Wolfheart - Emilia Romana - E-Book

Wolfheart E-Book

Emilia Romana

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Beschreibung

Wir sind Kreaturen der Nacht ... Die junge Wölfin Silber ist eine Außenseiterin im Nachtrudel. Als Welpe einer Einzelwölfin geboren wurde sie nach einem furchtbaren Unglück als Waise vom Mondwächter Eisblitz in sein Rudel aufgenommen. Dort erfährt sie neben der Liebe ihrer Stiefeltern hauptsächlich Ablehnung und Anfeindungen. Eine mysteriöse Vorhersage und eine plötzlich über das Rudel hereinbrechende Tragödie, lässt sie die Gemeinschaft, zu der sie nie wirklich gehört hat, verlassen. Eine folgenschwere Entscheidung ... Eine lange Reise, auf der Suche nach einem Zuhause und sich selbst, beginnt für Silber und ihre Freunde ... Womöglich sogar in eine uns Menschen fremde Welt ...

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Dieses Buch widme ich:

Maria S. (1930 - 2004),

Heinz S. (1927 - 2012),

Dirk R. (1963 - 2014),

und allen Wölfen auf der Welt!

Am Ende des Buches gibt es eine Aufzählung der Rudel.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Die Rangordnung der Rudel

Das Nachtrudel

Das Benachbarte Nachtrudel

PROLOG

Ein Wind, kalt wie Eis und scharf wie Krallen, fegte über die karge Felslandschaft hinweg. Diese wurde nur durch wenige blattlose Sträucher unterbrochen.

Am Horizont erkannte man schneebedeckte Berge, die wie Zähne aus dem Boden aufragten.

Ein Tümpel lag inmitten der trostlosen Gegend. Der Mond leuchtete auf das Wasser, was durch ihn eine grausilberne Färbung bekam.

Ein großer weißer Wolf, dessen Fell zerzaust war, vom erbarmungslosen Luftstrom, stand am Rande des Gewässers.

Er sah gebannt hinein, als würde sich dort etwas abspielen, das nur er sehen konnte.

Das stattliche Tier hob abrupt den Kopf zum weiten Sternenhimmel und knurrte: »Warum habt ihr mich hergeschickt, wenn es hier nichts gibt, außer Fels und Stein?«

Auf seine wütenden Worte folgte Schweigen. Das Raubtier spitzte die Ohren. Er schaute sich erwartungsvoll um, aber niemand erschien und gab ihm eine Antwort, es gab kein Flüstern im kalten Wind oder ein Zeichen vom Himmel.

Alles blieb still.

Vor Frustration stellte sich dem großen Rüden das schneeweiße Fell auf. »Weshalb gebt ihr mir keine Antwort?«, jaulte er zu den Sternen empor. »Wieso schweigt ihr?« Herausfordernd blickte er den dunklen Nachthimmel an, wartete auf eine Erwiderung, vielleicht nur auf einen Hauch oder auf ein Aufblitzen einer hellen Gestalt. Doch zu seiner Enttäuschung gaben die Sterne, wie auch der Mond ihm keine Antwort. Warum reden meine Vorfahrennicht mehr mit mir? Kalte Angst kroch dem Weißen unter den Pelz. Er erzitterte vom Kopf bis zur Schwanzspitze. Was, wenn die Geister uns verlassen haben? Aber wieso? Weshalb sollten sie das tun?

Unruhig wartete der Rüde auf seinem Platz. Seine Krallen scharrten ungeduldig am blanken Fels. Seine dunkelblauen Augen suchten mit aller Kraft die graue Landschaft ab, als hoffte er, nur durch seinen Willen eine Antwort sehen zu können. Die Antwort, auf die Frage, weswegen er hier war.

Doch nach einigen Herzschlägen des Hoffens musste er sich eingestehen, dass kein Zeichen mehr kommen würde.

Warum hatte das Ewige Rudel, seine Vorfahren, ihn hierher geschickt, wenn sie jetzt, wo er endlich da war, nicht mit ihm redeten?

Er hatte sein Rudel verlassen, war tagelang gewandert, um hier her zu gelangen, und wofür?

Um seine Abbildung in einem Tümpel zu betrachten?

Mit einem gereizten Knurren schlug er mit der Pfote auf das kalte Wasser, sodass sein Spiegelbild in tausend Splitter zerbarst. Kleine Wassertröpfchen flogen durch die Luft.

Da hörte er plötzlich ein belustigtes Bellen. Schnell hob der Wolf den Kopf von seinem zerrissenen Ebenbild und sah eine Wölfin am gegenüberliegenden Rand der Pfütze sitzen. Sie hatte hellgraues, fast silbernes, kurzes Fell mit hellblauen Augen. Sie war schlank, dennoch tanzten ihre Muskeln unter ihrem dichten Pelz. Nur der silbrige Nebel, der ruhig um ihre Pfoten strich, ließ erkennen, dass sie nicht mehr unter den Lebenden weilte. »Nebel«, flüsterte der Weiße überrascht. »Warum bist du so spät gekommen?«

»Sei gegrüßt, Eisblitz.« Die Sternenhüterin neigte den Kopf. Sie war vor ihm die Mondwächterin seiner Gefährten gewesen, bis sie vor vielen Monden umgekommen war. Das Mitglied des Ewigen Rudels lächelte. »Ich wollte deine Geduld testen«, entgegnete sie mit blitzenden Augen. »Aber wie es scheint, musst du daran noch ein wenig arbeiten.« Eisblitz spitzte die Ohren. »Ich habe gedacht, ihr habt mich verlassen!«

Nebel kniff die Augenlider zusammen. »Ich sagte doch, du musst dich in Geduld üben.«

Jetzt wurde der Rüde wütend. »Ich habe mich in Geduld geübt, als ich tagelang gewandert bin, um hierher zu kommen! Also, warum hat das Ewige Rudel mich an diesen Ort geschickt?«

Die Wölfin antwortete in keiner Weise, stattdessen schaute sie mit interessiertem Blick in den silbergrauen Tümpel.

Als Eisblitz jedoch ihren Augen folgte, erkannte er nur die zwei Spiegelbilder, von ihm und der Jägerin.

»Was siehst du?«, fragte er leise, wagte auf einmal keinesfalls, lauter zu bellen. Nebel schwieg allerdings, starrte nur mit zusammengekniffenen Lidern und gespitzten Ohren ins klare Wasser.

Da wurde der Wind von dem einen auf den anderen Herzschlag stärker und zerrte an Eisblitz´ weißem Fell. Er musste die Augenlider zusammenkneifen, um gegen den kräftigen Luftstrom noch etwas sehen zu können.

Nun war sein Pelz nicht mehr rein, sondern befleckt von Schmutz, Staub und Dreck. Ich freue mich schon, mir das alles aus dem Fell zu putzen!

Aber jetzt erst einmal freute er sich darauf, die Antwort der verstorbenen Wölfin zu hören.

»Es ist so weit«, hauchte Nebel da. Der Rüde schaute zu der Silbergrauen, die aufstand und zu ihm tappte. »Du willst Antworten? Dann folge mir.« Ihre Stimme klang geheimnisvoll und leise, sodass der Pelz des Mondwächters anfing zu kribbeln. Als Eisblitz der früheren Wächterin folgte, fiel ihm auf, dass der Wind aufgehört hatte. Das muss sie gewesen sein. Allmählich entfernten sie sich von dem Tümpel, trotteten immer weiter in die endlos scheinende, kahle Gegend. Eisblitz sah zu Nebel hinüber, die graziös neben ihm ging. In der Gegenwart der majestätischen Wölfin kam er sich so unbeholfen, wie ein Welpe vor.

Da bemerkte er, dass Nebel gar nicht auf dem Boden lief, sondern auf ihren silbernen Schwaden. Alle Wölfe des Ewigen Rudels hatten so einen Nebelschwaden um die Pfoten, damit jeder sofort erkannte, dass derjenige etwas Besonderes und tot war.

Der Mond zog weiter am Himmel, als der Teich schon längst außer Sichtweite, die zwei Wölfe aber noch immer unterwegs waren.

Der Mondwächter fühlte sich nun, nach so langer Zeit des Laufens, müde, ausgelaugt und schlapp. Seine Pfoten schmerzten und er dachte, dass ihm jeden Moment die Augen zu fallen würden. Trotzdem schüttelte sich der große Rüde, um seine Trägheit abzuschütteln.

Jetzt, vor einer Sternenhüterin des Ewigen Rudels, seiner ehemaligen Mondwächterin, durfte er auf gar keinen Fall erschöpft wirken.

»Wir sind gleich da«, versprach Nebel plötzlich sanft. »Danach kannst du dich ausruhen.«

Anscheinend hatte sie seine Müdigkeit bemerkt. Etwas verlegen nickte der Weiße, schaute die Graue jedoch nicht an. Es war ihm zu peinlich, von einer so erfahrenen und edlen Wölfin für müde erklärt zu werden. Doch er konnte keineswegs leugnen, wie er sich fühlte, also hielt Eisblitz einfach schweigend mit der früheren Anführerin schritt. Die Stille beruhigte ihn, lenkte den Rüden aber auch vom Wesentlichen ab. Stets schweiften seine Gedanken zu einer, mit Moos und Farn ausgelegten, gemütlichen Schlafkuhle oder zu der erfrischenden Jagd ab.

An einem kahlen Strauch, ganz in der Nähe der zwei Wölfe, raschelte es auf einmal verführerisch im Gebüsch.

