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Seit Jahrhunderten leben sie verborgen unter den Menschen … sie sind Gestaltwandler und nur noch wenige. Um ihre Art zu erhalten, müssen sie das tun, was sie eigentlich ablehnen … sich menschliche Gefährten suchen. Nach einer Fehlgeburt sucht Eveline nach einem Ort, an dem sie sich eine Weile vor der Welt verstecken kann. Das kaum belegte Feriencamp im Teutoburger Wald scheint wie geschaffen dafür. Doch schon auf dem Weg zu ihrer Blockhütte läuft ihr ein Wolf vor das Auto - obwohl es hier gar keine Wölfe geben dürfte ... Vincent geht die junge Frau nicht aus dem Kopf. Sie stellt ein Problem dar, weil Menschen nicht von ihm und seiner Art erfahren sollen. Trotzdem folgt er Eveline, beobachtet sie und setzt sich über die Anweisungen seines Alphas hinweg, indem er sich ihr nähert. Wolf-Breed lassen sich nicht mit Menschen ein … das sind die Regeln, nach denen Vincent und seine Familie leben. Doch er stellt sich gegen sein Rudel und entführt Eveline ...
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Seitenzahl: 207
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Alexa Kim
Wolf Breed - Vincent (Band 1)
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
12.
Epilog
Wolf Breed Serie
Bisher erschienen von Alexa Kim
Impressum neobooks
Eveline
Als ich das Schild mit der Aufschrift "Wolfstann" entdeckte, stieß ich erleichtert den Atem aus. Es war schon vier Uhr am Nachmittag, der Himmel war düster, und die Luft roch nach Schnee. Bereits vor einer Stunde war mir klar geworden, dass es nicht mein bester Einfall gewesen war, so spät loszufahren. Zwar hatte mein SUV Allradantrieb, aber die verschlungenen schmalen Wege, die mich seit über einer Stunde quer durch die winterliche Wildnis führten, waren für eine ungeübte Fahrerin eine Herausforderung. Du musstest dir ja auch unbedingt ein Feriencamp im Teutoburger Wald aussuchen ...
Es war Anfang Dezember, und meine Spontanentscheidung kam mir mittlerweile ziemlich dumm vor. Normalerweise war ich nicht so. Schon immer war ich der besonnene und verlässliche Typ gewesen – eine Frau, die ihr Leben im Griff hatte und es plante. Das hatte bestens funktioniert ... bis zu diesem verdammten Tag, an dem das Schicksal zugeschlagen hatte.
Ich biss mir auf die Unterlippe, um die Tränen zurückzudrängen, die wie so oft in der letzten Zeit einfach aus mir herausbrechen wollten. Letztes Jahr im Dezember war mein Leben noch in Ordnung gewesen ... ich hatte Tom gehabt und wir hatten uns auf die Geburt unseres ersten Kindes gefreut. Und jetzt? Nichts war übrig geblieben ... eine Totgeburt im siebten Monat! Ein Mädchen ... Toms und meine Tochter. Wir waren uns noch nicht einmal über einen Namen einig gewesen. Der Name, der auf dem Grabkreuz stand, war mir so fremd, dass ich ihn nie benutzte, wenn ich von meiner Kleinen sprach. Tom und ich hatten ihn schnell ausgewählt ... in unserer Trauer und der Kraftlosigkeit. Zwei Monate später ... im Juli ... hatten Tom und ich uns getrennt. Eigentlich war unsere Beziehung an dem Tag zerbrochen, an dem unsere Tochter tot zur Welt gekommen war. Wir hatten versucht, so weiterzumachen, wie wir vor der Schwangerschaft gelebt hatten. Aber wir hatten gewusst, dass etwas fehlte, und es in den Augen des anderen gesehen – bis wir schließlich aufgehört hatten, uns anzusehen, weil es zu sehr schmerzte ... nun ... seitdem wusste ich, dass man ein Leben nicht planen kann. Ich hatte es auf schmerzhafte Weise erfahren müssen.
