Wolf unter Wölfen - Hans Fallada - E-Book

Wolf unter Wölfen E-Book

Hans Fallada

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Beschreibung

Falladas Werk ist mit seinem nüchternen, dialoglastigen Erzählstil charakteristisch für die Epoche der Neuen Sachlichkeit. Wolfgang Pagel, Sohn einer wohlhabenden Familie, hat sich mit seiner verwitweten Mutter überworfen und lebt vom Glücksspiel. In der Nacht vor seiner Hochzeit verspielt er sein letztes Geld. Er flieht nach Berlin und lässt seine Verlobte auf der Straße zurück, allein und mittellos. Um wieder auf die Beine zu kommen, lässt sich Pagel von einem Exkameraden aus der Militärzeit als Verwalter anheuern. Und hier, auf dem eigentlich schon ruinierten Gut, erlebt er die wahre Niedertracht und Verderbtheit des Menschen: Der neue Brotherr ist abhängig von seinem verhassten Schwiegervater. Die Ehefrau ist ihrem Mann nur noch in seliger Abneigung zugetan, muss aber den Schein der glücklichen Familie wahren. Die junge Tochter hat eine Affäre mit einem rechtsnationalen Putschisten, der seinerseits vom Diener des Hauses erpresst wird. Pagel wird zum Wolf unter Wölfen. "Wolf unter Wölfen" ist in seiner Komplexität von Handelnden und Handlung eine episch angelegte Charakterstudie und einer der Klassiker der deutschen Literatur. Null Papier Verlag

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Seitenzahl: 1862

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Hans Fallada

Wolf unter Wölfen

Ungekürzte und kommentierte Ausgabe

Hans Fallada

Wolf unter Wölfen

Ungekürzte und kommentierte Ausgabe

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019 EV: Rowohlt Verlag, Berlin, 1937 (1155 S.) 1. Auflage, ISBN 978-3-962813-38-3

null-papier.de/574

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

ERSTES KAPITEL – Man er­wacht in Ber­lin und an­ders­wo

1. Mäd­chen und Mann

2. Das Mäd­chen er­wacht halb

3. Ein Ritt­meis­ter kommt nach Ber­lin

4. Ber­lin macht sich Früh­stück

5. Förs­ter Knie­busch trifft Holz­die­be

6. Hun­ger­re­vol­te im Zucht­haus Mei­en­burg

7. Die Zofe So­phie schreibt einen Brief

8. Mäd­chen und Mann er­wa­chen

ZWEITES KAPITEL – Ber­lin macht sich schwach

9. Der Ritt­meis­ter sucht Leu­te

10. War­ten auf ein Früh­stück

11. Pe­tra wird von ei­nem Spie­ler ge­bil­det

12. Der Ritt­meis­ter en­ga­giert Leu­te

13. Frau Pa­gel früh­stückt

14. Ehe und Ein­sam­keit der Frau Pa­gel

15. Ein er­folg­lo­ser Spie­la­bend

16. Aus­ein­an­der­set­zung zwi­schen Lie­ben­den

DRITTES KAPITEL – Jä­ger und Ge­jag­te

17. In­spek­tor Mei­er macht eine Be­kannt­schaft

18. Be­such auf ei­ner Pfand­lei­he

19. Der Ritt­meis­ter trifft einen Ka­me­ra­den

20. Pe­tra macht eine Ent­de­ckung

21. Prack­witz fin­det Ber­lin ekel­haft

22. Pa­gel zö­gert vor Ze­cke

23. Pa­gel be­kommt kein Geld

24. Pa­gel lässt sich mit­neh­men

25. Frau Pa­gel hört von ei­ner Hei­rat

VIERTES KAPITEL – Nach­mit­tags­schwü­le über Stadt und Land

26. Ein In­ter­view im Zucht­haus

27. Pe­tras Aus­trei­bung

28. In­spek­tor Mei­er macht sich be­liebt

29. Der Ritt­meis­ter auf dem Prä­si­di­um

30. Pa­gel bei rei­chen Leu­ten

31. Ne­ger­mei­er als Lie­bes­bo­te

32. Frau Pa­gel be­sucht Frau von An­klam

33. Pe­tra im Tor­weg

FÜNFTES KAPITEL – Das Ge­wit­ter bricht los

34. Ober­wacht­meis­ter Gu­bal­ke nimmt Pe­tra fest

35. Wolf­gang auf dem Wege zur Mut­ter

36. Streit mit der Mut­ter

37. Ent­las­sung der Zofe So­phie

38. Förs­ter Knie­busch er­fährt Neu­es

39. Beim Schul­zen Haa­se

40. Von Stud­mann fällt die Trep­pe hin­un­ter

41. Pa­gel ver­kauft sein Bild

42. Pe­tra auf der Wa­che

43. Pa­gel er­fährt Neu­es über Pe­tra

SECHSTES KAPITEL – Das Ge­wit­ter ist vor­bei, aber es bleibt schwül

44. Prack­witz er­le­digt den Fall Stud­mann

45. Ne­ger­mei­er schenkt sein Es­sen der Har­tig

46. Weio im Kom­plott mit Rä­der und Knie­busch

47. Pe­tra als Pfle­ge­rin der Hüh­ner­wei­he

48. Ge­heim­rat von Te­schow schreibt eine Rech­nung

49. Aman­da in der Abend­an­dacht

50. Frau Pa­gel und Min­na pa­cken

51. So­phie im Christ­li­chen Ho­spiz

52. Prack­witz en­ga­giert Stud­mann

53. Die bei­den Freun­de tref­fen Pa­gel

SIEBENTES KAPITEL – Schwü­le Voll­mond­nacht

54. Aman­da und Frau Har­tig ei­ni­gen sich we­gen Mei­er

55. Ge­heim­rats ge­hen schla­fen

56. Ne­ger­mei­er be­sorgt sich einen Rausch

57. Der Leut­nant steigt ein, aber Aman­da passt auf

58. Der Leut­nant fin­det einen Brief

59. Förs­ter Knie­busch fängt einen Wil­de­rer

60. Auf der Stra­ße vor dem Spiel­klub

61. Pa­gel spielt er­folg­los

62. Der Ritt­meis­ter wird Pa­gels Schü­ler

ACHTES KAPITEL Es ver­wirrt sich in der Nacht

63. Aman­da über­re­det Hän­se­ken zur Flucht

64. Der Leut­nant be­sucht Herrn Mei­er

65. Mei­er schießt

66. Der Leut­nant hat es ei­lig

67. Frau Kru­paß er­klärt ih­ren Stand­punkt

68. Pe­tra wird Stell­ver­tre­te­rin von Frau Kru­paß

69. Streit mit dem Va­lu­ten­vamp

70. Von Stud­manns Irr­fahrt

71. Pa­gel spielt das große Spiel

72. Drei auf dem Alex

73. Pa­gel an der Pfor­te

NEUNTES KAPITEL – Ein neu­er Start am neu­en Tag

74. So­phie er­wacht

75. Ne­ger­mei­er knapp am Tod vor­bei

76. Pa­gel holt sein Ge­päck

77. Lieb­sch­ner ver­schafft sich Au­ßen­ar­beit

78. Auch Pe­tra steht auf

79. Weio be­rich­tet wil­de Din­ge

80. Der Ritt­meis­ter und sei­ne Leu­te

81. So­phie ret­tet den Ritt­meis­ter

ZEHNTES KAPITEL – Frie­de der Fel­der

82. Stud­mann zeigt Frau Har­tig Fens­ter­put­zen

83. Stud­mann und der Ge­heim­rat in Streit

84. Da ge­hen sie!

85. Über­mut ei­nes Ober­leut­nants

86. Rä­der, der tie­fe Di­plo­mat

87. So­phies Aben­teu­er

88. Der Ge­heim­rat fin­det Bil­der­chen

89. Pa­gel fin­det einen Brief

90. Fang von Feld­die­ben

91. Zei­tun­gen, Zei­tun­gen

ELFTES KAPITEL – Es kom­men des Teu­fels Husa­ren

92. Der Ritt­meis­ter schreit we­gen ei­nes Brie­fes

93. Die Ent­las­sung Pa­gels

94. Pa­gel küsst Weio

95. Stud­mann er­läu­tert einen Pacht­ver­trag

96. Ein­rücken der Husa­ren

97. Der Ge­heim­rat macht Schwie­rig­kei­ten

98. Back­stein­kreuz und Gän­se­mord

99. Nach dem Gän­se­mord

100. Der Ritt­meis­ter und Weio ma­chen eine Ent­de­ckung

101. Rä­der hat bei Weio einen Er­folg

102. Der Ritt­meis­ter wehrt sich

103. Wolf­gang und Weio in der Nacht

104. Aber die Zei­tun­gen

105. Neu­lo­he ohne Ritt­meis­ter

106. Min­na fin­det Pe­tra

107. Ober­wacht­meis­ter Marof­ke sieht Ge­s­pens­ter

108. Fünf Ge­s­pens­ter lau­fen

109. Pa­gel ruft um Hil­fe

110. Marof­ke ge­stürzt

111. Heim­kehr des Ritt­meis­ters

112. Ein Brief von Ge­heim­rat Schröck

113. Ein Ge­richts­ter­min in Frank­furt

114. Ehe­li­che Sze­ne um ein Auto

115. Frau Eva und Stud­mann kom­men ein­an­der nä­her

116. Pa­gel trifft Ne­ger­mei­er im Wald

DREIZEHNTES KAPITEL – Ver­lo­ren und ver­las­sen

117. Stud­mann reist und Frau Eva ist sehr al­lein

118. Frau Eva bit­tet den Die­ner um Aus­kunft

119. Die al­ten Te­schows rei­sen

120. Im »Gol­de­nen Hut« zu Osta­de

121. Der Leut­nant in der Zan­ge

122. Fehl­schlä­ge ei­nes Selbst­be­wuss­ten

123. Der Ritt­meis­ter geht ver­lo­ren und Frau Eva war­tet

124. Ende ei­nes Leut­nants

125. Fa­mi­lie Prack­witz kehrt heim

126. Das Ver­schwin­den Vio­lets

127. Su­che in der Nacht

VIERZEHNTES KAPITEL – Das Le­ben geht wei­ter

128. Pa­gel als Re­gen­te

129. Ein­lass in eine Kam­mer

130. Klei­ne Ehe ohne Ehe

131. So­phie im Kampf

132. Knie­busch stumm ge­wor­den

133. Pa­gels mut­lo­se Stun­de

134. Der Ritt­meis­ter er­wacht

135. Frau Eva und ihr In­spek­tor

136. Der Ritt­meis­ter spricht wie­der

FÜNFZEHNTES KAPITEL – Der Letz­te bleibt nicht al­lein

137. Höchs­te Geld­not in Neu­lo­he

138. Hel­den­tod ei­nes Feig­lings

139. Pa­gel ver­steht zu spät

140. Pa­gel muss Geld be­schaf­fen

141. Te­schow ju­ni­or hat eine Erb­schafts­vi­si­on

142. Ab­schieds­s­tim­mung un­ter den Leu­ten

143. Der di­cke Kri­mi­na­list gibt Nach­richt

144. Heim­kehr ei­ner Toch­ter

SECHZEHNTES KAPITEL – Die Wun­der der Ren­ten­mark

145. Al­les, al­les an­ders!

146. Wolf­gang geht wie­der zur Schu­le

147. Pe­tra als Si­re­ne

148. Mo­de­sa­lon Eva von Prack­witz

149. Aman­da Backs ent­lobt sich

150. Ab­schied von Ge­heim­rats

151. Des Schwim­mens un­kun­dig

152. Mann und Frau in der Nacht

Dan­ke

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ERSTES KAPITEL – Man erwacht in Berlin und anderswo

1. Mädchen und Mann

Auf ei­nem schma­len Ei­sen­bett schlie­fen ein Mäd­chen und ein Mann.

Der Kopf des Mäd­chens lag in der El­len­bo­gen­beu­ge des rech­ten Arms; der Mund, sach­te at­mend, war halb ge­öff­net; das Ge­sicht trug einen schmol­len­den und be­sorg­ten Aus­druck – wie von ei­nem Kind, das nicht aus­ma­chen kann, was ihm das Herz be­drückt.

