anstrengenden Arbeit aufging?

Als habe Salomon ihre Gedanken gelesen, kam die nächste Karte ins Universitätskrankenhaus, wo sie vier von fünf Tagen arbeitete.

Mariam!

Halte mich nicht für einen oberflächlichen Menschen, der von Glitzerkram verführt wird. Nicht ich habe dieses Bild erschaffen.

Ich sehne mich gerade nach Dir.

Dein S. A.

Würdest Du mit mir zu Abend essen? Lade mich ein. Lass mich Dich einladen!

Und sie überlegte, dass es doch nichts schaden könnte, mit ihm essen zu gehen. Dass sie nicht alles glauben wollte, was über ihn gesagt wurde, denn wie kann man sich vor Gerüchten schützen, die durch die insgeheim gehässigen Münder sickern?

Also nahm sie dankend an. Er war größer als in ihrer Erinnerung, er duftete und war frisch geduscht. Er war unterhaltsam, sprach aber nur wenig über sich.

Er interessierte sich für ihre Träume, ihr Leben, ihre Arbeit.

»Eine Röntgenärztin zu sein«, sagte sie und merkte, wie sie unter seinem aufmerksamen Blick aufblühte, »bedeutet, die Menschen im wahrsten Sinne des Wortes durchschauen zu können. Festzustellen, was ihnen fehlt, ohne sie auch nur kennengelernt zu haben.«

Sein schmales Gesicht war konzentriert, seine feuchten Augen auf sie gerichtet.

Sie erzählte von ihrer Zeit in Genf, von der Magnetkamera. Sie lachten gemeinsam darüber, dass sie Angst gehabt hatte, Europäer könnten von innen anders aussehen und sie würde sich deshalb in deren Anatomie verirren.

Und als sie das nächste Mal essen gingen, nahm er ihre Hand und hielt sie fest, und Schauer jagten über ihren Rücken. Sie ließ es geschehen, vielleicht war es an der Zeit.

Trotzdem hatte sie sich an seiner Seite wie eine Gazelle verhalten – bereit, davonzustürzen, sich bei der kleinsten Bedrohung in Sicherheit zu bringen.

Aber er hatte ihr keine Angst gemacht. Sie waren bei ihm gelandet, und dort stand wirklich das riesige Bett, das in der Presse zu sehen gewesen war. Es war bedeckt mit einer verschlissenen Tagesdecke aus Zebraimitat, die sich auf Fotos um einiges besser machte. Und da waren die Flecken auf der Oberdecke, die sie davon überzeugten, dass er ein Mann wie alle anderen war, keiner, vor dem sie sich fürchten müsste. Diese Flecken, die sie unter sich gehabt hatte, als sie entdeckte, wie anders sein Körper war als Mikaels. Sie strich über seinen langen Rücken, dessen Haut weicher war, seine Schultern, die schmaler waren, seine Arme, die länger waren.

Und er kniff die Augen zu, während Mikael sie angesehen hatte, und das war beruhigend und ungewohnt.

Ihr Körper überraschte sie mit seiner Begeisterung. Konnte es daran liegen, dass das letzte Mal so lange her war? Oder lag es an ihm?

Am nächsten Tag erreichte sie kein Brief, und sie war enttäuscht, aber am Tag darauf schrieb er:

Mariam!

Verbring den Rest deines Lebens mit mir. Oder ein Wochenende in Bishangari. Ich nehme, was ich bekommen kann.

Ungeduldige und erwartungsvolle Grüße!

S.A.

Und es folgten weitere Abende unter und auf der schwarzweißen Tagesdecke. Ihm wurde es nie zu viel, sie über ihre Arbeit sprechen zu hören, was für sie so neu war, dass sie ihn dafür fast liebte. Er konnte ihre Vision sehen, er teilte ihre Leidenschaft für die Veränderung, und er hatte keine Auswanderungspläne. Ihr Körper hatte sich seinen bereits voller Begeisterung angeeignet. Ihre Psyche war da schon abwartender, fühlte sich aber von seiner Energie angezogen, seinem Wunsch, mehr zu tun, als zu klagen.

Theo sagte sie nichts davon.

Am Ende lud sie ihn zum Essen zu sich ein.

Er hatte sie geküsst und gesagt, er wolle wissen, wie sie wohne, um immer an sie denken zu können. Er hatte traurig gesagt, sie sperre ihn aus ihrem Leben aus, während er ihr seins bedingungslos geöffnet habe. Also musste sie ihm ihr Zuhause zeigen, obwohl sie wusste, dass es zu früh war.

Der Abend war dann ein voller Erfolg.