Ich war froh, als ich den Weg entdeckte, der zum Verwaltungsgebäude des Feriencamps führte und ich die düsteren Erinnerungen verdrängen konnte ... vorerst. Ich lenkte den SUV vor das große Verwaltungsgebäude und stellte den Motor aus. Vor dem Blockbohlenhaus sah ich ein verwittertes Holzbrett mit einer Aufschrift. Die Farbe war schon an einigen Stellen abgeplatzt, aber ich konnte Wolfstann Feriencamp entziffern.
Erleichtert stieg ich aus dem Auto. Meine Beine waren steif von der langen Fahrt und meine Finger klamm. In der Buchungs-Email hatte es geheißen, dass ich den Schlüssel für meine Blockhütte in der Verwaltung des Feriencamps abholen müsste.
Ehe ich an die Tür klopfen konnte, öffnete ein älterer Mann sie von innen. Er trug abgewetzte Jeans und ein rot kariertes Holzfällerhemd. Seine Augen funkelten unter buschigen Brauen, und er schien nicht gerade bester Laune zu sein. "Kommen Sie rein ... Frau Martin."
Er sprach meinen Namen deutsch aus, weil er nicht wissen konnte, dass er eigentlich französisch war. Meine Großeltern waren aus Frankreich nach Deutschland gekommen, um hier ihr Glück zu finden. Von meinen französischen Wurzeln war allerdings nur mein Name geblieben – Eveline Martin. Ich sprach kein Wort Französisch und konnte noch nicht einmal besonders gut kochen.
"Sie kommen spät. Ich wollte mich schon auf den Weg runter ins Dorf machen. Es sieht nach Schnee aus, und dann kommt man nicht mehr hier weg." Er zog die Stirn kraus und musterte mich kritisch. "Sind Sie sicher, dass Sie zur Blockhütte wollen? Die nächsten Gäste kommen erst in gut zwei Wochen ... vor Weihnachten. Bis dahin sind Sie da oben ganz alleine."
Ein Teil in mir wollte dem Bedürfnis nachgeben, meinen wirklich dummen Plan, mich hier bis ins neue Jahr zu verkriechen, über Bord zu werfen und nach Hause zu fahren ... wo Erinnerungen und Traurigkeit in jeder Ecke meiner Wohnung auf mich lauerten, um über mich herzufallen.
"Ich komme schon klar ...", antwortete ich zuversichtlicher, als ich mich fühlte.
"Sie haben Lebensmittel für drei Wochen, es gibt im Winter so gut wie keinen Handyempfang, aber ein Funkgerät, falls sie Hilfe brauchen. Es dauert allerdings ein paar Stunden, bis jemand bei Ihnen ist."
"Solange es keine Raubtiere gibt ... was soll schon passieren?" Ich glaubte selbst nicht, was ich da sagte, aber ich musste mich einfach selbst in meinem Entschluss bestärken.
Der Verwalter zog die buschigen Brauen noch kritischer zusammen. Wahrscheinlich hielt er mich für lebensmüde, und tatsächlich war ein kleiner Teil von mir das auch. Nicht, dass ich vorhatte, mich umzubringen, aber meine Sensoren für Gefahr funktionierten zurzeit nicht sonderlich gut.
"Ich kann Sie nicht abhalten ... außerdem würde der Besitzer mich kündigen, wenn ich Ihnen das Ganze Ausrede." Er seufzte. "Vor Raubtieren brauchen Sie keine Angst zu haben – die gibt es hier schon lange nicht mehr. Sie verkaufen sich nur gut im Namen." Er tippte mit dem Finger gegen einen Werbeflyer, der auf dem Tresen des kleinen Empfangs lag. Alles hier war sehr nostalgisch auf eine amerikanische Art – Trapperromantik. Der Empfangstresen war wie das ganze Haus aus Holzbohlen gefertigt, an den Wänden hingen Bärenfälle und sogar ein Bisonkopf. Als ob es eines dieser Tiere seit der Steinzeit jemals hier gegeben hätte! Mir war das allerdings herzlich egal – ich wollte endlich meinen Schlüssel und dann zur Blockhütte. Es wurde bald dunkel, und wenn es dann noch zu schneien begann, machte es die Sache noch schlimmer.