Das Mäd­chen lag ab­ge­kehrt vom Mann, der auf dem Rücken schlief, mit schlaf­fen Ar­men, in ei­nem Zu­stand äu­ßers­ter Er­schöp­fung. Auf der Stirn, bis in das krau­se, blon­de Kopf­haar hin­ein, stan­den klei­ne Schweiß­trop­fen. Das schö­ne und trot­zi­ge Ge­sicht sah ein we­nig leer aus.

Es war – trotz des ge­öff­ne­ten Fens­ters – sehr heiß in dem Zim­mer. Ohne De­cke und Nacht­kleid schlie­fen die bei­den.

Es ist Ber­lin, Ge­or­gen­kirch­stra­ße, drit­ter Hin­ter­hof, vier Trep­pen, Juli 1923, der Dol­lar steht jetzt – um sechs Uhr mor­gens – vor­läu­fig noch auf vier­hun­dert­vier­zehn­tau­send Mark.

2. Das Mädchen erwacht halb

In den Schlaf der bei­den sand­te der dunkle Schacht des Hin­ter­hofs die flau­en Gerü­che aus hun­dert Woh­nun­gen. Hun­dert Geräusche, sach­te noch, dran­gen durch das of­fe­ne Fens­ter, vor dem reg­los eine gelb­lich­graue Gar­di­ne hing. Plötz­lich schrie, auf der an­de­ren Sei­te des Ho­fes, kei­ne acht Me­ter ent­fernt, ein Flücht­lings­kind von der Ruhr angst­voll auf.

Die Li­der des schla­fen­den Mäd­chens zuck­ten. Der Kopf hob sich ein we­nig. Die Glie­der spann­ten sich. Nun wein­te das Kind lei­ser, eine Frau­en­stim­me schalt schrill, ein Mann brumm­te – und der Kopf sank zu­rück, die Glie­der ent­spann­ten sich neu – das Mäd­chen schlief wei­ter.

Im Haus rühr­te es sich. Tü­ren schlu­gen, Schrit­te schlurf­ten über den Hof. Auf den Trep­pen pol­ter­te es, Email­le­kan­nen schlu­gen ge­gen ei­ser­ne Ge­län­der. In der Kü­che ne­ben­an lief die Was­ser­lei­tung. Im Erd­ge­schoss, in der Blech­stan­ze­rei, schrill­te eine Glo­cke, Rä­der surr­ten, Rie­men schleif­ten …

Die bei­den schlie­fen …

3. Ein Rittmeister kommt nach Berlin

Über der Stadt lag – trotz frü­her Stun­de und kla­ren Him­mels – ein trüber Dunst. Der Bro­dem ei­nes ver­elen­de­ten Vol­kes stieg nicht gen Him­mel, er haf­te­te träg an den Häu­sern, kroch durch alle Stra­ßen, si­cker­te durch die Fens­ter, in je­den at­men­den Mund. Die Bäu­me in den ver­wahr­los­ten An­la­gen lie­ßen fahl die Blät­ter hän­gen.

Dem Schle­si­schen Bahn­hof nä­her­te sich, aus dem Os­ten des Rei­ches kom­mend, ein frü­her Fern­zug, mit klap­pern­den Fens­tern, zer­bro­che­nen Schei­ben, zer­schnit­te­nen Pols­tern – die Rui­ne ei­nes Zu­ges. Schla­gend, klir­rend, sto­ßend fuh­ren die Wa­gen über die Wei­chen und Kreu­zun­gen von Stralau-Rum­mels­burg.

Ein Herr, Ritt­meis­ter a.D. und Rit­ter­gut­späch­ter, Joa­chim von Prack­witz-Neu­lo­he, weiß­haa­rig und schlank, doch mit dun­kel glü­hen­den Au­gen, beug­te sich hin­aus, zu se­hen, wo man wäre. Er fuhr zu­rück – ein glü­hen­des Ruß­teil­chen war ihm ins Auge ge­flo­gen. Mit dem Ta­schen­tuch wisch­te er, er schalt zor­nig: »Elen­de Dreck­stadt!«

4. Berlin macht sich Frühstück

Im Herd war Feu­er ent­zün­det mit lap­pi­gem, gel­bem Pa­pier und Streich­höl­zern, die stan­ken oder de­ren Kup­pe ab­flog. Feuch­tes, schwam­mi­ges Holz oder min­der­wer­ti­ge Koh­le schwel­ten. Das ver­fälsch­te Gas brann­te puf­fend, ohne zu hit­zen. Lang­sam wur­de wäss­ri­ge, blaue Milch warm, das Brot war klit­schig oder zu tro­cken. In der Hit­ze der Woh­nun­gen weich ge­wor­de­ne Mar­ga­ri­ne roch ran­zig.

Ei­lig aßen die Leu­te das lieb­lo­se Es­sen, ei­lig, wie sie ei­lig in die zu oft ent­fleck­ten, ge­wa­sche­nen, aus­ge­beu­tel­ten Klei­der ge­fah­ren wa­ren. Ei­lig über­flo­gen ihre Au­gen die Zei­tun­gen. Es hat­te Teue­rungs­kra­wal­le, Un­ru­hen und Plün­de­run­gen in Glei­witz und Bres­lau, in Frank­furt am Main und Neu­rup­pin, in Eis­le­ben und Dram­burg ge­ge­ben, sechs Tote und tau­send Ver­haf­te­te. Da­rauf­hin hat die Re­gie­rung Ver­samm­lun­gen un­ter frei­em Him­mel ver­bo­ten. Der Staats­ge­richts­hof ver­ur­teilt eine Prin­zes­sin we­gen Be­güns­ti­gung des Hoch­ver­rats und Mein­eids zu sechs Mo­na­ten Ge­fäng­nis – aber der Dol­lar steht auf vier­hun­dert­vier­zehn­tau­send Mark ge­gen drei­hun­dert­fünf­zig­tau­send am 23. »Am Ul­ti­mo, in ei­ner Wo­che, gibt es Ge­halt – wie wird der Dol­lar dann ste­hen? Wer­den wir uns zu es­sen kau­fen kön­nen? Für vier­zehn Tage? Für zehn Tage? Für drei Tage? Wer­den wir Schuh­soh­len kau­fen, das Gas be­zah­len kön­nen, das Fahr­geld? Schnell, Frau, hier sind noch zehn­tau­send Mark, kauf was da­für. Was, ist gleich­gül­tig, ein Pfund Mohr­rü­ben, Man­schet­ten­knöp­fe, die Schall­plat­te ›Bana­nen ver­langt sie von mir‹ – oder einen Strick, uns auf­zu­hän­gen … Nur schnell, lauf, rasch!«

5. Förster Kniebusch trifft Holzdiebe

Auch über Rit­ter­gut Neu­lo­he leuch­te­te die frü­he Son­ne. Auf den Fel­dern stand der Rog­gen in Stie­gen, der Wei­zen war reif, der Ha­fer auch. Ein paar Ma­schi­nen klap­per­ten ver­lo­ren in der Fel­der­wei­te, über der die Ler­chen un­er­müd­lich ihre Wir­bel und Tril­ler schlu­gen.

Förs­ter Knie­busch, rot­brau­nes, fal­ti­ges Al­ters­ge­sicht, mit kah­lem Kopf, aber weiß­gelb­li­chem, run­dem Voll­bart, tritt aus der Hit­ze des of­fe­nen Fel­des in den Wald. Er geht lang­sam, mit der einen Hand rückt er den Flin­ten­rie­men auf der Schul­ter zu­recht, mit der an­de­ren wischt er den Schweiß von der Stirn. Er geht nicht fröh­lich, nicht ei­lig, nicht kraft­voll; er geht in sei­nem ei­ge­nen, also we­nigs­tens in dem von ihm be­treu­ten Forst sacht­fü­ßig, mit wei­chen Kni­en, vor­sich­tig. Sein Auge sieht auf dem Wege je­den Ast, er ver­mei­det, auf ihn zu tre­ten, er will lei­se ge­hen.

Und doch trifft er trotz al­ler Vor­sicht bei ei­ner Weg­bie­gung, hin­ter ei­nem Ge­büsch vor­kom­mend, auf eine klei­ne Pro­zes­si­on von Hand­wa­gen. Män­ner und Frau­en. Auf den Wa­gen liegt frisch ge­schla­ge­nes Holz, nur schie­re Stäm­me – die Äste sind de­nen zu schlecht. Förs­ter Knie­busch steigt die Zorn­rö­te in die Wan­gen, sei­ne Lip­pen be­we­gen sich, in die vom Al­ter aus­ge­blass­ten blau­en Au­gen kommt ein tiefe­rer Glanz, ein we­nig Feu­er, aus der Ju­gend her.

Der Mann am vor­ders­ten Wa­gen – na­tür­lich der Bäu­mer – hat ge­stutzt. Nun geht er schon wei­ter. Nahe, in kaum ei­nem Me­ter Ab­stand, klap­pern die Wä­gel­chen mit dem ge­stoh­le­nen Holz am Förs­ter vor­über. Die Leu­te star­ren in die Luft oder zur Sei­te, als sei er nicht da, der da schwer at­mend steht … Dann ver­schwin­den sie um die Ge­bü­sche­cke.

»Sie wer­den alt, Knie­busch«, hört der Förs­ter des Ritt­meis­ters von Prack­witz Stim­me.

Ja, denkt er trü­be. Ich bin so alt ge­wor­den, dass ich ger­ne in mei­nem Bett ster­ben möch­te.

Denkt es und geht wei­ter.

Er wird nicht in sei­nem Bet­te ster­ben.

6. Hungerrevolte im Zuchthaus Meienburg

Im Zucht­haus Mei­en­burg schril­len die Alarm­glo­cken, die Wacht­meis­ter ren­nen von Zel­le zu Zel­le, der Di­rek­tor te­le­fo­niert mit der Reichs­wehr um Ver­stär­kung, die Ver­wal­tungs­be­am­ten schnal­len sich Gür­tel mit Pis­to­len um die Bäu­che und grei­fen nach Gum­mi­knüt­teln. Vor zehn Mi­nu­ten hat Ge­fan­ge­ner 367 dem Wacht­meis­ter sein Brot vor die Füße ge­wor­fen: »Ich ver­lan­ge Brot, vor­ge­schrie­be­nes Ge­wicht, und kei­nen ver­damm­ten Gips­brei!« hat er ge­schri­en.

In der glei­chen Se­kun­de war der Tu­mult, der Aufruhr los­ge­bro­chen. Aus zwölf­hun­dert Zel­len hat­te es ge­schri­en, ge­brüllt, ge­jam­mert, ge­sun­gen, ge­heult: »Kohldampf! Hun­ger! Kohldampf! Hun­ger!«

Un­ter den strah­lend wei­ßen Mau­ern des hoch ge­le­ge­nen Zucht­hau­ses lag ge­duckt das Städt­chen Mei­en­burg – in je­des Haus, in je­des Fens­ter drang das Ge­brüll: »Kohldampf! Hun­ger!« Nun krach­te es, tau­send Ge­fan­ge­ne wa­ren mit ih­ren Sche­meln ge­gen die Ei­sen­tü­ren an­ge­rannt.

Durch die Gän­ge lie­fen die Wacht­meis­ter und Kal­fak­to­ren, flüs­ter­ten be­schwö­rend an den Tü­ren der Auf­rüh­re­ri­schen. Die Zel­len der Gut­ge­sinn­ten wur­den auf­ge­schlos­sen: »Seid ver­nünf­tig, nie­mand in Deutsch­land be­kommt an­de­res Es­sen … der Dol­lar … das Ruhr­re­vier … Es wer­den so­fort Ern­te­kom­man­dos zu­sam­men­ge­stellt, die auf die großen Gü­ter ge­schickt wer­den. Jede Wo­che ein Pa­ket Ta­bak, täg­lich Fleisch … für die mit gu­ter Füh­rung …«

Mäh­lich schwillt der Lärm ab. Ern­te­kom­man­dos … Fleisch … Ta­bak … gute Füh­rung … Es si­ckert durch die Mau­ern, es be­sänf­tigt die knur­ren­den Mä­gen, eine Aus­sicht, eine Hoff­nung auf Sät­ti­gung, frei­en Him­mel, viel­leicht Flucht … Die letz­ten Lärm­schlä­ger, die von der ei­ge­nen Wut Wü­ten­den schlep­pen die Wacht­meis­ter in die Ar­rest­zel­len: »Da, ver­sucht, wie es sich ohne den Gips­brei lebt!«

Die Ei­sen­tü­ren flie­gen kra­chend zu.

