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Die Lebenssituation vieler Menschen ist in den vergangenen Jahrzehnten besser geworden nicht zuletzt durch das Wirtschaften auf überwiegend kapitalistischen Grundlagen, inklusive voranschreitender Globalisierung. Doch das ist nicht die ganze Wahrheit. Denn schaut man etwas genauer hin, werden die Schattenseiten dieser Entwicklung deutlich. Für zahlreiche Probleme in der Welt - auch wirtschaftliche - wurde keine Lösung gefunden, sie scheinen sich zum Teil sogar zu verschärfen. Beispiele dafür sind unter anderem die materielle Ungleichverteilung in der Weltbevölkerung und der voranschreitende Klimawandel.Der Autor wirft in diesem Buch die provokante Frage auf, ob der Kapitalismus -wie wir ihn kennen - die Welt besser macht bzw. ob er überhaupt noch eine Zukunft hat. Er geht im Detail auf die drei Ebenen Weltwirtschaft, Politikgestaltung und Nachhaltigkeit ein, die im Buch eine wichtige Rolle spielen und greift zentrale Fragen auf:Wie sind die Spielregeln des Wirtschaftens auszugestalten, so dass ein fairer Welthandel ermöglicht wird? In welchem Maße kann Staat bei der Gestaltung der Wirtschaft eingreifen? Was muss unternommen werden, um zu einem Wirtschaftssystem zu gelangen, das auch ökologisch nachhaltig ist?Ein hochaktuelles Buch in einer Zeit, in der nichts mehr sicher scheint, außer die Tatsache, dass viele Entwicklungen gegenwärtige Probleme noch verschärfen.
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Michael v. Wuntsch ist Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler. Als Professor für Betriebswirtschaft lehrte er in Berlin und sporadischin Peking.
Es hat sich herumgesprochen, dass die Globalisierung der Wirtschaft zwiespältige Ergebnisse hervorbringt. Noch um die Jahrtausendwende schwärmten die wirtschaftlichen und politischen Davos-Eliten von den neuen Chancen, die mit dem Niederreißen von Zollschranken und der Deregulierung des Kapitalverkehrs verknüpft seien. Auf diesen Zug sprangen auch sozialdemokratische Politiker wie Bill Clinton, Tony Blair und Gerhard Schröder begeistert auf. Auf der Tagesordnung stand nicht die Anpassung des Wettbewerbs an die historisch gewachsenen Standards in den betroffenen Ländern, sondern umgekehrt ihre bedingungslose Öffnung und Unterordnung unter die Bedürfnisse des globalen Kapitals. Die Begründung dieser Art der Anpassung war mit der alten, von David Ricardo begründeten Theorie des komparativen Vorteils schnell gefunden. Indem sich jedes Land spezialisiere und das anbiete, was es am besten könne, profitiere die ganze Weltwirtschaft. Ricardo war vor mehr als zweihundert Jahren als Vordenker des Freihandels hervorgetreten, indem er die merkantilistische Politik des Protektionismus kritisierte. Die Abschaffung der Zölle und der Import von Gütern sind bis heute ein strittiges Thema geblieben. Die Erfahrung zeigt, dass der materielle Wohlstand zwar allgemein wächst, aber Gewinner und Verlierer der Globalisierung erzeugt werden. Auf dem Weltmarkt lassen sich vor allem zwei verschiedene Prozesse nachweisen, die unterschiedliche Formen des Welthandels repräsentieren:
Erstens verfügen die industriell hochentwickelten Länder über Hochtechnologie, Know-how und ein Reservoir an qualifizierten Arbeitskräften, die ihnen Wettbewerbsvorteile verschaffen. Dies trifft die Arbeitskräfte in unterschiedlicher Weise. Gegenüber Ländern mit billigem Arbeitsangebot geraten gering ausgebildete Arbeitskräfte in den reichen Ländern unter Druck. Und in den armen Ländern bildet sich eine neue Schicht an Profiteuren. Die Arbeits- und Lebensverhältnisse polarisieren sich innerhalb der Länder und zwischen ihnen. Die Verschiebung der internationalen Arbeitsteilung tritt am deutlichsten im Verhältnis zwischen China und den USA hervor. Obwohl China in den Markt für hochtechnologische Produkte drängt, ist das Land weiterhin vor allem die „Werkbank der Welt“.
Zweitens dominieren die entwickelten Industrieländer den Welthandel, indem die Investitions- und Güterströme schwerpunktmäßig innerhalb ihres eigenen Territoriums kreisen. Der Automarkt ist dafür das beste Beispiel. Die großen Marken werden wechselseitig in Ländern wie USA, Japan, Frankreich, Großbritannien und Deutschland angeboten, in denen jeweils auch ihre Konkurrenten agieren. Einerseits sind die Firmengiganten auf wachsende Märkte angewiesen, denn die Verteilung ihrer Kosten bewirkt einen Sog zur Massenproduktion und zum Massenabsatz, der die Dimension der heimischen Märkte weit überschreitet. Andererseits befriedigt die Warenvielfalt die Bedürfnisse der Wohlstandskunden.
Der Harvard-Ökonom Dani Rodrik hat die Lücke auf Seiten der Verlierer des globalen Wettbewerbs näher betrachtet.1 Während in den 1950er und 1960er Jahren die Reduzierung von Zöllen noch zur allgemeinen Wohlstandssteigerung beigetragen habe, verlaufe die Entwicklung der Einkommen am Ende zwanzigsten Jahrhunderts widersprüchlich. Er verweist auf die Regionen in den USA, die vom Nafta-Handel2 besonders betroffen sind. Die eher schlecht ausgebildeten „blue-collar workers“ erlitten in der Zeit zwischen 1990 und 2000 gegenüber nicht vom Nafta-Handel betroffenen Gebieten relative Einkommensverluste. Und da der Staat in den USA die sozialen Verluste nicht kompensiere, sei die Skepsis gegenüber dem Freihandel bei den amerikanischen Arbeitern gewachsen. Rodrik macht den globalen Wettbewerb für die Verwerfungen verantwortlich, denn die Weltfirmen nutzen die geringen Steuer-, Arbeits-, Sicherheits- und Umweltstandards im Ausland aus. Die Hyperglobalisierung schaffe eine Spielwiese für multinationale Konzerne und enge die nationale demokratische Kontrolle ein. Er hinterfragt nicht nur die Anpassung der Regeln für Zölle, Investitionen, Patente und Copyrights im Interesse der Industrieländer, sondern auch die Liberalisierung der Finanzmärkte.
Der globale Markt ist das Terrain des Geldkapitals. Marx hatte das Kapital bereits als eigentümliche Ware bezeichnet, die in der Lage ist, Wunder zu vollbringen. In der Form des Geldkapitals offenbare sich seine Funktion, beständig neuen Wert auszuspucken. Die Ausgestaltung der Wirtschaft als kontinuierliche Schöpfungstat erweist sich als Verwirklichung einer Handlungs- und Denkweise, die Züge alchemistischen Strebens trägt. Die Anreicherung der materiellen Welt erscheint als naturgegebener Auftrag zur Verwandlung der Dinge in höherwertige Substanzen und Zustände, vergleichbar der Suche nach dem Stein des Weisen.
Diese Erkenntnis ist nicht neu. Die Illusion der Schöpfung aus dem Nichts hat schon Goethe aufgegriffen und in sein Faust-Drama integriert. Als Minister in Weimar besaß er genügend ökonomischen Sachverstand, um das immer weiter treibende, faustische Element der neuen Zeit mit den Mitteln der Poesie zu erfassen. Die Erfahrungen früher Finanzkrisen haben das Geistesleben beflügelt. Die sich seit dem 13. Jahrhundert zunächst in Oberitalien und Portugal ausbreitende kapitalistische Handelsweise hat nicht nur die feudalen Herrschaftsverhältnisse hinweggefegt, sondern sie hat von Anfang an auch ihr ideologisches Selbstbildnis erzeugt. Die frühen Darstellungen der klassischen Ökonomen und ihrer Epigonen über die ursprünglichen Tauschgesellschaften, die Aneignung von Eigentum durch Arbeit und die Reichtumserzeugung haben ein narratives Gedankenmuster gemalt, das bis heute nachwirkt. Das gilt insbesondere für das Bildnis Adam Smiths, wonach die unsichtbare Hand den Egoismus der handelnden Individuen in das harmonische Ganze transformiert.
In der Zwischenzeit hat sich der Finanzüberbau weiter ausgefächert. Gegenüber der Zeit von Marx, in der das industrielle Kapital die Geschicke bestimmt hatte, haben Finanzinstitutionen die Oberhand erlangt. Sie entscheiden heute maßgeblich über die Verteilung von Investitionen und die Aufgliederung von Arbeit auf die verschiedenen Regionen der Welt. Die Funktion des Geldes, Kapital zu generieren, hat einen neuen Höhepunkt erreicht. Die automatische Reichtumserzeugung scheint sich im doppelten Sinne zu verwirklichen. Zum einen haben transnationale Firmengiganten ein global verzweigtes Produktions- und Handelssystem etabliert, das nach den Regeln des Shareholder-Kapitalismus organisiert ist. Zum anderen hat sich die Illusion verbreitet, als lasse sich die Reproduktion des Kapitals auf die Investition von Geldmitteln am Beginn und die Vereinnahmung des vermehrten Rückflusses am Ende des Prozesses verdichten. Finanzinvestoren vermeiden gerne die lästige Zwischenphase der Produktion von Gütern und Diensten, insoweit sich Investitionen im Finanzüberbau als vorteilhafter erweisen. Robo-Advisor und Algorithmen steuern heute einen Großteil der weltweiten Investitionen. Mit Hilfe der digitalen Technologien scheint sich der Traum vom Wert generierenden Automaten zu verwirklichen. Die Rastlosigkeit erscheint als tief verwurzeltes Charakteristikum der Finanzmärkte. Auch nach der letzten großen Finanzkrise 2007/08 hat sich die Lage nicht beruhigt.