"Mein Name ist Hank ..." Ja klar ... und ich bin Calamity Jane ...
"Eveline ... Martin ...", sprach ich meinen Namen dieses Mal richtig aus, woraufhin Hank erneut die Stirn krauszog. "Ah ... Sie sind Französin?"
"Meine Großeltern kamen aus Frankreich."
Er nahm einen Schlüssel mit einem geschnitzten Wolfsanhänger vom Schlüsselbrett und legte ihn vor mir auf den Tresen. "Also ... Sie fahren einfach den Weg, den Sie gekommen sind, weiter. Nach etwa fünfzehn Minuten biegen sie links ab. Die Abzweigung ist leicht zu übersehen, es ist nur ein kleiner Weg, der zu den Blockhütten hinauf führt. Also passen Sie gut auf. Wenn Sie die Abzweigung verpassen, landen Sie im Nirgendwo, irgendwo im Wald. Da gibt es nur eine Familie. Die Leute machen keinen Ärger, kommen manchmal runter in den Ort und bestellen Lebensmittel. Sie haben während der Urlaubssaison ein Auge darauf, dass hier alles friedlich abläuft, keine Feuer im Wald gemacht werden, nach Jagdtrophäen gewildert wird und solche Dinge. Es gibt ein Abkommen mit dem Besitzer des Feriencamps. Er hat ihnen eines der nicht genutzten Ranchhäuser überlassen. Also die sind eigentlich harmlos, aber bleiben lieber unter sich und mögen es nicht, wenn Fremde in ihre Nähe kommen. Achten Sie also auf die Abzweigung."
Ich nickte und nahm den Schlüssel vom Tresen. Ich wollte wirklich schnell zu meiner Hütte. Draußen wurde es dunkel. "Danke schön, Hank. Wir sehen uns dann ..."
"Ich schaue jede Woche vorbei, sofern mich nicht der Schnee davon abhält." Er legte seinen Finger an die Stirn wie ein Revolverheld in einem Western. "Wünsche einen schönen Aufenthalt im Wolfstann."
Zwanzig Minuten später kniff ich nervös die Augen zusammen, während die Scheibenwischer des SUV auf höchster Stufe Schneeflocken von der Windschutzscheibe wischten. Ich konnte im dichten Schneegestöber kaum etwas sehen und ich war mir ziemlich sicher, dass ich die Abzweigung verpasst hatte. Shit! Ich musste wenden – aber wo? Der Weg war zu schmal, mir blieb nur, weiterzufahren und nach einer geeigneten Stelle Ausschau zu halten. Das Knirschen unter den Reifen sagte mir, dass der Schnee liegen blieb. An Schneeketten hatte ich natürlich auch nicht gedacht.
Plötzlich erkannte ich vor mir auf dem Weg einen dunklen Fleck im Schneegestöber. Panisch trat ich auf die Bremse, das ABS reagierte und brachte den SUV zum Stehen.
"Verdammt ...", rief ich aus purer Verzweiflung. Einen Ast auf der Straße konnte ich nun wirklich nicht gebrauchen. Fluchend öffnete ich die Tür und stapfte durch den Schnee auf das Hindernis zu ... bis es sich bewegte.
Erschrocken blieb ich stehen und blinzelte in den Lichtkegel der Scheinwerfer. Das war kein Ast, sondern ein Tier! Na gut ... Zumindest würde sich ein Reh im Gegensatz zu einem fünfzig Kilo schweren Ast von der Straße verscheuchen lassen – . "Hey ... kusch ... weg ...", rief ich laut und wedelte mit den Armen über meinem Kopf. Es bewegte sich nicht. Langsam wurde mir mulmig. Stattdessen setzte es sich in Bewegung und kam auf mich zu.