7. Die Zofe Sophie schreibt einen Brief

Trotz der frü­hen Mor­gen­stun­de ist im Baye­ri­schen Vier­tel zu Ber­lin in der Woh­nung der Grä­fin Mutz­bau­er die Zofe So­phie schon wach. Ihre Kam­mer, die sie mit der noch tief schla­fen­den Kö­chin teilt, ist so schmal, dass au­ßer für die zwei Ei­sen­bet­ten nur noch Platz für zwei Stüh­le ist – so schreibt sie auf dem Brett des ge­öff­ne­ten Fens­ters ih­ren Brief.

So­phie Ko­wa­lew­ski hat schön ge­pfleg­te Hän­de, doch füh­ren sie den Blei­stift nur un­ge­schickt. Grund­strich, Haar­strich, Häk­chen, Kom­ma, Haar­strich, Grund­strich … Ach, sie möch­te so vie­les sa­gen …: wie er ihr fehlt, wie die Zeit nicht ver­ge­hen will, fast noch drei Jah­re und kaum erst ein hal­b­es her­um … Aber es wird nichts; Ge­füh­le in Ge­schrie­be­nes um­zu­set­zen, hat So­phie Ko­wa­lew­ski, Toch­ter des Leu­te­vogts1 Ko­wa­lew­ski in Neu­lo­he, nicht ge­lernt. Ja, wenn er hier wäre, wenn es sich um Spre­chen han­del­te, um eine Berüh­rung! Sie könn­te al­les aus­drücken, sie könn­te ihn mit ei­nem Kuss wild ma­chen, mit ei­nem lei­sen An­fas­sen glück­lich … Aber so!

Sie starrt vor sich hin. Ach, sie möch­te es ihn spü­ren las­sen in die­sem Brief! Aus der Fens­ter­schei­be sieht sie matt­far­big eine zwei­te So­phie an. Un­will­kür­lich lä­chelt sie ihr rasch zu. Ein paar Löck­chen ha­ben sich ge­löst, hän­gen dun­kel in die Stirn. Die Schat­ten un­ter den Au­gen sind auch dun­kel. Sie müss­te sich wie­der ein­mal die Zeit neh­men, gründ­lich aus­zu­schla­fen – aber gibt es denn Schla­fens­zeit in die­ser Zeit, wo al­les so merk­lich ver­rinnt, kaum da es deut­lich wur­de? Al­les zer­fällt, nut­ze die Mi­nu­te, heu­te lebst du noch, So­phie!

Sie mag mor­gens noch so müde sein, die Füße bren­nen, der Mund schmeckt schal nach all den Li­kö­ren, dem Wein, den Küs­sen – am Abend zieht es sie doch wie­der in eine der Bars. Tan­zen, trin­ken und to­ben! Ka­va­lie­re ge­nug, lap­pig wie ihr Geld, Hun­dert­tau­sen­de, fünf­zig­fa­cher Zo­fen­lohn, lose in ei­ner Jacket­ta­sche. Sie ist auch letz­te Nacht mit ei­nem von den Ka­va­lie­ren mit­ge­gan­gen – was kommt es dar­auf an? Die Zeit rinnt, läuft, jagt. Vi­el­leicht sucht sie auch Hans, den für drei­und­ein­vier­tel Jahr ver­lo­re­nen Hans (Hoch­sta­pe­lei), in all den im­mer wie­der­hol­ten Umar­mun­gen, in all den Ge­sich­tern, die sich über das ihre nei­gen, so gie­rig-ru­he­los wie das ihre … Aber den Hans, strah­lend, rasch, al­len über­le­gen, gibt es kein zwei­tes Mal!

So­phie Ko­wa­lew­ski, der har­ten Ar­beit auf ei­nem Rit­ter­gut ent­flo­hen, sucht in der Stadt – sie weiß nicht was, ir­gen­det­was, das sie noch här­ter an­fas­sen wird. Ein­ma­lig ist die­ses Le­ben, ver­gäng­lich; wenn wir tot sind, sind wir so lan­ge tot; und wenn wir alt sind, schon, wenn wir über fünf­und­zwan­zig sind, sieht uns kei­ner mehr an. Hans, ach Hans … Sie trägt das Abend­kleid der Gnä­di­gen, es ist schnurz, ob die Kö­chin es sieht. Was die bei den Lie­fe­ran­ten Schmu macht, klaut sie an Sei­den­st­rümp­fen und Sei­den­wä­sche. Kei­ne hat der an­de­ren et­was vor­zu­wer­fen. Es ist gleich sie­ben, schnell noch den Schluss … »Und ver­blei­be ich mit hei­ßen Küs­sen Dei­ne Dich ewig lie­ben­de Braut So­phie …«

Sie legt kei­nen Wert auf das Wort Braut, sie weiß auch gar nicht, ob sie das möch­te, ihn hei­ra­ten, aber sie muss es schrei­ben, da­mit sie ihm im Zucht­haus den Brief auch aus­hän­di­gen.

Und der Zucht­haus­ge­fan­ge­ne Hans Lieb­sch­ner wird den Brief sei­ner Braut er­hal­ten, er ge­hör­te nicht zu de­nen, die we­gen zu wil­den Ge­brülls in eine Ar­rest­zel­le ge­bracht wor­den wa­ren. Nein, ob­wohl er kaum erst ein hal­b­es Jahr im Zucht­haus Mei­en­burg wohn­te, war er ganz ge­gen alle Haus­ord­nung schon zum Kal­fak­tor auf­ge­rückt und hat­te es ver­stan­den, mit be­son­de­rer Über­zeu­gung von Ern­te­kom­man­dos zu re­den. Das konn­te er, er wuss­te: Neu­lo­he lag nicht weit­ab von Mei­en­burg, und Neu­lo­he war die Hei­mat ei­ner sü­ßen Pup­pe, na­mens So­phie …

Ich wer­de das Kind schon schau­keln, dach­te er.

Be­am­ter; meist kirch­lich  <<<

8. Mädchen und Mann erwachen

Das Mäd­chen war er­wacht.

Den Kopf in die Hand ge­stützt, lag es und sah nach dem Fens­ter hin­über. Die gelb­lich­graue Gar­di­ne be­weg­te sich nicht. Das Mäd­chen glaub­te, die rie­chen­de Hit­ze vom Hof her zu spü­ren. Es schau­der­te leicht.

Da­bei sah es an sich her­un­ter. Nicht, dass es vor Käl­te ge­schau­dert hat­te – es hat­te we­gen der häss­li­chen Hit­ze, we­gen des üb­len Ge­ru­ches ge­schau­dert. Es sah sei­nen Leib an; der Leib war weiß und feh­ler­los; man muss­te sich wun­dern, dass in ei­ner Luft, die wie zer­setzt, wie fau­lig war, et­was so feh­ler­los blei­ben konn­te!

Das Mäd­chen hat­te kei­nen ge­nau­en Be­griff, wel­che Zeit es war, nach den Geräuschen konn­te es neun oder zehn oder auch elf sein – die Vor­mit­tags­ge­räusche blie­ben sich nach acht ziem­lich gleich. Es war mög­lich, dass die Wir­tin, Frau Thu­mann, gleich mit dem Mor­gen­kaf­fee her­ein­kam. Nach Wolf­gangs Wün­schen hät­te sie auf­ste­hen und sich an­stän­dig be­klei­den, auch ihn zu­de­cken müs­sen. Nun gut, sie wür­de es gleich tun. Wolf­gang hat­te so über­ra­schen­de An­fäl­le von An­stand …

»Es ist doch gleich«, sag­te sie etwa zu ihm. »Die Thu­mann ist es so und noch ganz an­ders ge­wöhnt. Wenn sie nur ihr Geld be­kommt, stört sie gar nichts …«

»Stö­ren?« hat­te Wolf­gang zärt­lich ge­lacht. »Stö­ren, wenn sie dich so sieht?!!«

Er hat­te sie an­ge­se­hen. Im­mer wur­de ihr un­ter sol­chen Bli­cken von ihm schwach und zärt­lich. Sie hät­te ihn an sich zie­hen mö­gen, aber da sag­te er schon erns­ter: »Es ist doch un­sert­we­gen, Pe­ter, un­sert­we­gen! Wenn wir jetzt auch drin­sit­zen im Dreck; rich­tig im Dreck sind wir erst, wenn wir nicht mehr auf uns auf­pas­sen …«

»Ein Kleid macht doch nicht an­stän­dig, kein Kleid nicht un­an­stän­dig«, fing sie an.

»Und wenn es nur ein Kleid ist! Da­rauf kommt es nicht an!« hat­te er fast hef­tig ge­sagt. »Wenn es nur ir­gen­det­was ist, was uns er­in­nert. Wir sind kein Dreck, ich nicht und du auch nicht. Und habe ich es erst ein­mal ge­schafft, wird uns al­les viel leich­ter sein, wenn wir uns hier nicht wohl­ge­fühlt ha­ben, in die­sem Dreck­loch. Wir dür­fen bloß nicht mit­ma­chen mit de­nen hier!«

Er mur­mel­te nur noch, sei­ne Wor­te ver­lo­ren sich im Un­ver­ständ­li­chen. Er dach­te wie­der dar­an, wie er es »schaf­fen« wür­de, er war weg von ihr. (Er war viel weg von ihr, sei­nem Pe­ter.)

»Wenn du es ge­schafft hast, wer­de ich nicht mehr bei dir sein«, hat­te sie ein­mal ge­sagt.

Ein Weil­chen war Stil­le ge­we­sen, dann hat­te ihn doch in sei­nem Grü­beln er­reicht, was sie ge­sagt hat­te.

»Du wirst bei mir sein, Pe­ter!« hat­te er hef­tig geant­wor­tet. »Im­mer und im­mer. Glaubst du denn, ich ver­ges­se das, wie du Nacht für Nacht auf mich war­test?! Ich ver­ges­se das, wie du hier sitzt – in dem Loch – ohne al­les?! Ich ver­ges­se, dass du mich nie fragst und nie drängst, wie ich auch kom­me?! O, Pe­ter!!« hat­te er ge­ru­fen, und sei­ne Au­gen leuch­te­ten mit je­nem Glanz, den sie nicht moch­te, denn es war ein Glanz, den nicht sie ent­zün­det. »Letz­te Nacht war es fast so­weit! Es war ein Au­gen­blick, wie ein Berg lag das Geld vor mir … Ich fühl­te, es war bei­na­he so­weit, nur noch ein-, zwei­mal … Nein, ich ma­che dir nichts vor. Ich habe an nichts Be­stimm­tes ge­dacht, an kein Haus, kei­nen Gar­ten, kein Auto, nicht an dich … Es war wie eine plötz­li­che Hel­le vor mir, nein, eine strah­len­de Hel­le in mir, das Le­ben war so weit und klar, wie der Him­mel, wenn die Son­ne auf­geht, es war al­les rein …

Dann …«, er senk­te die Stir­ne, »… sprach mich eine Nut­te an, und von da an ging al­les ver­quer …«

Er hat­te mit ge­senk­ter Stirn am Fens­ter ge­stan­den. Sie fühl­te, als sie sei­ne zu­cken­de Hand zwi­schen die ih­ren nahm, wie jung er war, wie jung sei­ne Be­geis­te­rung, wie jung sei­ne Verzweif­lung, wie jung und ohne alle Ver­pflich­tung, was er ihr sag­te …

»Du wirst es schaf­fen!« sag­te sie lei­se. »Aber, wenn du es ge­schafft ha­ben wirst, wer­de ich nicht mehr bei dir sein.«

Er zog sei­ne Hand zwi­schen den ih­ren her­vor.

»Du wirst bei mir blei­ben«, sag­te er kalt. »Ich ver­ges­se nichts.«

Sie wuss­te, er hat­te eben an sei­ne Mut­ter ge­dacht, die ihr ein­mal ins Ge­sicht ge­schla­gen. Sie woll­te nicht dar­um bei ihm blei­ben, weil sei­ne Mut­ter sie ein­mal ge­schla­gen hat­te.

Und nun, von heu­te an, wür­de sie doch bei ihm blei­ben, für im­mer. Noch hat­te er es zwar nicht ge­schafft, und sie wuss­te längst, auf dem bis­he­ri­gen Wege wür­de nie et­was draus wer­den. Aber was tat das? Wei­ter die­ses schmie­ri­ge Zim­mer, wei­ter nicht wis­sen, wo­von mor­gen le­ben, sich klei­den, wei­ter al­les un­klar – aber an ihn ge­bun­den von heu­te Mit­tag ein Uhr an!