Theo war höflich, aber abwartend. Salomon konnte durch Charme das bekommen, was andere kaufen, stehlen oder sich durch Drohungen aneignen mussten. Er hatte von den Vorentscheidungen zur Miss-Ethiopia-Wahl berichtet, die er leiten sollte, und am Ende hatte auch Theo sich vor Lachen ausschütten wollen.

Salomon, der ein rastloser Mensch war, wirkte ungewöhnlich entspannt. Nach dem Essen hatte er eine Runde durch den Garten gedreht und mit dem Wächter und dem Gärtner, die noch herumlungerten, Witze gerissen. Er hatte in die Küche geschaut und mit der strengen Köchin Ierusalem geschäkert. Mit den beiden schüchternen Mädchen, die im Haus halfen, hatte er so leise und behutsam gesprochen, dass sie sich am Ende getraut hatten, aufzuschauen, seinen Blick zu erwidern und zu antworten.

Am Ende hatte er sich auf Mariams fast neues Sofa gesetzt und sich zurücksinken lassen, wodurch das Sofa kleiner aussah als vorher.

»Vergiss nicht, mir dein Schlafzimmer zu zeigen. Ich will wissen, wo du schläfst, wenn du nicht bei mir bist. Ich muss deine Laken berühren, ich will wissen, wie das Zimmer riecht . . . es riecht sicher gut, so wie du . . .«

Sie hatte die Tür zu dem kleinen, in Weiß und Rosa eingerichteten Schlafzimmer aufgeschoben. Die Jungfrau Maria und das Jesuskind hinten an der Wand, über dem Schreibtisch, wo ihr Mac stand, das neueste Modell mit einem Zwanzig-Zoll-Flachbildschirm, dazu eine Reihe von radiologischen und anatomischen Fachbüchern.

»Klasse Rechner«, sagte er, und sie antwortete: »Vor allem sehr scharf und mit hoher Auflösung. Das ist wichtig, wenn ich Bilder beurteilen soll.«

Aber er hörte nicht zu, er fuhr mit der Hand über die Steppdecke aus Satin.

»Weich. Wie du . . .«

Später hatte Theo Mariam keine Fragen über Salomon gestellt. Das war sicher richtig so, nahm sie an.

Mariam fragte auch Theo nicht nach seinen Beziehungen, nicht einmal, als ihre Schwester Halleluja einige Tage darauf anrief und wissen wollte, mit welchem hübschen Mädchen Theo zusammen sei. Sie hatte sie beide in einem Café gesehen, Theo hatte sie aber nicht bemerkt. Das Mädchen hatte nur Shorts und ein kleines Hemd getragen – ein Mädchen, das sich nicht schämte, das zu zeigen, was es hatte, hatte Halleluja skeptisch gesagt, ein Mädchen, das aus dem Norden zu stammen schien. Ob Mariam wirklich nichts über sie wisse? Nichts, hatte Mariam wahrheitsgemäß gesagt, rein gar nichts.

Und wenn ich nichts über Salomon sage und Theo nichts über die Mädchen, mit denen er sich trifft, dann sind wir quitt.

Salomon schickte ihr eine Karte zum Dank, an sie und Theo. Er legte zwei VIP-Karten für die Miss-Ethiopia-Wahl bei. »Und kommt doch schon zur Generalprobe«, schrieb er. »Da gibt’s am meisten zu lachen . . .«

Einige Tage darauf rief er sie im Krankenhaus an.

»Mariam, kann ich dich um einen ganz großen Gefallen bitten?«

»Bitten kannst du auf jeden Fall . . . und dann wirst du ja sehen, was ich antworte.«

Er schwieg einen Moment.

»Ich kann dich nur deshalb bitten, weil wir eine ganz besondere Beziehung haben. Ich brauche gerade Hilfe, und für mich ist das sehr wichtig, für dich aber eine Kleinigkeit.«

»Und was ist das für eine Kleinigkeit?«

»Bei mir im Büro ist der Internetzugang zusammengebrochen, und ich brauche zwei Stunden Zugang zum Netz. Es eilt, ich muss heute fertig werden. Also wollte ich fragen, ob ich kurz deinen Computer benutzen darf.«

»Wäre es nicht einfacher, du setzt dich ins nächstbeste Internetcafé?«

»Die Schattenseiten der Prominenz. Ich kann mich doch nicht mit Perücke dahin schleichen, und du weißt, wie solche Cafés sind, nichts bleibt verborgen. Und was ich gerade mache, ist eine überaus delikate Angelegenheit.«

Die Hotels sind zu teuer, dachte sie. Im Hilton oder Sheraton kann man ungestört sitzen, aber bei deinem Gehalt ist nicht daran zu denken. Salomon war zwar bekannt, aber besonders viel Geld hatte er nicht. Sie spielte mit dem Gedanken, vorzuschlagen, er solle ins Hilton gehen und sie bezahlen lassen, aber sie nahm an, dass ein solcher Vorschlag ihn verletzen würde.

