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Rassismus, rechtsextreme Gesinnungen und die aggressive Herabsetzung »der anderen« sind wieder erschreckend salonfähig geworden. Wie ist das möglich? Woher kommt dieser Hass? Anne Otto fragt nach den psychologischen Mechanismen, die dazu beitragen, dass Menschen sich wieder offen rassistisch äußern, nach Autoritäten verlangen oder sogar überzeugt Blut- und Boden-Ideologien vertreten. Ein wichtiges Buch, das auf einzigartige Weise Licht in die dunklen Kellerräume unseres Fühlens und Denkens bringt.
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Seitenzahl: 290
Anne Otto
Woher kommt der Hass?
Die psychologischen Ursachen von Rechtsruck und Rassismus
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Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln
ISBN 978-3-641-25020-1V003
www.gtvh.de
Inhalt
Einleitung: Rechte auf der Couch?
TEIL I:
INNEN – Die Wurzeln rechtsextremer Einstellungen
KAPITEL EINS: Erschreckend weit verbreitet
Warum stramm rechte Gesinnungen in allen sozialen Milieus vorkommen – und was die Menschen hinter dem Rechtsruck eint.
KAPITEL ZWEI: Viel Anpassung, wenig Freude
Wie die autoritäre Dynamik von Anpassung und Härte in Familien weitergegeben wird – und warum man durch diese Prägung den Kontakt zu sich selbst verliert.
KAPITEL DREI: Die Sehnsucht nach Stärke
Wie Staat und Wirtschaft unsere Wünsche nach Autoritäten fördern – und warum Bürger sich oft bereitwillig anpassen.
KAPITEL VIER: »Wir sind besser als ihr.«
Warum es in die gesellschaftliche Stimmung passt, die eigene soziale Gruppe für die beste und wichtigste zu halten – und wie auf diesem Boden Rassismus und Verachtung gedeihen können.
TEIL II:
AUSSEN – Wie rechtsextreme Einstellungen verstärkt werden
KAPITEL FÜNF: Hier läuft das so!
Wie das soziale Umfeld politische Einstellungen prägt – und warum eine Durchmischung und Durchlässigkeit der gesellschaftlichen Milieus gut für die Demokratie ist.
KAPITEL SECHS: Zu viel Gefühl?
Wie Hass und Wut dem Rechtsruck Auftrieb geben – und warum es sich lohnt, die Stimmung der Empörung in der Gesellschaft runterzukochen.
KAPITEL SIEBEN: Es sind nur Taschenspielertricks...
Wie Populisten durch Sprachbilder und stilistisch-inhaltliche Tricks zur Manipulation ansetzen – und warum die Methoden wirken.
TEIL III:
MACHEN – Was können wir tun?
KAPITEL ACHT: Mit Rechten reden
Wann es Sinn macht, mit Rechten im eigenen Umfeld sachlich zu sprechen – und wie das gelingen kann.
KAPITEL NEUN: Ein Blick nach innen
Warum Selbstreflexion so wichtig ist – und warum es lohnt, eigene Abwertungs- und Abwehrmechanismen zu kennen.
KAPITEL ZEHN: Für jeden Tag, für jedes Jahr
Warum To-do-Listen auch dann helfen, wenn es um gesellschaftliches und politisches Engagement geht. Hier kommt eine.
Literatur zum Weiterlesen
Einleitung: Rechte auf der Couch?
Psychologie und Politik, das passt für manche Menschen auf den ersten Blick nicht besonders gut zusammen. Diesen Eindruck habe ich jedenfalls in den letzten Monaten gewonnen. Wenn ich in meinem Umfeld davon erzählt habe, dass ich gerade darüber schreibe, mit welchen psychologischen und psychosozialen Mechanismen man den aktuellen Rechtsruck in der Gesellschaft erklären könnte, waren die Reaktionen stets ähnlich. Zunächst äußerten die meisten eine Art Hoffnung: Es könne ziemlich hilfreich für den Umgang mit rechten Tendenzen sein, wenn man genau verstehen würde, was in Menschen vorgeht, die sich zu Rassismus, Nationalismus und antidemokratischen Ideen bekennen oder sie zumindest gutheißen, so der Tenor. Vielleicht könne man auf der Basis dieses Wissens Einfluss nehmen? Im besten Fall sogar verhindern, dass sich rechtes Gedankengut in den Köpfen der Menschen festsetzt? Im nächsten Schritt bekamen viele dann aber schnell Zweifel, der sich in der Frage niederschlug, ob es überhaupt etwas gäbe, das Psychologen substanziell zum Thema beitragen könnten. Der zunehmende Rechtsextremismus in Deutschland, der Machtgewinn von rechtspopulistischen Parteien hier und anderswo, die aggressive Stimmung im Land, das alles sei doch eine durch und durch politische Angelegenheit, Folge der sozioökonomischen Situation und der allgemeinen Politikverdrossenheit.
An dieser Sicht ist natürlich etwas dran. Die übergeordneten politischen und sozialen Entwicklungen und die historischen Wurzeln rechtsextremer Positionen spielen immer die Hauptrolle, wenn man die Wahlergebnisse hierzulande und auch den Hang zu autoritären Führungsfiguren weltweit verstehen will. Doch aus psychologischer Sicht bleibt eine Lücke: Aktuelle gesellschaftspolitische Entwicklungen allein können noch nicht erklären, warum Menschen derart hasserfüllt und wütend auf die politische und soziale Lage reagieren oder angesichts von Flüchtlingen in Not keinerlei Mitgefühl mehr zeigen. Sie können auch nicht erklären, warum extreme Rechte und Populisten mit einer stets zunehmenden Grobheit über ihre Positionen sprechen und viele Menschen ihnen – gerade hier in Deutschland – in einem grimmigen Endlich-darf-man-das-wieder-sagen-Duktus zustimmen. Bei all diesen Entwicklungen spielen auch persönlichkeitspsychologische, tiefenpsychologische und sozialpsychologische Faktoren eine entscheidende Rolle. Darüber hinaus wird die gesellschaftliche Stimmung derzeit stark von destruktiven Kommunikationsprozessen beeinflusst, die man aus einer medien- und kommunikationspsychologischen Perspektive oft konstruktiver angehen kann als durch kluge politische Debatten. Alle diese psychosozialen Fragen sind im Augenblick noch offen.