Sie griff auf den Stuhl ne­ben ih­rem Bett, fass­te die St­rümp­fe und fing an, sie über­zu­strei­fen.

Plötz­lich über­fiel sie eine schreck­li­che Angst, es kön­ne nichts dar­aus wer­den, es sei ges­tern al­les fehl­ge­gan­gen, völ­lig fehl, bis auf den letz­ten Tau­send­mark­schein. Sie wag­te nicht auf­zu­ste­hen, um sich zu über­zeu­gen, sie sah mit bren­nen­den Au­gen auf Wolf­gangs Klei­der, die über dem Stuhl ne­ben der Tür hin­gen. Sie ver­such­te, die Di­cke der rech­ten Jackett­ta­sche, in der er sein Geld auf­be­wahr­te, rich­tig ab­zu­schät­zen.

Ge­büh­ren müs­sen be­zahlt wer­den, dach­te sie angst­voll. Wenn die Ge­büh­ren nicht be­zahlt wer­den kön­nen, wird nichts dar­aus.

Es war ein ver­geb­li­ches Be­mü­hen. Manch­mal hat­te er auch sein Ta­schen­tuch in die­ser Ta­sche. Was konn­te es jetzt wie­der für neue Schei­ne ge­ben? Fünf­hun­dert­tau­send­mark­schei­ne? Mil­lio­nen­schei­ne? Was wuss­te sie? Was wür­de eine Trau­ung kos­ten – eine Mil­li­on? Zwei Mil­lio­nen? Fünf Mil­lio­nen – was wuss­te sie?! Selbst wenn sie den Mut ge­habt hät­te, in die Ta­sche zu fas­sen, nach­zu­zäh­len, sie wuss­te im­mer noch nichts! Sie wuss­te nie et­was.

Die Ta­sche war nicht dick ge­nug.

Lang­sam, dass die Bett­fe­dern nicht knarr­ten, lang­sam, be­hut­sam, angst­voll dreh­te sie sich nach ihm um.

»Gu­ten Mor­gen, Pe­ter«, sag­te er mit fröh­li­cher Stim­me. Sein Arm zog sie ge­gen sei­ne Brust. Sie leg­te ih­ren Mund auf sei­nen Mund. Sie woll­te es nicht hö­ren, jetzt woll­te sie es nicht hö­ren, was er sag­te:

»Ich bin voll­kom­men blank, Pe­ter. Wir ha­ben kei­ne Mark mehr!« Und die Flam­me stieg und stieg, laut­los. Ihre rei­ne, weiß­bläu­li­che Hit­ze brann­te die ver­brauch­te Luft des Zim­mers rein. Im­mer noch ho­ben barm­her­zi­ge Arme die Lie­ben­den von je­dem Lie­bes­la­ger aus Dunst und Un­ru­he, aus Kampf, Hun­ger und Verzweif­lung, aus Sün­de und Scham­lo­sig­keit hoch in den rei­nen, küh­len Him­mel der Er­fül­lung.

ZWEITES KAPITEL – Berlin macht sich schwach

9. Der Rittmeister sucht Leute

Vie­le Stra­ßen um den Schle­si­schen Bahn­hof sind schlimm; da­mals, 1923, kam zu der Trost­lo­sig­keit der Fassa­den, den üb­len Gerü­chen, dem Elend, der öden, dür­ren Stein­wüs­te eine wil­de, ver­zwei­fel­te Scham­lo­sig­keit, Geil­heit aus Elend oder Gleich­gül­tig­keit, Geil­heit aus der Gier, sich ein­mal selbst zu füh­len, selbst et­was zu sein in ei­ner Welt, die in sau­sen­der, ir­rer Fahrt je­den mit­riss, un­be­kann­ten Dun­kel­hei­ten zu.

Der Ritt­meis­ter von Prack­witz, viel zu ele­gant in einen hell­grau­en An­zug ge­klei­det, den ihm ein Lon­do­ner Schnei­der nach ge­sand­ten Ma­ßen ge­fer­tigt, viel zu auf­fal­lend aus­se­hend mit sei­ner schlan­ken Fi­gur, dem schloh­wei­ßen Haupt­haar über dem braun ver­brann­ten Ge­sicht, mit den dunklen, bu­schi­gen Brau­en und den dun­kel glü­hen­den Au­gen – der Ritt­meis­ter von Prack­witz geht acht­sam, sehr ge­ra­de auf­ge­rich­tet, den Bür­ger­steig ent­lang, be­sorgt, nie­man­den zu strei­fen. Er sieht ge­ra­de­aus vor sich hin, auf einen ima­gi­nären Fleck, der in Au­gen­hö­he fern von ihm die Stra­ße hin­un­ter liegt, um nie­man­den und nichts se­hen zu müs­sen. Er möch­te auch ger­ne mit sei­nen Ohren weg­hor­chen kön­nen, etwa in das schwe­re Rau­schen sei­ner im­mer noch kaum an­ge­mäh­ten, ern­terei­fen Neu­lo­her Korn­fel­der hin­ein, er be­müht sich, weg­zu­hor­chen von dem, was ihm Hohn und Neid und Gier nach­ru­fen.

Plötz­lich ist es ihm wie in den un­se­li­gen No­vem­ber­ta­gen des Jah­res 1918, als er mit zwan­zig Ka­me­ra­den – dem Rest sei­ner Schwa­dron – auch eine Ber­li­ner Stra­ße lang­mar­schier­te, in der Reichs­tags­nä­he – und plötz­lich pras­sel­te aus Fens­tern, von Dä­chern, aus dunklen Tor­gän­gen eine wüs­te Schie­ße­rei auf den klei­nen Zug her­ab, ein re­gel­lo­ses, wil­des, fei­ges Ge­knal­le. Auch da­mals wa­ren sie so wei­ter­mar­schiert, das Kinn vor­ge­sto­ßen, den Mund fest ge­schlos­sen, mit den Au­gen einen ima­gi­nären Punkt am Ende der Stra­ße fi­xie­rend, den sie wohl nie er­rei­chen wür­den.

Und dem Ritt­meis­ter ist, als sei er in den fünf Wahn­sinns­jah­ren seit­dem ei­gent­lich im­mer so wei­ter­mar­schiert, einen ima­gi­nären Punkt fi­xie­rend, wa­chend wie schla­fend – denn es gab in die­sen Jah­ren kei­nen Schlaf ohne Traum. Im­mer eine trost­lo­se Stra­ße vol­ler Fein­de, Hass, Ge­mein­heit, Wür­de­lo­sig­keit hin­un­ter, und kam, wi­der al­les Er­war­ten, doch die Ecke, so tat sich nur eine neue, ganz glei­che Stra­ße auf, mit dem­sel­ben Hass und der­sel­ben Ge­mein­heit. Aber wie­der war der Punkt da, auf den man los­mar­schie­ren muss­te, die­ser Punkt, den es gar nicht gab, eine blo­ße Ein­bil­dung.

Oder war der Punkt et­was, das gar nicht drau­ßen, au­ßer­halb von ihm lag, son­dern in ihm, in sei­ner ei­ge­nen Brust – sage ich es denn: in mei­nem Her­zen? Mar­schier­te er, weil ein Mann mar­schie­ren muss, ohne auf Hass und Ge­mein­heit zu hor­chen, se­hen auch aus tau­send Fens­tern zehn­tau­send böse Au­gen auf ihn, sei er auch ganz al­lein – denn wo sind die Ka­me­ra­den?! Mar­schier­te er, weil man nur so sich nä­her­kommt, das wird, was man auf die­ser Erde zu sein hat, näm­lich nicht das, was die an­de­ren von ei­nem er­war­ten, son­dern man selbst? Man selbst!

Und plötz­lich ist dem Ritt­meis­ter von Prack­witz, hier auf der Lan­gen Stra­ße am Schle­si­schen Bahn­hof in Ber­lin, ei­ner ver­fluch­ten Stadt, ist dem Ritt­meis­ter und Rit­ter­gut­späch­ter, an­ge­sichts von zehn schrei­en­den Kaf­fee­haus­schil­dern, die nichts an­zei­gen als Bor­del­le – ist dem Ritt­meis­ter und Rit­ter­gut­späch­ter und Mann Joa­chim von Prack­witz-Neu­lo­he, der hier­her­kam, sehr ge­gen sei­nen Wil­len hier­her­kam, um min­des­tens sech­zig Leu­te für die Ern­te auf­zu­trei­ben – ist ihm, als wenn nun wirk­lich das Ende sei­nes Mar­schie­rens ganz nahe wäre. Als kön­ne er nun wirk­lich bald ein­mal das Kinn zu­rück­neh­men, den Blick sen­ken, den Fuß ru­hen und sa­gen wie der Herr­gott: Sie­he da, es war al­les sehr gut!

Ja­wohl, eine gute, fast eine Bom­benern­te stand auf den Fel­dern, eine Ern­te, die die­se Ver­hun­ger­ten in der Stadt sehr wohl hät­ten ge­brau­chen kön­nen, und er muss­te al­les ste­hen­las­sen, ei­nem jun­gen, et­was ver­lot­ter­ten Ben­gel von In­spek­tor über­ge­ben und in die Stadt fah­ren und um Leu­te fle­hen. Denn es war selt­sam und völ­lig un­ver­ständ­lich: je grö­ßer das Elend in der Stadt wur­de, je knap­per dort das Brot und je mehr nur noch das Land we­nigs­tens die aus­kömm­li­che Nah­rung bot, umso mehr dräng­ten die Leu­te in die Stadt. Es war wirk­lich wie mit den Mot­ten, die von der tö­ten­den Flam­me ge­lockt wer­den!

Der Ritt­meis­ter lach­te auf. Ja wahr­haf­tig, es sah wirk­lich so aus, als win­ke ihm ganz na­he­bei die himm­li­sche Herr­gotts­ru­he vom sechs­ten Schöp­fungs­ta­ge! Eine Fata Mor­ga­na, ein Oa­sen-Vor­ge­spie­gel, wenn der Durst ganz schlimm wird!

Das Weibs­bild, dem er ge­dan­ken­los ins Ge­sicht ge­lacht, gießt hin­ter ihm her einen gan­zen Kü­bel, ein Jau­che­fass, ach was, eine gan­ze Jau­che­gru­be un­flä­ti­ger Schimp­fe­rei­en aus. Der Ritt­meis­ter aber tritt in einen La­den, über dem, ver­dreckt und schief, ein Schild hängt: »Ber­li­ner Schnit­ter-Ver­mitt­lung«.1

Schnit­ter=Mä­her  <<<

10. Warten auf ein Frühstück

Die Flam­me steigt em­por und sinkt, das Feu­er, das eben noch brann­te, ist er­lo­schen – glück­lich der Herd, der die Glut lan­ge be­wahrt! Fun­ken lau­fen über die Asche, die Flam­me sank zu­sam­men, die Glut ver­glomm, aber noch ist Wär­me da.

Wolf­gang Pa­gel sitzt in sei­nem feld­grau­en, schon arg ver­brauch­ten Waf­fen­rock am Tisch. Er hat die Hän­de auf die lee­re Wachs­tuch­plat­te ge­legt. Nun deu­tet er mit dem Kopf zur Tür. Sein ei­nes Auge zwin­kert, er flüs­tert: »Pott­ma­damm hat’s auch schon ge­wit­tert.«

»Was?« fragt Pe­tra, und: »Du sollst doch nicht zu Frau Thu­mann Pott­ma­damm sa­gen! Sie setzt uns noch raus.«

»Be­stimmt!« sagt er. »Heu­te gib­t’s schon kein Früh­stück mehr. Sie hat’s schon ge­wit­tert.«

»Soll ich fra­gen, Wolf?«

»I wo. Wer viel fragt, kriegt kei­nen Kaf­fee. War­ten wir.«

Er kippt den Stuhl zu­rück, wippt und fängt an zu pfei­fen: Er­hebt euch von der Erde, ihr Schlä­fer all­zu­mal …

Er ist ganz un­be­küm­mert, ganz ohne Sor­gen. Durch das Fens­ter – der Vor­hang ist nun zu­rück­ge­zo­gen – kommt et­was Son­ne in die graue, öde Höh­le, was man so in Ber­lin Son­ne nennt, was die Dunst­schicht dem Son­nen­licht noch ge­las­sen … Wie er hin- und her­schau­kelt, leuch­ten ein­mal die brei­ten, leicht wel­li­gen Haar­sträh­nen auf, ein­mal das Ge­sicht mit den hel­len, jetzt lus­tig fun­keln­den Au­gen, grau­grü­nen.