»Denk nicht mal dran«, mahnte Nebel leise, trotzdem bestimmt, als Eisblitz mit gespitzten Ohren zu dem Gestrüpp hinüber spähte.

Der bloße Gedanke an die Hetzjagd und eine saftige Mahlzeit ließ seine Müdigkeit dahinschmelzen.

Gehorsam wandte er sich dennoch wieder an seine Wegbegleiterin, die zügig weiterging.

Es kam dem weißen Wolfsrüden so vor, als würden sie ewig wandern. Doch als er abermals zum Himmel aufblickte, war der Mond keinesfalls viel weiter gezogen. Gerade, als Eisblitz dachte, sie wären für immer unterwegs, kam ein Fluss in Sicht. Leise strömte er zwischen den Felsen her, wie ein schwarzer, gurgelnder Faden.

Nebel hielt an und setzte sich an den Rand des Wasserlaufes. »Du willst Antworten. Aber auf welche Fragen?«

Der Mondwächter ließ sich neben der edlen Wölfin nieder und sah sie von der Seite an.

»Warum hast du mich hierher geschickt? Gibt es eine Bedrohung, die mein Rudel erwartet? Oder willst du mich vor der Zukunft warnen? Weshalb sollte ich diesen langen Weg auf mich nehmen? Wieso konntest du mir deine Nachricht nicht in einer Vision schicken?« Frustriert ließ er die Schultern hängen, doch Nebel fing an zu lächeln. »So viele Fragen ...«, murmelte sie schmunzelnd. Hoffnungsvoll spitzte der Weiße die Ohren und sah die Graue erwartungsvoll an. Die hob den Kopf jedoch zum sternenübersäten Himmel und starrte gebannt nach oben. Eisblitz folgte ihrem Blick, konnte aber, wie vorhin beim Tümpel, nichts erkennen, außer silbern leuchtende Sterne und einen vollen Mond.

»Nun ist es Zeit«, hauchte die Wölfin und stand auf. Der stattliche Wolf tat es ihr nach, gespannt, was sie ihm für Antworten geben würde. Allerdings drehte sich Nebel nicht zu ihm um, wie erhofft, sondern zu einem dunklen Felshügel, ein kleines Stück flussaufwärts. Erst jetzt bemerkte Eisblitz, dass dort der Eingang zu einer Höhle lag. Ein großer, finsterer Spalt war zwischen der steinigen Böschung auszumachen.

Mit einem Kopfnicken forderte Nebel den Mondwächter auf, ihr zu folgen. Zögernd gehorchte der Wolfsrüde und betrat nach der Sternenhüterin den Tunnel. Er fragte sich zwar, warum sie ihn hier rein führte, aber er vertraute seiner ehemaligen Wächterin.

Dunkelheit verschluckte ihn sofort. Eisblitz konnte sich nur noch an Nebels silbernen Schwaden orientieren, die in der Schwärze ein wenig glitzerten. Sie selbst war nur eine schemenhafte Abzeichnung in der Finsternis. An seinen Flanken spürte der Rüde kühlen Stein, der sein Fell streifte. Seine Krallen klackerten auf dem felsigen Boden und sein Atem war ein lautes Schnaufen in der dunklen Stille. Nach einiger Zeit konnte er plötzlich ein schwaches Licht am Ende des Tunnels ausmachen. Die Wölfin beschleunigte ihren Schritt, der Weiße tat es ihr nach, und wenige Momente später, hatten sie eine große Höhle erreicht.

Fels säumte die Wände, es endete weit über ihnen an der Höhlendecke. Silbernes Mondlicht fiel durch einen Riss in der Decke. Es beleuchtete eine spärliche Fläche in der Mitte der Grotte.

Mit Schrecken erkannte Eisblitz, dass ein Welpe genau dort lag, wo das silberfarbene Licht hineinfiel.

Es ließ das Fell des Kleinen silbrig leuchten.

»Was ist das?«, fragte er entsetzt. Seine Stimme hallte von den Steinwänden wieder und bildete ein gruseliges Echo, was das Unbehagen in dem Wolfsrüden nur noch verstärkte.

Warum hatte Nebel ihn hier her geführt?

Weshalblag da vorn ein schlafender Welpe?

Wo war die Mutter des Kleinen? Wieso konnte seine Vorgängerin ihm die Antworten nicht draußen, an der frischen Luft, geben? »Sie ist die Antwort auf deine Fragen.« Nebels lautes Bellen ließ Eisblitz zusammenzucken. Eisblitz starrte die Wölfin verwirrt an. »Was? Sie ist die Antwort? Die Antwort auf was?«

Die Hüterin schmunzelte erneut. »Die Antwort auf die Frage, weshalb du hier bist.«

Entsetzt sah der Wolfsrüde zwischen der Wölfin und dem Welpen hin und her.

»Aber ... aber ... sie ist ein Welpe, keine Antwort! Außerdem: Wo ist ihre Mutter?« Ein trauriger Ausdruck schlich sich in ihre blauen Augen. Sie sah kurz zu Boden. Doch dann hob Nebel wieder den Blick und sah den weißen Mondwächter an. »Die Mutter ist tot. Dieser Welpe hat niemanden mehr und wird sterben, wenn sich keiner um sie kümmert.« Eisblitz traute seinen Ohren nicht. »Soll das heißen, du willst mir diesen Welpen aufzwingen?!« Empört schüttelte die Grausilberne den Kopf. »Nein, ich will sie dir keineswegs aufzwingen! Dennoch ist diese Wölfin die Antwort, die Lösung, für all deine Fragen. Du bist hier, weil dein Rudel in Gefahr ist. Eine große Bedrohung wird kommen, die euch alle vernichten kann. Doch diese junge Wölfin wird euch stärken, beschützen und in Sicherheit führen, wenn die Zeit reif ist.« Eisblitz verstand kein Wort. Wie konnte so ein kleiner Welpe so eine Macht haben? Und überhaupt: Niemand aus seinem Zuhause würde einen Wolf aufnehmen, der nicht im Rudel geboren worden war. Selbst nicht, falls er es ihnen befahl.

»So sehr ich es wollen würde, Nebel, ich kann diese Wölfin unter keinen Umständen mitnehmen. Sie ist in der Wildnis zur Welt gekommen. Keiner meiner Rudelgefährten würde sie respektieren.«

Seine ehemalige Mondwächterin antwortete nicht, sondern tappte leise zu dem schlafenden Geschöpf hin.

Zögerlich schlich Eisblitz ihr nach. Als er näher kam, konnte er den Fellball besser erkennen. Sie hatte kurzes, silbernes Fell und eine schlanke Gestalt. Ihre Flanken hoben und senkten sich ruhig und gleichmäßig, aber der Wächter sah, dass die Kleine fror. Sie hatte den Pelz aufgeplustert und sich fest zusammengerollt. »Sie ist so süß«, flüsterte Nebel liebevoll. Mit einem sanften Lächeln und glänzenden Augen schaute sie auf den Welpen hinab. »Nebel, hörst du mir überhaupt zu?«, fragte Eisblitz ungeduldig. »Ich kann sie um keinen Preis mitnehmen, selbst wenn ich es wollte! Irgendjemand anderes muss sich um sie kümmern!« Die Graue erstarrte, spitzte die Ohren und drehte sich ganz langsam zu ihm um. »Wenn du sie hier lässt, wird sie erfrieren oder verhungern! Außerdem wird dann dein, ach so heiliger, Wald sterben! Zerstört werden! Falls du sie nicht mitnimmst, ist euer Schicksal gleichermaßen besiegelt!«

Ihre Stimme war ein lautes, wütendes Knurren, was durch das Echo zu einem unheilvollen Donnern heranwuchs.

Dazu hatte sie ihr Fell leicht gesträubt und die weißen Zähne entblößt.

Überrascht von ihrer Wut sah Eisblitz sie an.

Falls das stimmt, muss ich sie mitnehmen! Aber meine Rudelgefährten werden sie niemals akzeptieren! Wer soll sie überhaupt säugen? Unentschlossen schaute der Vierbeiner zwischen der aufgebrachten Sternenhüterin und dem weiblichen Welpen hin und her. Sie sieht wirklich sehr süß aus ... vielleicht könnte Brise sie nähren und großziehen, bis sie so weit ist, das Jagen zu lernen.

Seine Gedanken wirbelten umher, wie ein Sturm.

»Also?« Nebel blickte ihn mit zusammengekniffenen Augen an. »Wirst du sie mitnehmen oder nicht? Wenn du ablehnst, wird sie sterben, du dich für dein Leben lang schuldig fühlen und dein Zuhause wird vernichtet. Außerdem würdest du den Wolfseid brechen! Kein Wolf lässt seinesgleichen im Stich! Aber falls ja«, Nebels Gesichtsausdruck, sowie ihre Stimme, wurde etwas weicher, »wirst du ihr Retter sein. Du würdest dich gut fühlen und hättest damit dein Rudel und deine Heimat gerettet.«

Weiterhin unentschlossen trottete er langsam noch näher zu dem Welpen hin. Zusammengekauert lag sie da, so unschuldig und jung. Ihre Ohren zuckten, als würde sie träumen. Eisblitz beugte sich vor und schnupperte an dem winzigen Fellballen. Sie roch nach Fels, Frost und Regen. Da regte sich in ihm ein kaum spürbarer Impuls. Es war wie ein Instinkt. Erst klein, doch umso länger Eisblitz den Welpen musterte, desto größer wurde er.