Dieses Buch beleuchtet verschiedene psychische Mechanismen genauer und macht transparent, inwiefern sie an der Entstehung von Rassismus, Nationalismus und undemokratischen Einstellungen beteiligt sind. Um Antworten und Erklärungen zu finden, habe ich Erkenntnisse aus der modernen Tiefenpsychologie, der empirischen Sozialwissenschaft, der klassischen Sozialpsychologie sowie der systemischen Psychologie herangezogen. Auch emotions- und kommunikationspsychologische Erkenntnisse fließen ein.
Wenn man sich von dieser Seite dem Thema nähert, nimmt man paradoxerweise zuerst einmal etwas Abstand von den aktuellen politischen Diskussionen, Demonstrationen oder Hass-Mails. Es ist ein bisschen so, als würde man sich von den normalen politischen Denkgebäuden aus Glas-Beton und den Protest-Bewegungen auf der Straße etwas wegbewegen, um für einige Stunden die verwinkelten Kellerräume des Fühlens und Denkens in Bezug auf politische Gesinnung zu betreten. So werden Zusammenhänge zwischen Psyche und stramm rechten Einstellungen sichtbar und es entsteht die Möglichkeit, mehr Präzision, Stringenz und Reflexion in die Diskussion zu bringen. Außerdem kann es mit diesem Wissen gelingen, auch einige blinde Flecken oder ungünstige familiäre Prägungen in Bezug auf Rassismus und Rechtsextremismus besser einzuschätzen und grundlegend zu verstehen.
Die Politologin und Philosophin Carolin Emcke äußert sich dazu in ihrem Essay »Gegen den Hass« folgendermaßen: »Es würde schon helfen, wenn die Quellen, aus denen der Hass sich speist, die Strukturen, die ihn ermöglichen, die Mechanismen, denen er gehorcht, besser erkennbar wären.« Die psychologischen Prozesse sind eine solche Quelle. Durch dieses Buch werden sie greifbar.
Für eine bessere Übersicht ist das Buch in drei Abschnitte geteilt: Innen, Außen und Machen. Zu Beginn werden vor allem die psychologischen Wurzeln für rechte und rassistische Einstellungen freigelegt. Hier geht es um Prägungen des Einzelnen im Wechselspiel mit Familie und Gesellschaft. In den Kapiteln eins bis vier wird beispielsweise deutlich, wie abwertendes oder autoritäres Denken überhaut entsteht und welch zentrale psychische Funktion es für viele Menschen hat. Im zweiten Abschnitt des Buches, in den Kapiteln fünf bis sieben, wird die Frage beantwortet, welche äußeren Faktoren bereits bestehende rechtsextreme Einstellungen sichtbar machen und verstärken können. Hier geht es um den Einfluss des sozialen Umfelds auf die politische Gesinnung, um den gesellschaftlichen Umgang mit Emotionen sowie um psychologische und manipulative Tricks von Agitatoren und Rechtspopulisten. Im dritten und letzten Abschnitt (Kapitel acht und neun) zeige ich, was wir selbst tun können, um dem Rechtsruck etwas entgegenzusetzen, und wo wir sinnvollerweise damit anfangen können. Es gibt beispielsweise ganz konkrete Empfehlungen, wie man mit Rechten reden kann, ohne an der platten Rechts-Rhetorik abzuprallen. Darüber hinaus zeigt ein Kapitel, warum auch Selbstreflexion und Selbsterkenntnis einen Teil dazu beitragen, autoritäres Denken und Handeln in der Gesellschaft zu vermindern oder sogar zu überwinden.
Ein Tipp für Ungeduldige: Fangen Sie mit den praktischen Tipps an, einer Art To-do-Liste auf der Seite 249. (Kapitel zehn). Dort finden Sie 40 Anregungen, was Sie sofort tun können, wenn Sie bei den psychologischen Faktoren ansetzen und selbst aktiv werden wollen.
Bevor Sie nun in die Kapitel einsteigen, ist mir noch eine grundlegende Anmerkung wichtig: Wenn man versucht, psychische Mechanismen verstehbar zu machen, die zu radikalen rechten Einstellungen führen, dann ist man oft nur noch einen – manchmal gefährlich kleinen – Schritt vom Verständnis entfernt. Leicht drängt sich das Bild vom Nazi auf der Couch auf, dem man empathisch zuhört, dessen innere Zerrissenheit oder Orientierungslosigkeit man nachvollzieht. Die Gefahr dabei ist, dass genau diese Opferrhetorik extrem Rechte häufig nutzen, um ihre Gesinnung und ihr Tun zu rechtfertigen. Wie absurd und unfreiwillig komisch diese Art des verständnisvollen Zurechterklärens wäre, hat schon die Band »Die Ärzte« in ihrem Song »Schrei nach Liebe« beschrieben, den sie Anfang der 1990er-Jahre nach den Anschlägen von Hoyerswerda veröffentlichte. Im Refrain des Liedes heißt es: »Deine Gewalt ist nur ein stummer Schrei nach Liebe, deine Springerstiefel sehnen sich nach Zärtlichkeit, du hast nie gelernt dich zu artikulieren und deine Eltern hatten niemals für dich Zeit – Oooho, Arschloch!« Dieses Stück habe ich beim Schreiben gelegentlich gesummt. Nicht nur, weil es ein Ohrwurm ist, sondern weil der Text des Songs zeigt, wo die Grenze der Empathie verläuft. Verstehen steht im Mittelpunkt – nicht Verständnis. Den Rechtsextremismus als Massenbewegung und als politisch stärker werdende Gruppe gilt es wach und ohne viel Skrupel zu bekämpfen.