Pe­tra, die sich nur sei­nen ab­ge­schab­ten Som­mer­man­tel über­ge­zo­gen hat, einen noch aus der Vor­kriegs­zeit – Pe­tra sieht ihn an, sie wird es nie müde, ihn an­zu­se­hen, sie be­wun­dert ihn. Sie fragt sich, wie er es fer­tig­bringt, sich in ei­nem Schüs­sel­chen mit ei­nem hal­b­en Li­ter Was­ser zu wa­schen und doch aus­zu­se­hen, als habe er sich eine Stun­de lang in ei­ner Wan­ne ge­schrubbt. Sie kommt sich alt und ver­braucht ge­gen ihn vor, ob­wohl sie ein Jahr jün­ger ist als er.

Plötz­lich hält er mit dem Pfei­fen inne, er lauscht zur Tür: »Der Feind naht. Gibt es Kaf­fee? Ich habe Kohldampf noch und noch.«

(Sie möch­te sa­gen, dass sie auch Kohldampf hat, schon seit Ta­gen, denn das biss­chen Früh­stück mit den zwei Sem­meln ist seit vie­len Ta­gen ihre ein­zi­ge Nah­rung – nein, sie möch­te es nicht sa­gen!)

Der Schlur­fe­schritt auf dem Flur ist ver­hallt, die Et­agen­tür klappt zu. »Siehst du, Pe­ter! Pott­ma­damm ist bloß wie­der mit dem Pott aufs Klo ge­gan­gen. Auch ein Zug der Zeit: alle Ge­schäf­te wer­den auf Um­we­gen er­le­digt. Pott­ma­damm läuft mit ih­rem Pott.«

Er hat den Stuhl wie­der zu­rück­ge­kippt, er fängt wie­der an zu pfei­fen, un­be­küm­mert, lus­tig.

Er täuscht sie nicht. Sie ver­steht lan­ge nicht al­les, was er er­zählt, sie hört nicht ein­mal so ge­nau dar­auf hin. Es ist der Klang sei­ner Stim­me, die lei­ses­te Schwin­gung, kaum ihm selbst be­wusst, sie hör­t’s doch: er ist nicht so lus­tig, wie er tut, nicht so un­be­küm­mert, wie er sein möch­te. Wenn er sich doch aus­sprä­che – mit wem soll er sich denn aus­spre­chen, wenn nicht mit ihr?! Vor ihr braucht er sich doch nicht zu schä­men, sie braucht er doch nicht zu be­lü­gen, sie ver­steht al­les von ihm – nein, nicht! Aber sie bil­ligt al­les, von vorn­her­ein und blind­lings! Ver­zeiht es. Ver­zeiht? Un­sinn! Es ist al­les recht, und wenn es ihn jetzt über­käme, zu to­ben, sie zu schla­gen – es wäre schon not­wen­dig ge­we­sen.

Pe­tra Le­dig (es gibt sol­che Na­men, die ein Schick­sal zu sein schei­nen) war ein le­di­ges Kind ge­we­sen, ohne einen Va­ter. Spä­ter eine klei­ne Ver­käu­fe­rin, von der nun ver­hei­ra­te­ten Mut­ter ge­ra­de noch ge­lit­ten, so­lan­ge sie ihr Mo­nats­ge­halt bis auf den letz­ten Pfen­nig als Kost­geld ab­lie­fer­te. Aber es kam der Tag, da die Mut­ter sag­te: »Mit dem Dreck be­kö­s­ti­ge dich selbst!« und nachrief: »Und wo du schla­fen kannst, wirst du auch wis­sen!«

Pe­tra Le­dig (es ist an­zu­neh­men, dass der an­spruchs­vol­le Name Pe­tra der ein­zi­ge Bei­trag ih­res un­be­kann­ten Va­ters für ihre Le­bens­aus­rüs­tung war) – Pe­tra Le­dig war kein un­be­schrie­be­nes Blatt mehr mit ih­ren zwei­und­zwan­zig Jah­ren. Ihre Rei­fe war in kei­ne ge­ruh­sa­me Zeit ge­fal­len, Krieg, Nach­krieg, In­fla­ti­on. Sie wuss­te schon, was es hieß, wenn die Her­ren im Schuh­ge­schäft der Ver­käu­fe­rin den Schuh so be­deu­tungs­voll ge­gen den Schoß drück­ten. Manch­mal nick­te sie, traf den und je­nen am Abend, nach Ge­schäfts­schluss; und sie steu­er­te ihr Schiff­lein ein gan­zes Jahr recht mu­tig durch, ohne völ­lig zu sin­ken. Sie brach­te es so­gar fer­tig, eine ge­wis­se Aus­wahl zu tref­fen, eine Aus­wahl, die nicht so sehr von ih­rem Ge­schmack als von der Furcht vor Krank­heit be­stimmt war. Stieg der Dol­lar ein­mal ganz schlimm, und ent­wer­te­te sich al­les für die Mie­te Zu­rück­ge­leg­te zu ei­nem Nichts, so bum­mel­te sie auch ein­mal durch die Stra­ßen, im­mer in Angst vor der »Sit­te«. Bei ei­nem sol­chen Bum­mel hat­te sie Wolf­gang Pa­gel ken­nen­ge­lernt.

Wolf­gang hat­te sei­nen gu­ten Abend ge­habt. Er hat­te ein we­nig Geld, er hat­te ein we­nig ge­trun­ken. Dann war er im­mer ver­gnügt, zu tau­sen­der­lei Din­gen auf­ge­legt. »Komm mit, klei­ne Dunkle, komm mit!« hat­te er über die gan­ze Stra­ße ge­ru­fen, und es hat­te so et­was wie ein Wett­ren­nen zwi­schen ei­nem schnurr­bär­ti­gen Sit­ten­po­li­zis­ten und ihr ge­ge­ben. Aber die Au­to­ta­xe, eine fürch­ter­li­che Kar­re, hat­te sie doch ent­führt zu ei­nem Abend, nett, aber doch ei­gent­lich ei­nem Abend wie alle sol­che Aben­de.

Dann war der Mor­gen ge­kom­men, die­ser graue, trost­lo­se Mor­gen in dem Zim­mer ei­nes Ab­stei­ge­ho­tels, der im­mer so mut­los mach­te. Wo es ei­nem wirk­lich ein­mal in den Kopf kommt zu fra­gen: Was soll das al­les? Wozu lebst du?

Wie es sich ge­hör­te, hat­te sie sich noch schla­fend ge­stellt, als der Herr sich ei­lig an­zog, auch er recht lei­se, um sie nicht zu we­cken. Denn Mor­gen­ge­sprä­che da­nach wa­ren un­be­liebt, un­er­quick­lich, weil man ent­deck­te, dass man sich plötz­lich nicht das Ge­rings­te mehr zu sa­gen hat­te, ja, meis­tens, dass man sich un­aus­steh­lich war. Sie hat­te nur durch die Li­der zu blin­zeln, ob er ihr auch das Geld auf das Nacht­käst­chen leg­te. Nun, er hat­te das Geld hin­ge­legt. Es nahm al­les sei­nen ord­nungs­ge­mä­ßen Ver­lauf, es war kein Wort von Wie­der­se­hen ge­sagt wor­den, er war schon an der Tür.

Sie weiß nicht, wie es ge­sche­hen ist, was über sie ge­kom­men ist, sie hat sich auf­ge­setzt im Bett und mit sto­cken­der Stim­me lei­se ge­fragt: »Wür­dest du – wür­den Sie – ach, darf ich nicht mit­kom­men?«

Er hat­te erst nicht ver­stan­den, ganz ver­blüfft hat­te er sich um­ge­dreht. »Wie bit­te?!«

Dann hat­te er ge­meint, dass sie sich, neu in sol­cher Lage, viel­leicht schäm­te, an Pen­si­ons­mut­ter und Por­tier vor­bei­zu­ge­hen. Er hat­te sich be­reit er­klärt zu war­ten, wenn sie schnell mach­te. Aber, wäh­rend sie sich has­tig an­zog, hat­te es sich her­aus­ge­stellt, dass es sich nicht um et­was so Ein­fa­ches, wie un­be­läs­tigt auf die Stra­ße zu kom­men, han­del­te. Das sei sie ge­wöhnt. (Sie war von der ers­ten Mi­nu­te an völ­lig ehr­lich zu ihm.) Nein, sie woll­te ganz mit ihm mit­kom­men, über­haupt. Ob es denn nicht gin­ge? O, bit­te, bit­te!

Wer weiß, was er sich dach­te. Plötz­lich hat­te er kei­ne Eile mehr. Er stand in dem grau­en Zim­mer – es war ge­ra­de die schreck­li­che Mor­gen­stun­de kurz vor fünf, die die Her­ren im­mer zum Weg­ge­hen wäh­len, weil sie dann die ers­te Elek­tri­sche in ihre Woh­nung be­kom­men. Sie kön­nen sich dann noch vor dem Büro frisch ma­chen, und vie­le tun auch so, als hät­ten sie in ih­ren Bet­ten ge­le­gen, dre­hen sich schnell noch ein­mal dar­in um.

Er tipp­te mit den Fin­gern nach­denk­lich auf einen Tisch. Mit sei­nen hel­len, grün­li­chen Au­gen sah er sie über­le­gend un­ter der ge­senk­ten Stirn her­vor an. Sie er­war­te doch wohl nicht, dass er Geld habe?

Nein. Sie habe nicht dar­über nach­ge­dacht. Es sei ihr auch gleich.

Er sei Fah­nen­jun­ker a.D., also ohne alle Be­zü­ge. Ohne Stel­lung. Ohne fes­tes Ein­kom­men. Ja, ei­gent­lich ohne Ein­kom­men.

Ja, es sei recht, nicht dar­um habe sie ge­fragt.

Er er­kun­dig­te sich nicht, warum sie ge­fragt habe. Er frag­te über­haupt nichts wei­ter. Spä­ter erst fiel ihr ein, dass er sehr vie­le Fra­gen hät­te stel­len kön­nen, sehr un­an­ge­neh­me. Etwa, ob sie mehr Män­ner schon so ge­be­ten habe, ob sie ein Kind er­war­te – tau­send ekel­haf­te Din­ge. Aber er stand nur da und sah sie an. Schon da war sie über­zeugt, dass er ja sa­gen wür­de. Müss­te. Es war et­was zu Ge­heim­nis­vol­les, dass sie ihn hat­te fra­gen müs­sen. Sie hat­te nie vor­her dar­an ge­dacht. Sie war auch – da­mals – nicht die Spur ver­liebt in ihn. Es war eine ganz ge­wöhn­li­che Nacht ge­we­sen.

»Fin­den Sie, dass Kon­stan­ze sich rich­tig ver­hält?« hat­te er den Ti­tel ei­nes da­mals viel ge­spiel­ten Stückes zi­tiert. Zum ers­ten Mal sah sie sein Zwin­kern mit dem einen Auge, wenn er scherz­te, und die Fält­chen im Au­gen­win­kel.

»Doch!« sag­te sie.

»Na schön«, sag­te er ge­dehnt, »wo ei­ner nicht satt wird, kön­nen zwei kaum ver­hun­gern. Also los! Bist du fer­tig?«

Es war ein selt­sa­mes Ge­fühl ge­we­sen, ne­ben ihm die Trep­pe hin­ab­zu­stei­gen, in ei­nem ek­li­gen Miets­hau­se, ne­ben ei­nem Mann, zu dem man nun ge­hör­te. Ein­mal, als sie über einen schlecht ge­leg­ten Läu­fer stol­per­te, hat­te er »Hopp­la!« ge­sagt, aber ganz ge­dan­ken­los, wahr­schein­lich war er sich ih­rer Nähe gar nicht recht be­wusst.

Plötz­lich blieb er dann ste­hen. Sie er­in­ner­te sich ge­nau. Sie wa­ren un­ten an­ge­langt, es war in der falschen Mar­mor­pracht und dem gip­ser­nen Stuck des Ein­gangs. »Üb­ri­gens hei­ße ich Wolf­gang Pa­gel«, sag­te er mit ei­ner lei­se an­ge­deu­te­ten Ver­beu­gung.