"Oh ... Gott ...", rief ich, als es durch den Lichtkegel der Scheinwerfer trottete. Was da keine zehn Schritte von mir entfernt stand, war ein großer brauner Wolf. Unvermittelt wollte ich weglaufen, erinnerte mich dann aber an eine Doku über Wölfe, die ich erst vor ein paar Wochen im Fernsehen gesehen hatte. Wenn ich weglief, könnte der Wolf mich für Beute halten. Also blieb ich stehen – zitternd und abwartend ... genau wie der Wolf. Keiner von uns beiden bewegte sich – der Wolf schien glücklicherweise nicht besonders angriffslustig zu sein ... vielleicht hatte er heute schon gefressen – aber konnte man ein wildes Tier wirklich einschätzen?
"Hey ... alles gut ... braves Hundchen ... ich wollte dich nicht stören ...", sagte ich leise und versuchte meine Stimme ruhig klingen zu lassen, was mir nicht besonders gut gelang. Ich hatte zu große Angst. Meine Stimme zitterte mindestens so sehr wie mein Körper. Der Wolf schien meinen Worten zu lauschen, senkte den Kopf und trat zwei Schritte zurück - als wolle er mir klarmachen, dass er meine Worte verstanden hatte und mir nichts tun wollte. Lächerlich ... das war ein Wolf, Himmel nochmal!
Vorsichtig ging ich rückwärts, einen Schritt nach dem anderen, darauf bedacht, nicht zu stolpern oder hinzufallen. Als ich die offene Tür meines SUV erreichte, sprang ich auf den Fahrersitz, zog die Tür zu und drückte den Knopf der Automatikverriegelung, als wäre der Wolf in der Lage, eine Autotür zu öffnen. Egal! Ich fühlte mich sicherer mit verschlossenen Türen.
"Oh Gott ... der Verwalter sagte doch, dass es hier keine Wölfe gibt!", flüsterte ich vor mich hin, während ich die Augen schloss und versuchte, ruhig zu atmen. Ich hatte noch nie etwas von Wölfen im Teutoburger Wald gehört ...
Als ich die Augen öffnete und durch die stark verschneite Frontscheibe starrte, war der Wolf verschwunden. Ich schaltete die Scheibenwischer ein, um besser sehen zu können – aber er war fort!
Ein paar Minuten wartete ich, bis ich mich soweit beruhigt hatte, dass ich den Motor starten konnte. Obwohl ich noch immer zitterte, fand ich einen leeren Holzablageplatz neben dem Weg, auf dem ich den SUV wenden konnte. Dieses Mal achtete ich genau auf die Abzweigung und fand sie schließlich. Doch noch, bevor ich mein Blockhaus erreichte, wurde das Gefühl immer stärker, dass ich mich auf ein sehr gefährliches Abenteuer eingelassen hatte.
Vincent
Ich hatte noch immer ihren Duft in der Nase, während ich mich langsam aufrichtete und dabei spürte, wie die winterliche Kälte meinen Körper zittern ließ. In meiner Wolfsgestalt spürte ich die Kälte nicht, aber sobald ich in meine menschliche Gestalt wechselte, brauchte ich warme Kleidung. Ich zog meine Sachen aus dem ausgehöhlten Baumstamm, in dem ich sie verstaute, wenn ich mich auf die Jagd oder einfach auf eine Streiftour durch den Wald machte.
Während ich in meine Jeans stieg und den schwarzen Pullover über den Kopf zog, dachte ich an ihr Gesicht – wie erschrocken sie ausgesehen hatte, obwohl ich mich bemüht hatte, ihr zu zeigen, dass ich ihr nichts tun würde. Sie hatte mich für einen Hund gehalten ... was mich ärgerte. Normalerweise kümmerte mich nicht, was die Menschen sagten, dachten oder taten, doch bei ihr war das anders. Sie hatte etwas in mir berührt, weil sie unglücklich war ... genau wie ich. Auch wenn ich nicht wusste weshalb, sprach die Bitterkeit, die unter dem scharfen Geruch ihrer Angst wahrzunehmen gewesen war, Bände.