Hatte sie kein Vertrauen zu ihm? Doch. Nein. Vielleicht.

Nein. Sie vertraute niemandem, wenn es um ihren Rechner ging. Den durfte niemand anrühren.

Aber zugleich hatte Salomon recht, für sie wäre es eine Kleinigkeit, und für ihn war es offenbar wichtig. Vielleicht war es für sie an der Zeit, ein wenig von ihrem Misstrauen aufzugeben. Vielleicht sollte sie sich jetzt auf das unberechenbare Eis des Vertrauens wagen.

»Na gut. Ich rufe zu Hause an, damit sie dich reinlassen. Ins Internet kommst du über Safari, das findest du im Menü. Und du kannst ja anrufen, wenn du irgendwelche Fragen hast.« Sie hatte kein Passwort für ihre Patientendateien.

»Ich habe schon jetzt einige Fragen.«

»Welche denn?«

»Ob wir heute Abend zusammen essen können. Wann du endlich eine ganze Nacht bei mir verbringen wirst, damit wir zusammen frühstücken können. Wann du mich zu einem offiziellen Anlass begleiten wirst. Wann wir als Paar einen Raum voller Menschen betreten können.«

Mariam lachte.

»Lass uns eins nach dem anderen angehen. Bleib heute Abend zum Essen. Den Rest nehmen wir dann nach und nach. Viel Glück.«

Später, als sie in der zunehmenden Dunkelheit nach Hause fuhr, wanderten ihre Gedanken zerstreut von der Arbeit fort und widmeten sich ihrem Leben in diesem Moment. Ihr Leben in diesem Moment, das waren die kurvenreiche Straße und ihr rotes Auto, das nur drei Jahre alt und das neueste war, das sie jemals gefahren hatte, und Salomon, der zu Hause auf sie wartete.

Sie freute sich darauf, ihn zu sehen. Sie war bereit gewesen, ihm ihren Computer zu leihen – ihm ihre Zahnbürste zu geben wäre leichter gewesen, weniger intim. Das war wirklich wichtig und ein beängstigender und zugleich ermutigender Schritt. Sie kostete die Wörter und die Vorstellung aus – sie und Salomon. Salomon und sie.

Aber Salomon war nicht mehr da. Er hatte zu irgendeinem Auftrag fahren müssen, berichtete Ierusalem. Er hatte gefragt, ob er stattdessen am nächsten Tag kommen dürfe.

Sie war enttäuscht und zugleich erfreut über diese Enttäuschung. Vielleicht war sie dabei, echte Zuneigung zu entwickeln?

Sie hinterließ sofort eine Mitteilung auf seinem Anrufbeantworter – natürlich sei er ihr auch am nächsten Tag willkommen.

Theo war nicht zu Hause. Er hatte auf seiner internationalen Schule einen neuen Schweden kennengelernt und ging oft zum Essen zu Familie Ljunggren. Mariam war das recht. Jetzt konnte sie Arbeit aufholen. Der einzige kleine Nachteil bei Salomon war, dass es Zeit kostete, mit ihm zusammen zu sein.

Sie setzte sich an ihren Computer und sah sich an, was Professor Paterson ihr diesmal geschickt hatte. Es gab etliche Nachuntersuchungen nach Tumoroperationen, einige Lungen, von denen eine mit großer Wahrscheinlichkeit einen Tumor aufwies, und einen sehr kleinen Brustkrebs.

Sie brauchte zwei Stunden.

Danach schaltete sie den Computer aus und trat hinaus auf die Terrasse, die auf drei Seiten um das Haus lief. Die Luft war kühl und angenehm, und sie dachte an ihre Lunge. Sie hatte das Gefühl, in sich hineinblicken zu können. Die Abendluft existierte um sie herum und in ihr, und sie kam ihr ein wenig vor wie Fruchtwasser, in dem sie sich ausruhen konnte, fast schwerelos, so, wie sie dort stand.

Der nächste Tag fing gut und schlecht zugleich an – Mariams Termin mit dem Krankenhausleiter, bei dem über die Räumlichkeiten für ihr radiologisches Zentrum gesprochen werden sollte, wurde abgesagt. Seine Schwester war gestorben, noch einer dieser vielen Todesfälle unter jungen Menschen, und er bat darum, den Termin in der folgenden Woche nachzuholen.

Sie schaute in ihren Terminkalender. Zwischen vierzehn und siebzehn Uhr gab es plötzlich drei freie Stunden.