Dennoch ist es meiner Ansicht nach auch nicht ratsam, jeden Menschen, der sich im Alltag rechtslastig äußert, von jetzt ab kategorisch zu meiden. Kommunikationsabbruch und eine mit dem Skalpell gezogene Grenzlinie zwischen »denen« und »uns« führen oft nicht zu einer Verbesserung der Situation. Eine Faustregel im Umgang mit latent rechtsextremen Statements – und »Faust« ist hier nicht wörtlich gemeint – gibt etwa die Initiative »Kleiner Fünf«, die beispielsweise vor Wahllokalen und in Fußgängerzonen mit »radikaler Höflichkeit« die Diskussion mit Bürgern sucht, um diese davon zu überzeugen, ihre Stimme nicht der AfD zu geben. Sie fordern: »Andere ernst nehmen. Sich nicht provozieren lassen. Konkrete Argumente liefern.« Es geht also darum, in der Sache hart, aber menschlich fair zu bleiben. Ich stimme dem weitgehend zu. Nicht nur als Tipp für eine gelungene Gesprächsführung, sondern auch als Wunsch, sich möglichst sachlich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Es gilt, ohne reaktiven Hass und allzu bereitwilliges Schwarz-Weiß-Denken dieses menschliche – wenn auch monströse – Thema anzugehen.
Bleibt noch die Frage, warum man die psychischen Dynamiken, die Menschen nach rechts treiben, überhaupt so genau kennen sollte. Die Antwort ist einfach: Es könnte unseren Blick auf viele gesellschaftliche Prozesse erweitern, würden wir auch im politischen Feld mehr mit irrationalen Anteilen rechnen. Menschen handeln auch im politischen Zusammenhang oft unvernünftig. Sie sind so stark von Emotionen, Prägungen, Wünschen, Kommunikationserfahrungen und Gewohnheiten beeinflusst, dass man diese wirkmächtigen Einflüsse in den Blick nehmen sollte.
Eine Reihe von Studien des Politologen David Redlawsk von der University of Delaware zeigt beispielsweise, dass Menschen, die wählen gehen, oft allein bei der Frage, wo sie ihr Kreuz machen, erstaunlich irrational vorgehen. Sie entscheiden sich nach Gefühl für eine Partei, der sie vertrauen, die sie sympathisch finden, die sie schon gut kennen oder von der sie denken, dass sie ihre Ziele vertritt. Oft wird kaum danach gewählt, welche grundsätzlichen Interessen und Forderungen eine Person konkret an eine Regierung hätte und welche Partei sich diese Ziele auf die Fahnen geschrieben hat. So finden unzählige Wahlentscheidungen statt, die man nach sozialpsychologischen Begriffen als »nicht korrekt« bezeichnet, weil Bürger sich primär von ihrer Intuition haben leiten lassen und nicht von Informationen – und so Entscheidungen letztlich von vorneherein verfehlt sind und Enttäuschungen vorprogrammiert. Die Studien zu den hohen Anteilen »nicht korrekter Wahlen« sind von vielen anderen Forschern bestätigt und auch für Wähler in Deutschland jüngst belegt worden. Sie alle deuten darauf hin, wie wenig Sachlichkeit bereits beim Gang an die Wahlurne im Spiel ist. Wie viel extremer wird die Kraft von Emotionen, intuitiven Vermutungen, Stimmungen, sozialer Beeinflussung, Arroganz und anderer psychologischer Faktoren da noch sein, wenn es um Massenaufläufe von Rechten oder Hetzreden von populistischen Politikern geht?
Holen wir deshalb den psychologischen Blick in das Thema und rechnen wir damit, dass hier nicht rationale Bürger, sondern irrationale Menschen ihre Schritte im politischen Raum machen. Dieser Blick ist längst überfällig.
Anne Otto
Hamburg, im Juli 2019
TEIL I:
INNEN – Die Wurzeln rechtsextremer Einstellungen
»Menschen sind doch das Wertvollste, das man gewinnen kann.«
Sigmund Freud, Begründer der Psychoanalyse, in einem Briefwechsel 1910
KAPITEL EINS: Erschreckend weit verbreitet
Ziemlich viele Menschen fühlen sich von rechtspopulistischen und rechtsextremen Positionen und Parteien angezogen. Sind die jetzt alle wahnsinnig geworden? Oder was motiviert Leute dazu, diese politische Entwicklung mitzutragen?
Das erste Kapitel beleuchtet die Frage, wer sich hinter dem Rechtsruck konkret verbirgt, bei welchen Menschen in welchen Schichten und Lebenslagen man rechtsextreme Einstellungen antrifft – und was diese unterschiedlichen »Typen« innerlich antreibt und eint.