Wie ein Feuer, das immer gewaltiger und wilder wurde.

Es war der sechste Sinn des Wolfes, den jeder seinesgleichen besaß. Der Drang, keinen Artgenossen, der Hilfe brauchte, im Stich zu lassen.

Genau wie Nebel es gesagt hatte.

Plötzlich erwachte noch ein Gefühl in ihm.

Entschlossenheit. Ich werde diese Wölfin nicht zurücklassen! Egal, was meine Rudelgefährten dazu sagen! Mit entschiedenem Blick richtete sich der Wächter auf und drehte sich zu Nebel, die schweigend hinter ihm gewartet hatte, um. Mit stolzer Miene hob er den Kopf und verkündete: »Ich werde die Kleine mitnehmen. Sie wird mein Rudel retten und meine Ziehtochter werden.«

Zufrieden lächelte das Mitglied des Ewigen Rudels. »Das war die richtige Entscheidung, Eisblitz. Nun kannst du heimkehren.« Sie wollte bereits verschwinden, aber der Rüde hielt sie auf. »Warte! Was soll ich meinen Gefährten erzählen, wenn sie fragen, wo ich den Welpen her habe?«

Die Hüterin blickte ihn offen an. Ihre hellblauen Augen leuchteten im fahlen Licht.

»Sag ihnen die Wahrheit. Sag ihnen, dass du sie in einer Höhle, mutterseelenallein, gefunden hast, fast verhungert. Und jetzt«, sie nickte zu der jungen Wölfin, »solltest du sie wecken. Sie wird sich vielleicht nicht mehr an alles erinnern, was vor ihrem Einschlafen geschehen ist. Es ist deine Aufgabe ihr zu erzählen, was sie wissen muss.« Mit diesen Worten wurde der Nebel an den Pfoten der früheren Mondwächterin größer. Er kletterte ihre Beine und ihre Brust hinauf, bis er sie nach wenigen Herzschlagen ganz verschlungen hatte. Nur ein kurzes Blinzeln, dann war sie im Nebel verschwunden. Die silbernen Nebelschwaden lösten sich langsam auf, bis an ihrer Stelle nur noch Luft blieb.

Nichts deutete mehr daraufhin, dass Eisblitz´ ehemalige Mondwächterin einmal hier gewesen war.

Mit einem tiefen Seufzen wandte sich der Rüde zu der Kleinen. Leise trottete er zu ihr und stupste sie sanft mit der Schnauze an. Nach dem zweiten Versuch, winselte der Fellball und schlug die Lider auf. Mit weit aufgerissenen Augen starrte ihn die Wölfin entsetzt an. Sie hatte eisblaue Augen, die im Mondlicht nur noch heller leuchteten. Der Welpe war wie erstarrt, bewegte sich nicht, während sie Eisblitz nur mit geweitetem Blick und angelegten Ohren ängstlich ansah.

»Ganz ruhig, ich werde dir keinen Schaden zufügen«, versuchte der Wolfsrüde, den Welpen zu beruhigen.

»Du kannst mir vertrauen.«

Zögerlich entspannte sich die Wölfin, blieb jedoch still.

»Weißt du, was passiert ist, bevor du eingeschlafen bist?«, fragte der Wolf vorsichtig. Nebel hatte zwar behauptet, dass sie sich an nicht mehr alles erinnern würde, bloß wollte er das selbst testen. Doch das winzige Wesen antwortete nicht, stattdessen stellte es ihm eine Gegenfrage: »Wer bist du?«

Eisblitz räusperte sich, ehe er sich vorstellte: »Ich bin Eisblitz, der Mondwächter meines Rudels.«

Der Welpe schnappte erschrocken nach Luft.

»Aber keine Angst, ich werde dir nichts tun, versprochen«, versicherte er schnell, als sie zurückzuckte.

»Wirklich? Versprochen?«, wollte sie zögerlich wissen.

Der weiße Wolf lächelte liebevoll. »Versprochen.«

Da hellte sich das Gesicht des Welpen ein wenig auf. »Dann ist ja gut.« Eisblitz schmunzelte. Er freute sich, dass er das Vertrauen der Kleinen gewonnen hatte.

»Aber jetzt sag mal, weißt du noch, was passiert ist, ehe du eingeschlafen bist?«

Die Wölfin schaute kurz zu Boden, bevor sie den Kopf wieder hob. In ihren Augen sah Eisblitz Angst aufleuchten. »Da waren Geräusche ... laute, böse Geräusche. Ich hatte keine Ahnung, was sie bedeuten sollten ... allerdings hat meine Mutter mich hier reingebracht und gesagt, dass sie mich holen kommt. Daraufhin ist sie rausgelaufen. Draußen ... habe ich dann einen ohrenbetäubenden Donnerschlag gehört. Und ... und die schlimmen Geräusche ... nach einiger Zeit waren sie weg, doch meine Mutter ist bisher nicht zurück.«

Ein eisiger Schauer, kälter als der Wind außerhalb dieser Höhle, fuhr Eisblitz durchs Fell. Die bösen Geräusche mussten Hunde gewesen sein und der Donnerschlag ... ein Donnerstock eines Nachtfürchters. Dieser Stock konnte jedes Tier umbringen.

Das hatte Eisblitz bereits gelernt, obwohl diese seltsamen Geschöpfe auf zwei Beinen erst kürzlich in seine Welt getreten waren.

Nebel hatte gesagt, dass ihre Mutter tot sei. Das entsprach anscheinend der Wahrheit. Nun war es seine Aufgabe, der Wölfin die grausame Botschaft zu überbringen.

»Es tut mir so unendlich leid, doch ... deine Mutter kommt nicht zurück. Den Donnerschlag ... hat ein Nachtfürchter verursacht und sie damit ... getötet.«

Es tat ihm furchtbar weh, dass so ein winziges Geschöpf schon so eine immense und schwer lastende Nachricht empfangen musste. Wieder bekam sie große Augen. »Aber das bedeutet, ich bin allein!« Entsetzt jaulte der Welpe auf. »Nein, nein, du bist auf gar keinen Fall allein!«, versicherte Eisblitz ihr eilig. »Deshalb bin ich hier. Du kannst mit mir in mein Rudel kommen.«

Behutsam fügte er hinzu: »Wie heißt du, meine Kleine?« Der Welpe sah ihn lange an, ehe sie schließlich verkündete: »Mein Name ist Silber.«

1. KAPITEL

»He! Geh runter von mir, oder ich beiß´ dir ins Ohr!«

Ein wütendes, aber zugleich auch belustigtes Knurren weckte mich. Blinzelnd öffnete ich die Augen und hob neugierig den Kopf. Im Bau der Schattenläufer war es noch dunkel, die Morgendämmerung setzte gerade erst ein. Die Kuhlen, die den jungen Wölfen als Schlafplätze dienten, waren gut gefüllt, in ihnen hoben und senkten sich sacht schlafende Körper. Der Bau, der mit Mühe in die Erde gegraben worden war, schützte uns vor dem Wind und dem Regen draußen.

Die Wände aus trockener Erde waren schön warm und der Boden mit weichem Moos ausgelegt.

Maus und Distel, die zwei Wölfe, die sich balgten, lagen am anderen Ende der kleinen Höhle.

»Hey! Warum kämpft ihr bitte mitten in der Nacht?«, fragte Stern, die in der angrenzenden Mulde von der der beiden Schattenläufern lag und von dem Lärm wach geworden war. Ich konnte allein ihre Silhouette in der Dunkelheit erkennen.

»Was ist los?«, wollte Klee wissen, der in einer Kuhle neben meiner lag und ebenfalls verschlafen den Kopf hob.

»Die zwei bekämpfen sich«, informierte ich ihn kurz. Zu den beiden Kämpfenden gewandt, fügte ich hinzu: »Hey, Maus, Distel. Einige von uns wollen schlafen! Könnt ihr nicht bei Sonnenlicht kämpfen?« Sofort hielten die zwei Schattenläufer inne, starrten mich aber dafür mit zusammengekniffenen Lidern an. Ihre Augen loderten zornig im Halbdunkeln. »Halt dein Maul, Silber!«, knurrte Maus wütend. »Genau, du hast hier gar nichts zu sagen!«, stimmte Distel ihrem Freund zu. »Wir können so lange kämpfen, wie wir wollen, ohne das uns irgendein wilder Wolf vorschreibt, was wir zu tun oder zu lassen haben!« Von dem hasserfüllten Knurren der beiden bestürzt, legte ich die Ohren an und machte mich klein. Ja, so waren meine Baugefährten. Ich war ein wilder Wolf, sie alle Rudelgeborene. Keiner in diesem Bau mochte mich besonders und sie versuchten es auch keinesfalls, zu verbergen.

»Mach dir nichts draus.« Das war Klees Stimme. Er war der Einzige, der mich respektierte und ebenso mein einziger Freund im Rudel.

Dankend lächelnd sah ich den schildpattfarbenen Rüden an. »Ich weiß, das ist bloß so schwer.«

Klee neigte leicht den Kopf. »Das sehe ich.«

Stern hatte sich wieder hingelegt und die Pfoten über die Ohren geschlagen, um das Gepolter der beiden Wölfe auszublenden.