Die Staaten sind insoweit eingebunden in die Reproduktion des Kapitals, als sie deren Rahmenbedingungen determinieren. Je mobiler der Faktor Kapital geworden ist, desto mehr ist die Qualität des rechtlichen und kulturellen Gefüges im internationalen Vergleich in den Vordergrund gerückt. Der institutionelle Rahmen gibt die Spielregeln des wirtschaftlichen Handelns vor. Dies betrifft nicht nur die Rahmengesetze sowie die Arbeits-, Sozial- und Umweltstandards, sondern auch die historisch gewachsene Lebenskultur in einem Staat. Im Laufe der Wirtschaftsgeschichte sind zwischen den Staaten Differenzen entstanden, die von der Politischen Ökonomie erfasst worden sind. Die Variationsbreite der realen marktwirtschaftlichen Modelle ist von Peter Hall und David Soskice im Rahmen ihres Ansatzes zu den „Varieties of Capitalism“ beschrieben worden. Sie haben die Aufmerksamkeit auf einen wichtigen Aspekt des Markthandelns gerichtet. Was wir als Kapitalismus bezeichnen, basiert im internationalen Vergleich auf grundlegenden Gemeinsamkeiten, erfährt in den Ländern aber auch verschiedene Ausprägungen. Der Schwerpunkt der Analyse von Hall und Soskice liegt im Gegenüber des angloamerikanischen „klassisch liberalen“ und des „koordinierten“ Marktmodells, das eher in Kontinentaleuropa und in einigen ostasiatischen Ländern zu finden ist. Auch wenn die institutionellen und kulturellen Besonderheiten weiter eingegrenzt werden können, weist der Ansatz auf Gestaltungsräume für die Politik. Wenn das Wirtschaftsleben eine Variation an möglichen Spielregeln offenbart, ist ein zentraler Ansatzpunkt für Veränderungen gegeben. Inwieweit sich dem politischen Handeln in der Demokratie Spielräume eröffnen, wird allerdings kontrovers beurteilt. So geht Wolfgang Streeck davon aus, dass der Sharholder-Value-Kapitalismus auf dem Weg sei, die noch bestehenden Unterschiede zwischen den Ländern einzuebnen.
Die demokratisch verfassten Gesellschaften befinden sich in der Defensive. Das Problem ist, dass den globalen Aktivitäten der transnationalen Konzerne Nationalstaaten gegenüberstehen, deren demokratische Kontrolle auf das eigene Staatsterritorium begrenzt ist. Die Spielregeln der Marktwirtschaft sind zwar gestaltbar, aber die mangelnde Reichweite des nationalen Regierungshandelns kommt den Weltfirmen entgegen. Dazu kommt, dass auch die Abstimmungsprozesse der internationalen Politik schwierig verlaufen. Die Entwicklung verläuft weg von multilateralen Institutionen hin zu offenen Formen der internationalen Kooperation auf höchster Regierungsebene. Und Gipfelkonferenzen im G20-Format besitzen keine quasi-supranationale Autorität. Es verwundert daher nicht, dass aus den unterschiedlichen Standards im Ländervergleich komparative Vorteile für Investitionen abgeleitet werden. In diesem Sinne setzen Staaten ihre Institutionen bewusst als Mittel im Wettbewerb um Standorte ein. Sie verhalten sich wie Konkurrenten. Der Trend hin zur Senkung von Steuersätzen und zum Angebot von Subventionen ist seit Jahren Merkmal der Wirtschaftspolitik. Insbesondere transnationale Unternehmen ziehen daraus Vorteile. Steuern sind in der Rangordnung der Standortfaktoren gestiegen. Die Konkurrenz der Steuerstandorte ist zum Problem geworden. Steueroasen bedrohen die Stabilität der Märkte und der Staaten. In vielen Studien wird der gewaltige Transfer von Gewinnen in verschiedene Steuerparadiese bestätigt. Nach Gabriel Zucman sind 40% der von multinationalen Firmen erzielten Gewinne im Jahr 2015 in solchen Offshore-Zentren gelandet. Spitzenwerte erreichen US-Konzerne. Die Niedrigsteuergebiete liegen nicht nur in exotischen Gebieten der Welt, sondern mitten im Einflussbereich der Europäischen Union und der Vereinigten Staaten von Amerika. Die Wirtschaftspolitik der Industriestaaten selbst ist höchst widersprüchlich.
Was liegt all dem zugrunde? Und inwiefern können wir den Entwicklungsverlauf beeinflussen? Max Weber hat das Erwerbsstreben im Sinne der zweckrational orientierten Handlungsmaxime dem Typus des rationalen Wirtschaftsmenschen zugeordnet. Der „homo oeconomicus“ repräsentiert das Leitbild des rationalen Handelns in den kapitalistischen Gesellschaften. Seine Rationalität ist in verschiedener Hinsicht begrenzt. In den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften ist seit langem auf eine merkwürdige Ambivalenz des gesellschaftlichen Handelns aufmerksam gemacht worden. Zwar handeln die Subjekte zielorientiert und eigennützig, doch stellen sich die intendierten Prozesse ihnen gegenüber als fremde Macht dar, die ihren Handlungsraum einengt und bedroht. Dem optimistischen Blick von Smith stehen die Sichtweisen von Weber und Marx gegenüber. Während Weber erkannte, dass die fortschreitende Rationalisierung aller Lebensbereiche mit der unaufhaltsamen Bürokratisierung und Effizienzsteigerung einhergeht, sieht Marx die Vorherrschaft der Warenbewegungen gegenüber den intendierten Handlungen der Subjekte. Indem sie sich als Charaktermasken gegenübertreten, werden sie von Dingen kontrolliert. Marx hat diese verdrehte Konstellation im Rahmen seiner Analyse der ökonomischen Bewegungsgesetze des Kapitalismus herausgestellt. Er skizziert die Akteure als Kollektivsubjekte, die linear die Gesetze der kapitalistischen Verwertung vollziehen. Allerdings erweist sich die reale Geschichte nicht als eindimensionaler Pfad. Sie ist vielmehr durch Konfliktlinien und Brüche gekennzeichnet, die auch alternative Verläufe beinhaltet. Polanyi hat die Wirtschafts- und Sozialgeschichte als ineinander verschachtelten Prozess von Bewegung und Gegenbewegung beschrieben. Diese Perspektive des Handelns unterliegt der folgenden Darstellung.
Die Subjekte sind keine blutleeren Wesen, die unbewusst einer übergeordneten geschichtlichen Logik folgen. In diesem Punkt zeigt sich eine Kluft im Marxschen Werk. Denn im Gegensatz zu seiner Kapitalanalyse hebt er in seinen historisch-politischen Schriften den aktiven Anteil der Subjekte an der Menschheitsgeschichte hervor. Sie sind in der Lage, die Entwicklungsrichtung zu beeinflussen und historische Weichen zu stellen, indem sie ihren politischen und moralischen Absichten gemäß handeln. Die Akteure verfolgen ihre Interessen im Kontext von normativen Einstellungen, die moralisch-kulturelle Werte und Stimmungen zum
Ausdruck bringen (Honneth 2014: 360).3 In der fragmentierten Gesellschaft von heute gilt dies mehr denn je. In dieser Perspektive weist die Gesellschaftskritik über die Aufdeckung von Funktionsstörungen der Wirtschaft weit hinaus. Sie muss sich auf die Lebensweise im Kapitalismus als Ganzes beziehen. Dies betrifft nicht nur die Verteilung des Reichtums und die Gestaltung der Arbeitswelt, sondern auch die Naturzerstörung sowie die sich ausweitende Kommerzialisierung und Versachlichung aller Lebensbereiche. Eine ethisch inspirierte Kritik begreift die Einbindung der Lebensweise in den reproduktiven Zirkel als Abkehr vom Freiheitsversprechen der bürgerlichen Gesellschaft. Die Erkenntnis der begrenzten Rationalität des Kapitals sowie die normativ ausgerichtete Interessenabwägung der Subjekte bilden zusammen den Kontext zum Verständnis sozialer Entwicklungen.
In dieser Perspektive ergeben sich viele Fragen. Was steckt hinter dem Zyklus der ewigen Auf- und Abschwünge der Börsen? Wie kann der Finanzkapitalismus gezähmt und die Macht der transnationalen Konzerne begrenzt werden? Wie sind die Spielregeln des Wirtschaftens auszugestalten, so dass ein fairer Welthandel ermöglicht wird? Was kann getan werden, um Steueroasen zu bekämpfen? Welche Rolle kommt dem Staat bei der Gestaltung der Wirtschaft zu? Welche Rolle spielt die Sozialpolitik im europäischen Einigungsprozess? Und wie kann eine Transformation zur Nachhaltigkeit in Gang gesetzt werden, die zur Dekarbonisierung der Wirtschaft beiträgt. Im Buch wird versucht, zentrale Problemfelder und Antworten einzugrenzen. Die Vorschläge sind getragen von zwei Überzeugungen:
Erstens lässt sich Gesellschaftskritik nur innerhalb demokratischer Strukturen sinnvoll umsetzen. Denn die Demokratie basiert – im Gegensatz zu autoritären Formen der Herrschaft – auf der wechselseitigen Anerkennung der Subjekte als Rechtspersonen. Daraus erwächst die „formelle Freiheit“ der Marktakteure, die sich bislang als einzige geschichtliche Verwirklichungsform von Freiheit erweist. Zudem ist die Demokratie vom Anspruch her offen für verschiedene Wirtschaftsmodelle. Sie ist die einzige Herrschaftsform, in der bestehende Unvollkommenheiten als Auftrag zu Veränderungen und als permanentes Ringen um den besten Weg begriffen werden können. Allerdings ist die Freiheit der nivellierenden Kraft des Marktes und Kommerzes ausgesetzt, die zu standardisierten Formen des Verhaltens innerhalb und außerhalb der Konsumsphäre drängen. Der Philosoph Žižek verweist daher auf „die Illusionen, auf denen die kapitalistische Wirtschaft ebenso wie ihre falschen Übertretungen beruhen“ (2016: 35).4 Die Demokratie schützt nicht automatisch vor der destruktiven Herrschaft alter und neuer Machthaber.
Zweitens ist das Zwei-Welten-Denken der Wirtschaftsethik zu überwinden, nach der die Rahmenordnung des Marktes als ethisch-politisches Neutrum angesehen wird. Der Ethik wird dann nur noch die Rolle des Korrektivs zum Gewinnprinzip zugesprochen. Demgegenüber wird an der Vision der „Lebensdienlichkeit“ der Wertschöpfung als konstitutive ethische Aufgabe der Wirtschaftsordnung festgehalten. Diese Formel hat der Wirtschaftsethiker Peter Ulrich geprägt.5 Die Sichtweise bezieht nicht nur den ganzen Lebenszyklus der Produkte von den Rohstoffen, über den Transport, die Herstellungs- und Verwendungsweise, bis zum Recycling und der Entsorgung des Abfalls ein. Es geht darüber hinaus um die Qualität der Wertschöpfung selbst und damit um die Beantwortung grundlegender Fragen: Welche Werte sollen im Unternehmen geschaffen werden? Für wen und in welcher Weise sind sie zu schaffen? Was folgt aus der Charakterisierung der Konzerne als „quasi-öffentliche“ Gebilde? Wie ist die Wertschöpfung gerecht zu verteilen? Wer soll die sozialen und ökologischen Kosten der Wertschöpfung tragen? Und was muss getan werden, um die Erderwärmung zu begrenzen?
Der Text gliedert sich in fünf Kapitel:
Im 1. Kapitel werden im Zusammenhang mit einer kurzen Zustandsbeschreibung der Wirtschaft und Gesellschaft die zentralen wirtschaftspolitischen Konfliktfelder und Debatten der vergangenen Jahre eingegrenzt.