Drei ganze Stunden.

Während sie sich die leeren Zeilen ansah, machte sie eine ganz neue Entdeckung. Zum ersten Mal seit vielen Jahren wollte sie ihre Zeit nehmen und damit fliehen. Sie aus dem Krankenhaus hinausschmuggeln und sie für sich selbst verwenden. Und warum auch nicht?

Salomon hatte ihre Prioritäten verändert, und sie dachte an ihn mit einem kleinen Schauer der Erwartung, als stecke die Erinnerung an ihn in ihrer Haut. Zugleich stellte sich ein warnender Gedanke ein: Sie brauchte ihre Kraft für ihre Arbeit. Sie durfte bei der Arbeit nicht nachlassen. Ihrer Haut waren diese Gedanken egal, sie fühlte sich an wie die Oberfläche eines Meeres, mit kleinen feinen Kräuselwellen, die kamen und gingen.

In einem Anfall von Großzügigkeit gab sie ihrer Sekretärin frei und schlenderte dann hinaus in die Sonne, die wärmte, obwohl es kühl war. Auch das hatte ihr in Genf gefehlt – die Nähe zur Sonne. Sie blieb für einen Moment stehen und genoss die Photonen, die ihre Haut bombardierten, die dort verharrten und Wärme erzeugten.

Jetzt würde sie ihr Auto holen, nach Hause fahren, sich mit sich selbst beschäftigen. Vielleicht ein Bad nehmen, mit Badeöl. Sich ausruhen. Sich auf das Essen mit Salomon vorbereiten.

Sie fuhr langsam über die holprige Straße zu ihrem Haus, das so geborgen hinter der hohen Mauer lag. Das Metalltor war frisch gestrichen, in hellem Sonnengelb, und sie hupte, damit ihr Zabagna, ihr Wächter, zum Öffnen kam.

»Salomon ist schon da«, teilte er mit, während er für das Auto das Tor öffnete.

Auf ihren überraschten Blick hin fügte er unsicher hinzu:

»Er hat gesagt, er sei auch heute hier eingeladen . . .«

Sie nickte. Sicher. Es war zwar eine Einladung zum Abendessen, aber das konnte der Zabagna ja nicht wissen. Sie stieg aus dem Auto, hin- und hergerissen zwischen ihrem Körper, der lebendig geworden war, und ihrem Intellekt, der die Frage dagegenhielt, was hier eigentlich vor sich ging.

Sie fand ihn vor dem Computer, unbequem gebückt über ihren niedrigen Tisch.

Ein Teil ihres Gehirns reagierte blitzschnell auf seinen langen Rücken, auf seinen Hals, den sie so heftig geküsst hatte, dass er ein Polohemd hatte tragen müssen, auf seine langen schmalen Finger, die immer die richtige Stelle fanden. Dieser Teil ihres Gehirns schlug vor, zu ihm zu schleichen und ihn auf die glatte Haut unter dem Ohr zu küssen. Er wollte, dass sie ihn von hinten umarmte, dass sie langsam sein Hemd aufknöpfte, ihn streichelte, so dass er sich gegen sie sinken ließ, dieser Teil verlangte, dass ihre Hände zu seinem Gürtel weiterwanderten.

Ein anderer Teil ihres Gehirns registrierte, was auf dem Bildschirm zu sehen war.

Ihre Patientendateien.

Die großen Bilddateien konnte er nicht öffnen, aber sie waren datiert und in bezahlt/nicht bezahlt eingeteilt. Dieser Teil ihres Gehirns verlangte, dass sie schrie: »Aber was zum Teufel machst du da! Das ist privat!« Dieser Teil wollte, dass sie ihn vom Stuhl riss, ihn an die Wand drückte, eine Erklärung forderte.

Die beiden Impulse kollidierten, lähmten sie für einen Moment.

Und er drehte sich um, sah sie mit undurchschaubarer Miene an, schien einen Entschluss zu fassen.

Sie spürte fast den Windhauch in ihren Haaren, als er plötzlich seinen ganzen Charme aufbrachte.

»Mariam – ich liebe dich. Ich werde dir helfen. Wir stehen das hier zusammen durch, du und ich!«

Er nahm ihre Hand und drückte sie auf seine Brust, so dass sie unter seinen Rippen seinen raschen Herzschlag hören konnte.

»Mariam! Ich weiß jetzt, was du durchgemacht hast. Ich habe dein Leid gesehen.«

Er sah sie an, mit einem ehrlichen Blick, der schon so viele seiner Interviewopfer getäuscht hatte.