»Kein Mensch hat das Recht zu gehorchen.«
Hannah Arendt, 1905-1975, Publizistin und politische Theoretikerin
Im Juni 2018 filmt ein Kamerateam der ARD eine Veranstaltung der Dresdner Pegida und deren Kundgebung. Als ein Redner dort in einem beinahe amüsierten Tonfall berichtet, dass die Organisation Life Line bei der Flüchtlingsrettung im Mittelmeer Schwierigkeiten bekommen hat, skandiert der Pulk lautstark die Worte »Absaufen, absaufen« – und kann sich gar nicht mehr beruhigen. Der feixende Redner erwidert daraufhin »Freunde, nein, nein, nicht absaufen. Wir brauchen das Schiff noch, um die alle zurückzufahren.« Solche und ähnliche Szenen, in denen Hass, Menschenfeindlichkeit und der Triumph über vermeintlich Schwächere ganz offen sichtbar werden, sind bei den so genannten Montagsdemonstrationen und anderen rechten Veranstaltungen in den letzten Monaten und Jahren zu Hauf dokumentiert worden. In den Berichten werden von Reportern immer auch Einzelpersonen abseits der Szenerie zu ihrer persönlichen Motivation befragt, oft mit der einleitenden Frage: »Warum sind Sie heute hier?« Die Antworten sind erschreckend: Eine ältere Dame mit grauem Dutt und Brille brüllt beispielsweise bei einer Sommerveranstaltung der »Identitären Bewegung« überakzentuiert ins Mikrofon: »Ich möchte, dass Deutschland Deutschland bleibt.« Ein Mann mit schwarzem Kapuzenpulli plädiert für Apartheid in Deutschland, also eine Stadt für Muslime und eine für Christen. Und ein junger, angetrunkener Mann in Zimmermannskluft lallt in einem anderen Beitrag, am Rand einer Pegida-Gruppe: »Es hat nie Attentate vom 11. September gegeben. Das sind eure Geheimdienste, die ihr mit stützt.«
Schaut man sich solche hasserfüllten und zum Teil auch wirren Statements in den Nachrichten und damit aus einer gewissen Distanz heraus an, dann entsteht leicht der Eindruck, solche extremen Einstellungen würde es vor allem im Umfeld von gewaltbereiten Randgruppen geben, die sich heute im Gegensatz zu früher nur einfach lauter und selbstbewusster äußern. Doch diese Einschätzung täuscht. Bei dem eklatanten Rechtsruck, den man seit Jahren in der politischen Landschaft, im gesellschaftlichen und medialen Diskurs und zum Teil auch in privaten Unterhaltungen mit Bekannten oder Nachbarn wahrnehmen kann, handelt es sich keinesfalls um ein Phänomen, das sich nur in einer abgegrenzten Bevölkerungsgruppe zeigt. Es ist auch kein rein ostdeutsches Thema. Stramm rechte Haltungen sind in latenter und manifester Form in der Gesellschaft und gerade auch im Mainstream viel stärker verbreitet, als man denken würde.
Das lässt sich natürlich auch am bundesweiten Erfolg der AfD erkennen, der politische Beobachter seit ihrer Gründung eine Entwicklung von einer nationalliberalen zu einer zum Teil nationalistisch-völkischen Partei bescheinigen. Der Zuspruch, den die AfD bei der Bundestagswahl 2017 erhalten hat und der sie mit 12,6 Prozent der Stimmen gegenwärtig zur drittstärksten Partei im Parlament macht, spricht Bände. Und obwohl – gemäß allen Klischees – in Bundesländern wie Sachsen mit 27 Prozent viel mehr Wähler hinter der AfD stehen als beispielsweise in Baden-Württemberg oder Berlin, sind die dort erzielten etwa 12 Prozent Wählerstimmen immer noch ein erstaunlich hoher Anteil.
Vielen gilt das Wahlergebnis im September 2017 als Alarmsignal. Das rührt auch daher, dass es seit der Zeit nach 1945 zum ersten Mal wieder einer Partei »rechts von der CDU/CSU« gelungen ist, mit einer hohen Zahl von Mandaten (insgesamt 94) in den Bundestag einzuziehen. Dass sich dieser Trend in anderen europäischen Ländern in ähnlicher oder sogar noch zugespitzter Weise zeigt – in Ungarn, Polen, Italien sind entsprechende Parteien nicht nur in den Parlamenten vertreten, sondern an der Regierung –, macht die Verschärfung einmal mehr deutlich. Dass Donald Trumps permanente rechtspopulistische Agitation ebenfalls in dieses Bild gehört, muss nicht extra erwähnt werden. All das trägt zu dem Eindruck mit bei, dass radikale rechte Kräfte überall in der Welt an Einfluss gewinnen.
Obwohl über diese Fakten und Zahlen viel berichtet wurde und wird, neigt die aktuelle Berichterstattung nach wie vor an manchen Stellen dazu, das Phänomen des Rechtsrucks zu vereinfachen. Zum einen wird oft betont, dass es sich um eine neuere Entwicklung handelt, die erst in den letzten Jahren entstanden ist. Zum anderen werden Menschen mit rechter Gesinnung häufig als homogene Gruppe dargestellt, die klar von anderen Kräften abgrenzbar ist. Und drittens wird durch die immer gleichen Bilder und Beispiele so getan, als hätten die Menschen, die rechtsextreme Einstellungen befürworten, ein bestimmtes Aussehen, bestimmte Wohnorte, ähnliche Wünsche und Lebenssituationen.
Diese etwas verkürzten Darstellungen führen dazu, dass wir das Phänomen des Rechtsrucks nicht komplett verstehen, dass wir nicht das ganze Spektrum wahrnehmen und oft auch falsche Schlüsse ziehen, was gesellschaftlich, psychologisch, politisch zu tun sei. Um es einmal in Kurzform vorwegzunehmen: Die Gruppe, die nach rechts rückt, setzt sich aus Menschen aller Schichten zusammen. Mittlerweile scheint laut neuer Studien beinahe jeder fünfte zum Rechtspopulismus zu neigen. Darüber hinaus ist es nicht neu, dass hierzulande rechtsextreme Tendenzen bestehen. Bereits seit 20 Jahren messen Sozialwissenschaftler und Sozialpsychologen in umfassenden Umfragen eine hohe Bereitschaft, nationalistischen oder rassistischen Haltungen, also latent rechtsextremen Einstellungen, zuzustimmen. Etwa sechs Prozent der Bürger attestieren Sozialwissenschaftler sogar ein geschlossenes rechtsextremes Weltbild.