Als ich die Trekkingschuhe zugebunden hatte, machte ich mich auf den Weg zum Haus.
Schon von Weitem nahm ich den elektrisierenden Geruch von Sex wahr – Oliver paarte sich mit Mona, ich kannte den Geruch meiner Familienmitglieder in- und auswendig ... auch den scharfen Geruch der Abneigung meiner Schwester Fiona. Mona gefiel es, sich mit Oliver zu paaren, Fiona aber verabscheute Oliver und seine Übergriffe. Meine jüngere Schwester tat mir leid, aber ich konnte nichts dagegen tun. Oliver war unser Bruder und der Alpha des Rudels. Er hatte das Recht, die Paarung mit den Frauen des Rudels zu verlangen, auch wenn sie seine Schwestern waren. Inzest war unter meiner Art nicht unüblich. Es gab nicht mehr viele von uns, sodass den Familien oft nichts anderes übrig blieb, als sich untereinander zu paaren. Die Paarungszeit hatte gerade begonnen, und es war das dritte Jahr, in dem Oliver versuchte, im Rudel Nachwuchs zu zeugen.
Ein bitterer Schmerz lag auf meinem Herzen. Ich hatte Glück gehabt mit meiner Gefährtin Valerie. Sie war aus einem anderen Rudel zu uns gekommen ... und sie war schwanger von mir gewesen. Wir hätten in diesem Winter ein neues Familienmitglied haben können ... wenn es das Unglück nicht gegeben hätte. Valerie ... Meine Gedanken kehrten zurück zum letzten Winter ... wie ich sie gefunden hatte ... nackt im Schnee etwa hundert Meter von unserem Haus entfernt ... in ihrem Bauch eine hässliche blutende Wunde. Valerie war tot gewesen, als ich sie gefunden hatte - erschossen von einem Jäger, der sie für einen streunenden Wolf gehalten haben musste. Sie war ihm schwer verletzt entkommen, wovon die blutigen Spuren im Schnee gezeugt hatten. Es wäre ihr fast gelungen, sich nach Hause zu schleppen. Meine Art war zäh, aber Valeries Verletzungen waren zu schwer gewesen. Sie und unser ungeborenes Kind waren dort draußen allein im Schnee gestorben ... und mit ihnen der Grund, aus dem ich lebte! Ich war nicht da gewesen, um ihnen zu helfen ...
Mit Selbstbeherrschung widerstand dem Drang, ein schmerzerfülltes Heulen auszustoßen. Fast ein ganzes Jahr hatte ich um meine Gefährtin getrauert, und meine Familie hatte Rücksicht genommen. Dem Verwalter des Feriencamps hatten wir erzählt, dass Valerie in die USA gegangen war, um zu studieren. Die Lüge kam mir glatt über die Lippen, ich funktionierte ... doch immer ungeduldiger erwartete das Rudel nach einem Jahr, dass ich meine Trauer überwand. Nach außen hin tat ich das auch, aber in mir sah es anders aus.
Ohne anzuklopfen öffnete ich die Tür des Blockbohlenhauses, das der Besitzer des Feriencamps uns überlassen hatte, und trat den Schnee von meinen Schuhen. Es war in den letzten vier Jahren zu unserem zu Hause geworden. Ich achtete weder auf Monas spitze Schreie noch auf Olivers Knurren. Rücksichtsvoll waren Mona und Oliver noch nie gewesen – nicht mir oder Fiona gegenüber und schon gar nicht gegenüber unserem jüngeren Bruder Marcel, der in der Rangordnung des Rudels ganz unten stand.
Aus dem Augenwinkel konnte ich sehen, dass Mona mit dem Oberkörper über den Esstisch gebeugt war, ihre Jeans bis zu den Knöcheln heruntergezogen, während Oliver hinter ihr stand und sie fickte, als hätte er seit Wochen keine Frau mehr gehabt. Monas mit Tribalmotiven tätowierte Arme lagen ausgestreckt auf der Tischplatte, während Oliver eine Hand in ihren kurzen roten Haarschopf gekrallt hatte. Oliver verlangte das ganze Jahr Sex, aber während der Paarungszeit fielen bei ihm und Mona alle Hemmungen.