»Mariam, hier liegt eine verdammt große und schwerwiegende Story. Eine international verwertbare Story. Wir können sie zusammen machen, du und ich. Du . . .«, er zog sie an sich. »Und ich.«

Und ein Teil von ihr wollte sich an ihn lehnen, wollte mit ihm verschmelzen, wollte mehr als alles andere auf der Welt, dass es ein Du und ein Ich gäbe. Und zwar sofort. Seine Hand brannte, ihr Blut war umgelenkt worden.

Aber ihr anderer Teil trug den Sieg davon. Sie riss ihre Hand zurück und schrie:

»Hast du den Verstand verloren und dich unberechtigt in meinen Computer eingeloggt? Hast du meine privaten Dateien gelesen?«

Er schüttelte den Kopf.

»Ich habe mich nicht unberechtigt eingeloggt. Du hast mich eingeladen. Du hast mir den Computer geliehen. Vergiss das ja nicht, Mariam.«

Er fuhr mit dem Stuhl herum, bis sie sich von Angesicht zu Angesicht gegenüberstanden, und für einen Moment hatte sie das Gefühl, den Fernsehmoderator auf ihrem Schreibtischstuhl sitzen zu sehen. Er sprach gelassen und ernst weiter, den Blick in eine Kamera gerichtet, die nur er sehen konnte.

»Ich will eine Sendung über das alles machen. Ich will Professor Paterson als korrupten Lügner entlarven. Ich schicke einen Kollegen aus den USA mit versteckter Kamera und verborgenem Mikrofon zu Paterson. Ich lasse ihn aufnehmen, wenn er erzählt, was er für eine Untersuchung berechnet. Das wird die Reportage meines Lebens. Alle Welt interessiert sich für die neue westliche Ausbeutung Afrikas – die intellektuelle. Ich werde den Menschen Gesprächsstoff liefern – der ganzen Welt.«

Mariam kämpfte gegen den Impuls, ihn mit einem Kuss zum Schweigen zu bringen. Denn das hier konnte ja wohl nicht sein Ernst sein?

Offenbar doch, denn nun sagte er:

»Mariam, du bekommst zweihundertfünfzig Birr, was ungefähr dreißig US-Dollar ausmacht, für die Beurteilung eines Bildes von Paterson. Dann schreibt er seinen Namen unter die Beurteilung und kassiert vom Patienten tausend Dollar. Eigentlich müsstest du für jede Beurteilung fünfhundert Dollar oder über dreitausend Birr bekommen. Du hast die ganze Arbeit, erhältst aber nicht einmal ein Zehntel von dem, was er berechnet, ist das gerecht?«

Nicht möglich. Wie konnte er das alles wissen? Jetzt wurde Mariam von Angst gepackt. Sie versuchte, aus ihrer plötzlichen Unterlegenheit heraus zu kontern.

»Ich will nicht, dass jemand hinter mir herspioniert. Du musst doch begreifen, dass meine Privatangelegenheiten dich nichts angehen.«

Er seufzte, als sei sie begriffsstutzig.

»Ich bin Journalist.«

»Das bedeutet ja wohl nicht, dass du bei anderen einbrechen und ihre privaten Unterlagen lesen darfst.«

Er sprach mit derselben geduldigen, pädagogischen Stimme weiter.

»Wir können in dieser Sache zusammenarbeiten. Das wäre für uns beide von Vorteil. Ich drehe die Reportage meines Lebens, wir beide tragen dazu bei, diese schmutzigen Geschäfte ans Licht zu bringen. Ich kann eine Reportage machen, die niemand je wieder vergessen wird.«

Sein Blick verlor sich in der Ferne.

»Ich will zeigen, wie du abends hier sitzt und dich mit Patersons Bildern abmühst. Ich werde zeigen, wie du darum kämpfst, moderne Geräte zu bekommen. Wie Patersons reiche Patienten seine Villa und seinen Swimmingpool und seine vier Autos finanzieren, während du, die die Arbeit leistet, mit Brotkrümeln abgespeist wirst. Das wird stark werden, du bist doch so schön . . . das wird eine international preisgekrönte Reportage werden.«

Mariam blieb in bedrohlichen Situationen fast immer ruhig. Diese Ruhe überkam sie auch jetzt. Sie antwortete gelassen:

»Zweifellos, Salomon. Aber ohne mich. Und jetzt geh bitte. Wenn du nicht gehst, dann rufe ich um Hilfe.«

Er schien nicht glauben zu können, was er da gehört hatte, und er erwiderte nachdenklich:

»Dann bist du also feige, genau wie alle anderen Arschkriecher, die sich heimlich bereichern und vor der Obrigkeit buckeln. Du wagst es also nicht, den Kampf aufzunehmen. Du überraschst mich. Ich hatte dich nämlich für solidarisch gehalten. Und moralisch. Aber du spielst mit. Lässt dich ausnutzen. Begreifst du denn nicht, dass du dich ebenso schuldig machst wie Paterson, wenn du mir nicht hilfst? Ich bitte dich, als Frau, als Ärztin und als Afrikanerin.«

Mariam musste um Fassung ringen. Es hätte die Sache nicht besser gemacht, ihm das Knie in den Schritt zu rammen, auch wenn die Vorstellung verlockend war.