Danach werden im 2. Kapitel die Eckpunkte des finanzdominierten Kapitalismus aufgezeigt. Die Betrachtung knüpft an grundlegende Denktraditionen und Argumentationsmuster an, die in der ökonomischen Zunft bis heute vorherrschend sind und als äußerst strittig gelten. Es geht darum, das Motiv des Geldkapitals zu entschleiern und die Begrenztheit der Marktrationalität zu umreissen.
Das 3. Kapitel taucht ein in die Welt der global agierenden Konzerne. Ihnen steht im Grunde keine globale Demokratie gegenüber, die ihre Macht einhegen könnte. Die Wirrnisse der Steuergestaltungen und die defensive Reaktion der Staaten auf die Gewinnverlagerungen in Steueroasen werden erläutert und Gegenmaßnahmen diskutiert.
Im Anschluss an die Skizze der zentralen Konfliktlinien in Wirtschaft und Gesellschaft wird im 4. Kapitel nach der Rolle des Staates in der Marktgesellschaft gefragt. Thematisiert werden die Mystifizierungen des Geldkapitals, der Trend zur Fragmentierung der Gesellschaft und die Schranken der europäischen Regulierungsmacht. Am Beispiel der jüngeren Technikgeschichte wird schließlich gezeigt, dass der amerikanische Staat über seine Forschungspolitik die Innovationen der großen IT-Firmen im Silicon Valley maßgeblich geprägt hat.
Das 5. Kapitel beschäftigt sich mit den Leitlinien einer anderen Wirtschaftspolitik. Die Ausführungen beginnen mit wirtschaftsethischen Aspekten der Kritik am Kapitalismus als Lebensform und enden mit Vorschlägen zur Umorientierung der Wirtschaft. Die vorgeschlagenen Maßnahmen beziehen sich auf drei Kritikebenen:
den unfairen Welthandel,
die Macht des Finanzkapitals und
den Kampf gegen den Klimawandel.
Ich bin meinen Kollegen und früheren Schreibpartnern, Bernadette Andreosso-O‘Callaghan von der University of Limerick/Ireland und Xiaojun Wei von der Grant MacEwan University in Edmonton/Canada, dankbar für ihre Ergänzungen im Rahmen der beiden Nachworte. Viele der in diesem Buch vorgetragenen Ideen sind in gemeinsamen Forschungsarbeiten und Veröffentlichungen zu den Strategien multinationaler Konzerne in der globalen Wirtschaft entstanden. Bernadette stellt die Apple-Steuergeschichte aus irischer Sicht dar. Xiaojun hebt die Besonderheit des chinesischen Modells der Marktwirtschaft hervor und verweist auf die Debatte zu den „varieties of capitalism“.
1 Die Ausführungen beziehen sich auf den Essay von Rodrik „The Great Globalization Lie“ (2018).
2 Nafta ist das Kürzel für „North American Free-Trade Area“ und bezeichnet das umstrittene Handelsabkommen zwischen Kanada, Mexiko und den USA. Im Oktober 2018 ist zwischen den beteiligten Staaten vereinbart worden, dass Nafta durch das „United States, Mexico, Canada Agreement (USMCA)“ ersetzt wird. Gestärkt werden der digitale Handel, der Schutz von Rechten sowie die Schiedsgerichte. Die Kfz-Importe in die USA bleiben weitgehend zollfrei.
3 Der Direktor des Instituts für Sozialforschung, Axel Honneth, tritt für „eine soziologisierte Kapitalismusanalyse ein, die … auch die Dimension des sozialen Kampfes wieder in den Blick rückt“ (2014: 363).
4 Žižek, der sich auf Lacan und Hegel bezieht, erwartet nicht viel von der Wahldemokratie: „Freie Wahlen … dienen als Kontrolle der Parteibewegungen … Ein positiver Schritt zu einer neuen Ordnung liegt außerhalb ihrer Möglichkeiten“ (2016: 1357).
5 „Am Anfang steht nicht ein strategisches Kalkül, sondern die lebensdienliche Frage: ‚Wofür setzen wir uns ein‘?“ (Ulrich 2001: 432).
Vorwort
Kapitel: „Das Spiel geht weiter“
Bewegungsmuster des Kapitals und Fausts Wette
„Varieties of Capitalism“ - Rheinischer Kapitalismus in der Defensive
Wirtschaftspolitische Konfliktfelder und Denkmuster
Kapitel: Das Motiv des Geldkapitals und Schranken der Marktrationalität
Spuren des ökonomischen Denkens (Neoklassik, Keynes und Marx)
Vom Verschwinden der Zeit - Magie des Geldkapitals und Zwang zum Wachstum
Die Kunstfigur des Homo Oeconomicus auf effizient ineffizienten Finanzmärkten
Finanzinvestoren im Aufwind – Umbau der Wirtschaft und Einschränkung des Wettbewerbs
Corporate Governance und Grenzen der Wertbestimmung
Kapitel: Wettbewerb der Wirtschaftsstandorte und Ohnmacht der Steuerpolitik
Transnationale Konzerne auf dem Vormarsch
Steuerstandortkonkurrenz und defensive Finanzpolitik
Die schillernden Steuergestaltungen der Multis
Widersprüche der U.S.-Steuerpolitik bei der Bekämpfung von Gewinnverlagerungen
Die Rolle der Steueroasen im Intrakonzernhandel der Multis
Gegenmaßnahmen – die Politik ist gefordert
Kapitel: Der Staat in der bürgerlichen Marktgesellschaft
Weltmarkt ohne Global Governance
Die Schranken der europäischen Regulierungsmacht
Fragmentierung der Gesellschaft und Handlungsmacht der Subjekte
Mystifizierungen des Geldkapitals und die Idee der unendlichen Verwertung im Faust-Drama
Die aktive Rolle des Staates in der Marktwirtschaft
Kapitel: Leitlinien einer anderen Wirtschaftspolitik
Kritik am Kapitalismus als Lebensform
Die WTO-Politik und Ungleichgewichte in den globalen Wirtschaftsbeziehungen
Die Macht der Börsen und die wachsende Vermögenskonzentration
Transformation zur Nachhaltigkeit und Kampf gegen den Klimawandel
Ringen um Hegemonie und Rolle der Technik
Anhang
Teil A: Die Kapitalkosten
Teil B: Daten aus verschiedenen Studien zur Gewinnverlagerung von U.S.-Multis
Nachworte
The case of Apple in Ireland (Bernadette Andreosso-O’Callaghan, University of Limerick)
China´s market model (Xiaojun Wei, MacEwan University Edmonton)
Quellenverzeichni
s
Wir gewöhnen uns an den Gedanken, dass Wirtschaftskrisen von Zeit zu Zeit hereinbrechen und Geschicke durcheinanderwirbeln. Das scheint irgendwie dem Lauf der Dinge eigen zu sein. Einerseits bedrohen externe Einflüsse wie Naturkatastrophen und Kriege das moderne Wirtschaftsleben, indem sie das Getriebe des Marktes blockieren und den Austausch behindern. Andererseits sind die Auf- und Abschwünge Ausdruck der sich überlappenden und durchkreuzenden Handlungen der vielen Marktakteure. Die beteiligten Spieler verfolgen im Idealfall ihre jeweiligen Ziele im Rahmen vorgegebener Spielregeln. Das schließt deren Überschreitung im praktischen Handeln sowie die stete Suche nach Freiräumen zum eigenen Vorteil nicht aus. Seit Jahrhunderten hat sich in den städtischen Zentren eine kaufmännische Kultur herausgebildet, die zur Rationalisierung der Lebenssphären beigetragen hat. Der Wirtschaftshistoriker Jacques Le Goff erkennt im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit das Auftauchen mächtiger Kaufleute, „… die Untertanen in einem Königreich des Geldes (waren), das nur solche Gesetze kannte, die ihre Interessen begünstigte“ (1993: 121). Die neuen Wirtschaftsakteure beförderten nicht nur die Entwicklung von Bildung und Wissenschaft, sondern kristallisierten sich zunehmend als Machtinstanzen auf Märkten und gegenüber Kirche und Staat heraus. Die zweckrationale Orientierung wird schon früh begleitet von Übertreibungen und Zusammenbrüchen. Bereits die Tulpenmanie im Jahr 1636/37 verweist auf die merkwürdige Verkehrung der Nützlichkeit von Gütern, bei der das Ding in der Funktion des Spekulationsobjekts die Oberhand gewinnt. Für eine einzelne hochwertige Tulpe sollen damals mehr als acht fette Schweine, zwölf fette Schafe, vier fette Ochsen, mehrere Fässer Wein und Bier, Käse sowie Getreide und weitere Güter geboten worden sein. Die Preisblase auf Auktionen in den Niederlanden für noch in der Erde ruhende Tulpenzwiebel platzte, als Händler das Risiko als zu hoch erachteten und ihre Investitionen auf reale Werte umorientierten. Es erschien zu unsicher, ob sich die Zwiebel als prächtige Tulpe entfalten oder im Mäusemagen zersetzen würde. Jahrzehnte später heizte der Kolonialhandel die Phantasien der Investoren an. Auf Geheiß des Schotten John Law wurden in Frankreich des 18. Jahrhunderts nicht nur Banknoten der „Banque Royale“ zur Rettung der Staatsfinanzen, sondern auch Aktien der 1717 gegründeten „Mississippi-Kompanie“ in Umlauf gebracht. Die französischen Besitzungen am Mississippi und in Kanada repräsentierten das Versprechen auf goldene Zeiten und dauerhafte Erträge. Da jedoch der Überseehandel vom Anwachsen der Inflation übertroffen wurde, purzelte der Preis der Wertpapiere bald ins bodenlose. Bereits 1720 leitete das Ende des Spekulationsfiebers eine Wirtschaftskrise in Frankreich ein.
Die Ausweitung der Handelswege und Warenströme der Neuzeit haben schon früh eine Weltwirtschaft hervorgebracht. Der Reiz fremder Gewürze, Edelmetalle und anderer Luxusgüter integrierte zunächst lokale Handelsplätze in Eurasien und begründete Schritt für Schritt eine internationale Wirtschaftsverflechtung, die durch die neuen Netzwerke der Kolonialwirtschaft und die Öffnung der Märkte im Geist des Freihandels forciert wurde. Der Aktionsraum der Marktwirtschaft hat sich seitdem im Weltmaßstab beständig ausgeweitet. Die Handlungsoptionen der Akteure haben sich vervielfältigt. In dieser Perspektive sind wirtschaftliche Krisen Ergebnis einer komplexen Struktur von Investitionsentscheidungen und Kapitalbewegungen. Wir leben in einer Zeit, in der Finanzinstitutionen die dominante Rolle im Wirtschaftsverkehr übernommen haben. Auf Basis der neuen Informationssysteme hat sich die Umlaufgeschwindigkeit des Kapitals derart beschleunigt, dass sich Begrenzungen von Raum und Zeit nahezu aufgelöst haben. Es ist eine wahrhaft globale Wirtschaft entstanden. Während weltwirtschaftliche Strukturen im Westen bereits seit dem 16. Jahrhundert bekannt sind, bildet sich seit dem Ende des 20. Jahrhunderts eine Wirtschaft heraus, die organisatorisch und technologisch immer mehr in der Lage ist, als Einheit unmittelbar global zu funktionieren. Die geographisch weit verzweigten Kapital-, Produktions- und Absatzmärkte sind heute in einem Ausmaß integriert, wie dies geschichtlich nie zuvor der Fall war.