»Sehr an­ge­nehm«, ant­wor­te­te sie, ganz wie es sich ge­hör­te. »Pe­tra Le­dig.«

»Ob es an­ge­nehm ist, wird sich wei­sen«, hat­te er ge­lacht. »Komm, Klei­nes. Ich wer­de dich Pe­ter nen­nen. Pe­tra ist mir ei­nes­teils zu bib­lisch, an­dern­teils zu stei­nig. Aber Le­dig ist gut und kann so blei­ben.«

11. Petra wird von einem Spieler gebildet

Als Wolf­gang Pa­gel so zu ihr ge­re­det hat­te, war Pe­tra noch viel zu er­füllt von dem Ge­sche­he­nen ge­we­sen, um groß auf sei­ne Wor­te zu ach­ten. Spä­ter lern­te sie von ihm, dass der Name Pe­tra so viel wie Fels be­deu­te und dass ihn zu­erst je­ner Jün­ger Pe­trus ge­tra­gen hat­te, auf dem Chris­tus wie auf ei­nem Fel­sen sei­ne Kir­che bau­en woll­te.

Sie lern­te über­haupt in dem einen Jah­re ge­mein­sa­men Zu­sam­men­le­bens viel von Wolf­gang. Nicht, dass er et­was Lehr­haf­tes ge­habt hät­te. Aber es war un­ver­meid­lich, dass er in den lan­gen Stun­den ih­res Bei­sam­men­seins – denn er war ja ohne rech­te Be­schäf­ti­gung – viel mit ihr sprach, bloß weil sie nicht im­mer schwei­gend in ih­rer Höh­le bei­ein­an­der hocken konn­ten. Und als Pe­tra erst Zu­trau­en ge­won­nen hat­te, frag­te sie ihn oft et­was, bloß, um ihn vom Grü­beln ab­zu­hal­ten oder weil es ihr Spaß mach­te, ihn re­den zu hö­ren. So etwa: »Wolf, wie wird ei­gent­lich Käse ge­macht?« Oder: »Wolf, ist es wirk­lich wahr, dass ein Mann im Mon­de wohnt?«

Er lach­te sie nie aus, auch wies er ihre Fra­gen nie zu­rück. Er ant­wor­te­te ihr lang­sam, über­le­gend, ernst – denn auch mit sei­ner Wis­sen­schaft aus der Ka­det­ten­an­stalt sah es nicht be­rühmt aus. Und wuss­te er nicht Be­scheid, so nahm er sie mit und ging mit ihr in eine der großen Biblio­the­ken und schlug und las nach. Sie saß dann ganz still da, ir­gend­ein Büch­lein vor sich, in dem sie doch nicht las, und sah fei­er­lich-be­klom­men in den großen Raum, in dem die Leu­te so still sa­ßen und sach­te die Blät­ter um­wand­ten, so still, als rühr­ten sie sich im Schlaf. Es kam ihr im­mer wie ein Mär­chen vor, dass sie, eine klei­ne Ver­käu­fe­rin, ein un­ehe­li­ches Kind, das ge­ra­de am Ver­sa­cken ge­we­sen war, nun in sol­che Häu­ser ge­hen durf­te, in de­nen die ge­bil­de­ten Men­schen sa­ßen, die si­cher nie et­was er­fah­ren hat­ten von all dem Schmutz, den sie so ge­nau hat­te ken­nen­ler­nen müs­sen. Al­lein hät­te sie sich nie hier­her­ge­wagt, ob­wohl ihr die – stumm ge­dul­de­ten – Elends­ge­stal­ten an den Wän­den be­wie­sen, dass hier nicht nur Weis­heit ge­sucht wur­de, son­dern auch Wär­me, Licht, Sau­ber­keit und eben das, was auch ihr aus den Bü­chern auf­stieg: fei­er­li­che Ruhe.

Wuss­te dann Wolf­gang ge­nug, so gin­gen sie wie­der hin­aus, und er er­zähl­te ihr, was er er­kun­det. Sie hör­te ihm zu und ver­gaß es wie­der oder be­hielt es auch, aber nicht das Rich­ti­ge – doch dar­auf kam es auch gar nicht an. Worauf es an­kam, das war, dass er sie so ernst nahm, dass sie für ihn noch et­was an­de­res war als ein Leib, den er gern moch­te und der ihm gut­tat.

Manch­mal, wenn sie ir­gen­det­was ganz ge­dan­ken­los hin­ge­sagt hat­te, konn­te sie, von sich selbst über­wäl­tigt, aus­ru­fen: »Ach, Wolf, ich bin so schreck­lich dumm! Ich ler­ne und ich ler­ne auch gar nichts! Ich wer­de ewig dumm blei­ben!«

Aber auch dann wie­der lach­te er nicht über sol­chen Aus­ruf, son­dern ging freund­lich ernst dar­auf ein und mein­te, im Grun­de sei es na­tür­lich ganz egal, ob man wis­se, wie Käse ge­macht wer­de. Denn so gut wie der Kä­se­ma­cher wer­de man es doch nie wis­sen. Dumm­heit sei, wie er glau­be, et­was ganz an­de­res. Wenn man sich näm­lich sein Le­ben nicht ein­zu­rich­ten wis­se, wenn man nichts aus sei­nen Feh­lern ler­ne, wenn man sich im­mer wie­der un­nö­tig über je­den Dreck är­ge­re und wis­se doch ganz ge­nau, in zwei Wo­chen sei er schon ver­ges­sen, wenn man mit sei­nen Mit­menschen nicht um­ge­hen kön­ne – ja, all dies, das schei­ne ihm rech­te Dumm­heit. Ein wah­res Mus­ter­bei­spiel sei da sei­ne Mut­ter, die, so viel sie auch ge­le­sen und er­fah­ren habe und so klug sie auch sei, ihn nun glück­lich mit lau­ter Lie­be und Bes­ser­wis­sen und Gän­ge­lei aus dem Hau­se ge­trie­ben habe, und er sei doch wirk­lich ein ge­dul­di­ger, um­gäng­li­cher Mensch. (Sag­te er.) Sie, Pe­tra, dumm? Nun, sie hät­ten sich noch nicht ein­mal ge­strit­ten, und wenn sie auch oft kein Geld ge­habt hät­ten, schlech­te Tage hät­ten sie dar­um doch nicht ge­habt und grim­mi­ge Zor­nes­mie­nen auch nicht. Dumm?! Was Pe­ter denn mei­ne?

Na­tür­lich ge­nau das, was Wolf auch mein­te! Schlech­te Tage? Grim­mi­ge Mie­nen? Sie hat­ten die al­ler­herr­lichs­te Zeit von der Welt mit­ein­an­der ge­habt, die schöns­te Zeit ih­res gan­zen Le­bens – schö­ner konn­te es nun über­haupt nicht mehr wer­den! Im Grun­de war es ihr ja auch ganz egal, ob sie dumm oder ob sie nicht dumm war (klug kam trotz all sei­ner Er­klä­run­gen nicht in Fra­ge), so­lan­ge er sie nur ger­ne hat­te und ernst nahm.

Schlech­te Tage – wahr­haf­tig! Sie hat­te es in ih­rem Le­ben und vor­nehm­lich im letz­ten Jah­re gut ge­nug ge­lernt, dass Tage ohne Geld wahr­haf­tig kei­ne schlech­ten Tage zu sein brauch­ten. Genau in die­ser Zeit, da al­les täg­lich dem Dol­lar­kurs ent­ge­gen­fie­ber­te, da fast al­ler Ge­dan­ken sich um Geld, Geld dreh­ten, um Zah­len, um be­druck­tes Pa­pier, um mit im­mer mehr Nul­len be­druck­tes Pa­pier – ge­nau in die­ser Zeit hat­te die­ses klei­ne, tö­rich­te Mäd­chen die Ent­de­ckung ge­macht, dass Geld gar nichts ist. Dass es un­sin­nig ist, sich um Geld – näm­lich um das feh­len­de – auch nur eine Mi­nu­te Ge­dan­ken zu ma­chen – es war ganz gleich­gül­tig!

(Nur heu­te Mor­gen nicht, weil sie solch übel ma­chen­den Hun­ger hat­te, und weil doch um ein Uhr drei­ßig die Ge­büh­ren be­zahlt wer­den muss­ten.)

Wie hät­te sie, zit­ternd um das Aus­kom­men des nächs­ten Ta­ges, auch nur eine ru­hi­ge Glücks­mi­nu­te an der Sei­te des Fah­nen­jun­kers a.D. Wolf­gang Pa­gel le­ben kön­nen, der es nun schon ein reich­li­ches Jahr fer­tig­ge­bracht hat­te, ih­ren gan­zen Le­bens­un­ter­halt – bei dem kleins­ten Be­triebs­ka­pi­tal von der Welt – Abend für Abend vom Spiel­tisch zu ho­len? Abend für Abend, um elf Uhr her­um, gab er ihr einen Kuss und sag­te: »Also denn, Klei­nes!« und ging, wäh­rend sie ihm nur lä­chelnd zu­nick­te. Denn sie durf­te kein Wort sa­gen, weil je­des Wort eine Un­glück brin­gen­de Be­deu­tung ha­ben konn­te.

In der ers­ten Zeit, nach­dem sie er­fah­ren hat­te, dass die­se ewi­gen nächt­li­chen Wege kein »Fremd­ge­hen« be­deu­te­ten, son­dern »Ar­beit« für ih­rer bei­der Aus­kom­men, hat­te sie auf­ge­ses­sen bis drei, vier … Um ihn dann an­kom­men zu se­hen: bleich, mit ner­vö­sen Be­we­gun­gen, die Schlä­fen ein­ge­fal­len, das Haar noch feucht, der Blick fla­ckernd. Sie hat­te sei­ne fie­be­ri­schen Be­rich­te an­ge­hört, sein Tri­um­phie­ren, wenn es gut ge­gan­gen war, sei­ne Verzweif­lung, wenn er ver­lo­ren. Stumm hat­te sie sein Schel­ten über die und jene Frau an­ge­hört, die ihm sei­nen Ein­satz weg­ge­nom­men, oder sei­ne grü­beln­de Ver­wun­de­rung, warum an die­sem Abend ge­ra­de Schwarz sieb­zehn­mal hin­ter­ein­an­der ge­kom­men war und sie, die schon an der Schwel­le des Reich­tums ge­stan­den, in die völ­li­ge Ar­mut zu­rück­ge­schleu­dert hat­te.

Sie ver­stand nichts vom Spiel, sei­nem Spiel, dem Rou­let­te, so viel er ihr auch da­von er­zähl­te (er hat­te ihr rund­weg ab­ge­schla­gen, sie ein­mal »dort­hin« mit­zu­neh­men). Aber sie ver­stand sehr wohl, dass dies sein Zoll war, den er an ihr Le­ben zahl­te, dass er dar­um so freund­lich, so un­be­küm­mert, so ru­hig mit ihr sein konn­te, weil er in den Stun­den am Spiel­tisch all sei­ne Kraft, all sei­ne Verzweif­lung über dies sein ver­bla­se­nes, ziel­lo­ses und doch so ein­ma­li­ges Le­ben ver­strö­men konn­te.