Das Gleiche wollte ich tun, zu meiner Überraschung, wies Klee die Kämpfenden jedoch zurecht: »Maus, Distel, jetzt hört auf und schlaft! Seid ihr Welpen oder Schattenläufer?«

Distel, die ihren Baugefährten auf den Boden ihrer Kuhle drückte, schaute Klee mit vor Eifer leuchtenden Augen an. »Wir sind stolze Schattenläufer, deshalb üben wir ja auch das Kämpfen!« Mein Freund seufzte genervt. »Aber das müsst ihr doch niemals mitten in der Nacht tun, wenn andere ihre Ruhe haben wollen. Seid ihr so egoistisch?« Maus versteinerte, seine gelben Augen fixierten den gefleckten Rüden. »Wir sind überhaupt nicht egoistisch!«, zischte er empört. »Dann seid endlich still!«, blaffte Klee wütend zurück. Widerstrebend ließen Distel und Maus voneinander ab und legten sich in ihre Mulden. Die zwei waren nur als schemenhafte Abbildungen in der Finsternis sichtbar, allerdings leuchteten ihre Augen mürrisch. »So, jetzt können wir wieder friedlich schlafen«, flüsterte Klee mir belustigt zu. Ich schmunzelte. »Danke.« Freudig lächelte der gefleckte Wolf, bevor er sich erneut einrollte, und versuchte, weiterzuschlafen.

Auch ich rollte mich nochmals zusammen, konnte jedoch keine Ruhe finden.

Der Bau war mir weiterhin fremd, obgleich ich schon etwas länger hier übernachten musste. Trotzdem hatte ich mich bislang nicht an den Bau, meinen Schlafplatz und die neuen Baugefährten gewöhnt.

Besonders nicht an ihre ablehnende Art.

Vor einem Zeitwechsel war ich noch mit meiner Mutter gemeinsam unterwegs gewesen. Aber dann waren die Nachtfürchter gekommen. Diese seltsamen Geschöpfe, die aufrecht auf zwei Pfoten liefen und kein Fell, sondern irgendwelche eigenartigen Pelze besaßen. Eisblitz hatte mir erzählt, dass sie erst vor Kurzem in unserer Welt erschienen waren.

Zumindest hatte er vorher noch nie solche Kreaturen gesehen, genauso, wie ich. Anscheinend gab es bis jetzt nur wenige von ihnen, doch die waren gefährlich. Sie liefen mit Donnerstöcken durch die Gegend, die jedes Tier umbringen konnten. Diese Wesen waren einfach aufgetaucht und nahmen sich nun das Recht, andere Lebewesen zu töten. Wie meine Mutter. Die Nachtfürchter hatten sie ermordet. Daraufhin hatte Eisblitz mich mitgenommen. Brise hatte mich unter ihre Fittiche genommen, nachdem ihre eigenen Welpen kurz nach der Geburt gestorben waren. Sie war die Gefährtin des Mondwächters. Nun war ich also die Ziehtochter von den beiden.

Das gefiel den anderen Schattenläufern natürlich kein Stück. Vor allem nicht, weil der Anführer mich ebenfalls trainierte. Sie fanden es ungerecht. Warum wurde ein wilder Wolf vom Wächter unterrichtet und kein echter Rudelwolf?

Nach einer Zeit, in der ich pausenlos einen Farnwedel in meiner Mulde angestarrt hatte, wälzte ich mich herum und putzte mich. Mein Fell war verklebt mit Staub und Moos, Erde hing mir an den Pfoten und die Müdigkeit haftete mir noch in den Gliedern.

Trotz des warmen Baus, sowie dem gemütlichen Nest, wollte ich keinen Schlaf finden. Da die Morgendämmerung sowieso schon einsetzte, konnte ich auch rausgehen.

Also schlich ich leise aus dem Bau, verließ meine Baugefährten und trat in eine Senke. Unsere Senke.

Die Senke des Rudels.

Das war unser Hauptplatz in unserem Revier. Hier lagen die Eingänge in die verschiedenen Baue, hier fraßen, schliefen und spielten wir. Die Bäume wuchsen hier sehr dicht, weshalb nur ein paar Flecken Licht durch die Baumkronen brach.

Ein Fleck landete genau in der Mitte der Senke. In diesem Licht verkündete Eisblitz die Zeremonien, wenn ein Wolf starb, zum Sternenhüter ernannt wurde oder etwas anderes Wichtiges anstand. Die dunkle Kuhle lag verlassen da, aber die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne färbten den Himmel bereits rosa, orange und hellblau. Bäume, mit Knospen an ihren Ästen, säumten den Rand der Senke. Frisches Gras bewuchs den Boden.

Endlich ist es Blütezeit!

Vor ein paar Monden war es noch Schneezeit gewesen. Um diese kalte Zeit hatte Eisblitz mich ins Rudel geholt.

Dafür war ich ihm sehr dankbar, denn sonst wäre ich wahrscheinlich erfroren oder verhungert. Jedoch war dieses Leben hier leider in keiner Weise besser, als allein zu sein. Meine Baugefährten hänselten mich, die Welpen machten sich über mich lustig und selbst die ausgewachsenen Tiere duldeten mich nicht richtig. Die einzigen Wölfe, die mich akzeptierten und auch respektierten, waren Eisblitz, Brise und Klee. Ich hatte keine Ahnung, warum Klee auf meiner Seite stand, doch es tröstete mich, dass wenigstens ein Wolf, der nicht erwachsen war, zu mir hielt.

Ein Quieken links von mir, ließ mich aus meinen Gedanken fahren.

Der Bau der Welpen war erfüllt von leisem Fiepsen und Müttern, die versuchten, ihren Nachwuchs zu beruhigen.

Ich spitzte neugierig die Ohren.

»Lilie, sei still! Die anderen möchten schlafen.« Das war Lichts Bellen. »Mama, wir sind wach, wir wollen spielen!« Gluts aufgeregte Stimme hallte durch die Senke.

»Ihr könnt bei Sonnenlicht spielen. Unter keinen Umständen mitten in der Nacht!«, bellte Dämmerung ruhig, dennoch eindringlich.

Ich musste schmunzeln, da Klee eben ähnliche Worte benutzt hatte. »Aber wir wollen jetzt spielen!«, protestierte Blatt flehend. Ein helles Kläffen ertönte, dann ein erschrockenes Knurren. »Sturm, du hast mir in die Rute gebissen! Das macht kein Wolf!«

Lichts böses Grollen ließ Sturm ängstlich quieken. Mein Lächeln wurde breiter.

Ich war stolz, in diese Gemeinschaft aufgenommen zu sein, auch wenn es manche gab, die mich nicht mochten.

Seid unzähligen Zeitwechseln lebte unsere Gruppe unter dem Namen des Nachtrudels. Alle Rudel der Wölfe trugen diesen Namen, da jeder von unserer Art ein Tier der Nacht war. Eisblitz sagte mir einmal einen Satz, den ich nie vergessen würde: Wir sind Kreaturen der Nacht! Die Sterne liegen uns im Blut! Wir hatten unser Leben der Nacht verschrieben. So gab es unseren Anführer, den Mondwächter. Wie der echte Mond am Himmel war er einzigartig in unserer Gruppe. Er wachte über uns, genauso, wie sein Namensgeber.

Zusätzlich besaßen wir den Krallenmondwolf. Er unterstützte Eisblitz, stand ihm mit Rat und Tat zur Seite und bewirkte Ordnung im Rudel. Sowie sich der Krallenmond in einen Vollmond verwandelte, würde unser Stellvertreter zum Anführer aufsteigen, sobald Eisblitz starb. Außerdem hatten wir eine Nachtseherin. Sie hieß Sonne, was ein wenig ironisch klang, da die Dunkelheit in ihrem förmlichen Namen nistete. Sie behandelte uns, falls wir krank wurden, oder heilte nach einem Kampf die Wunden. Zudem konnte sie mehr sehen, als andere. Nachts erkannte sie in den Sternen Zeichen und manchmal träumte sie sogar von unseren Vorfahren, was außer ihr, niemand konnte. Für uns waren die gefallenen Ahnen unerreichbar, bis wir uns ihnen irgendwann anschließen würden.

Die ausgewachsenen Wölfe hießen Sternenhüter. Sie waren mutige, stolze und würdevolle Tiere. Sie behüteten das Rudel vor Feinden und jagten täglich für uns. Sie beschützten uns mit ihrem Leben. Sowie es tausend Sterne am Himmelszelt gab, gab es viele Hüter in unseren Reihen.

Die Wölfinnen, die ihre Welpen zur Welt brachten, wurden einfach Mütter genannt. Sie sorgten für den Nachwuchs, bis dieser alt genug war, um mit der Ausbildung zum Sternenhüter zu beginnen. Sie bewahrten uns vor dem Aussterben und das machte die Wölfinnen zu geschätzten Vierbeinerinnen.

Sie unterrichteten ihre Nachkommen später mit der Hilfe ihres Gefährten. Die Jungwölfe, zu denen ich ebenso zählte, nannten wir Schattenläufer. Jeder Läufer wurde von seiner Mutter und seinem Vater gelehrt, was es bedeutete, ein Hüter zu sein. Der Name kam ebenfalls von der Nacht. Wir liefen in den Schatten, sie verbargen uns, bis es irgendwann Zeit für uns war, ins Mondlicht zu treten und wahre Sternenhüter zu werden. Jedes Wolfsrudel hatte diese Bezeichnungen für seine Mitglieder, da wir alle unter demselben Sternenhimmel lebten. Wir alle wurden im Licht des Mondes geboren. Von unserer Geburt an wussten wir, dass wir Geschöpfe der Nacht waren, würdevolle und stolze Tiere. Wir wussten, was unsere Aufgabe war, wie wichtig sie für das Überleben unserer Art sein sollte.