Die Finanzmärkte haben von den neuen Rahmenbedingungen am meisten profitiert. Die IT-Industrie ist zum idealen Partner einer Branche geworden, welche die räumlich und zeitlich unbegrenzte Verwertung zu verwirklichen verspricht. Die der neuen Technologie eigene Netzwerklogik scheint exponentiell wachsende Transaktionen bei nur linear steigenden Kosten zu ermöglichen. Die immaterielle Meta-Welt der Finanzmärkte lebt technisch betrachtet primär vom Austausch digitalisierter Informationen im elektronischen Netzwerk. Beim Versuch, die kognitiven Prozesse zu optimieren, kommt das neue Geschäftsfeld „Big Data“ den Interessen der kurzfristig orientierten Anleger an den Finanzmärkten in idealer Weise entgegen. Kurzsichtigkeit ist im Grunde die moderne Krankheit der von Hektik geprägten Welt der Börsen, in der die Schnelligkeit der Informationsverarbeitung die menschliche Reaktionsphase immer mehr verkürzt und schließlich überflüssig macht.
Gefüttert mit mathematisch austarierten Modellen zur Verwirklichung des Traums unbegrenzter Verwertung sind intelligente Maschinen in der Lage, gigantische Investitionssummen innerhalb von Nanosekunden weltweit zu streuen. Der Anteil ist erstaunlich. Mehr als zwei Drittel des gesamten Handelsvolumens an den amerikanischen Börsen lassen sich auf den Hochfrequenzhandel zurückführen. Hedgefonds-Manager David Harding6 überlässt die Vorhersage von Börsenkursen seinen superschnellen Computern. Er schwärmt von statistischen Modellen und Algorithmen, mit deren Hilfe riesige Mengen an Daten ausgewertet und Wahrscheinlichkeiten von Ereignissen berechnet werden können. Für Supercomputer ist es heute kein Problem, mehrere Billiarden Rechenoperationen pro Sekunde zu bewältigen. Wenn alle kaufen wollen, gilt es vorne dabei zu sein, bevor der Kurs steigt. Umgekehrt kommt es auf den schnellen Verkauf an, bevor die Masse der Anleger Kurse einbrechen lässt. So hat sich die alte Erkenntnis des im Geiste des Calvinismus erzogenen Benjamin Franklins „Time is Money“ als ethische Maxime der Lebensführung (Weber) wahrhaftig durchgesetzt. Es ist ein künstlicher Kosmos entstanden, der mittels komplexer Algorithmen und miteinander verkoppelter riesiger Computerzentren in der Lage ist, sich im Sinne dieser Leitformel selbst zu steuern.
Während Befürworter den Effekt der Bereitstellung von Liquidität betonen, weisen Kritiker darauf hin, dass neunzig Prozent der eingehenden Aufträge real gar nicht ausgeführt, also wieder storniert werden. Und da sich die Zeitphase für die Informationsbeschaffung extrem verkürzt und sich der Anreiz zur fundierten Eingrenzung des inneren Werts der Aktien aufhebt, wird die Börse immer mehr zur Lotterie. Der Hochfrequenzhandel ist selbst ein Trendsetter und wirkt krisenverschärfend. Darauf verweisen die als „Flash Crashs“ bekannt gewordenen Kursabstürze7. Am 6. Mai 2010 brach der Index „Dow-Jones-Industrial-Average“ innerhalb weniger Minuten ohne ersichtlichen Grund um fast 1000 Punkte bzw. 9 % ein, was nach Einschätzung der U.S.-Börsenaufsicht SEC durch einen automatisch in Gang gesetzten Massenverkauf8 von Terminkontrakten einer großen Fondsgesellschaft verursacht worden sein soll. Die Finanzwelt kennt weitere Fälle wild gewordener Computer. Mit der Veröffentlichung seines Buchs „Flash Boys“ im Jahr 2014 hat Michael Lewis einen medienwirksamen Beitrag geleistet, die Merkwürdigkeiten des Blitzhandels zu beschreiben.
Die automatisierte Geldanlage ist in der Finanzwelt ein Top-Thema geworden. Der noch junge Fintech-Markt könnte zur Bedrohung für die traditionelle Bankenwelt werden. Das digitale Geschäftsfeld umfasst neben der Kontoführung und dem Geldtransfer auch die Geldanlage, die Beschaffung von Krediten und das Angebot von Versicherungen. In den neuen Markt sollen im Jahr 2015 weltweit bereits fünfundzwanzig Milliarden Euro investiert worden sein, vor allem im Silicon Valley und in New York. BlackRock, der größte Vermögensverwalter der Welt mit Sitz in New York, setzt Anlageroboter9 sogar als Standardangebot für Privatanleger ein. Dies soll auf Anleger zugeschnitten werden, die unter der für individuelle Beratung liegenden Vermögensschwelle liegen. Auch deutsche Banken springen auf diesen Zug auf und verstärken die Kooperation mit Fintech-Unternehmen.
In der Öffentlichkeit wird vor allem der Effekt der Beschleunigung und der Vereinfachung von automatisierten Bankgeschäften hervorgehoben. Ob die Entscheidungsfindung mittels vorprogrammierter Hebel der Technik auch Möglichkeiten zur Marktbeeinflussung bieten, scheint die smarte neue Welt nicht weiter zu belasten. Das gilt entsprechend hinsichtlich der Geringschätzung wichtiger Kommunikationsstandards wie Offenheit und Klarheit im Börsenhandel. Denn die Preisfindung an den Börsen verliert an Transparenz. Darauf deutet der hohe Anteil von gehandelten Aktien an nicht regulierten Börsen hin. Dieser Sektor wird als „Dark Trade“ bezeichnet. Nach Auskunft des Londoner Verbands der Chartered Financial Analysts (CFA) soll der Anteil am verschleierten Aktienhandel in Europa durchschnittlich bei vierzig Prozent, bei den großen Standardwerten wie dem Dax sogar bei fünfzig Prozent liegen.
Diese im Hintergrund tätigen Märkte müssen so gut wie keine Transparenzerfordernisse erfüllen.
Wird die automatisierte Geldanlage erst einmal zur Regel, verliert die menschliche Entscheidung an Bedeutung. Das klingt wie die Prophezeiung vom Kapital als sich auf beständig höherer Stufenleiter verwirklichendem Mechanismus? Es sieht so aus, dass der „besondere Charakter des Kapitals erst im Finanzkapital allgemein wird“ (Vogl 2011: 178). Gelten für das Kapital zunächst die Bestimmungen der Warenproduktion, wonach sich der Gebrauchswert in der Einheit von Produktion und Marktzirkulation verwirklichen muss (Ware → Geld → Ware und schließlich Geld → Ware → Δ Geld), scheint die kapitalistische Verwertung nun höheren Sphären entgegen zu streben. Die Devise heißt, die Vermehrung des Geldes direkt, also ohne die vermittelnde Phase der Produktion von Gebrauchswerten, zu bewirken (Geld → Δ Geld). Obwohl der Finanzüberbau vor über 120 Jahren im Vergleich zu heute nur rudimentär ausgeprägt war, ist dieser Begriff des Kapitals von Marx bereits auf den Punkt gebracht worden. Er beschreibt das Kapital als eigentümliche Ware10, die in der Lage ist, als Wert generierende Automatik aufzutreten und Wunder zu vollbringen. Indem Kapital als mit eigenem Leben begabte Gestalt erscheine, die das Marktgeschehen dominiere und kontrolliere, verwirkliche sich der Fetischcharakter der Warenwelt und des Geldes (Marx 1962: 87). Diese Eigenschaft des Geldes, als Kapital zu fungieren, hat sich mittlerweile auf einer viel höheren Entwicklungsstufe entfaltet. Als gelte es, die Befriedigung realer, lebensnotwendiger Bedürfnisse über den Markt zu toppen und zu den höheren Weihen der Wertgenerierung ohne lästige Zwischenphasen zu gelangen. Die Software lenkt nach kühlem Kalkül die Kapitalanlagen in die Welt der Aktien, Futures, Swaps und anderen derivativen Finanzprodukte, wenn dort die höhere Verwertung bei akzeptablem Risiko realisiert werden kann. Die Verwirklichung des Kapitals ist nicht notwendig auf die Erzeugung lebensnotwendiger Produkte angewiesen.
Ist das die Erfüllung des Verwertungswunsches quasi in Echtzeit? Diese Prophezeiung wohnt dem Ideal der Verwertung bereits in früheren Zeiten der kapitalistischen Wirtschaftsentwicklung inne. Goethe hatte als Minister in Weimar diesen Geist schon früh erkannt und in seinem Faust-Drama als neuzeitliche Alchemie gedeutet. Die Hexenküche der Alchemie verspricht nicht nur die Wiedererlangung der jugendlichen
Kräfte, sondern nun auch die Erzeugung künstlichen Goldes, die Goethe in die Nähe der Notengeldschöpfung am Kaiserhof stellt. Im Pakt mit dem Teufel verwirklicht sich die Vision der Verwandlung einer wertlosen künstlichen in eine wertvolle Substanz. Die natürlichen Begrenzungen der Produktion und der Zeit scheinen sich aufzulösen. Damit hat sich auch die Überzeugung verbreitet, als könnten die negativen Folgen der technischen Entwicklung mit den Mitteln der Technik überwunden und Wachstum ins Unendliche verstetigt werden. Der „Stein des Weisen der Wirtschaft“ ist mit dem Geldkapital geschaffen worden und mit ihm die Idee, dass alle Ressourcen der Erde in Geld verwandelt und mit künftigem Gewinn verkauft werden können (Binswanger 2009: 116).
„Das Übermaß der Schätze, das, erstarrt,
In deinen Landen tief im Boden harrt,
Liegt ungenutzt. Der weiteste Gedanke
Ist solchen Reichtums kümmerlichste Schranke;
Die Phantasie, in ihrem höchsten Flug,
Sie strengt sich an und tut sich nie genug.
Doch fassen Geister, würdig, tief zu schauen,
Zum grenzenlosen grenzenlos Vertrauen.
(Faust zum Kaiser / Goethe, Faust – Zweiter Teil, Zeile 6111–6118)
Im zweiten Teil des Faust-Dramas tritt neben dem Faktor der menschlichen Leistung die Magie als alchemistischer Kerngehalt der modernen Wirtschaft in Erscheinung. Mittels der Kraft der Imagination werden Banknoten aus dem Nichts geschaffen. Sie sind allein durch die noch nicht gehobenen Bodenschätze gedeckt und durch das Siegel des Herrschaftsverhältnisses legitimiert. Vorbild dieser magischen Schöpfung in der historischen Wirklichkeit ist die Gründung der Bank von England im Jahr 169411. Doch die Kreation von Papiergeld ist erst der Anfang. Faust strebt nach einem reichtumsmehrenden wirtschaftlichen Mechanismus, in dem das Notengeld mit dem Ziel der Hebung der Bodenschätze investiert und das tote, fixe Kapital wiederum in flüssiges Geldkapital verwandelt wird.