Latent bei vielen vorhanden
Um das weiter zu konkretisieren: Es gibt verschiedene regelmäßig durchgeführte sozialpsychologische Erhebungen, in denen die Neigung zu rechtsextremen Haltungen in Deutschland gemessen wird. Bekannt sind einerseits die Forschungen des Bielefelder Instituts für Interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung, die vom Soziologen Wilhelm Heitmeyer zwischen 2002 und 2011 unter dem Titel »Deutsche Zustände« durchgeführt wurden und die heute von Andreas Zick mit etwas anderen Schwerpunkten und dem Titel »Mitte-Studie« weitergeführt werden. Deren neuste Ergebnisse sind 2019 erschienen. Zum anderen gibt es die Leipziger »Mitte-Studie« des Kompetenzzentrums für Rechtsextremismus und Demokratieforschung, die ebenfalls regelmäßig seit 2002 alle zwei Jahre über 2000 Menschen zu ihren politischen Einstellungen befragt. Die Fragen solcher Erhebungen beziehen sich nicht primär auf aktives politisches Handeln oder auf eine rechtsextreme Gesinnung, die sich im Wahlverhalten, durch Hass-Reden oder Teilnahme an rechten Demonstrationen zeigt. Sie erfassen eher die grundsätzliche innere Bereitschaft, fremdenfeindlichen, nationalistischen oder anti-demokratischen Einstellungen zuzustimmen. Diese drei Faktoren bilden schwerpunktmäßig das Maß für die latente Zustimmung zu rechtsextremen Ideen.
Der prozentuale Anteil derjenigen, die rechtsextremen Einstellungen latent zugeneigt sind, ist seit Jahrzehnten mit kleineren Schwankungen gleich hoch. Exemplarisch herausgehoben sei hier ein älteres, aus dem Jahre 2006 stammendes Ergebnis der Leipziger »Mitte-Studie«. Damals stimmten bereits 39,1 Prozent der Befragten der Aussage »Die Bundesrepublik ist durch die vielen Ausländer in einem gefährlichen Maß überfremdet« vollständig oder überwiegend zu. 2018 waren die Zustimmungswerte zur gleichen Frage ähnlich hoch. Nur war zehn Jahre vorher die öffentliche Reaktion auf diese Zahlen noch eine andere: In der medialen und gesellschaftlichen Diskussion wurde damals oft über die Studienergebnisse aus Leipzig oder Bielefeld gestaunt oder man reagierte mit überraschtem Schrecken darauf, dass so viele Menschen rechtslastig sein sollten. Heute spürt man die abwertende und aggressive Stimmung, die sich aus rechtsextremen Einstellungen entwickeln kann, sehr viel deutlicher. Deshalb wird auch nicht mehr über die Ergebnisse gestaunt – sie lesen sich jetzt eher wie eine Bestätigung der eigenen Wahrnehmung.
Deutliche Zustimmung erhielten in der aktuellen »Mitte-Studie« aus Leipzig auch die Aussagen »Wir sollten endlich wieder Mut zu einem starken Nationalgefühl haben«, die 36,5 Prozent der Befragten befürworteten, oder »Was Deutschland jetzt braucht, ist eine einzige starke Partei, die die Volksgemeinschaft insgesamt verkörpert«, eine Aussage, der immerhin 19,4 Prozent vollständig oder überwiegend zustimmten.
Die durch rechte Demonstrationen, Hasskommentare auf Facebook oder Wahlergebnisse immer wieder spürbar werdende Ausrichtung »nach rechts« ist also mindestens zwei Jahrzehnte alt. Auch der Wunsch nach einer starken, autoritären Führung durch eine einzige Partei, also letztlich nach einer Diktatur, ist schon seit diesem Zeitraum messbar und immer deutlicher in der Öffentlichkeit zu vernehmen. Der Soziologe Wilhelm Heitmeyer, der in seinen Studien ganz ähnliche Ergebnisse messen konnte wie die Leipziger Kollegen aus der Sozialpsychologie, spricht von den »entsicherten Jahrzehnten« und meint damit die Zeit von 2001 bis heute. Spätestens seit der Jahrtausendwende haben wir es also mit einem massiven Rechtsruck zu tun, den wir erst jetzt wirklich mitbekommen. Der Grund dafür liegt auf der Hand. Es gibt einen psychologischen Prozess, der sich aufschaukelt: Durch das politische Klima fühlen sich Menschen mit rechtslastigen politischen Einstellungen immer sicherer und äußern immer offener, was sie denken.
Die Umfrageergebnisse belegen bei genauerer Betrachtung aber auch, dass es neben den gewaltbereiten oder aggressiv kommunizierenden sehr sichtbaren Rechten auch noch eine weniger gut wahrnehmbare Teilgruppe mit entsprechenden Haltungen gibt. Es handelt sich um Bürger, die teils hinter vorgehaltener Hand, teils komplett für sich latent rechtsextreme Einstellungen hegen – manchmal sogar, ohne sich selbst bewusst zu sein, dass ihre Aussagen nach der sozialwissenschaftlichen Definition nicht einfach »konservativ« sind, sondern dem rechtsextremen Spektrum zugeordnet werden müssen. Wie unreflektiert viele Menschen ihre eigene politische Haltung betrachten, mag man auch daran sehen, dass viele AfD-Wähler sich heute nicht etwa als »rechts«, sondern als eine Art desillusionierte »Mitte« darstellen und zum Teil auch wahrnehmen. Das stimmt insofern, als sie mit ihren Einstellungen ganz und gar nicht mehr am Rand der Gesellschaft stehen – sondern mittendrin. Das heißt aber nicht, dass ihre Einstellungen nach sozialwissenschaftlicher Definition »gemäßigt« oder »genau zwischen den Extremen« sind. Ausländerfeindlichkeit und Nationalismus gehören ins Überzeugungsmuster von radikalen Rechten.