Selbst ich, eine geborene Einzelwölfin, wusste von der starken Verbindung zur Dunkelheit. Jeder Wolf, egal ob Rudel - oder Einzelwolf wusste das. Weil wir alle zur gleichen Spezies gehörten, auch wenn die Rudelwölfe das leider anders sahen. Eine Schnauze an meiner Schulter ließ mich zusammenzucken und herumfahren. Ich war so in Gedanken vertieft gewesen, dass ich gar nicht gemerkt hatte, wie jemand zu mir getreten war. Klee stand neben mir. Er sah mich neugierig an.

»Tut mir leid, ich wollte dich auf keinen Fall erschrecken.« Trotz des endschuldigenden Tons übersah ich keinesfalls das belustigte Funkeln in seinen grünen Augen.

»Nein, hast du nicht«, log ich rasch.

Klee gab darauf keine Antwort. Er setzte sich zu mir. »Ich weiß, weshalb du hier draußen bist«, fing er dunkel an. Sein Blick ruhte von der Seite auf mir.

»Du konntest nicht mehr einschlafen, weil Maus und Distel dich wieder verspottet haben.«

Ich nickte und seufzte. »Ja, da hast du recht. Ich verstehe einfach nicht, warum mich keiner hier mag. Ich kann doch nichts dafür, dass ich keine Rudelgeborene bin. Außerdem hat Eisblitz entschieden, mich aufzunehmen. Ich habe niemals darum gebettelt.« Nachdenklich sah der Rüde mich an, bevor er mir einen freundschaftlichen Stoß gab. »Natürlich hast du hier Wölfe, die dich mögen«, protestierte er schmunzelnd. »Du hast Brise, Eisblitz und mich. Die anderen sind nur neidisch, weil du als wilde Wölfin geboren wurdest.«

Ich wusste, dass der junge Wolfsrüde mich trösten wollte, bloß fühlte ich mich in keiner Weise besser. Mit angelegten Ohren schaute ich zum Himmel, der immer heller wurde.

Die Sonne verdrängte langsam aber sicher die Finsternis. Tausende von Sterne leuchteten jede Nacht dort oben, und jede Nacht stellte ich mir vor, wie meine Mutter vom Himmelszelt auf mich hinabblickte. »Glaubst du, dass meine Mutter auch beim Ewigen Rudel ist?« Mein Bellen war leise, fast ängstlich. Ich hatte Angst vor der Antwort.

Das Ewige Rudel war der Platz, an dem die verstorbenen Wölfe des Rudels hinkamen, wenn sie starben. Jedoch nur die Toten der Wolfsrudel. Niemand der wilden Wölfe, oder doch?

»Alle Wölfe, die mutig und gut sind, kommen in das Ewige Rudel. Ich glaube wirklich daran, dass jeder Wolf zu ihnen kommt, vorausgesetzt, er hatte zu Lebzeiten keine schlechten Absichten.«

Ich konnte nur lächeln und nicken. »Dann muss das ja ein großes Rudel sein«, murmelte ich leise. Die bunten Farben der aufgehenden Sonne wurden stets intensiver und der Mond immer blasser, wie als würde er von den Sonnenstrahlen verjagt werden. »Sollen wir jagen?«, fragte Klee nach einer Weile des Schweigens.

Ich schaute ihn irritiert an. »Nur wir zwei? Wir fangen doch gar nichts.« Das Rudel jagte mindestens mit fünf Sternenhütern. Für einen Hirsch oder ein Reh brauchte man auf jeden Fall vier Tiere. »Wir könnten nach Hasen Ausschau halten«, schlug Klee mit einem Schulterzucken vor. Einen Augenblick überlegte ich, ehe ich schließlich nickte. »Einverstanden, lass uns gehen.« Zusammen verließen wir die Senke und machten uns auf in den Wald. Der Sonnenaufgang zog sich über das Land, lange Schatten sprenkelten den Waldboden, während eine goldene Flut die Baumkronen durchbrach. Hellgrüne Farne, Holunderbüsche und Blumenfelder kreuzten unsere Suche nach Beutetieren. Süßer Blütenduft stieg mir in die Nase. Tief sog ich die frische Luft in meine Lungen. Die Natur erwachte endlich wieder zum Leben!

»Endlich ist es Blütezeit!«, bellte Klee mit wedelnder Rute. Ich neigte den Kopf. »Ja, endlich gibt es mehr zu fressen und die Wärme kehrt zurück.«

Da versteinerte Klee und deutete mit den Ohren auf ein Farndickicht. Erst, als ich näher hinsah, erkannte ich einen weißen Pelz. Ein Hase knabberte im Inneren des Farnkrauts an einer Wurzel, mit dem Rücken zu uns.

»Mach du das, ich schaue mich nach weiterer Beute um«, hauchte ich meinem Begleiter zu, als er mich fragend ansah.

Klee nickte kurz, bevor er sich ins Jagdkauern fallen ließ. Ich wandte mich ab und schlich durchs Unterholz davon. Die Farne, die ich streifte, ließen kalten Tau auf mich herabregnen, den ich jedoch sogleich abschüttelte.

In der Blütezeit ist das gar nicht mehr schlimm. Jetzt ist es nur noch ein wenig eisig.

Mit diesen Gedanken im Kopf trottete ich um eine Tanne herum und blieb bewegungslos stehen. Vor mir, auf einer Lichtung, befand sich eine ganze Herde von Rehen! Sofort versteckte ich mich unter den tief hängenden Zweigen der Tanne. Große und kleine Rehe, Kitze und Rehböcke standen auf der offenen Fläche und grasten gemütlich. Mich hatten sie bisher nicht bemerkt, jedoch wäre das im Augenblick egal gewesen. Wenn ich mit einem Jagdtrupp unterwegs gewesen wäre, hätten wir uns angeschlichen und versucht, eines der schwächeren Huftiere zur Strecke zu beringen. Doch allein hatte ich keine Chance. Stadtessen beobachtete ich die Tiere kurz aus meinem Versteck heraus. Große, erwachsene Böcke weideten am Rande der Gruppe und schauten sich mit gespitzten Ohren um. Sie hatten einen enormen dennoch schlanken Körperbau, ihr braunes Fell glitzerte fast in der aufgehenden Sonne.

Ihre Geweihe waren zwar klein, aber mit ihnen konnten sie trotzdem problemlos einen Wolf verletzten.

Deshalb konzentrierten wir uns eher auf die Ricken, die weiblichen Rehe. Die waren einfacher zu erlegen und konnten uns nicht so schnell etwas anhaben. Die Weibchen grasten hinter den Rehböcken, geschützt von den männlichen Artgenossen. In der Mitte der Lichtung und auch im Herzen der Herde spielten Rehkitze aufgeregt miteinander.

Mir taten die Kleinen leid, wenn wir sie oder ihre Mütter angriffen, doch wir brauchten sie zum Überleben.

Nach einem letzten Blick wandte ich mich von der Gruppe ab und schlich weiter durch die Büsche. Ich würde dem Rudel später berichten, was ich gesehen hatte.

Jetzt konzentrierte ich mich aber auf meine eigene Jagd. Die Sonne war nun ganz aufgegangen, beleuchtete den dichten Wald, sodass goldene Tupfen das Gras sprenkelten.

Ich konnte mir gut vorstellen, wie das Rudel zum Leben erwachte. Wie die Welpen aus ihrem Bau stürmten und sich in der Mitte des Lagers balgten. Wie Eisblitz in die Senke trat und sich streckte. Und zuletzt, wie die Sternenhüter aus ihrem Bau kamen, auf die offene Fläche strömten und sich unterhielten. Fels, der Nachfolger von Eisblitz, unser Krallenmondwolf, würde nach kurzer Zeit die Trupps einteilen, welche jagen oder unsere Grenzen ablaufen würden.

Unser Revier war groß, wie es sich für ein ordentliches Wolfsrudel gehörte, doch wir hatten auch Feinde. Zum Beispiel das Rudel, was seine Grenze direkt an unserer hatte.

Taube, die Mondwächterin der anderen Gruppe, war vor meiner Zeit mit ein paar Wölfen, welche Honig, Vogel, Staub und Ampfer hießen, in unser Territorium gekommen. Sie hatten uns informiert, dass sie nun unsere Nachbarn wären.

Bis jetzt hatte Eisblitz sie akzeptiert, aber vertrauen tat er ihnen nicht. Immer wieder patrouillierten wir die Grenze, um sicher zu gehen, dass kein anderer Wolf unseren Boden betrat.

Plötzlich hörte ich ein leises Scharren.

Sofort blieb ich stehen und schaute mich um. Ich stand an den Wurzeln einer Eiche, an einem schmalen Pfad. Dieser zertrampelte Weg war schon von vielen Rudelgefährten genutzt worden. Zwischen den Wurzeln raschelte es und ein Eichhörnchen huschte heraus. Es hatte eine Nuss im Maul und sprang, ohne mich zu bemerken, über den Weg, direkt vor meine Pfoten. Natürlich nutzte ich die Gelegenheit, stürzte mich auf das graue Tier, hielt es mit meinen kräftigen Vorderpfoten fest und brach ihm geschickt das Genick.