Im Augenblick der Schaffung eines sich beständig ausweitenden Wertschöpfungskreislaufs stößt Faust überwältigt die Worte aus „verweile doch! Du bist so schön“ (Goethe, Zeile 11582). Das Erlebnis dieses „höchsten Augenblicks“ bedeutet allerdings zugleich, dass Faust die Wette mit Mephistopheles verliert. Wirtschaftliches Handeln ordnet sich in dieser Perspektive der Suche nach dem künstlichen Gold unter. Und wer sich dieser künstlichen Welt verschreibt, droht von der Sucht ergriffen zu werden.
Goethe ist durchaus bewusst, dass der Schein der abgelösten Verwertung trügt. Geld verwandelt sich nicht unmittelbar in Geldkapital. Das fiktive Kapital bedarf der realen Produktion und Zirkulation von Waren, um neue Überschüsse zu generieren und den Kreislauf in Gang zu halten12. Auch Keynes hat diesen Aspekt in seiner Kreislaufformel des Kapitals13 aufgezeigt, um darauf hinzuweisen, dass die Generierung von Einkommen nur über die Verwandlung des Geldvorschusses in Produktivkapital zustande kommt, wobei die erwarteten Rückflüsse keineswegs als sicher gelten können. Das sich mittlerweile über globale Netzwerke hinweg erstreckende Getriebe der Generierung von Wert, in dem künftige Gewinne über eine Zeittransformation als gegenwärtige Ansprüche ausgewiesen werden, ist Gegenstand der Ausführungen in diesem Buch.
Der letzte wirtschaftliche Absturz erscheint rückblickend nur als Neubeginn einer munteren Rally von Kapitaleinsätzen und Pleiten. Da bleibt in der Öffentlichkeit wenig Zeit für Aufarbeitungen und Justierungen. Neuer Einsatz ist angesagt. Fusionen und weltweite Kooperationen kennzeichnen wieder das schillernde Spiel der Märkte. Krisenerfahrungen sind schnell verdrängt. Erinnern wir uns für einen Moment. Die große Rezession der Jahre 2007/2008 ist noch nicht allzu lange her. Die Krise äußerte sich zunächst auf dem U.S.-Immobilienmarkt, wo eine Spekulationsblase platzte und Hauspreise abstürzen ließ. Die Kreditschulden vieler amerikanischer Haushalte waren plötzlich nicht mehr durch den Wert ihrer Immobilien abgesichert. Dies stürzte nicht nur Millionen von amerikanischen Hausbesitzern ins Unglück, sondern führte im Weiteren zu Verlusten bei amerikanischen und europäischen Finanzinstituten und schließlich zum Kollaps des U.S.-Bankgiganten Lehmann Brothers im Jahr 2008. Die Realwirtschaft, über Kredite und Finanzanlagen mit den Banken verknüpft, wurde darauf ebenso in Mitleidenschaft gezogen.
Was zunächst als Finanzkrise begonnen hatte, drohte wegen der Vernetzung der Großbanken untereinander die Weltwirtschaft in einen Abwärtsstrudel zu reißen. Hierbei spielten komplexe Finanzprodukte (Asset Backed Securities) eine unrühmliche Rolle. Anders als im klassischen Modell der Banken vorgesehen, wurden vor der Finanzkrise die an Bankkunden vergebenen Kredite nicht mehr primär über die Einlagen privater Haushalte, sondern immer stärker über die Verbriefung von Krediten refinanziert. Unter den Finanzinstitutionen kursierte ein lebhafter Markt für Wertpapiere, die durch Verbriefungen14 aber nur scheinbar abgesichert waren. Kredite wurden nach verschiedenen Güteklassen zusammengefasst, in handelbare Wertpapiere verwandelt und von den Banken in alle Welt verstreut. Es handelte sich um eine wundersame Verlängerung der fiktiven Wertpapierkette, die den tatsächlichen Wertgehalt dieser Wertpapiere immer mehr vernebelte. Ratingagenturen verdienten an diesem Geschäft prächtig und statteten die neuen Wertpapiere bedenkenlos mit der Bestnote „triple A“ aus. So wurden diese Papiere im globalen Maßstab massenhaft zwischen den Finanzinstituten gekauft und weiterverkauft. Zum Käuferkreis gehörten Zentralbanken verschiedener Länder, amerikanische Pensionsfonds, deutsche Landesbanken und andere Investitionsfonds.
Die „Finanzinnovation“ schien mit dem Mittel der Verbriefung in der Lage, vorhandene Kreditrisiken auf die Masse der Akteure umverteilen und auf diesem Pfad einfach in Dunst auflösen zu können. So zumindest der Traum vieler Banker. Doch mit dem Einsatz von Strategien zur Absicherung von Finanzgeschäften – auch Hedging genannt – werden Risiken mit Risiken versichert und das Gefährdungspotential verbreitet sich im globalen Maßstab. Das Kartenhaus fiel in der letzten großen Krise in sich zusammen, als Kreditschuldner ihren Zahlungsverpflichtungen nicht mehr nachkommen konnten und sich die neu geschnürten Wertpapiere als nicht werthaltig erwiesen. In dieser Situation wurde das Risiko als zu groß erachtet, Großbanken in die Pleite zu schicken. Statt kriselnde Institute für ihre Fehlkalkulationen haften zu lassen, entschlossen sich die Regierungen in den USA und Europa, Banken mit frischem Kapital zu retten. Dies trieb im Endeffekt die Verschuldung in diesen Staaten weiter nach oben. Allein in Deutschland kostete die Bankenrettung seit 2008 den Steuerzahler gemäß den Berechnungen der Deutschen Bundesbank 236 Mrd. Euro. Und die Verluste auf den globalen Finanzmärkten wurden vom IWF im Jahr 2009 auf vier Billionen US Dollar geschätzt.
Wie sich die Wirtschaft weiter entwickeln wird, kann naturgemäß niemand genau vorhersagen. Es lassen sich aber Risikobereiche eingrenzen. Die Rahmendaten des wirtschaftlichen Handelns auf den Märkten sind insbesondere seit den 1990er Jahren unübersichtlich und heikel. Parallel zur wachsenden finanziellen Verflechtung der Staaten und Unternehmen sind über Ländergrenzen hinweg gewaltige Ungleichgewichte entstanden, die in der Gegenüberstellung von Güter- und Dienstleistungsströmen sowie im Kapitalverkehr der Staaten zum Ausdruck kommen. Dahinter verbergen sich Überschüsse und Defizite in den Leistungsbilanzen sowie korrespondierende Kapitalexporte und -importe der einzelnen Länder. So wird z.B. das Leistungsbilanzdefizit der USA15, das sich auf ein riesiges Handelsbilanzdefizit mit der Welt zurückführen lässt, finanziert durch Nettokapitalzuflüsse aus anderen Staaten, die in ihren Leistungsbilanzen Überschüsse aufweisen. Allein die USA haben 44% des weltweiten Gesamtdefizits zu verantworten. Die wirtschaftliche Führungsmacht des Westens lebt von Kapitalzuflüssen16 aus dem Rest der Welt. Ohne diesen Kapitalsog könnte das globale Zusammenspiel von Gütertransfers und Kapitalbewegungen nicht funktionieren.
Im Rahmen des seit 1973 bestehenden Systems flexibler Wechselkurse17 und dem Wegfall von Beschränkungen des Kapitalexports bestehen beste Bedingungen für die Entfaltung der Finanzmärkte im globalen Maßstab. Deregulierungen tragen seitdem zur Explosion der Geldbasis und der Kreditgeschäfte bei. Der globale Kapitalkreislauf erstreckt sich im wesentlich auf ein engmaschiges Netz von Handelsknoten in den Industrie- und Schwellenländern. Die USA und China, aber auch Länder wie Japan, Südkorea, Deutschland und einige erdölexportierende Länder spielen dabei eine bedeutende Rolle. Um die wechselseitige Abhängigkeit zwischen China und den Vereinigten Staaten hervorzuheben, ist von Wirtschaftsexperten der Begriff „Chimerica“ geprägt worden. China hat Dollarreserven im großen Umfang aufgehäuft, die eine zentrale Rolle bei der Finanzierung von U.S.-Treasury Bonds spielen. Die amerikanische Notenbank weist Staatsanleihen im Umfang von mehr als 6 Billionen Dollar aus, die sich in ausländischen Händen befinden. China ist der größte Gläubiger der USA mit Treasuries im Wert von 1,1 Billionen Dollar.
Leistungsbilanzdefizite und -überschüsse einzelner Länder sind zwar kein neues Phänomen, sie haben aber seit den 1990er Jahren stark zugenommen. Wie durch einen Magneten angezogen, bindet der Kapitalkreislauf die Defizit- und Überschussländer, Schuldner und Gläubiger, zu einem Bündel zusammen. Sie sind aufeinander angewiesen, aber die Verbindungslinien sind keineswegs stabil. Noch steht dem riesigen amerikanischen Schuldenberg eine Wirtschaft mit leistungsstarken Weltunternehmen gegenüber, so dass keine Anzeichen für eine Zahlungsunfähigkeit der USA erkennbar sind. Doch bergen die Ungleichgewichte im Welthandel ein erhebliches Risiko18. Bislang sind die Überschussländer zu Finanztransfers in die USA bereit. Dies gilt solange, wie die Vereinigten Staaten von Anlegern als sicherer Hafen angesehen werden. Aber das komplexe Getriebe der globalen Finanz- und Güterströme kann bereits durch kleine Störungen blockiert werden. Die Folgen wären weltweit zu spüren.
Im Gestrüpp der Finanzströme vervielfältigt sich die Anzahl der Unsicherheitsmomente weiter. Wie die expansive Geldpolitik in den USA, Großbritannien, Japan und der Euro-Zone zu beurteilen ist, wird kontrovers diskutiert. Vor dem Hintergrund schwacher Inflationserwartungen konzentrierten sich die Zentralbanken im letzten Jahrzehnt auf das Ziel, eine deflationäre Spirale nach unten abzuwenden und die Wirtschaft auf Kurs zu halten. Das von den Banken verteilte billige Geld stärkte aber die realwirtschaftlichen Investitionen nur zum Teil. Es trug auch zur Preisexplosion von scheinbar risikolosen Vermögenswerten wie Immobilien und Aktien bei. Investitionen im Bereich der Finanz- und Immobilienmärkte werden im Horizont vieler Kapitalanleger als die vorteilhafteren Anlagen eingeschätzt. Seit der letzten großen Finanzkrise 2007/2008 sind die Aktienkurse besonders in den USA, aber auch in anderen Ländern, nach oben getrieben worden. Die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) hat seitdem mehrfach vor der Entstehung einer neuen Spekulationsblase gewarnt.