Oh, sie ver­stand noch weit mehr! Sie ver­stand, dass er sich selbst täusch­te, zum min­des­ten sich dann selbst täusch­te, wenn er im­mer wie­der lei­den­schaft­lich ver­si­cher­te, er sei kein Spie­ler …

»Sage doch selbst, was kann ich Bes­se­res tun!?! Soll ich als Buch­hal­ter Zah­len in ein Buch krit­zeln, um zu Ul­ti­mo ein Ge­halt zu krie­gen, mit dem wir ver­hun­gern? Soll ich Schu­he ver­kau­fen, Ar­ti­kel­chen schrei­ben, Chauf­feur wer­den? Pe­ter, das Ge­heim­nis ist: Habe we­nig Be­dürf­nis­se, und du hast Zeit für dein Le­ben. Drei, vier, ach, oft nur eine hal­be Stun­de am Rou­let­te, und wir kön­nen eine Wo­che, einen Mo­nat lang le­ben! Ich ein Spie­ler? Aber es ist eine Hun­de­ar­beit, ich wür­de lie­ber Mau­er­stei­ne tra­gen, statt da­zu­ste­hen und zu war­ten und mich nicht fort­rei­ßen zu las­sen, lockt das Glück ein­mal. Ich bin eis­kalt und be­rech­nend, du weißt, sie nen­nen mich den Pari-Pan­ther. Sie has­sen mich, sie zie­hen schon sau­re Mie­nen, wenn sie mich nur se­hen. Weil ich eben kein Spie­ler bin, weil sie wis­sen, es ist nichts bei mir zu ho­len, weil ich mir je­den Tag mei­nen klei­nen Ge­winn ab­ho­le und, habe ich ihn, Schluss ma­che, mich nie ver­lei­ten las­se, wei­ter­zu­spie­len …«

Und mit ei­ner wun­der­ba­ren In­kon­se­quenz, in­dem er völ­lig ver­gaß, was er eben erst ge­sagt: »War­te nur – lass mich erst ein­mal den großen Schlag tun! Eine wirk­li­che Sum­me, die sich lohnt! Dann sollst du se­hen, was wir an­fan­gen! Dann sollst du se­hen, dass ich kein Spie­ler bin! Nie wie­der gehe ich de­nen auf den Leim! Wa­rum denn auch – es ist die ge­meins­te Vie­che­rei, die es gibt – wer wird denn frei­wil­lig zu so was hin­ge­hen, wenn er kein Spie­ler ist?!«

Der­wei­len sah sie ihn heim­kom­men, nachtaus, nacht­ein, mit hoh­len Schlä­fen, feuch­tem Haar, glän­zen­den Au­gen.

»Bei­na­he war es so­weit, Pe­ter!« rief er.

Aber sei­ne Ta­schen wa­ren leer. Dann ver­setz­te er al­les, was sie hat­ten, be­hielt nur, was er auf dem Lei­be trug (sie war in sol­chen Ta­gen zu Bett­ru­he ver­ur­teilt), ging fort, ge­ra­de ge­nug Geld in der Ta­sche, um das Mi­ni­mum an Spiel­mar­ken kau­fen zu kön­nen. Kam wie­der, mit ei­nem ganz klei­nen Ge­winn oder auch ein­mal – sehr sel­ten – die Ta­schen ge­stopft voll Geld. Wenn al­les zu Ende schi­en, das muss­te sie zu­ge­ben, brach­te er im­mer Geld, we­nig oder viel, aber er brach­te Geld.

Er hat­te da ir­gend­ein »Sys­tem« über das Rol­len der Rou­let­te­ku­gel, ein Sys­tem der Sys­tem­lo­sig­keit, ein Sys­tem, das dar­auf auf­ge­baut war, dass die Ku­gel oft nicht das tat, was sie al­ler Wahr­schein­lich­keit nach hät­te tun müs­sen. Er hat­te ihr dies Sys­tem hun­dert­mal er­klärt, aber da sie nie ein Rou­let­te ge­se­hen hat­te, konn­te sie sich von all dem, was er er­zähl­te, kein rech­tes Bild ma­chen. Sie be­zwei­fel­te auch, dass er sich im­mer an sein ei­ge­nes Sys­tem hielt.

Aber wie dem auch war, er hat­te es noch stets ge­schafft. Längst brach­te sie es – im Ver­trau­en dar­auf – fer­tig, sich ru­hig schla­fen zu le­gen, nicht auf sein Kom­men zu war­ten. Ja, es war so­gar bes­ser, sich schla­fend zu stel­len, wenn sie zu­fäl­lig ein­mal wach war. Denn kam er, heim­keh­rend vom Spiel, heiß vom Spiel, erst ein­mal ins Re­den, gab es die Nacht kei­nen Schlaf.

»Wie de det nur aus­hältst, Mä­chen«, konn­te manch­mal die Thu­mann, die Pott­ma­damm, kopf­schüt­teln. »Imma alle Näch­te wech und imma alle eure Pin­ke in de Ta­sche! Und es soll ja da von Edel­nut­ten nur so wim­meln! Ick lie­ße mei­nen nich!«

»Aber Sie las­sen Ihren doch auch auf den Bau, Frau Thu­mann! Eine Lei­ter kann auch mal ab­rut­schen oder ein Brett durch­knacken. Und Nut­ten gibt es über­all.«

»Gott, ver­red es nur mit mei­nem Wil­lem, wo se jra­de in’t fünf­te Stock mau­ern! Wo ick mir so schon ängst­je! Aba es is doch ein Schied­un­ta, Mä­chen! Bau­en muss sein, aber Spie­len muss nich sein.«

»Wenn er’s doch aber braucht, Frau Thu­mann!«

»Braucht, braucht! Ick hör imma braucht! Mei­ner er­zählt mir ooch imma ville, wat er braucht. Skat und ’ne Zi­gar­re und Mol­le kräf­tig und wo­mög­lich noch klee­ne Mä­chen (aber det er­zählt er mir nich!). Aber ick sare ihm: Wat du brau­chen tust, is een fes­tet Kom­man­do und frei­tags die Lohn­tü­te vorm Bau­bü­ro in mei­ne Hand! Det brauchs­te! – Du bist ebent zu jut, Mä­chen. Aber jut kommt von schwach, und wenn ick dir so an­se­he, mor­jens, wenn ick euch den Kaf­fee hin­ser­vie­re, und ick sehe, wie du ihm die Oo­gen zu­rollst, bloß, er merkt es jar nich, denn weeß ick ooch, wie dies aus­jeht. Spie­len als Ar­beit – wenn ick det bloß höre! Spie­len is nich ar­bee­ten und ar­bee­ten is nich spie­len. Und wenn du es wirk­lich jut mit ihm meinst, Mä­chen, nimmst de ihm det Jeld wech, und er jeht mit Wil­lem uffn Bau. Stei­ne tra­gen wird er ja wohl noch kön­nen.«

»Gott, Frau Thu­mann, nun re­den Sie ja schon ge­nau wie sei­ne Mut­ter! Die mein­te auch, ich sei zu gut und un­ter­stüt­ze ihn noch in sei­nem Las­ter, und hat mir des­we­gen so­gar eine Knall­scho­te ge­ge­ben.«

»Knall­scho­te is ooch wie­da nich rich­tig! Denn bist du die Schwie­ja­toch­ta? Nee, du machst es ge­wis­ser­ma­ßen nur zu dei­nem Va­j­nie­jen, und wenn es dir zu dumm wird, denn türms­te. Nee, Knall­scho­te war ooch nich fein, auf Knall­scho­te kanns­te so­jar kla­gen!«

»Aber es hat ja gar nicht weh ge­tan, Frau Thu­mann. Sol­che Fin­ger­chen, wie sei­ne Mut­ter hat. Da war mei­ne Mut­ter an­ders. Und über­haupt …«

12. Der Rittmeister engagiert Leute

Es teilt eine Holz­bar­rie­re den Raum der Ber­li­ner Schnit­ter-Ver­mitt­lung in zwei Hälf­ten, zwei sehr un­glei­che Hälf­ten. Der vor­de­re Teil, in dem jetzt der Ritt­meis­ter von Prack­witz steht, ist ganz klein, und die Ein­gangs­tür schlägt auch noch hin­ein. Prack­witz kann sich kaum rüh­ren.

Die hin­te­re, grö­ße­re Hälf­te hat ein klei­ner, fet­ter, schwärz­li­cher Mann inne – der Ritt­meis­ter kann nicht ge­nau sa­gen, wirkt der Mann so schwärz­lich we­gen sei­nes dunklen Haar­wuch­ses oder we­gen Unsau­ber­keit? Der schwärz­li­che Fet­te im dunklen Tuch­an­zug re­det hef­tig, wild ges­ti­ku­lie­rend, mit drei Män­nern in Man­che­s­teran­zü­gen, die graue Hüte auf dem Kopf und Zi­gar­ren im Mund­win­kel ha­ben. Die Män­ner ant­wor­ten eben­so hef­tig, und ob­wohl sie nicht laut re­den, wirkt es doch wie Ge­schrei.

Der Ritt­meis­ter ver­steht kein Wort, na­tür­lich spre­chen sie pol­nisch. Wenn der Neu­lo­her Gut­späch­ter auch je­des Jahr ein hal­b­es Hun­dert Po­len be­schäf­tigt, Pol­nisch hat er dar­um doch, von ein paar Kom­man­dos ab­ge­se­hen, nicht ge­lernt.

»Ich gebe dir zu«, konn­te er zu Eva, sei­ner Frau, sa­gen, die Pol­nisch ra­de­brech­te, »ich gebe dir zu, dass ich es schon aus prak­ti­schen Er­wä­gun­gen ler­nen müss­te. Trotz­dem, ich wei­ge­re mich, für heu­te und im­mer, die­se Spra­che zu ler­nen. Ich leh­ne das ab. Wir sit­zen hier zu nahe der Gren­ze. Pol­nisch ler­nen – ah bah!«

»Aber die Leu­te ma­chen die un­ver­schäm­tes­ten Be­mer­kun­gen dir ge­ra­de ins Ge­sicht, Achim!«

»Nun – und? Soll ich Pol­nisch ler­nen, da­mit ich ihre Un­ver­schämt­hei­ten auch noch ver­ste­he?! Ich den­ke gar nicht dar­an!« Was also die­se vier da im Win­kel so hef­tig ver­han­del­ten, ver­stand der Ritt­meis­ter nicht, es in­ter­es­sier­te ihn auch nicht. Aber er war kein sehr ge­dul­di­ger War­ter; was ge­tan wer­den muss­te, soll­te rasch ge­tan wer­den. Er woll­te mit­tags nach Neu­lo­he zu­rück, mit fünf­zig oder sech­zig Leu­ten, eine Bom­benern­te stand drau­ßen auf den Fel­dern, und die Son­ne schi­en, dass er das Pras­seln des Wei­zens im Ohr zu hö­ren mein­te.

»Kund­schaft! Wirt­schaft!« rief der Ritt­meis­ter.

Die re­de­ten wei­ter, es sah ge­nau so aus, als strit­ten sie auf Le­ben und Tod, gleich wür­den sie sich wohl an die Häl­se ge­hen.

»He! Sie da!« rief der Ritt­meis­ter scharf. »Gu­ten Tag hab’ ich ge­sagt.« (Er hat­te nicht Gu­ten Tag ge­sagt.) Gera­de die rich­ti­ge Ge­sell­schaft! Vor acht Jah­ren noch, ach, vor fünf Jah­ren noch hat­te das vor ihm ge­win­selt und skla­visch ver­sucht, ihm die Hand zu küs­sen! Ver­damm­te Zei­ten, ver­fluch­te Stadt – war­tet nur! Wenn ich euch erst drau­ßen habe!

»Her­hö­ren, ihr da!« schrie er mit sei­ner schärfs­ten Kom­man­do­stim­me und schlug mit der Faust auf die Bar­re.

Ja­wohl – und wie sie her­hör­ten! Die­se Art Stim­me kann­ten sie! Für die­se Ge­ne­ra­ti­on be­deu­te­te sol­che Stim­me noch et­was, der Klang rief Erin­ne­run­gen wach. So­fort hat­ten sie auf­ge­hört mit Re­den. In­ner­lich lä­chel­te der Ritt­meis­ter. Ja­wohl, das alte Ruck-Zuck, es tat doch und noch im­mer sei­ne Wir­kung – bei sol­chen Ver­lot­ter­ten am meis­ten. Fuhr ih­nen ver­mut­lich wie eine Vor­po­sau­ne des Jüngs­ten Ge­richts ins lie­der­li­che Ge­bein! Hat­ten eben im­mer ein schlech­tes Ge­wis­sen.

»Ich brau­che Schnit­ter!« sag­te er zu dem di­cken Schwärz­li­chen. »Fünf­zig bis sech­zig. Zwan­zig Män­ner, zwan­zig Frau­en, der Rest Mäd­chen und Bur­schen.«

»Ja­wohl, Pan­je«, ver­beug­te sich der Di­cke, höf­lich grin­send.

»Ein tüch­ti­ger Vor­schnit­ter – muss Kau­ti­on im Wer­te von zwan­zig Zent­ner Rog­gen stel­len kön­nen. Die Frau hat für Frau­en­lohn die Leu­te zu be­ko­chen.«

»Ja­wohl, Pan­je«, grins­te der an­de­re.