Auch, wenn ich keine Rudelgeborene war und auch nichts von den Bräuchen des Rudels gewusst hatte, glaubte ich an das Ewige Rudel. Deshalb schickte ich ihm ein leises Dankeschön. Danach hob ich meinen Fang auf und machte mich auf die Suche nach Klee. Ich hätte noch mehr jagen können, jedoch wusste ich, dass Eisblitz sauer sein würde, wenn er bemerkte, dass ich so lange weg war. Mit eiligen Schritten kam ich an der Herde vorbei, die weiterhin auf der Lichtung graste. Diesen Ort merkte ich mir, wenn ich zu einem Jagdtrupp eingeteilt werden sollte. Das Eichhörnchen in meinem Maul war warm. Mein Magen knurrte so laut, dass ich mir sicher war, meine Rudelgefährten könnten es in der Senke hören. Aber ich durfte das kleine Tier nicht essen. Wir sollten die Beute immer erst auf den Beutehaufen legen, damit jeder die Chance hatte, etwas zu Fressen zu bekommen.

So in Gedanken vertieft, hatte ich den schildpattfarbenen Pelz, der plötzlich vor mir aufragte, ganz übersehen.

Mit einem erschrockenen Fiepen rannte ich in den Wolf hinein, woraufhin wir beide zu Boden fielen.

»Oh, tut mir leid!«, entschuldigte ich mich eilig, als wir liegen blieben. Schnell stand ich auf und schüttelte das zerzauste Fell.

Auch Klee rappelte sich auf die Pfoten, er sah jedoch keineswegs böse aus. Er grinste sogar.

»Kein Problem, passiert doch jedem.«

Mein Rudelgefährte hatte den Hasen, den wir als erstes gesehen hatten, gefangen. Er hatte ihn bei unserem Zusammenstoß fallenlassen, aber nun hob er ihn auf und trug ihn zwischen den Zähnen.

»Wenn wir zurück sind, werde ich Eisblitz berichten, dass auf der großen Lichtung eine Herde von Rehen weidet. Bestimmt interessiert ihn das«, informierte ich Klee, als wir den Rückweg antraten.

Dieser stellte die Ohren auf und nuschelte durch das Beutetier: »Das ist ja toll! Ich erinnere mich gar nicht mehr daran, wie Rehfleisch schmeckt!« In der Schneezeit hatten wir nur dünne Hasen und Eichhörnchen gefangen, noch nicht mal einen Hirsch oder ein Reh zu Gesicht bekommen.

Nach einer Zeit des Schweigens kamen wir an der Senke an. An der Anhöhe konnte ich schon einige Wölfe sehen, die sich in den wärmer werdenden Sonnenstrahlen aufwärmten. Fluss und Krähe lagen ausgestreckt auf dem Gras. Blume und Ast putzten sich gegenseitig den Pelz, während Sonne auf einem flachen Stein saß. »Da seid ihr ja!«, rief Fluss, eine der erfahrensten Sternenhüterinnen im Rudel, als sie uns erblickte. »Eisblitz wollte bereits einen Suchtrupp losschicken.«

Krähe fügte mit interessiert gespitzten Ohren hinzu: »Aber wenn ich eure Beute sehe, freue ich mich, dass ihr weg wart.«

Durch das Fell des Eichhörnchens hindurch lächelte ich den älteren Wölfen zu, ehe ich die Senke betrat.

Falke und Dorn hockten am Eingang des Sternenhüterbaues, während Nacht und Wolke am kümmerlichen Beuteplatz kauerten. Brise und Fels unterhielten sich bei Eisblitz´ Bau.

Die Welpen spielten, unter Aufsicht von Licht und Dämmerung, in der Mitte der großen Kuhle. Stern, Maus und Distel saßen am Rand des Lagers in einem Kreis und redeten leise mit zusammengesteckten Köpfen. Als ich mit Klee in der Senke ankam, sprangen die drei zu uns und begutachteten unsere Beute. »Wo wart ihr?«, fragte Maus neugierig, blickte aber nur Klee an.

»Das ist ein toller Fang!«, lobte Distel ihren gefleckten Blutsgefährten.

»Gibt es jetzt endlich mehr Beutetiere?«, erkundigte sich Stern mit hoffnungsvollem Blick. Die hellgraue Wölfin hatte die gelben Augen weit aufgerissen und wartete gespannt auf eine Antwort. »Ja, es gibt mehr Beute!«, antwortete ich ihr durch das Fell meines Eichhörnchens laut. »Rehe sind sogar wieder da!«

Zu meinem Bedauern musterte Stern mich von oben bis unten kalt und meinte: »Ich habe nicht mit dir geredet.« Mit einem demonstrativen Blick schaute sie nochmals zu Klee. Dieser blickte mich mitfühlend an, wollte etwas sagen, aber ich wandte mich schon ab. Ich hatte keine Lust, weiter mit diesen Wölfen zu reden. Stattdessen trottete ich zum Beuteplatz, der nur aus einem dünnen Hasen und der kleinsten Maus bestand, die ich je gesehen hatte. Zufrieden, das Rudel sättigen zu können, legte ich meinen Fang ab.

»Silber, wo warst du?« Ein vertrautes Bellen war zu hören, woraufhin ich mich zu dem Träger der Stimme umdrehte.

Eisblitz stand vor mir. Er sah mich mit zusammengekniffenen Augen an.

Ich zeigte mit einem Kopfnicken auf das Eichhörnchen. »Ich war jagen, mit Klee.«

Der Mondwächter nickte leicht. »Verstehe.«

Nach kurzem Zögern fragte er vorsichtig: »Sag mal ... ist dein Verhältnis zu den anderen Wölfen eigentlich besser geworden?«

Am liebsten wäre ich jetzt einfach weggegangen und hätte die Frage ignoriert.

Das konnte ich leider keineswegs tun.

Tief seufzte ich. »Nein, es hat sich nicht gebessert.«

Eisblitz trat einen Schritt näher. Besorgt musterte er mich. »Soll ich mit ihnen sprechen?« Mit einem amüsierten Lächeln fügte er hinzu: »Wenn ich erst mal mit ihnen fertig bin, werden sie dich in Ruhe lassen, versprochen.«

Doch ich schüttelte schnell den Kopf. »Danke, aber ich möchte, dass sie mich von allein respektieren, und nicht, weil ihr Mondwächter sie einschüchtert.« Der große Rüde neigte kurz das Haupt. »Ja, ich verstehe. Trotzdem will ich unter keinen Umständen mit ansehen, wie mein Rudel dich hänselt.« Ich lächelte meinen Adoptivvater an. »Ich weiß, jedoch könnte es wirklich schlimmer sein.« Der weiße Wächter sah mich skeptisch an. »Na schön. Aber komm zu mir, wenn es dir zu viel wird.« Ich nickte fest. Eisblitz wandte sich ab und trottete zu seiner Gefährtin Brise. Klee kam auf einmal angesprungen. Die anderen Schattenläufer hatte er zurückgelassen. Er legte seinen Fang ab und wollte, sich neben mich setzten. Doch bevor er sich überhaupt richtig niederlassen konnte, rief Maus: »He Klee, komm her und lass uns kämpfen!«

Der graue Rüde stand ein paar Sprünge entfernt und blickte meinen Freund herausfordernd an. Aber der Schildpattfarbene schüttelte den Kopf. »Nein, Maus. Ich bleibe lieber hier.« Demonstrativ setzte er sich.

Als ich zu dem großen Wolfsrüden hinübersah, bemerkte ich, dass er die Augen verdrehte und beleidigt dreinschaute.

Dann flüsterte er seiner Blutsgefährtin Stern etwas ins Ohr, woraufhin sie zu Klee und mir schaute.

Jetzt reden sie auch noch über ihn!

»Klee, geh zu ihnen. Ich kann ruhig einen Moment alleine hier sitzen.« Doch der Gefleckte schüttelte entschieden den Kopf. »Ich weiß, was du sagen willst, aber sie werden mich nicht von dir trennen. Und wenn sie über mich sprechen wollen, soll es so sein.« Er zuckte gelassen mit den Schultern.

Ich ließ keinesfalls locker. »Nein, Klee. Geh zu ihnen. Ich kann auf gar keinen Fall zulassen, dass du auch noch zum Außenseiter wirst.« Klee fing an zu kichern. »Ich werde nicht zum Außenseiter, da das gar nicht geht. Denn ich habe dich.«

Ich lächelte, fühlte mich jedoch trotzdem schuldig. Schuldig, weil Klee nun wahrscheinlich ebenso ausgeschlossen wurde. Ich wollte nicht, dass mein einziger Freund den Anschluss an seine Rudelgefährten verlor, doch ich konnte Klees Willen nicht ändern.

Da kam plötzlich Fels vom Bau des Mondwächters angesprungen. Er setzte sich an die Anhöhe und schaute auf die Wölfe hinunter, die in der Senke verteilt saßen.

Der große graue Wolf war erst seid Kurzem der Krallenmondwolf. Vor zwei Zeitwechsel war es noch Eisblitz selbst gewesen. Aber als Nebel, die frühere Mondwächterin des Rudels starb, nahm Eisblitz ihren Platz ein und erwählte Fels zu seinem Nachfolger. Eigentlich war es so, dass der nächste Mondwächter immer der Sohn oder die Tochter des momentanen Anführers sein sollte.

Da Eisblitz allerdings keinen Nachwuchs hatte und ich nicht seine richtige Tochter war, hatte er den erfahrensten und stärksten Rüden der Gruppe genommen: Fels.