Der wütende, weiße, alte Mann: Nicht das letzte Wort zum Thema
Was sind das für Zeitgenossen, die sich rechtsextrem äußern oder entsprechenden Einstellungen zumindest im Privaten oder in Befragungen immer wieder zustimmen? Welche Menschen tragen wenigstens zum Teil eine Sehnsucht nach einer diktatorischen Staatsform in sich? Eine erste Antwort darauf, die man wagen kann: Auch wenn es »typische Vertreter« und Häufungen in bestimmten gesellschaftlichen Gruppen gibt und das Schlagwort vom »rechten Ostdeutschen« hierzulande oder vom »wütenden, alten, weißen Mann« in den USA tatsächlich rechte Prototypen beschreiben mag, denen jeder schon mal begegnet ist, so sind Lebenssituation, Status, Geschlecht, Bildungsstand und Alter dieser Gruppe dennoch komplett heterogen. Mancher mag diese »Vielfalt« im eigenen Bekanntenkreis oder in der Facebook-Community sehen, ansonsten zeigen auch die sozialpsychologischen Studien das ganze Spektrum. Die nun folgenden Zahlen stammen zum Teil aus den oben genannten sozialpsychologischen Erhebungen, es fließen aber auch Ergebnisse einer Studie des »Instituts der deutschen Wirtschaft« in Köln und Zahlen aus einer aktuellen Infratest-Dimap Befragung mit dem Titel »Wer wählt Rechtspopulisten?« zur Zusammensetzung und Motivation der AfD-Wählerschaft mit ein:
Zum Teil arm, zum Teil wohlhabend. Dass Menschen, die eher nach rechtsaußen tendieren, mittellos, arbeitslos oder abgehängt sind, stimmt nur zum Teil. Zwar zeigt eine Studie von 2017 zu AfD-Wählern, dass viele von ihnen im Arbeitermilieu und in der unteren Mittelschicht zu finden sind. Andererseits kann eine Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft bereits 2014 belegen, dass ein Drittel der AfD-Befürworter zum reichsten Fünftel des Landes gehört. Und in der Leipziger Mitte-Studie zeigte sich, dass 35 Prozent der AfD-Wähler ein Nettoeinkommen von 2500 Euro zur Verfügung haben. Es gibt also eine Menge Menschen mit ausländerfeindlichen Tendenzen oder einem Hang zu undemokratischen Ansichten, die ausreichend oder sogar relativ viel Geld verdienen – und in guten gesellschaftlichen Positionen sind. Überraschend: Ausschlaggebend ist laut mehrerer Studien nicht, wie reich oder arm jemand ist. Entscheidend, zum Beispiel für eine Wahl der AfD, ist vielmehr die subjektive Einschätzung, dass das eigene Vermögen oder der eigene Wohlstand bedroht sind. Mehr Männer, aber auch Frauen. Eine sich selbst »rechtspopulistisch« nennende Partei wie die AfD wurde zuletzt in der Bundestagswahl zu zwei Dritteln von Männern gewählt. Frauen machen nur einen Anteil von einem Drittel der Wähler aus. Bei den sozialpsychologischen Befragungen zu den generellen rechtsextremen Einstellungen bleiben allerdings die Frauen oft nur knapp hinter den Männern zurück: In der Mitte-Studie von 2018 wurden 22 Prozent der Frauen als manifest ausländerfeindlich eingestuft, bei den Männern waren es nur 4 Prozent mehr. Viele der Frauen mit rechten Einstellungen scheinen also nicht nach ihren politischen Überzeugungen zu handeln oder zu wählen, vertreten ihre Einstellungen eher defensiv und werden so nicht öffentlich sichtbar. Es sind Alte, vor allem aber Mittelalte. Bei Pegida-Demonstrationen in Dresden marschieren heute tatsächlich zur Hälfte Menschen mit, die Mitte fünfzig oder älter sind. Bei den AfD-Wählern dominieren dagegen die Menschen mittleren Alters zwischen 30 und 59. Bei den sozialpsychologischen Studien, die rechtsextreme Einstellungen messen, ergeben sich bei den Jüngeren bis 30 Jahren zwar geringere Prozentwerte als bei Älteren, aber mit 15,5 Prozent Zustimmung zu ausländerfeindlichen Aussagen im Westen und 27,2 Prozent im Osten sind das keine zu vernachlässigenden Werte. Die Ergebnisse deuten durchaus darauf hin, dass eine junge Generation von Rechtspopulisten heranwachsen kann.Manche sind gebildet, manche weniger. Studien zeigen, dass sich unter den AfD-Wählern viele Menschen mit mittleren Bildungsabschlüssen befinden. Die Idee, dass Menschen, die nach rechts tendieren, grundsätzlich ungebildet und chancenlos sind, führt also in die falsche Richtung. Dass es auch rechtsextreme Akademiker gibt, zeigt gerade die Diskussion um die neuen rechten Netzwerke, in denen die bekanntesten Vertreter oft über einen hohen Bildungsstatus verfügen und diesen auch offensiv einsetzen, um ihre Ziele zu erreichen. Gebildete Rechte sind allerdings seltener zu offener Gewalt bereit und sind medial oft weniger sichtbar. Wichtig: In einem Punkt siegt Bildung! Menschen mit Abitur tendieren in der politischen Einstellung nur halb so oft in Richtung einer rechten Ideologie wie eine Vergleichsgruppe ohne Abitur. Nicht nur Ost versus West. Ländliche Bevölkerung und Menschen aus Kleinstädten wählen mehr »Rechtspopulisten« und haben auch häufiger einen Hang zu stramm rechten Einstellungen. Dies gilt für den Osten wie für den Westen. Die vielen strukturschwachen und ländlichen Gegenden in ostdeutschen Bundesländern stellen allerdings tatsächlich einen großen Teil der AfD-Wähler. Überraschend: In absoluten Zahlen haben bei der Bundestagswahl 2017 mehr Westdeutsche als Ostdeutsche die AfD gewählt – nämlich 3,9 Millionen. Sie kommen aus der CDU, SPD und von der Linken. Ein Teil der Wähler hierzulande ist sehr beweglich. Von denjenigen, die heute ihr Kreuz bei der AfD machen, haben vorher viele CDU gewählt, manche auch SPD, einige die Linke. Grünenwähler wechseln dagegen fast nie zur AfD. Wichtig: Es stimmt, dass die AfD ein Auffangbecken für Nichtwähler ist. Ob deren Wahlverhalten aber zwingend als »Protestwahl« aus Politikverdrossenheit heraus angesehen werden kann, ist nicht klar. Manche Studien legen nahe, dass »mäandernde« Wähler, die mit ihrer rechten Einstellung bisher keine adäquate politische Heimat gefunden haben, nun in der AfD eine Partei sehen, in der sie sich mit ihren Ansichten vertreten fühlen.Menschen mit rechtsgerichteten Meinungen und Überzeugungen sind also überall in der Gesellschaft zu finden. Es ist wichtig, sich das bewusst zu machen. Der Soziologe Wilhelm Heitmeyer weist jedenfalls in seinen Analysen seit Jahren darauf hin, dass es nicht ratsam ist, die rassistischen, nationalistischen oder chauvinistischen Einstellungen immer wieder nur extremen Gruppen zuzuordnen. Die Tendenz, »dort die neonazistische Verbrecherbande und hier die intakte Gesellschaft« zu sehen, sei kontraproduktiv. So würde nur »gesellschaftliche Selbstentlastung betrieben«.