»Hin­rei­se­geld und Ihre Pro­vi­si­on zah­le ich; blei­ben die Leu­te bis nach der Rü­benern­te, wird ih­nen das Rei­se­geld nicht ab­ge­zo­gen. Sonst …«

»Ja­wohl, ja­wohl, Pan­je …«

»So – und nun ein biss­chen dal­li! Um zwölf Uhr drei­ßig geht der Zug. Dal­li! Print­go! Ver­ste­hen?« Der Ritt­meis­ter nick­te, eine Last vom Her­zen, so­gar den drei Ge­stal­ten im Hin­ter­grund zu. »Ma­chen Sie jetzt die Ver­trä­ge fer­tig. In ei­ner hal­b­en Stun­de bin ich wie­der hier. Will nur mal früh­stücken.«

»Ja­wohl, Pan­je!«

»Dann wäre also al­les in Ord­nung?« sag­te der Ritt­meis­ter ab­schlie­ßend. Ir­gen­det­was in der Hal­tung des an­de­ren mach­te ihn doch stut­zig, das er­ge­be­ne Lä­cheln er­schi­en ihm plötz­lich nicht so er­ge­ben, mehr hin­ter­häl­tig. »Al­les in Ord­nung – oder?«

»Al­les in Ord­nung!« be­ru­hig­te der Di­cke, mit ei­nem ra­schen Auf­leuch­ten des Blicks zu den an­de­ren. »Al­les nach den Be­feh­len vom Pan­je. Fünf­zig Leut – gut, sind sie da! Ei­sen­bahn – zwölf Uhr drei­ßig – gut, fährt sie ab! Or­dent­lich, pünkt­lich, nach Be­fehl – aber ohne Leut!« Er grins­te.

»Was?!« schrie der Ritt­meis­ter fast und ver­zog sein Ge­sicht zu tau­send Fal­ten. »Was sa­gen Sie da?! Re­den Sie deutsch, Mann! Wie­so ohne Leu­te?!«

»Und der Herr, der doch so gut kann be­feh­len, wird er auch be­feh­len, wo­her ich neh­me die Leut? Fünf­zig Leut – gutt, gutt, find sie, mach sie, schnell, fix, print­go, was?!«

Jetzt sah der Ritt­meis­ter sich den Mann doch ge­nau­er an. Sei­ne ers­te Ver­blüf­fung war vor­über, auch schon der ers­te Zorn, da er merk­te, er soll­te ge­reizt wer­den. Der kann ganz gut Deutsch, dach­te er, da der an­de­re im­mer gro­tes­ker, über­stürz­ter re­de­te. Der will bloß nicht.

»Und die da­hin­ten?« frag­te er und zeig­te auf die drei im Man­che­s­ter, de­nen die Zi­gar­re noch im­mer wie er­lo­schen im Mund­win­kel hing. »Sie sind doch Vor­schnit­ter? Kom­men Sie doch zu mir! Neue Schnit­ter­ka­ser­ne, an­stän­di­ge Bet­ten, kei­ne Wan­zen­fal­len.«

Ei­nen Au­gen­blick lang kam es ihm jäm­mer­lich vor, dass er sich so an­pries. Aber es ging um die Ern­te, ei­nes Ta­ges, ei­nes sehr na­hen Ta­ges konn­te es Re­gen ge­ben. Ja, es war heu­te ei­gent­lich schon hier in Ber­lin wie Ge­wit­ter in der Luft. Auf den di­cken Schwärz­li­chen war nicht mehr zu rech­nen, mit dem hat­te er es ver­dor­ben, wohl durch sei­ne Be­fehls­s­tim­me. »Nun, wie ist es?« frag­te er er­mun­ternd.

Die drei stan­den be­we­gungs­los, als hät­ten sie kein Wort ge­hört. Es wa­ren Vor­schnit­ter, der Ritt­meis­ter war sei­ner Sa­che si­cher. Er kann­te die­se vor­ge­sto­ße­nen Kinn­la­den, die­se ent­schlos­se­nen, et­was wil­den und doch trü­ben Bli­cke der An­trei­ber von Be­ruf.

Der Schwärz­li­che stand grin­send da, er sah den Ritt­meis­ter von der Sei­te an, sah über­haupt nicht nach den Leu­ten hin, so si­cher war er sei­ner Sa­che. (Da ist die Stra­ße und der Punkt, auf den ich sehe. Ich muss ent­lang!) Laut: »Gute Ar­beit – gu­ter Lohn, gu­ter Ak­kord – gu­tes De­pu­tat! Wie ist es?« Sie hör­ten nichts. »Und für den Vor­schnit­ter drei­ßig, ich sage, drei­ßig gute, ech­te Pa­pier­dol­lar in die Hand!«

»Ich ver­mitt­le die Leu­te!« schrie der Schwärz­li­che.

Aber schon zu spät. Die Vor­schnit­ter stan­den an der Bar­rie­re.

»Nimm mei­ne, Pan­je! Leu­te wie Och­sen, stark, fromm …«

»Nein, nicht die vom Jo­sef. Al­les fau­le Gau­ner, früh nicht aus den Bet­ten, bei Ma­rusch­ka stark, bei Ar­beit schlapp …«

»Was re­dest du, Pan­je, mit Ja­blon­ski?! Ist ge­ra­de ge­kom­men aus Kitt­chen, hat mit Mes­ser ge­sto­chen Pan­je In­spek­tor …«

»Psia krew, pie­run­na!«1

Der eine auf den an­de­ren, pol­ni­scher Wort­sturz – soll es auch hier eine Mes­ser­ste­che­rei ge­ben? Der Di­cke da­zwi­schen, un­un­ter­bro­chen re­dend, ges­ti­ku­lie­rend, schrei­end, zu­rück­drän­gend, auch den Ritt­meis­ter an­fun­kelnd – wäh­rend sich der drit­te un­ver­merkt an den Ritt­meis­ter her­an­pirscht.

»Gute Pa­pier­dol­lar, wie, was? Drei­ßig? Bei Ab­fahrt in die Hand? Sei der Herr um zwölf auf dem Schle­si­schen, ich auch da, mit Leu­te. Nichts sa­gen! Schnell weg­ge­hen! Schlech­te Leu­te hier!«

Und schon ist er wie­der bei den an­de­ren, die Stim­men schrei­en, vier Ge­stal­ten wan­ken hin und her, sich zer­rend …

Der Ritt­meis­ter ist froh, die Tür nah und un­ver­stellt zu fin­den. Er tritt er­löst zu­rück auf die Stra­ße.

Ver­flucht, ver­dammt!  <<<

13. Frau Pagel frühstückt

Wolf­gang Pa­gel sitzt noch im­mer am Wachs­tuch­tisch sei­ner Höh­le, wippt mit dem Stuhl, flö­tet ge­dan­ken­los sein gan­zes Re­per­toire an Sol­da­ten­lie­dern und war­tet auf den Thu­mann­schen Email­le-Kaf­fee­pott.

Sei­ne Mut­ter un­ter­des­sen, in der woh­lein­ge­rich­te­ten Woh­nung an der Tan­nen­stra­ße, sitzt vor ei­nem schö­nen, dunklen Re­naissance­tisch. Auf ei­ner gelb­li­chen Klöp­pel­spit­zen­de­cke steht ein sil­ber­nes Kaf­fee­ge­schirr, fri­sche But­ter, Ho­nig, echt eng­li­sche Jams – es ist al­les da. Nur vor dem zwei­ten Ge­deck sitzt noch nie­mand. Frau Pa­gel sieht auf den Platz, die Uhr. Dann greift sie zur Ser­vi­et­te, zieht sie aus dem Sil­ber­ring und sagt: »Min­na, ich fan­ge an.«

Min­na, das ält­li­che, gelb­li­che, ver­staub­te We­sen an der Tür, seit über zwan­zig Jah­ren bei Frau Pa­gel, nickt mit dem Kopf, sieht auch auf die Uhr und sagt: »Ge­wiss doch. Wer nicht kommt zur rech­ten Zeit …«

»Er weiß, wann un­se­re Früh­stücks­zeit ist …«

»Ge­wiss doch – das kann der jun­ge Herr ja gar nicht ver­ges­sen!«

Die alte Dame mit dem ener­gi­schen Ge­sicht, dem kla­ren, blau­en Auge, der das Al­ter nichts von ih­rer straf­fen Hal­tung, nichts von ih­ren fes­ten Grund­sät­zen hat neh­men kön­nen, sagt nach ei­ner Pau­se: »Ich dach­te ei­gent­lich, ich wür­de ihn heu­te zum Früh­stück se­hen.«

Min­na hat seit je­nem Streit, an des­sen Ende die am we­nigs­ten be­tei­lig­te Pe­tra eine Ohr­fei­ge be­kam, tag­täg­lich das Ge­deck für den ein­zi­gen Sohn auf­le­gen müs­sen, tag­täg­lich hat sie es un­be­nützt wie­der fort­räu­men müs­sen, und tag­täg­lich hat die Gnä­di­ge die­se Er­war­tung aus­ge­spro­chen. Aber Min­na hat auch ge­se­hen, dass die täg­li­che Ent­täu­schung der al­ten Dame nichts von der Si­cher­heit ge­nom­men hat, mit der sie den Sohn im­mer neu er­war­tet (ohne ihm einen Schritt ent­ge­gen zu tun). Min­na weiß längst, al­les Re­den hilft nichts, also schweigt Min­na.

Frau Pa­gel schlägt ihr Ei an. »Nun, er kann noch im Lau­fe des Ta­ges kom­men, Min­na. Was ha­ben wir heu­te zum Es­sen?«

Min­na be­rich­tet, und die gnä­di­ge Frau ist zu­frie­den: al­les Din­ge, die er mag.

Je­den­falls wird er nun sehr bald kom­men. Ein­mal muss er mit die­ser ver­damm­ten Spie­le­rei schei­tern. Ein Ende mit Schre­cken …

Nun, von mir soll er kein Wort des Vor­wurfs hö­ren …

Min­na weiß es bes­ser, aber das muss sie ja nicht sa­gen, also schweigt sie. Doch Frau Pa­gel ist auch nicht ohne Ver­stand und nicht ohne Wit­te­rung. Sie dreht den Kopf scharf zu der al­ten Ge­treu­en un­ter der Tür und fragt: »Sie hat­ten ja ges­tern Ihren frei­en Nach­mit­tag, Min­na. Sie wa­ren wohl wie­der – da?«

»Wo­hin soll ein al­ter Mensch ge­hen?« ver­setzt Min­na mür­risch. »Er ist doch auch wie mein Jun­ge!«

Die gnä­di­ge Frau schlägt är­ger­lich mit dem Löf­fel ge­gen die Tas­se. »Er ist ein ganz dum­mer Jun­ge, Min­na!« sagt sie scharf.

»Ju­gend hat kei­ne Tu­gend«, ant­wor­tet Min­na völ­lig un­ge­rührt. »Wenn ich be­den­ke, gnä­di­ge Frau, was ich für Dumm­hei­ten in mei­ner Ju­gend ge­macht habe!«

»Was ha­ben Sie denn für Dumm­hei­ten ge­macht, Min­na?!« ruft die Gnä­di­ge em­pört. »Gar kei­ne ha­ben Sie ge­macht! Nein, wenn Sie von Dumm­hei­ten re­den, dann mei­nen Sie na­tür­lich bloß mich – und das ver­bit­te ich mir, Min­na!«

Min­na schweigt dar­auf. Aber ist man mit sich un­zu­frie­den, kann auch das Schwei­gen des an­de­ren Öl ins Feu­er sein – ge­ra­de das Schwei­gen.

»Na­tür­lich hät­te ich ihr kei­ne Ohr­fei­ge ge­ben sol­len«, fährt Frau Pa­gel noch hit­zi­ger fort. »Sie ist nur ein klei­nes, dum­mes Mäd­chen, und sie liebt ihn. Ich will nicht sa­gen, wie ein Hund sei­nen Herrn liebt, trotz­dem sie ge­nau das tut, ja­wohl, Min­na, schüt­teln Sie nicht mit dem Kopf, ge­nau das …« (Frau Pa­gel hat sich nicht nach Min­na um­ge­dreht, aber Min­na hat wirk­lich mit dem Kopf ge­schüt­telt.) »… sie liebt ihn, wie Frau­en einen Mann eben nicht lie­ben soll­ten!«

Frau Pa­gel starrt wü­tend ihr Brot mit Jam1