Nebel war jedoch keineswegs Eisblitz´ Mutter. Mein Ziehvater hatte mir erzählt, dass Nebel ebenfalls keine eigenen Nachkommen gehabt hatte, und deshalb er der Stellvertreter geworden war. Auch berichtete er mir, dass Nebel ihn manchmal vom Ewigen Rudel aus besuchen kam. »Alle Wölfe des Rudels! Jetzt werde ich die Trupps für den heutigen Sonnenkreislauf einteilen!«

Fels´ laute Stimme brachte mich wieder ins Lager zurück. Um uns herum kamen die Wölfe zusammen. Fluss und Ast liefen, gefolgt von Blume, Krähe und Sonne von der Anhöhe in die Senke. Licht und Dämmerung sammelten ihre spielenden Welpen ein, damit sie still wurden und auch meine Baugefährten trotteten herbei. Keiner der jungen Wölfe setzte sich neben mich oder Klee. »Können wir mit?«, fragte Lilie ganz aufgeregt vom Welpenbau.

»Nein, meine Liebe«, meinte Licht sanft, die ihre Rute um ihre Tochter legte. »Erst, wenn du alt genug bist.«

Um auf die Jagd gehen zu können und ausgebildet zu werden, mussten Welpen mindestens einen Zeitwechsel alt sein. »Fluss, du führst einen Jagdtrupp zum Wasserfall an«, bellte Fels gerade.

Die grau - weiße Wölfin nickte. »Schon unterwegs, Fels. Wen soll ich mitnehmen?«

Der Krallenmondrüde schaute sich kurz um. »Nimm Krähe, Stern, Dorn und Sonne mit.«

Die Wölfe, die aufgerufen wurden, versammelten sich bei der erfahrenen Hüterin, bereit, aufzubrechen.

»Falke, du führst einen Grenztrupp zur Grenze von Taubes Rudel an. Brise, Silber und Blume werden dich begleiten.«

Ich verabschiedete mich von Klee und ging zu meiner kleinen Gruppe. Brise lächelte mir zu und leckte mir kurz über die Ohren. Bei dieser Geste musste ich an meine richtige Mutter denken. Ich wusste nur noch Bruchstücke, von dem, was damals passiert war. Doch ich war mir sicher, dass sie genau das gleiche silberne Fell gehabt hatte, wie ich. »Klee, Maus, Distel, ihr geht heute mit Nacht und Ast zur Sandlichtung und übt das Kämpfen. Ihr müsst lernen, auch mit jedem anderen Sternenhüter an eurer Seite kämpfen zu können, nicht nur mit euren Eltern.«

Erneut versammelten sich die Wölfe. Da fiel mir erst wieder ein, was ich Eisblitz berichten wollte. Da ich den weißen Mondwächter aber jetzt nicht in der Menge ausmachen konnte, kletterte ich auf die Anhöhe zu Fels, der mich fragend musterte. »Warum unterbricht sie die Aufteilung?«, hörte ich Distel abfällig knurren. Ich schenkte ihnen keine Beachtung. Stattdessen richtete ich meine Aufmerksamkeit auf den grauen Wolf. »Fels, als ich mit Klee eben Jagen war, habe ich eine große Herde Rehe gesehen.«

»Wo?«, fragte der Krallenmondwolf, ohne zu zögern.

Ich deutete mit einem Kopfnicken in die Richtung und der Rüde wandte sich mit aufgerissenen blauen Augen sofort zum Rudel. »Silber hat mir gerade berichtet, dass sie eine Herde Rehe gesichtet hat. Fluss, dein Jagdtrupp wird dort hingehen, doch nicht zum Wasserfall. Und nehm noch Schnee und Wolke mit. Desto mehr ihr seid, umso größer ist eure Chance, etwas zu fangen.«

Fluss nickte und die zwei Wölfinnen gesellten sich zu dem Trupp. »Ich werde mich dem Grenztrupp von Falke anschließen.« Damit sprang Fels in die Senke zurück und der Jagdtrupp verschwand im Wald. Der Übungstrupp eilte in die entgegengesetzte Richtung davon, indes trottete ich mit meiner Gruppe ins Unterholz. Falke führte uns, Fels schlenderte gemächlich an seiner Seite. Brise und ich liefen hinter ihnen, während Blume den Schluss bildete.

Wir gingen schweigend einen schmalen Pfad entlang, an Büschen und Bäumen vorbei, bis Brise neben mir leise das Wort ergriff: »Silber, wie läuft es bei dir? Kommst du gut voran? Eisblitz hat mir erzählt, dass du eben ein Eichhörnchen gefangen hast.«

Ihr Ton klang lobend, trotzdem merkte ich, dass sie eigentlich wissen wollte, ob ich immer noch gehänselt wurde.

Ich zuckte leicht mit den Ohren. »Ja, ich habe heute ein Eichhörnchen gefangen. Eisblitz hat mich gut ausgebildet.« Mehr sagte ich nicht. Meine cremefarbene Ziehmutter sah mich mit zusammengekniffenen gelben Augen an. »Du weißt, dass du mit mir über alles reden kannst, oder?« Ich nickte, schaute jedoch auf den mit Moos überwucherten Weg.

»Du bist meine Tochter, ob leiblich oder nicht, deshalb mache ich mir große Sorgen«, fuhr sie leise fort. »Ich wünsche mir nur, dass du glücklich bist.«

Ich spürte ihren sorgenvollen Blick auf mir. Mein Pelz fing unangenehm an zu kribbeln. »Silber, jetzt sprich doch mit mir!« Ich zuckte bei ihrem scharfen Tonfall zusammen. Mir war bewusst, dass sie sich nur Sorgen machte, aber das musste sie keinesfalls. »Es gibt nichts zu besprechen, Brise«, kläffte ich beruhigend. »Wirklich nicht«. Fast konnte ich ihre Enttäuschung spüren. Ich hatte einfach keine Ahnung, was ich sagen sollte, um die Sternenhüterin zu besänftigen. Die Wahrheit würde sie nur dazu bringen, sich noch mehr Gedanken zu machen. »Was tun wir eigentlich, falls einer vom anderen Rudel die Grenze übertritt?«, fragte ich, um das Thema zu wechseln.

Brise seufzte laut und frustriert. Sie wusste, dass ich ausweichen wollte.

»Wenn wir sie dabei schnappen, werden wir mit ihnen sprechen. Sollten sie sich nicht entschuldigen, müssen wir kämpfen. Nur so können wir unser Territorium verteidigen und unseren Nachbarn Respekt beibringen.«

Ich nickte verstehend, das Gespräch war dennoch zu Ende.

Nach einer Weile hatten wir die Grenze fast erreicht. Falke hielt an, prüfte die Luft und schaute sich mit zusammengekniffenen Augen konzentriert um. Ich tat es ihm nach und roch einen ekelhaften Gestank.

Das war der Duft des anderen Rudels.

»Igitt! Das riecht so widerlich!«, knurrte Blume hinter uns angewidert. Ich stimmte der hellbraun - weiß gefleckten Wölfin mit einem Nicken zu. Aber als wir weitergehen wollten, entdeckte ich, einige Sprünge weiter, plötzlich einen rötlichen Pelz im Unterholz aufblitzen. Hier waren wir nah an der Grenze.

Deshalb dachte ich, dieser Wolf wäre auf seinem Gebiet, doch da merkte ich, dass sich der Fremde auf unserem Revier befand. »Hier ist ein fremder Wolf auf unserem Territorium!«

2. KAPITEL

Alle fuhren erschrocken zusammen und sprangen eilig aus dem Unterholz, das die Grenze vor unseren Augen abschirmte. Wir erblickten eine rötliche, junge Wölfin auf unserer Seite eingefroren stehen. Auf der anderen Grenzseite standen vier weitere Wölfe.

Ein hellgrauer, großer Wolfsrüde mit grünen Augen zuckte überrascht zusammen, während ein dunkler schildpattfarbener Rüde uns mit bösem Blick fixierte. Eine kleinere hellbraune Wölfin blickte die Rote warnend an.

Ein weißer Wolf befand sich neben ihnen und sah erstaunt zu uns herüber.

Die jüngere Wölfin, die sich auf unserem Territorium aufhielt, starrte uns mit geweiteten Augen verängstigt an. Sie wirkte versteinert.

»Rose! Komm sofort zurück!«, knurrte die hellbraune Wölfin wütend.

»Was tut ihr hier?«, fragte Fels mit angelegten Ohren.

Die hellbraune Wölfin schaute ihn an, während der graue Wolf die Rötliche leise zu sich rief. Diese hörte diesmal und sprang schnell auf ihre Seite der Grenze.

Die Anführerin des Trupps, die Braune, trat vor, blieb jedoch auf ihrem Gebiet. »Seid gegrüßt. Ich bin Vogel, eine Sternenhüterin meines Rudels.«

Sie verneigte sich tief.

Auch die anderen aus ihrer Gruppe nickten uns zu. Fels blickte jeden Einzelnen von ihnen scharf an, als wäre er sich unsicher, ob er seine Angriffshaltung aufgeben sollte. »Es gibt keinen Anlass, zur Sorge«, versuchte Vogel unseren Grenztrupp zu beruhigen. »Rose, eine unserer Schattenläuferinnen, hat euer Territorium nicht mit Absicht betreten.« Sie sah mit ihren gelben Augen Fels fest an, hatte eine aufrechte, aber unterwürfige Haltung angenommen.