Für Investoren ist der Immobilienmarkt von großer Bedeutung. Es handelt sich um einen Spezialmarkt, der sich durch eine geringe Fähigkeit auszeichnet, sich an Marktveränderungen anzupassen. In der Regel überwiegt die Konkurrenz auf Seiten der Nachfrage nach Immobilien und sorgt so für eine relativ stabile Entwicklung der Preise. Die Immobilie gilt zudem als wichtiger Vermögenswert im Rahmen von Kreditgeschäften. Denn die Finanzierung von Realkrediten wird durch Grundpfandrechte gesichert. Solange die Immobilienpreise steigen, vergeben Banken problemlos Kredite an Investoren und Konsumenten. Dies beeinflusst wiederum den Verlauf der Konjunktur in Ländern mit einem hohem Anteil an Grundstückseigentum19. Bei steigenden Immobilienpreisen wächst der Umfang der Konsumentenkredite, im umgekehrten Fall trübt sich die Konsumlaune ein. Immobilienpreise in den USA, Großbritannien, Frankreich und Deutschland steigen seit der letzten Finanzkrise kontinuierlich an.20 Das gilt insbesondere für die Ballungsräume.
Zusätzlich befindet sich der verzweigte Finanzüberbau im Fokus der Anleger. Finanzderivate haben sich in der letzten Krise als schillernde Anlageprodukte mit Sprengkraft erwiesen. Sie zeichnen sich durch ein erhebliches Risikopotenzial aus. Das scheint ihre Ausbreitung nicht zu behindern. Die Nominalwerte der Derivate-Bestände sind weltweit weitergewachsen. Zwar wurden von den G 20-Ländern einige regulierende Maßnahmen mit dem Zweck der Begrenzung dieser Märkte beschlossen, doch greifen sie bislang nicht wirklich. Stattdessen sieht es so aus, dass Finanzanlagen von den stärker regulierten Banken zu den Investmentfonds verlagert werden. Dabei treten zunehmend kreditvergebende Fonds in Erscheinung. In Deutschland ist die Kreditvergabe zwar ohne Banklizenz verboten, doch können hier ausländische Fonds mit entsprechender Erlaubnis problemlos aushelfen. Auf diesem Weg vervielfältigen Hedgefonds ihr Anlagepotential. Im wachsenden Mittelzufluss bei Hedgefonds und Kreditfonds lässt sich eine erhöhte Risikobereitschaft bei den Investoren erkennen. Zu den Derivaten zählen unter anderem Zertifikate, Optionsscheine und Termingeschäfte, die an einen zugrundeliegenden Basiswert wie zum Beispiel einen Aktienindex geknüpft sind. Das Feld ist riesig und für Außenstehende völlig unübersichtlich. Weltweit sollen mehr als 1,3 Millionen verbriefte Produkte existieren. Die großen Fondsgesellschaften üben einen wachsenden Einfluss im Weltfinanzsystem aus.
Einerseits handelt es sich um Verwalter riesiger Vermögen, deren Kunden überdurchschnittliche Renditen erwarten. Allein die zehn größten Fondsgesellschaften verwalten fast zwanzig Prozent der weltweiten Vermögensanlagen. Das ist das Geschäft für die Superreichen dieser Welt. Die Liste der Giganten wird von der Fondsgesellschaft BlackRock angeführt. Die Gesellschaft ist über die Jahre kontinuierlich gewachsen. Das Kundenvermögen von BlackRock in Höhe von 4,8 Billionen Dollar übertraf das Bruttoinlandsprodukt Deutschlands im Jahr 2015 bereits um nahezu ein Drittel. Es folgen weitere Vermögensverwalter wie die amerikanische Vanguard mit etwa 3 Billionen Dollar. Erst dann folgen vermögensverwaltende Banken wie die UBS mit Sitz in Zürich und die in New York ansässige Morgan Stanley mit jeweils mehr als 2 Billionen Dollar. Viele Fonds sind formal auf den Cayman Islands oder in anderen Steueroasen registriert, während zentrale Verwaltungsaufgaben wie die Portfolio-Bewertung und die Depotbankverwahrung an anderer Stelle ausgeführt werden. Als Standort für dieses als „Back Office“ bezeichnete Geschäftsfeld tritt neben London auch das zur Eurozone zählende Irland in Erscheinung. Im Finanzviertel in Dublin sollen mehr als vierzig Prozent der weltweit existierenden Hedgefonds verwaltet werden. Für die Fondsmanager und die Anleger sind die günstige Besteuerung und das angelsächsische Rechtssystem von großem Interesse.
Andererseits verwandeln sich die vermögensverwaltenden Fondsgesellschaften immer mehr in Schattenbanken, die nur wenig reguliert sind. Darunter befinden sich unter anderem Broker-Firmen und Hedgefonds, die alle Anlageformen nutzen und vor riskanten Investments nicht zurückschrecken. Schattenbanken handeln selbst wie Banken und vergeben auch Kredite, unterliegen aber nicht den gleichen Vorschriften wie Banken. Ihr Anteil an der Kreditvergabe ist bereits beachtlich. Nach Schätzungen des IWF ging bereits 2015 in der Eurozone ein Viertel der Kreditvergabe an Unternehmen auf Schattenbanken zurück. In den USA war es sogar die Hälfte. In 2014 sollen sie weltweit 75 Billionen Dollar verwaltet haben, während es im Jahr 2002 „nur“ 26 Billionen Dollar waren. Das entspricht einer Quote von 120 Prozent des weltweiten Bruttoinlandsprodukts. Die großen Fondsgesellschaften nutzen den Mangel an Regulierungen auf der Jagd nach maximaler Rendite zu ihrem Vorteil aus. Demgegenüber müssen reguläre Banken die Kreditvergabe wegen der strikteren Vorgaben für das Halten von Eigenkapital begrenzen. Nach Meinung des IWF ist der Schattenbankensektor in den USA bereits größer als der regulierte Bankensektor. Er stellt ein Systemrisiko für die Stabilität des Finanzsystems dar. Die Lage in China ist vergleichbar. Auch in der Eurozone tragen Schattenbanken dazu bei, dass ein erheblicher Umfang der Finanzgeschäfte intransparent bleibt. Von der Ratingagentur Standard & Poor‘s ist ihr Anteil an allen Vermögenswerten in der Finanzwirtschaft der Eurozone in letzter Zeit auf dreißig Prozent geschätzt worden. Der internationale Finanzstabilitätsrat hält die Aktivitäten der Fonds-Giganten bislang nicht für gefährlich. Dies wirft die Frage auf, ob die Akteure des Finanzüberbaus überhaupt willens und in der Lage sind, ihr eigenes Geschäftsfeld zu kontrollieren?
Die Aufblähung des Finanzsektors wird begleitet von weltweit wachsenden Schulden und Vermögen. Die wirtschaftliche Situation ist alles andere als gesund. Einerseits ist das Niveau der Staatsverschuldung im Gefolge der Finanzkrise und der anschließenden Rettung der Banken noch oben gedrückt worden. Andererseits ist der Schuldenberg der Staaten, Unternehmen und privaten Haushalte zusammengenommen von 87 Billionen Dollar im Jahr 2000 auf 199 Billionen Dollar im zweiten Quartal 2014 angeschwollen. Die Welt trägt einen Schuldenkoloss, dem nahezu das Dreifache der globalen Wirtschaftsleistung entspricht. Ein Ende der Schuldenspirale ist nicht abzusehen. Seit der letzten großen Krise explodierte die Verschuldung der Staaten insbesondere in Spanien, Irland, Großbritannien und den USA. Auch in China ist ein steiler Anstieg zu verzeichnen, wobei dort die Hälfte aller Kredite von unregulierten Schattenbanken vergeben worden sind. Bedenklich ist, dass die Mittel dort zum Großteil in die Finanzierung unrentabler Staatsunternehmen und in den Immobiliensektor geflossen sind. Auch wenn die spiegelbildliche Gegenüberstellung von Gläubigern und Schuldnern im Ganzen auf ein Nullsummenspiel hinausläuft, ergeben sich aus der strukturellen Ungleichverteilung von Schulden und Forderungen unter den Staaten sowie den privaten Haushalten große Differenzen hinsichtlich der Verteilung der Einkommen. Der Allianz-Chefvolkswirt Michael Heise21 hat darauf hingewiesen, dass das globale Netto-Geldvermögen der Privathaushalte (nach Abzug der Schulden) 2015 erstmals über 100 Billionen Euro gelegen hat. Es übersteigt damit den Wert aller Staatsschulden und aller börsengelisteten Unternehmen der Welt. Dieses Vermögen ist extrem ungleich verteilt.22
Auf strukturelle Probleme der Verschuldung anderer Art verweist unter anderem der Chefökonom der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ), Hyun Song Shin. So zirkulierten unter europäischen Banken vor der Finanzkrise im großen Umfang kurzfristige Wertpapiere in Gestalt verbriefter Kreditpakete, deren Verkauf wiederum als Refinanzierungsquelle für den Kauf höher verzinslicher langfristiger amerikanischer Wertpapiere wie Hypothekenanleihen diente. Shin und seine Mitarbeiter sprechen vor dem Hintergrund der Aufblähung des Markts für kurzfristige Wertpapiere von einer Bankenschwemme (banking glut), mit der ein erhebliches Liquiditätsrisiko einhergeht. Demnach muss das klassische Lehrbuchmodell, wonach sich Banken primär über die Einlagen der privaten Haushalte refinanzieren, als überholt bezeichnet werden. In der Krise hat sich erwiesen, dass die Verbriefung von Krediten und ihre Transformation in handelbare Wertpapiere zur relevanteren Quelle von Schulden und neuem Kreditgeld geworden sind. Dieses Instrument wird im Finanzsektor munter genutzt. Das stärkere Wachstum dieser instabilen Bankverschuldung im Verhältnis zu den Einlagen wird von den Autoren der BIZ als Krisenindikator23 bezeichnet. Denn der Wert dieser gehandelten Kreditpakete unterliegt selbst Schwankungen, die Finanzierungen gefährden können.