Heitmeyer rät also, genauer hinzuschauen, sich mit den rechtsextremen Tendenzen der Gesellschaft insgesamt zu beschäftigen und alle, nicht nur bestimmte Ausprägungen, in den Blick zu nehmen. So könnte man Spaltungsprozessen entgegenwirken und darüber hinaus mit diesem Wissen rechte Äußerungen und Haltungen – gerade auch im eigenen Umfeld – gezielter als solche einordnen und ihnen etwas entgegensetzen.
Wenn aber rechte Einstellungen gesamtgesellschaftlich derart verbreitet sind, muss es Ursachen für diese Haltungen geben, die nicht allein in gesellschaftlichen oder politischen Streitfragen liegen, sondern die tiefer gehen. Es muss sozusagen eine »Seele« dieses Phänomens geben, die viele Menschen mit unterschiedlichem sozialen Status und biografischer Herkunft teilen. Daher stellt sich dringend die Frage, welche tieferliegenden psychischen Dynamiken beim aktuellen Rechtsruck am Werk sind.
Gemeinsamkeiten: Der Hang zum Autoritarismus
Es geht hier also um eine Art fehlendes psychologisches Puzzleteil, das bisher möglicherweise übersehen oder in den letzten Jahrzehnten auch nur vernachlässigt wurde. Aber wo soll man suchen? Die Frage nach einer möglichen Verbindung zwischen allen, die nach rechts tendieren, haben in letzter Zeit vor allem Wahlprognostiker gestellt, die mit ihren Vorhersagen oft falsch lagen. Nach der Wahl von Donald Trump 2016 begann der Politikwissenschaftler Matthew MacWilliams von der University of Massachusetts in Anhurst nach einem Faktor zu suchen, der Menschen zu typischen Trump-Wählern machte, und entdeckte etwas Interessantes: Bei der Analyse von Umfragedaten von 1800 Wählern fand er heraus, dass nicht Geschlecht, Alter, Ethnie oder bisherige Wahlpräferenzen den Trump-Wähler kennzeichneten, sondern vor allem der Hang zu »autoritären Einstellungen und Ansichten«. Gemessen wird »Autoritarismus« – den man zum Teil als Ideologie, zum Teil als innerpsychische Prägung verstehen kann – anhand von bestimmten Skalen, die in der Sozialwissenschaft oftmals eingesetzt werden. (Heute wird etwa häufig die KSA-3, die Kurzskala zum Autoritarismus, genutzt.) Wer hohe Werte in solchen Fragebögen hat, der tendiert beispielsweise dazu, »autoritäre Aggression« zu befürworten, wünscht sich also eine Führungsperson oder Führungsmacht, die hart durchgreift und »aufräumt«. Außerdem findet er »autoritären Gehorsam« wichtig, will also, dass sich alle Menschen bereitwillig der Autorität unterordnen. Zum Dritten verlangen sie eine Art »Konformismus«, wollen also, dass Traditionen befolgt werden, sich nichts ändert, die Dinge so gehandhabt werden wie immer. Wer nicht konform geht, so die Einstellung von autoritär tickenden Menschen, der gehöre hart bestraft und ausgegrenzt.
Dieser Faktor scheint nicht nur in den USA bei den jüngsten Wahlen eine entscheidende Rolle gespielt zu haben – und er ist vermutlich auch nicht erst seit kurzem wichtig. »Wer verstehen will, woher die innere Bereitschaft so vieler Menschen kommt, heute eher nationalistischen, rassistischen und anti-demokratischen Stimmen zu vertrauen, der findet die Antwort nur, wenn er sozialpsychologische Theorien heranzieht, die sowohl die gesellschaftlichen Verhältnisse als auch innere psychische Prozesse und deren Verschränkung miteinander erklären«, sagt der Sozialpsychologe Oliver Decker, Direktor des Kompetenzzentrums für Demokratieforschung und Rechtsextremismus an der Universität Leipzig. »Eine solche Möglichkeit bietet das Konzept des Autoritarismus, früher sprach man hier auch vom autoritären Charakter.«
Es gibt also durchaus Hinweise dafür, dass bestimmte innere, mit der Persönlichkeit verbundene autoritäre Dynamiken Menschen nach rechts treiben bzw. rassistischen Einstellungen und Ressentiments den Weg bahnen und sie aufrechterhalten können. Von einem »autoritären Charakter«, ein Begriff, der ursprünglich aus einer umfangreichen Studie des Philosophen und Sozialwissenschaftlers Theodor W. Adorno aus den 1940er-Jahren abgeleitet wurde, spricht man zwar heute nicht mehr. Ein Teil der Dimensionen der damals von Adorno entwickelten Skala zur Messung des autoritären bzw. faschistischen Charakters fließt aber auch in modernere Autoritarismus-Skalen ein. Wer noch mehr zu den Hintergründen von Adornos Studie und seinen Befunden lesen will, sei auf den Kasten auf Seite 35 verwiesen. Relevant und aufschlussreich an der Idee des »autoritären Charakters« ist bis heute, dass viele Menschen psychische Strukturen und Ideologien verinnerlicht haben, die sie ganz klar in Richtung rechtes Denken und rechtsextreme Einstellungen treiben.