»Hör dir doch mal zu. Die Reportage deines Lebens. Du wirst die Menschen zum Reagieren bringen. Ich soll dir helfen. Im Moment bist du es, der versucht, mich auszunutzen. Du bist über etwas gestolpert, das du verwenden kannst, und als guter Journalist versuchst du, eine Story zu bekommen.«

Er gab keine Antwort, und sie sagte weiter:

»Ich opfere mich nicht für die Träume anderer – ich habe meine eigenen. Und jetzt musst du gehen. Leb wohl.«

»Mariam, du musst einsehen, dass du keine Wahl hast. Ich kann meine Reportage mit dir oder ohne dich machen. Es wäre besser für uns beide, wenn du mitmachtest, aber nötig ist das nicht. Ich bitte dich, dir die Sache zu überlegen und mit mir zusammenzuarbeiten. Ich bitte dich, dich nicht dem auszusetzen, was passieren kann, wenn du das nicht tust.«

»Du solltest lieber überlegen, was dir passieren kann. Ich kann dich anzeigen, jetzt sofort. Hausfriedensbruch, Diebstahl vertraulicher Unterlagen, Verstoß gegen die Schweigepflicht.«

Er schüttelte den Kopf.

»Du kannst mich nicht anzeigen. Du hast mich eingeladen, vergiss das nicht. Du hast mir deinen Computer geliehen – wer hätte denn ahnen können, worüber ich stolpern würde? Und wer versteht nicht die Neugier eines Liebhabers auf die Briefe, die seine Frau an andere Männer schreibt? Die Polizei mischt sich nicht in Streitereien zwischen Liebespaaren, und so wird das hier aussehen. Dieser Weg ist abgeschnitten, Mariam, es war vorbei, als du deine Beine für mich geöffnet hast. Als du sie bereitwillig geöffnet hast, vielleicht kann man sogar sagen, hungrig.«

Sie wurde innerlich ganz leer – es gab keine Möglichkeit der Reaktion, weder mit Worten noch mit Taten.

Sie war ausgetrickst, unschädlich gemacht. An diesem Tag, der so gut angefangen hatte.

Er sagte gelassen wie ein Mann, der wichtigere Dinge vorhat und jetzt weggehen muss:

»Wir wollen uns heute nicht darüber streiten. Du kannst dich ja in deinem Computer ein wenig umsehen, und wir diskutieren später darüber. Ich möchte übrigens nach wie vor, dass du mit Theo morgen zur Generalprobe für Miss Ethiopia kommst – ich bin sicher, dass wir eine Lösung finden werden. Ganz sicher.«

Und dann verließ er ihr kleines Arbeitszimmer wie einen Boxring – aber ohne sich umzusehen, ohne einen Abschiedsgruß.

Mariam stürzte sich auf ihren Computer, um sich ein Bild von der Zerstörung zu machen.

Das Entsetzen wuchs in ihrem Brustkorb wie ein Schmerz, der anschwoll und alles auffraß, was sich ihm in den Weg stellte.

Sie war in die Falle gegangen. Sie hatte die Gefahr gesehen, hatte aber nicht darauf geachtet. Jetzt sah sie, wie effektiv Salomon gearbeitet hatte. Sie hörte ein Geräusch, das sie nicht kannte, und stellte fest, dass es ihr eigenes Zähneknirschen war.

Als Erstes hatte er festgestellt, wer den Computer gekauft hatte. Auf diese einfache Weise hatte er eine Firma in Alexandria gefunden.

BioMed Competence Ltd. stand dort als Rechnungsadresse; die Seriennummer des Computers und ein paar Kontakte hatten ihm ausgereicht, um sich den Namen und die Adresse zu besorgen. Weshalb war das nur so einfach möglich gewesen?

Er hatte die Patientendateien nicht öffnen, aber kopieren können.

Mitten in ihrer aufgeregten Suche klopfte Ierusalem diskret an die Tür.

»Er kommt nicht zum Essen zurück, nehme ich an?«

Und Mariam antwortete verbissen:

»Wenn doch, dann serviere ihm etwas, das mit Rattengiftgewürzt ist. Aber diese Chance hast du leider nicht, ich esse mit Theo allein.«

Ierusalem verschwand ohne ein Wort.