Die Rolle und Fähigkeit der Banken, die Realwirtschaft mit Finanzmitteln zu versorgen, muss in Frage gestellt werden. Eine dienende Funktion der Banken ist immer weniger zu erkennen. Vor dem Hintergrund der Aufarbeitung der Krise hat sogar der ehemalige Staatssekretär im US-Finanzministerium und jetzige Chef der Federal Reserve Bank of Minneapolis (Kashkari 2016) seine Schlüsse gezogen und die Zähmung der großen Banken nahegelegt. Neben der Zerschlagung in kleinere Einheiten regt er als Alternative die Anhebung der Eigenkapitalquote von Banken auf mindestens fünfundzwanzig Prozent an24. Diese Forderung erscheint sinnvoll. Banken müssen endlich in die Lage versetzt werden, im ausreichenden Maße Haftungskapital in ihren Büchern auszuweisen. Denn Steuerzahler dürfen nicht erneut für die Verluste aus Fehlinvestitionen haften. Auch deutsche Banken mit ihren Beteiligungen an irischen Banken spielten vor der Finanzkrise eine unrühmliche Rolle. Die leichtfertige Vergabe von Krediten, die in unrentable Immobilien- und andere Schrottprojekte in Amerika und Südeuropa geflossen sind, war ein krisenverursachendes Element. Dies führte im Herbst 2010 dazu, dass die Steuerzahler in Irland für die Forderungen deutscher Banken an irische Banken aufkommen mussten. Die europäische Zentralbank hatte damals Notkredite an irische Banken nur für den Fall der Umsetzung dieser politisch fragwürdigen Maßnahme freigegeben.
Die Nachwirkungen der Krise sind ambivalent. Die Unternehmen, welche die Krise überlebt haben, stellen die strategischen Weichen erneut auf volle Fahrt, um sich im Wettbewerb auf höherer Stufe zu behaupten. Verlierer und Geschädigte sind entweder raus aus dem Geschäft oder müssen erhebliche Wertverluste in ihren Bilanzen verkraften. Multinationale Unternehmen sind aufgrund ihrer Marktmacht und der Konzentration von Know-how, Patenten und Lizenzen am besten in der Lage sich dem Wettbewerb zu stellen. Sie verteilen Standorte so über den ganzen Globus, dass Leistungen jeweils mit den geringsten Kosten erbracht und Gewinne in die steuerlich günstigsten Länder gelenkt werden können. Auf diesem Weg versuchen die Unternehmen Risiken zu minimieren und dem Schicksal von Unternehmen wie Nokia, Blackberry, Hewlett-Packard, Kodak, Brockhaus und Quelle zu entgehen.
Auf der einen Seite schränkt die Schuldenlast vieler Unternehmen die Investitionskraft ein. Auf der anderen Seite erweist sich das Wirtschaftsleben als quicklebendig, wenn die Oszillationen der marktdominierenden Akteure ins Blickfeld geraten. Wer auf dem Markt überleben oder gar wachsen will, muss konsequent seine strategischen Ziele verfolgen. Die täglichen Meldungen auf den Finanz- und Kapitalmärkten lassen ein komplexes Geflecht von Handlungen und Kurvenbewegungen erkennen. Die großen Marken bestimmen das Geschehen.
Aus den Beobachtungen lassen sich drei typische Bewegungsmuster herauslesen, die für die weiteren Ausführungen in diesem Buch bedeutsam sind.
Erstens
spiegelt sich die wirtschaftliche Dynamik von jeher in den täglichen Kursausschlägen der Finanzmärkte. Die amerikanischen Wirtschaftsforscher Carmen Reinhardt und Kenneth Rogoff haben in ihrer Studie „This time is different“ (2009) die beständigen Auf- und Abschwünge der Wirtschaftsentwicklung aufgezeigt. Krisen sind ein ganz normaler Bestandteil der Abläufe im Kapitalismus. Sie lassen sich nicht vorhersagen. Es gibt keine Stabilität. Und es deutet sogar einiges darauf hin, dass die Ausschläge auf den Märkten mit der Zeit größer werden. Der Anteil der von Krisen betroffenen Staaten innerhalb der letzten hundert Jahre ist höher als jemals zuvor. Die letzte große Krise erreichte Asien, Europa und Nordamerika nahezu im gleichen Ausmaß. Die Globalisierung verknüpft Unternehmen weltweit miteinander, sodass Ungleichgewichte sich weiter und schneller ausbreiten.
Auch die Unternehmenslandschaft ist im Umbruch. Disruptive Innovationen bedrohen traditionelle Industriezweige. Die Erwartungen der Anleger sind nun auf die Technologieunternehmen gerichtet. Nicht mehr die großen Erdöl- und Industriegesellschaften stehen im Mittelpunkt, sondern amerikanische Technologiekonzerne. Die fünf wertvollsten Unternehmen der Welt sind Apple, Amazon, der Google-Mutterkonzern Alphabet und Microsoft. Allein der Marktwert von Apple ist Mitte 2018 genauso groß wie die zwölf größten Dax-Werte zusammengenommen. An den Börsen wird die Zukunft gehandelt. Doch die Verarbeitung von Informationen und ihre Transformation in Erwartungshaltungen der Akteure sind komplexe soziale Mechanismen, die Ineffizienzen herausfordern. Preis- und Vermögensblasen sind Teil des normalen Wirtschaftslebens geworden. Dass sich Teile des Marktwerts von heute auf morgen in Luft auflösen, ist zur normalen Erscheinung geworden. So hatte Apple am Ende des zweiten Quartals 2015 zwar einen Gewinn von 11 Mrd. Dollar verkündet, doch sackte der Kurs trotzdem um 35 Mrd. Dollar ab. Das beständige Flimmern25 an den Börsen verweist auf den Stressfaktor, der mit der Jagd nach Kapital verbunden ist.
Zweitens
hat sich die Zahl transnationaler Unternehmensgruppen stetig vergrößert. Dazu haben auch die Fusions- und Übernahmewellen beigetragen. Die Handels- und Entwicklungskonferenz der Vereinten Nationen (UNCTAD) verfolgt seit Jahrzehnten die Entwicklung der Multis. Deren Zahl ist über die Jahre nach oben geklettert.
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Zu den mehr als achtzigtausend transnationalen Konzernen soll ein Geflecht von rund 800tausend weltweit verstreuten Tochtergesellschaften zählen, die jeweils von Konzernzentralen gesteuert werden. Das Netzwerk ist noch größer, wenn man bedenkt, dass wirtschaftliche Kontrolle auch über Minderheitsbeteiligungen ausgeübt wird. Der Anteil des Handels innerhalb von Konzernstrukturen (Intrakonzernhandel) am gesamten Welthandel wird heute bereits auf achtzig Prozent geschätzt. Es kann daher nicht überraschen, dass die Multis das weltweite Marktgeschehen bestimmen.
Das wirtschaftliche Potential dieser Weltfirmen ist im Verhältnis zur Wirtschaftskraft einzelner Länder gewaltig. So hat Apple 2017 einen Gewinn nach Steuern von mehr als 48 Mrd. Dollar erwirtschaftet und damit das Bruttoinlandsprodukt eines ganzen Jahres von Honduras überrundet. Das ist der Spitzenplatz in der weltweiten Rangfolge der gewinnstärksten Unternehmen 2017. Der Google-Mutterkonzern Alphabet liegt mit einem Gewinn von fast 13 Mrd. Dollar auf Rang 14. Der Einfluss der Multis tritt noch deutlicher hervor, wenn statt der Gewinne die Umsätze betrachtet werden. Umsatzweltmeister 2017 ist Wal-Mart mit über 500 Mrd. Dollar. Das ist nicht weit entfernt vom Bruttoinlandsprodukt (BIP) Polens. Der Umsatz von Apple ist ungefähr halb so groß und erreicht fast das Leistungsniveau von Ägypten mit einem BIP von 237 Mrd. Dollar. Tschechien und Rumänien liegen jeweils leicht darunter. In der Rangfolge weit abgeschlagen befinden sich die Länder Afrikas, bis auf Nigeria, Südafrika und Ägypten. Wie riesig der Abstand zwischen dem Leistungsniveau eines Entwicklungslandes zu dem von Apple ist, zeigt sich, wenn beispielhaft das BIP von Senegal gegenübergestellt wird. Mit etwas mehr als 16 Mrd. Dollar erwirtschaftete das Land rund 7% des Umsatzes von Apple.
Drittens
lassen diese Größenverhältnisse erahnen, dass daraus ein Machtpotenzial und Gestaltungsspielraum erwächst, der die Wirksamkeit staatlicher Entscheidungen einengt. Bis in die Zeit der frühen 1950er Jahre konnten die Volkswirtschaften noch als relativ geschlossene Systeme bezeichnet werden. Der grenzüberschreitende Warenverkehr war durch Zölle und hohe Transportkosten eingeengt und die Kapitaltransfers über die Grenzen hinweg waren meist durch diverse Regularien beschränkt. Die Rechts- und Steuersysteme der Länder beeinflussten die wirtschaftlichen Abläufe im Rahmen der Ländergrenzen, ohne dabei mit den rechtlichen Rahmensetzungen anderer Länder in Konflikt zu geraten. Diese Zeiten sind vorbei. Im Zuge der Reduzierung von Handels- und Kapitalverkehrsschranken wirken sich politisch-rechtliche Entscheidungen in einem Land nun im viel größeren Maße als früher auf das Verhalten der Unternehmen und auf die Gesetzgebung in anderen Ländern aus. Regularien in den Bereichen des Umweltrechts und des Steuerrechts sind dafür gute Beispiele. Länder mit günstigen Umweltstandards oder niedrigen Steuersätzen können Kapitalbewegungen bewirken, die andere Länder zu Gegenmaßnahmen veranlassen. Dies wird als Spillover-Effekt bezeichnet und setzt die Staaten unter Handlungsdruck. Die Politik in den Ländern hinkt hier meist hinterher, da die weltweit agierenden Unternehmen in der Lage sind, auf die günstigsten Standorte auszuweichen und so die institutionellen Vorgaben in Ländern zu unterlaufen.
Die Steuerlast der Multis im Durchschnitt liegt zwanzig bis dreißig Prozent unter der Belastung ähnlicher, rein national agierender Unternehmen
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. Die Verlagerung der Gewinne aus den Hochsteuerländern in Steueroasen ist ins Rampenlicht der öffentlichen Diskussion gerückt. Das Internationale Konsortium für Investigative Journalisten (ICIJ) hat mit der Veröffentlichung der Panama- und Paradise-Papers wertvolle Arbeit geleistet. Im Herbst 2013 haben auch die G20-Staaten den Aktionsplan der OECD gegen die Steuervermeidung „Base Erosion and Profit Shifting (BEPS)“ unterstützt. Die OECD ist aufgefordert worden, den Aktionsplan weiter zu verfolgen. Der gestaltende Staat wird mehr denn je benötigt. Besitzen die Staaten die Kraft, ein faires Weltwirtschaftssystem zu etablieren?