"Mach die Tür zu, es ist kalt ...", rief Oliver mir zu.
Während ich die Tür schloss, ging sein Knurren in ein lautes Heulen über. Volltreffer! Er hatte seinen Samen soeben in Mona verspritzt – ich bezweifelte allerdings, dass sie in diesem Winter schwanger werden würde ... genauso wenig, wie in den Wintern davor. Wir waren zu eng miteinander verwandt. Der Inzest brachte es mit sich, dass die Geburtenraten niedrig waren und immer niedriger wurden, je öfter sich Familien untereinander paarten. Auch unsere Eltern waren blutsverwandt gewesen – zwar keine Geschwister, aber Cousin und Cousine ersten Grades. Obwohl wir alle wussten, wie unwahrscheinlich es war, dass wir miteinander Nachkommen zeugten, taten wir so, als gäbe es dieses Problem nicht.
"Könnt ihr nicht wenigstens in eure Zimmer gehen?", fragte ich genervt, während Oliver über Mona gebeugt stehen blieb und darauf wartete, dass die Schwellung seines Schwanzes zurückging. Mona genoss die Situation sichtlich. Unsere Schwester war ehrgeizig – wenn sie vor Fiona schwanger würde, wäre sie die Alphawölfin des Rudels.
"Geh und sag Fiona, dass ich nachher zu ihr komme", befahl Oliver, als sein Schwanz so weit abgeschwollen war, dass er ihn aus Mona herausziehen konnte. Sie richtete sich unwillig auf, zog die Hosen hoch und verschwand die Treppe hinauf in Richtung von Fionas Zimmer. Sie und Fiona verstanden sich einigermaßen, aber wenn es um diese Sache ging, sah Mona in unserer Schwester eine Konkurrentin – daran änderte auch die Tatsache nichts, dass Fiona jede Berührung von Oliver verabscheute.
"Ehrlich, Mann ... musst du es ständig vor uns allen machen?"
Oliver fuhr sich über den Dreitagebart und warf das lange dunkle Haar zurück. Erst dann zog er seine Hose hoch. Tatsächlich sah unser ältester Bruder aus wie ein Rockstar und hatte auch die gleichen Allüren. Ich argwöhnte, dass Oliver sich sein Getue von irgendeiner Hard&Heavy Gruppe aus dem Fernsehen abgeschaut hatte – obwohl er Menschen ansonsten verachtete.
Oliver baute sich demonstrativ vor mir auf, obwohl er höchstens einen Fingerbreit größer war als ich. "Ich führe dieses Rudel. Wenn es dir nicht passt, wie ich das tue, kannst du es ja verlassen, Vince."
Mir war klar, dass Oliver mich einschüchtern wollte. Ich war ernst zu nehmende Konkurrenz für ihn ... und zwar die einzige. Wir waren gleichstark, und obwohl ich nicht vorhatte, seine Stellung als Alpha zu beanspruchen, ließ Oliver keine Gelegenheit aus, mir gegenüber den Alpha heraushängen zu lassen.
"Kannst du nicht wenigstens Fiona in Ruhe lassen?", versuchte ich, zumindest an sein Mitgefühl zu appellieren, obwohl ich wusste, dass es sinnlos war.
Er verschränkte die Arme vor der Brust. "Fiona kennt die Regeln. Unsere Familie braucht Nachwuchs, sonst wird das Rudel aussterben."
"Was vielleicht nicht das Schlechteste wäre ...", entgegnete ich und wandte mich zur Tür.
Oliver schnaubte verächtlich. "Seit Valerie tot ist, bist du nur noch ein Jammerlappen, Vince. Komm endlich drüber hinweg. Uns allen tut es leid, was passiert ist, und wir alle haben Verständnis für deine Trauer ... aber das Leben geht weiter."