Mariams Hände zitterten jetzt so, dass sie die Tasten verfehlte. Kalter Angstschweiß lief über ihren Rücken. Wie weit war er gekommen? Was konnte er aus dem gefundenen Material machen? Wie konnte sie sich und ihr Projekt retten?

Es hätte kaum schlimmer kommen können. Er hatte sich Kopien von ungefähr allem selbst zugeschickt, das mit ihrer Arbeit für Paterson zu tun hatte.

Das Letzte, was sie fand, war eine kleine Mitteilung, getarnt als Entwurf für eine Moderation, die er an sich selbst gemailt hatte.

»Die Ägypter missbrauchen und nutzen äthiopische Frauen seit Jahrtausenden aus. Die frühen koptischen Patriarchen aus Alexandria verkauften die Frauen, für deren Seelen sie sorgen sollten, an ihr Heimatland im Norden. Diese Tradition lebt leider weiter. Ägyptische Firmen verkaufen jetzt nicht mehr die Körper der Afrikanerinnen, stattdessen wird deren Wissen ausgebeutet. Professor Mariam GebreSelassie (nicht mit dem Langstreckenläufer verwandt) gehört zu den führenden Radiologinnen Afrikas. Sie hat ihre Ausbildung in Genf absolviert, nachdem sie ein heiß begehrtes Stipendium erhalten hatte. Derzeit baut sie in Addis Abeba Ostafrikas modernstes Röntgenzentrum auf.

Aber zugleich ist sie ein Opfer der zynischen modernen Ausbeutung Afrikas. Abends und an den Wochenenden arbeitet sie für einen reichen Amerikaner, der ihr ungefähr denselben Stundenlohn bezahlt wie seiner amerikanischen Putzfrau. Ein ägyptisches Konsortium vermittelt die Kontakte und bereichert sich an der Arbeit der Äthiopierinnen. Die Patienten in den USA glauben, der berühmte Professor Paterson habe ihre Röntgenbilder beurteilt. Da irren sie sich. Nicht er erklärt sie für gesund oder findet ihre Tumore, sondern Professor GebreSelassie. Professor GebreSelassie ist eine schweigende Mitläuferin bei diesem unethischen Schachern mit menschlichen Ressourcen. Professor Paterson gibt ihre Beurteilungen als seine eigenen aus, und Professor GebreSelassie bezahlt keine Steuern für das Geld, das auf ein geheimes Bankkonto geschleust wird . . .«

Sie sank auf ihrem Stuhl in sich zusammen.

Ihr Name und ihr Ruf hatten das Röntgenzentrum betreiben und ihre Reputation hatte Patienten, Kollegen und Investoren anziehen sollen. Der Ruf, den sie sich durch jahrelange harte Arbeit erworben hatte, war so zerbrechlich wie jeder Leumund. Ein Fleck, und er platzte wie ein Ballon und sank als unbrauchbarer runzliger kleiner Haufen zu Boden.

Das durfte nicht passieren.

Ostafrika brauchte ihr Zentrum – es durfte nicht, konnte nicht daran scheitern, dass sie den falschen Mann in ihr Schlafzimmer gelassen hatte.

Sie kniff die Augen zusammen, versuchte ruhiger zu atmen, aber das gelang ihr nicht. Stattdessen fing sie an, das Positive aufzuzählen, das es in dieser Situation immer noch gab.

Sie war zu früh nach Hause gekommen und hatte ihn gestört – vielleicht hatte er nicht alles gefunden, wonach er suchte. Bei diesem Gedanken wurde sie ein wenig ruhiger. Der zweite positive Aspekt war, dass er sie am nächsten Tag treffen wollte. Also musste es Verhandlungsspielraum geben. Es wäre vielleicht möglich, noch ein oder zwei Jahre zu warten, bis ihr Zentrum den Betrieb aufgenommen hatte – dann würde sie weder Professor Paterson noch die Ägypter brauchen. Aber diese Hoffnung war sicher vergeblich – im Journalismus musste immer alles sofort stattfinden, so schnell wie möglich. Um zu verhindern, dass möglicherweise andere dieselbe Fährte verfolgten.

Und wie sollte sie ihr Selbstbewusstsein zusammenflicken? Sie war auf einen Heiratsschwindler hereingefallen. Auf den jämmerlichsten aller Tricks. Er hatte ihr einige genussvolle Stunden auf seiner verschlissenen, gestreiften Tagesdecke beschert, danach hatte er ihr Informationen gestohlen, die für Geld nicht zu kaufen waren.

Als Theo ihr die Hände auf die Schultern legte, fuhr sie zusammen. Sie hatte ihn nicht kommen hören.