Handelt es sich um die Reproduktion der immer wieder gleichen Prozesse? Einerseits schreitet die kapitalistisch orientierte Marktwirtschaft von Bubble zu Bubble voran und verläuft wellenartig in erstaunlicher Kontinuität. Nach dem großen Crash des realen Sozialismus ist eine gesamtgesellschaftliche Alternative, weniger denn je erkennbar. Wirtschaftliches Handeln gleicht sich offenbar weltweit immer mehr an. Dazu kommt ein weiterer Faktor. Der ökologische Kontext des Wirtschaftens unterliegt selbst Veränderungen. Die mit dem Wachstum einhergehenden Schadstoff-Emissionen sowie die Ausbeutung von Naturressourcen wirken sich im globalen Maßstab aus. Der Klimawandel gefährdet die künftige Reproduktion der Lebensbedingungen weltweit.28
Andererseits offenbaren sich in den wirtschaftlichen Abläufen vielfältige Muster, sobald länderübergreifende Entwicklungen und Zeitspannen verglichen werden. Dieser Aspekt der Divergenz verweist auf den Einfluss unterschiedlicher institutioneller Bedingungen und Kulturen in den Ländern, die wirtschaftliches Handeln in verschiedener Weise prägen und diverse Entwicklungspfade eröffnen. Die Herausarbeitung beider Entwicklungsverläufe (Konvergenz und Divergenz) ist relevant für die Diskussion alternativer Gestaltungen des Wirtschaftens.
Die Kapitaleigner üben den wesentlichen Einfluss im Unternehmen aus. Die Stakeholder-Perspektive, die neben den Aktionären auch die Konsumenten, Lieferanten, Mitarbeiter und den Staat als Einflussgruppen im Betrieb hervorhebt, stellt keine Alternative zu dieser Logik dar. Die Stakeholder lenken den Blick lediglich auf das komplexe Beziehungsgeflecht und die gesamtwirtschaftliche Funktion eines Unternehmens. Denn Wirtschaftsbetriebe agieren nicht im luftleeren Raum. Sie sind eingebettet in ein Gefüge aus wirtschaftlichen Wettbewerbsbedingungen und politisch-rechtlichen Vorgaben in Form von Gesetzen, Verordnungen und Rechtsentscheidungen. Je nachdem, wie eng oder weit das Spielfeld und die Regeln für Investoren abgesteckt sind, verfolgen die wirtschaftlichen Akteure ihre Ziele in gebändigter oder ungezügelter Weise.
Dieses Gefüge repräsentiert den institutionellen Rahmen einer Gesellschaft, der das wirtschaftliche Handeln beeinflusst und in bestimmte Richtungen lenkt. Er wird durch nationale Normen und internationale Vereinbarungen wie beispielsweise den Vertrag über die Europäische Union und diverse Handelsverträge geprägt. Zu diesen Normen und Vereinbarungen zählen auch die Wirtschafts- und Steuergesetze sowie das Umweltrecht. Steuergesetze werden zur wirtschafts- und sozialpolitischen Lenkung eingesetzt. Das war schon immer so. Sie determinieren nicht nur den Geldtransfer vom Steuerbürger zum Staat, der zur Finanzierung des Militärs, der Infrastruktur und des Sozialstaats abgefordert wird. Sie wirken sich auch direkt aus auf die Entscheidungen der Investoren, indem vor allem steuerbegünstigte Investitionsziele angepeilt werden. Aufgabe der Politik ist es, diesen Rahmen zu gestalten.
Die Akteure treffen vor dem Hintergrund dieser Rahmenbedingungen tagtäglich Entscheidungen, die ihren Nutzen steigern sollen. Innerhalb des Rahmens ergeben sich Handlungsalternativen, welche die Realisierung verschiedener Optionen erlauben. Hier kommt den Konsumenten durchaus eine Bedeutung zu, da ihre Kaufentscheidungen zu Verdrängungen aus dem Markt führen können. So wurde Nike von Menschenrechtsorganisationen kurz nach dem Millennium vorgehalten, miserable Arbeitsbedingungen akzeptiert zu haben. Um Umsatzeinbußen zu verhindern, musste die Firma reagieren und sich in der Öffentlichkeit als sozial verantwortlich handelndes Unternehmen präsentieren. Produkte, die Resultat menschenunwürdiger Produktionsbedingungen wie Kinder- oder Sklavenarbeit sind, lassen sich eliminieren, wenn dies auf den Märkten massenhaft zum Ausdruck gebracht wird. Diese konsumorientierte Protestoption wird aber an den grundlegenden wirtschaftlichen Leitzielen nichts ändern, solange die institutionellen Rahmenbedingungen unverändert bleiben. Sie grenzen die Spielregeln des wirtschaftlichen Handelns ein. Welche Faktoren wirken sich auf die Ausgestaltung der Regeln aus? Und besteht hier überhaupt ein Spielraum?
Es lassen sich durchaus Unterschiede erkennen. Die institutionellen Bedingungen unterscheiden sich von Land zu Land, wobei die spezifische Art der Ausgestaltung von Institutionen Ausdruck einer jeweils besonderen Kultur und Geschichte ist. Im Sinne von Habermas „(besteht) der institutionelle Rahmen einer Gesellschaft aus Normen, die sprachlich vermittelte Interaktionen leiten“ (Habermas 1969: 63).29 Vor dem Hintergrund gewachsener geschichtlicher Entwicklungspfade haben sich in den Ländern unterschiedliche institutionelle Ausprägungen und Leitlinien des Handelns gebildet, die im Bereich der politischen Ökonomie erfasst und gegenüber gestellt werden. So lassen sich in den Zentren des globalen Wirtschaftsgeschehens verschiedene marktwirtschaftliche Systeme voneinander unterscheiden. In Nordamerika und Großbritannien wird in diesem Zusammenhang offener als in Deutschland vom „Kapitalismus“ gesprochen, um die realen wirtschaftlichen Abläufe auf den Punkt zu bringen. Was wir als Kapitalismus bezeichnen, basiert im internationalen Vergleich auf grundlegenden Gemeinsamkeiten, erfährt in den Ländern aber auch verschiedene Prägungen. Beide Aspekte sollen hier herausgestellt werden, um Gestaltungsräume für die Politik aufzuzeigen.
Institutionelle Differenzen sind im Rahmen vergleichender Studien von Peter Hall und David Soskice (2001) dargestellt worden. Ihr Ansatz ist unter dem Begriff „Varieties of Capitalism“ bekannt geworden. Die beiden Autoren haben verschiedene Modelle des Kapitalismus gegenübergestellt. Sie beschreiben die USA und Großbritannien als Länder mit „klassisch liberaler“ Marktorientierung und konfrontieren dieses Modell mit den in Deutschland, Japan und Südkorea vorherrschenden Verhältnissen, die sich eher durch ein „koordiniertes marktwirtschaftliches“ Leitbild auszeichnen. Dieser Länderblock wird von ihnen noch weiter untergliedert30.
Die klassisch liberalen Werte der individuellen Freiheit, des Selbstbesitzes und der Vertragsfreiheit sind im Wirtschaftsleben Nordamerikas am stärksten ausgeprägt. Sie markieren zentrale Eckpunkte des Denkens und gipfeln im Primat des individuellen Glücks. Die Maxime lautet: Im Streben nach dem persönlichen Lebensglück gehört jeder Mensch sich selbst. „Über sein Leben hat niemand ein Recht als nur er allein“ (Locke). In diesem Sinne ist er nicht nur für sein Tun selbst verantwortlich, sondern auch ganz allein seines Glückes Schmied. Der Glaube an die Realisierbarkeit des Traums, durch eigene Arbeit wirtschaftlichen Erfolg erlangen zu können, ist eine zentrale Triebkraft des Handelns. Alexis de Tocqueville, der scharfsinnige politische Analytiker des 19. Jahrhunderts, hat in seinem Buch „Über die Demokratie in Amerika“ (1835–1840) Individualismus, Eigeninitiative und Eigennutz als Kernmerkmale der amerikanischen Demokratie31 beschrieben und auch auf die Gefahren des eigennützigen Handelns hingewiesen. Interventionen des Staates in das Getriebe des Marktes sind mit diesem klassischen Verständnis von Freiheit und Selbstbestimmung in der Regel nicht vereinbar.32 Denn der Wettbewerb ist der Motor des wirtschaftlichen „Fortschritts“ und im Sinne von Adam Smith transformiert „die unsichtbare Hand“ das eigennützige Streben vieler in den Nutzen für alle. Allerdings hat der zugleich stark ausgeprägte Pragmatismus des angelsächsischen Denkens die amerikanische Wirtschaftspolitik im Laufe der Geschichte nicht daran gehindert, das Instrument der keynesianischen Intervention zur Stärkung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage immer wieder zu nutzen. Das galt nicht nur in der Phase des „Big Deal“ nach der Weltwirtschaftskrise 1929, sondern auch während der expansiven U.S.-Geldpolitik der vergangenen Jahre. Der Militäretat lässt sich ebenso als gewaltiges Konjunktur- und Forschungsprogramm für amerikanische Großunternehmen interpretieren.
Die Betonung von Eigeninitiative und Eigennutz schlägt sich nieder in der rechtlichen Ausgestaltung der Unternehmensorganisation. Sie ist streng monistisch ausgerichtet. Die Leitung der Kapitalgesellschaften ist allein im Board of Directors konzentriert. Es existiert nur diese eine Führungsebene, in der nur die Interessen der Unternehmenseigner zum Ausdruck kommen. Dies unterscheidet sich vom dualen Führungssystem in den großen deutschen Kapitalgesellschaften.
Nach dem Ansatz der „Varieties of Capitalism“ bestehen relevante Differenzen zwischen der in Deutschland und Japan existierenden Marktwirtschaft und dem in Nordamerika und Großbritannien praktizierten Modell. Außerhalb des angelsächsischen Kulturkreises spielt der Markt als Koordinationsmechanismus eine weit geringere Rolle. Transaktionen werden eher innerhalb bestehender Hierarchien und Netzwerke ausgehandelt. Und die Kapitalmärkte sind bei der Finanzierung von Unternehmen und der Vorsorge der Bürger weniger präsent als in Großbritannien und den USA. Hall und Soskice haben sowohl den deutschen als auch den japanischen Kapitalismus als spezifische Systeme von Anreizen und Regeln beschrieben, die auf langlebige politische und kulturelle Wurzeln in den jeweiligen Ländern verweisen. Das gilt zum Beispiel für das vor und nach dem Zweiten Weltkrieg traditionell verankerte Keiretsu-System in Japan. Mit dem Begriff “Keiretsu” wird die enge Kooperation innerhalb einer ganzen Familie von Firmen hervorgehoben, die auch hauseigene Banken einschließt. Der Fimenverbund wird über wechselseitige Beteiligungen und Doppelfunktionen von Managern quer über einzelne Firmen und mitunter auch Branchen zusammengehalten. Dies System bedingt zugleich ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl, das auf Seiten der Mitarbeiter durch die Ausbildung firmen- oder gruppenspezifischer Qualifikationen und durch lebenslange Beschäftigung im Firmenverbund gestützt wird. Als Beispiele lassen sich Konglomerate wie Mitsubishi, Toyota, Honda und Hitachi benennen. Die Steuerung der Unternehmen über die Direktorenversammlung verweist auf eine monistische Führungsstruktur.
In Kontinentaleuropa, insbesondere in Deutschland, hat sich in der Nachkriegszeit eine bis dahin einzigartige Situation ergeben, in der sich Marktwirtschaft, Demokratie und Sozialstaat entfalten konnten33. Getragen durch eine starke Entwicklung der Produktivität34