"Nicht für mich ...", knurrte ich und entschloss mich, lieber die Gesellschaft einer frostigen Winternacht zu suchen, als länger mit Oliver in einem Raum zu bleiben.
Es hatte aufgehört zu schneien, die Temperaturen waren unter den Gefrierpunkt gefallen und der Schnee war mit einer leichten Eisschicht überzogen, die unter meinen Schuhen knirschte. Mir war kalt, weil ich keine Jacke trug – aber wenigstens war ich Olivers übergroßes Ego los.
Auf halbem Weg zum Schuppen, in dem unsere beiden SUVs und Olivers Harley standen, blieb ich stehen und witterte. Scheinbar war ich nicht der Einzige, der Oliver aus dem Weg gehen wollte.
Ich wandte mich nach rechts und folgte der Geruchsspur bis hinter den Schuppen, wo ich unseren jüngeren Bruder Marcel fand. Er stand gegen die Wand gelehnt, das halblange blonde Haar fiel ihm ins Gesicht. Marcel hatte die Schultern hochgezogen und die Daumen in die Taschen seiner Jeans gehakt. Immerhin war er klüger als ich und trug einen dicken Kapuzenpullover, der mit Fleece gefüttert war. Als Marcel mich sah, verzog er den Mund zu einem bitteren Lächeln. "Oliver und Mona sind im Haus zugange."
"Sie sind fürs Erste fertig ...", antwortete ich knapp, als wäre es das Normalste von der Welt, dass unser Bruder und unsere Schwester es vor unser aller Augen im Wohnzimmer miteinander trieben.
"Dann wird er zu Fiona gehen." Seine Stimme war voller Mitgefühl; Marcel würde niemals ein Alpha werden. Er war viel zu sanft. Manchmal wusste ich nicht, wen ich mehr bemitleiden sollte ... Marcel, der unter den Drangalisierungen von Oliver litt, Fiona, die gezwungen wurde, sich mit einem Bruder zu paaren, den sie verabscheute oder mich selbst ... weil ich alles verloren hatte, was mir auf dieser Welt einen Grund zum Atmen gegeben hatte.
"Ich wünschte, du wärest der Alpha des Rudels ...", brachte Marcel wie so oft ein Thema zur Sprache, das ich so gut es ging, vermeiden wollte. Ich wusste, dass Marcel und Fiona darauf hofften, dass ich Oliver herausforderte. Doch wofür? Um mich mit meinen Schwestern paaren zu können? Ich hatte mich nur mit Valerie gepaart ... für mich hatte es nur sie gegeben. So leid es mir für Fiona und Marcel auch tat – in mir gab es nichts, das kämpfen wollte ... ich sah einfach keinen Grund darin, für irgendetwas zu kämpfen.
"Vince ..."
Ich schüttelte den Kopf. "Du kennst meine Antwort darauf."
"Ja ...", antwortete er resigniert. Es war nicht so, dass ich kein schlechtes Gewissen gehabt hätte. Aber alle Hoffnungen hatte ich mit Valeries leblosem Körper auf der Lichtung vergraben, auf der wir uns das erste Mal getroffen hatten.
"Oliver ist nur so, weil er sich nicht eingestehen will, was uns allen längst klar ist. Unsere Familie hat keine Zukunft."
Marcel stieß sich von der Wand ab. Er war einen halben Kopf kleiner als ich, aber nicht schmächtig. In seinem Blick lag dieser leiser Vorwurf, der immer deutlicher wurde, je öfter wir über das Thema sprachen. "Das macht es aber nicht erträglicher, Vince ... nicht für Fiona und nicht für mich." Er seufzte. "Ich hau mich hin ... wenn ich bei Olivers Testosteronspiegel überhaupt ein Auge zutun kann."