»Wieder verspannt, Mütterchen?«

Er massierte sie ein wenig zum Scherz, wie er das oft machte, hörte aber sofort auf, als er ihr Zittern bemerkte.

»Ist etwas passiert?«

Sie brachte es nicht über sich, »nichts« zu sagen, deshalb antwortete sie:

»Die Sache mit Salomon ist schiefgegangen.«

»Ja, das habe ich gehört.«

»Ierusalem dürfte nicht klatschen.«

Theo musterte sie besorgt.

»Ist es ernst?«

»Es ist wohl nicht mehr gutzumachen – aber wenn du einen guten Rat haben willst, dann überlass deinen Computer niemals einem Journalisten. Was für ein Schwein!«

Als sie Theos verbissenes Gesicht sah, versuchte sie, die Stimmung durch eine neue Lüge aufzulockern.

»Keine Sorge. Das findet sich schon. Wir sehen uns morgen bei Miss Ethiopia, und dann werden wir das Problem schon klären.«

Sie versuchte, ein Vertrauen einflößendes Mutterlächeln zustande zu bringen, aber Theo erwiderte dieses Lächeln nicht. Sein Gesicht war noch verschlossener als sonst und nicht zu deuten, und das hätte ihr Angst gemacht, wenn sie nicht so darauf fixiert gewesen wäre, sich davor zu fürchten, was Salomon anrichten könnte.

Sie musste versuchen, ruhiges Blut zu bewahren – wenn sie das von Anfang an getan hätte, dachte sie, dann wäre das alles nicht passiert.

Aber das stand jetzt nicht zur Debatte, jetzt musste sie einen Plan entwerfen, und im Pläneschmieden war sie gut. Sie musste sich nur ein wenig beruhigen, dann würde sie auch dieses unerwartete Problem lösen.

Miss Ethiopia

Mariams Herz machte manchmal überraschenderweise eine ganz besondere kleine Bewegung, wenn sie Theo ansah oder an ihn dachte. Zum ersten Mal war das gleich nach seiner Geburt geschehen. Er hatte nicht geschrien, wie das ihrer Vorstellung nach alle Kinder taten. Er hatte sich nur neugierig und mit großen Augen umgeschaut, und sein Blick war an ihrem Gesicht haften geblieben.

Ach, so siehst du also aus, schien er zu denken. Du bist also meine Mama? Hallo. Hier bin ich endlich!

Als Kind hatte Mariam sich vorgestellt, dass es für Wesen aus dem All sicher das Überraschendste von allem auf der Erde sein müsste – dass wir in unseren eigenen Körpern Kopien unserer selbst herstellen.

Seltsames System.

Gefährliches System.

Aber alles war gut gegangen, und als Theo sie mit seinen dunkelblauen Augen ansah, hatte ihr Herz etwas gemacht, was ihr vorkam wie eine geschmeidige kleine Rotation. Sie wusste, dass das Herz fest an die großen Schlagadern und die Lungenvenen gekoppelt war und dass es praktisch nicht von der Stelle bewegt werden konnte, falls man es nicht losschnitt, aber diesen Sprung hatte sie trotzdem gespürt. Sie kam zu dem Schluss, dass sie ihr anderes Herz bewegt hatte. Das andere Herz, das über Liebe und Trauer zu ihr sprach. Das manchmal schwer war und manchmal so leicht. Es war dieses Herz, das manchmal, ziemlich selten, in ihrem Innersten einen schönen, luftigen und gut koordinierten Sprung vollzog, wenn sie das Wunder Theo ansah.

Jetzt kam der Sprung, ganz unerwartet, als sie im Auto saßen, unterwegs zum Hilton Hotel und zur Miss-Ethiopia-Generalprobe. Das Schwein im Auto hieß Salomon, und ihre schlaflose Nacht hatte Salomon geheißen. Sie hatte morgens ihre Sekretärin angerufen und sie gebeten, alle Termine für diesen Tag abzusagen, sie hatte keine Erklärung gegeben und sich dann einem verzweifelten Versuch von Krisenmanagement gewidmet. Jetzt war es fast schon fünf Uhr nachmittags, und sie versuchte, sich ein wenig auszuruhen, indem sie an etwas anderes dachte. Indem sie an Theo dachte.

Er saß ganz still neben ihr und starrte vor sich hin. War er nicht unnatürlich still für seine siebzehn Jahre?

Als Kind hatte er seine Umgebung mit seinem bewegten, ausdrucksvollen kleinen Gesicht beeindruckt. Seine Gefühle waren in tausend Nuancen zu sehen gewesen. Jetzt hatte er sie abgeschirmt, ebenso wirkungsvoll, wie er sie früher allen gezeigt hatte, die sie sehen wollten.