Die messbare Zustimmung, die sich in den drei Bereichen »autoritäre Aggression«, »autoritärer Gehorsam« sowie im »Wunsch nach Konformismus« zeigt, wird heute deshalb nicht allein zur Erfassung von autoritären Einstellungen generell verwendet. In den Sozialwissenschaften und der Sozialpsychologie ist man sich einig, dass kein anderer Faktor den Hang zu Rassismus, Menschenfeindlichkeit und rechtsextremen Einstellungen so gut voraussagt wie die Zustimmung zu autoritärer Aggression und autoritärem Gehorsam.
Was aber verbirgt sich genau hinter den Begriffen? Wer »autoritäre Aggression« befürwortet, der akzeptiert laut der »Kurzskala Autoritarismus« beispielsweise die Aussage: »Gegen Außenseiter und Nichtstuer sollte in der Gesellschaft mit aller Härte vorgegangen werden.« Und wer »autoritären Gehorsam« für richtig hält, ist bereit, sich unterzuordnen und stimmt z.B. der Aussage zu: »Wir brauchen starke Führungspersonen, damit wir in der Gesellschaft sicher leben können.« Alle diese Sätze haben sowohl mit Gehorsam als auch mit Aggression zu tun, sie spiegeln eine gewisse Gewalt und Härte wider und enthalten implizit oder explizit den Wunsch nach einem starken, aggressiven Führer.
Wer noch genauer begreifen will, was sich hinter dem Begriff der »autoritären Dynamik« verbirgt, dem bietet der Sozialpsychologe Oliver Decker in einem Interview für die Zeitschrift »Psychologie Heute« das klassische Bild des »Radfahrers« an. »Nach oben wird gebuckelt, es besteht eine Sehnsucht nach klarer Führung und einer harten Hand. Nach unten wird getreten, andere Menschen werden abgewertet, vor allem die, die man als schwächer oder unangepasster wahrnimmt. Dazu kommt, dass man sich selbst verpflichtet fühlt, eine bestimmte Spur nicht zu verlassen, auf dem Rad zu bleiben, weiter zu trampeln.« Eine autoritäre Einstellung hat also immer zwei Seiten: Zum einen zeigt sie sich durch Gehorsam, durch das sich Einordnen, Ducken und Kuschen. Zum anderen durch Aggression: Autoritäten sollen unbedingt hart durchgreifen – und man ist auch selbst bereit, mit Gewalt und Unerbittlichkeit vorzugehen, wenn es sein muss. Im autoritären Prinzip bildet sich daher eine ambivalente Dynamik ab: Sie kippt immer wieder zwischen Kuschen und Austeilen. Diese innere, psychische Dynamik ist im Moment aktuell wie eh und je.
Kann man also sagen, dass Menschen, die sich heute zu rechtspopulistischen und rechtsextremen Einstellungen hingezogen fühlen, die sich manifest oder latent rassistisch äußern oder die Trump-Fans sind, in ihrem Inneren »autoritär« strukturiert sind? Bis zu einem bestimmten Punkt: Ja. Der Hang zur »autoritären Aggression« zeigt sich im Grunde deutlich, wenn man sieht, wie hasserfüllt und hart die meisten Personen wirken, die etwa bei Pegida mitmarschieren oder sich öffentlich negativ über vermeintliche Reizthemen wie Zuwanderung auslassen. Auch Menschen, die sich privat oder in sozialen Medien fremdenfeindlich oder nationalistisch positionieren, zeigen bereits in ihrer Art der Argumentation ein bestimmtes Ausmaß an autoritärer Aggression. Sie drohen Gewalt an und beschimpfen andere, benutzen hochaggressive Metaphern von »Parasiten« und »Säuberung« und fordern im nächsten Satz von denselben Menschen strikte Unterordnung oder mehr Anpassung. Man denke zum Beispiel an empört vorgebrachte Scheinargumente wie: »Die Flüchtlinge kommen einfach hier an, haben nichts geleistet und bekommen mehr als ich, der ich mich seit Jahren diesem Staat gehorsam anpasse – sie haben zum Beispiel alle Handys, die sie von unserem Geld gekauft haben.« Obwohl diese Einschätzung nicht mal ansatzweise dem realen Status und der Situation eines Flüchtlings in Deutschland gerecht wird, entfaltet sich die autoritäre innerpsychische Dynamik – die in den Kategorien Anpassung, Gehorsam und Aggression rangiert – typischerweise gegenüber scheinbar Schwächeren, die aber vermeintlich freier sind, weniger geleistet haben, weniger angepasst sind als man selbst. Rationale Argumente zählen dann nicht mehr viel. Wer autoritäre Prinzipien verinnerlicht hat, bei dem spielt sich beinah alles zwangsläufig in der Logik von Aggression und Gehorsam ab. Es ist schon erstaunlich, dass diese rigide Lebenshaltung heute so oft in der politischen und öffentlichen Diskussion als purer Ausdruck von »Angst und Sorge« gewertet wird – denn hier geht es letztlich eher um Aggression, um das Kleinmachen und Unterordnen anderer.
Zusammenfassend kann man sagen: Eine radikal rechte Position wird sehr oft von einer inneren autoritären Einstellung gestützt. Diese ist nicht einfach eine Meinung, sondern ein tiefer, psychischer Mechanismus. Er entspring dem Wunsch nach einem mächtigen Führer, nach Bestrafung vermeintlich Schwächerer, nach Härte und Kraftdemonstration, an die man sich anschließen und anlehnen kann. Mal drückt sich diese Einstellung in Unterwürfigkeit aus, mal in aggressivem Verhalten und Hass. So unterschiedlich heute verschiedene Befürworter »rechter Einstellungen« wahrgenommen werden, so unterschiedlich sie zum Teil auch sind – die autoritäre Dynamik eint sie. Sie ist der Dreh- und Angelpunkt, wenn man sich mit den psychischen Antrieben Einzelner auf dem Weg nach rechts beschäftigt.