Er ging durch den Schnee zurück zum Haus. Ich blieb noch eine Weile, obwohl mir fast der Hintern abfror. Ich konnte es einfach nicht mehr ertragen ... Olivers Frontalangriffe, Marcels Vorwürfe, Fionas Traurigkeit ... dazu meine Einsamkeit. Mit Valerie war ich glücklich gewesen ... Einsamkeit hatte ich nicht gekannt.
In meine Traurigkeit mischten sich plötzlich andere Bilder – nur kurze Momentaufnahmen, aber doch so deutlich, dass sie mich innehalten ließen. Das erschrockene Gesicht der jungen Frau, die mich in meiner Wolfsgestalt gesehen hatte. Zuerst versuchte ich, diese Bilder zu ignorieren. Dann bemühte ich mich, sie zu verdrängen, doch sie lenkten mich von meiner Trauer ab, also ließ ich sie zu ... lud sie sogar ein, meinen Verstand zu fluten. Ich begann mich zu fragen, wer diese Frau war ... wie sie hieß und warum sie mitten im Winter mit ihrem SUV so tief in den Teutoburger Wald fuhr. Sie hatte nicht den Eindruck einer Extremcamperin gemacht. Und dann war da diese Bitterkeit gewesen, die sie wie ein Schleier umgab – ein Gefühl, das mir so vertraut war. Sie hatte etwas verloren ... genau wie ich. Was wenn sie gekommen ist, um sich umzubringen? Menschen neigten manchmal zu solchen Reaktionen, wenn sie trauerten. Ein ungutes Gefühl machte sich in mir breit. Obwohl es absurd war, fühlte sich ein Teil von mir für sie verantwortlich ... und ein anderer Teil fühlte sich von ihr angezogen. Du bist verrückt, Vince! Wir halten uns von den Menschen fern ... aus gutem Grund ... sie ist nicht dein Problem!
Um die seltsamen Gedanken zu bekämpfen, stapfte ich durch den Schnee zurück zum Haus. Ich brauchte eine Dusche, etwas zu essen und Ablenkung. Dann würde dieser Gedanke verschwinden, dieser verrückte, unmögliche, verbotene Gedanke ... dass ich sie wiedersehen wollte …
Eveline
Ein Holzofen verbreitete angenehme Wärme in dem kleinen Blockhaus. Das Haus hatte nur vier Zimmer ... ein Schlafzimmer mit einem Doppelbett, eine kleine Küche, ein Bad und einen gemütlichen Wohnraum, in dem es einen Kamin gab. Ich hatte mich schnell zurechtgefunden, den Kamin angeheizt, die Vorräte überprüft und dann ein heißes Bad genommen. Jetzt saß ich in meinem Schlafanzug in eine Wolldecke gewickelt auf dem gemütlichen Rindsledersofa und starrte in die knisternden Flammen des Kaminfeuers. Gut, dass Tom mir im Haus seiner Eltern gezeigt hatte, wie man ein Kaminfeuer entzündete. Angenehme Ruhe machte meinen Körper träge und schläfrig. Es war wohl doch keine so schlechte Idee gewesen, hierher zu kommen.
Mein Blick wanderte zur großen Pendeluhr an der Wand. Es ging mittlerweile auf Mitternacht zu, und ich war müde. Eigentlich hätte ich schlafen gehen sollen, aber ich schaffte es nicht, mich von den hypnotischen Flammen loszureißen. Schließlich streckte ich mich einfach auf der Couch aus und schloss die Augen. Es dauerte keine fünf Minuten, bis ich wegdöste ...
Ein Geräusch ließ mich hochfahren. Sofort musste ich an die Terrassentür denken – sie war aus Glas. Versuchte jemand, einzubrechen?
Alarmiert sprang ich auf und schnappte mir den Schürhaken, der neben dem Kamin lag. Notfalls würde ich ihn als Waffe gegen den Einbrecher einsetzen. Ich schlich zur Terrassentür und stieß einen erschrockenen Schrei aus, als ich vollkommen unvorbereitet in dieselben gelben Wolfsaugen blickte wie vorhin auf dem Weg. Wie schon vorhin schien der Wolf keine Scheu zu haben.