Schließlich entschied unser Krallenmondrüde anscheinend, der Wölfin zu trauen, denn er ließ seine Angriffshaltung fallen. Er ging mit stolzen Schritten zur Grenze, bis er Nase an Nase vor Vogel stand. »Warum hat sie die Duftlinie dann überschritten?«

Vogel schaute kurz zu Rose, die ängstlich hinter dem weißen Wolf kauerte. Danach blickte sie erneut zu unserem Krallenmondwolf. Ihre Augen funkelten ehrlich. »Wir waren jagen. Rose hat einen Hasen gejagt, der über die Linie gelaufen ist. Sie ist ihm gefolgt und hat dabei die Grenze zu spät gesehen.«

Das klang in meinen Ohren glaubwürdig, doch Fels stellte sein Fell auf. »Dieses Mal lassen wir es euch durchgehen. Aber wenn noch einmal irgendjemand von euch, ohne Grund, eine Pfote auf unseren Boden setzt, gewiss oder ungewiss, werden wir kämpfen, um unser Gebiet zu verteidigen!«

Vogel sah ihm offen in die Augen, nickte und trat einen Schritt zurück. »Wir respektieren eure Bedingungen und das Gleiche gilt natürlich auch für euch.«

Fels neigte ernst den Kopf, ehe er ebenfalls zurücktrat.

»Eigentlich müssten wir ihnen eine Lehre erteilen!«, knurrte Blume leise neben mir.

Da stimmte ich meiner Rudelgefährtin keineswegs zu. Mir stellte sich schon der Pelz auf, wenn ich nur an einen Kampf dachte. Im Jagen war ich zwar gut, aber im Kämpfen war ich noch ein wenig unerfahren, was ich schnellstens ändern musste. »Eigentlich dürfte Rose hingehen, wo sie wollte, wären da nicht eure blöden Grenzen!« Der dunkel gefleckte Wolf hatte gesprochen. Nun wurde er von entrüsteten Augen angestarrt. »Stachel! Bist du völlig verrückt geworden?«, fragte Vogel schockiert. Sofort schnellte ihr Blick zu Fels, der sie mit zusammengekniffenen Augen zornig anstarrte. »Ich entschuldige mich für unseren ...«

Stachel unterbrach sie. »Ist doch wahr! Dieses Rudel ist nur ein Haufen dummer Hunde! Wir sollten diesen Wald ganz besitzen!«

Ich traute meinen Ohren kaum. Hatte dieser Rüde das gerade wirklich gesagt? Auch meine Rudelgefährten zweifelten daran, denn sie alle blickten ihn mit offenen Mäulern an.

Vogel und ihre Gruppe starrte ihren Gefährten genauso empört an.

»Wenn dieser Wolf diese Beleidigung nicht augenblicklich zurücknimmt, werden wir euch zeigen, was für dumme Hunde wir sind!«, knurrte Fels mit gefletschten Lefzen.

Vogel hatte schockiert die Ohren angelegt, schaute den grauen Wolfsrüden entschuldigend an, bevor sie sich an Stachel wandte. »Du entschuldigst dich sofort bei ihnen und gehst dann zurück ins Lager! Zu Hause werden wir darüber sprechen!« Ihre Stimme war laut und wütend, wahrscheinlich wollte sie genauso wenig wie ich einen Kampf. Aber der dunkel gefleckte Sternenhüter schüttelte schnaubend den Kopf. »Gebt´ es doch wenigstens zu!« Er drehte sich zu seinen beiden männlichen Rudelgefährten um. »Staub, Habicht, wollt ihr nicht auch mehr Territorium?«

Zornig starrten die zwei Männchen ihren Gefährten an. »Nein, das wollen wir keinesfalls!«, knurrte Staub mit aufgestelltem Fell. »Wir sind ein Rudel, keine Einzelwölfe! Wir behandeln andere Rudel respektvoll und akzeptieren sie! Wie kannst du nur so etwas sagen, Stachel?« Das war Habicht, der weiße Rüde. Vogel nickte ihm zustimmend zu. »Ich bin ganz deiner Meinung, Habicht. Wir -« Fels´ Knurren schnitt ihr das Wort ab. »Eure Streitereien interessieren uns nicht! Entweder er entschuldigt sich, oder wir werden das mit Zähnen und Krallen regeln!«

Mir wurde schlecht. Ich konnte keinesfalls so gut kämpfen, wie die anderen. Was würde passieren, falls mich einer dieser großen Wölfe angriff? Auch Rose konnte wahrscheinlich besser kämpfen als ich. Was, wenn ich verletzt wurde? Sonne kannte sich zwar mit Kräutern aus, aber ich war mir plötzlich unsicher, ob ihre Erfahrung reichte, um tiefe Bisse zu heilen.

»Hört auf!«

Ich konnte meine Stimme nicht länger zurückhalten. Einfach so purzelten die zwei Wörter aus mir heraus, laut und knurrend. Peinlich berührt legte ich die Ohren an, als alle Augen schlagartig auf mich gerichtet waren.

»Was hat sie denn zu sagen?«, fragte Stachel feindselig. Er schaute mich abschätzend an. »Lasst ihr jetzt schon Schattenläufer Befehle erteilen?« Dieser Wolf regte mich auf. Ich wollte auf gar keinen Fall, dass er mich auch noch so behandelte, wie es meine Rudelgefährten bereits taten. Außerdem musste ich das nicht auf mir sitzen lassen. Drohend und mit erhobenem Kopf stellte ich mich Stachel entgegen. Genau an den Rand der Grenze, ignorierte dabei die warnend glühenden Augen meiner Gefährten, und knurrte:

»Nein, die jungen Wölfe dürfen in unserem Rudel noch keine Befehle erteilen. Aber ich werde niemals mit ansehen, wie das Nachtrudel in einen sinnlosen Kampf zieht. Blutvergießen, nur wegen eines unerfahrenen Wolfes, der erst vor wenigen Sonnenkreisläufen zum Sternenhüter ernannt wurde, ist dämlich, hirnlos und unnötig!« Stachel war wirklich noch jung. So jung, dass er wahrscheinlich gerade erst von Taube ernannt worden war. Jeder Wolf, der einen Hirsch erlegt hatte, wurde von dem Mondwächter zum wahrhaften Sternenhüter ernannt. Alle Schattenläufer wurden dafür ausgewählt, weil man einen Hirsch keineswegs allein besiegen konnte.

Da stellten sich die Nackenhaare des Dunkelschildpattfarbenen auf. Bevor er jedoch etwas knurren konnte, rief Vogel: »Diese junge Wölfin hat recht!« Sie nickte mir dankbar zu. Ich lächelte sie kurz an, ehe ich erneut zu Stachel blickte, der nun drohend die Zähne fletschte. »Stachel, du musst dich beruhigen. Wir müssen uns alle beruhigen und diese Sache vergessen«, meinte Vogel ruhig. Zu Fels gewandt, fügte sie hinzu: »Ich schwöre, bei meinem Leben, dass keiner unserer Trupps mehr eine Pfote auf eure Seite der Grenze setzt.«

Fels nickte leicht, doch Staub warnte: »Vogel, du kannst nicht für Taube sprechen.« »Ich werde mit ihr reden, wenn wir wieder zu Hause sind.« Staub neigte den Kopf. Aber Stachel sah mich immer noch mit gebleckten Zähnen an. Seine gelben Augen sprühten Funken, wie ein Feuer. »Ich werde mir diese Beleidigung von dir, einem Welpen, nicht gefallen lassen!«, fauchte er zornig.

Und dann eskalierte die Situation.

Stachel stürzte sich auf mich. Er sprang über die Grenze auf meinen Rücken. Ich krachte mit einem erschrockenen Quieken zu Boden und wurde unter schildpattfarbenen Fell begraben. Mit allen vier Pfoten wollte ich mich wehren, aber Stachel war einfach zu schwer.

Panik stieg in mir auf, als ich keine Luft mehr bekam.

Was, wenn er mich jetzt tötet?

Ich versuchte zu atmen, spürte allerdings, dass meine Schnauze nur Gras und Erde aufwühlte. Stachels große Klauen trampelten auf mir, seine Krallen rupften mir Fell aus. Doch da verspürte ich einen so tiefen Schmerz in meinem Nacken, dass ich am liebsten gejault hätte. Es fühlte sich an, als würde mein Nacken brennen, fast ausgerissen werden.

Erschüttert zog ich die Luft ein, musste aber würgen, weil ich trockene Erde in die Lungen bekam.

Um mich herum hörte ich erschrockene Rufe, wütendes Knurren und kampfbereites Jaulen.

Nun befanden sich unvermittelt noch mehr Wölfe auf mir. Mein Körper schmerzte von dem ganzen Druck, mein Nacken ausgeschlossen. Der tat schon allein genug weh.

Da merkte ich plötzlich etwas Nasses, meine Schulter hinunterlaufen. Ich erstarrte, als ich den Geruch von Blut unter dem alles verschlingenden Duft von Erde wahrnahm. Auf einmal war Stachel verschwunden. Ich wurde nicht mehr von einer schweren Kraft zu Boden gedrückt. Sofort wälzte ich mich auf die Seite, um Atemluft in meine Lungen zu pumpen. Blinzelnd öffnete ich die Lider. Zu benommen, um aufzustehen, sah ich Brise, mit großen, ängstlichen Augen vor mir. »Silber, alles in Ordnung?«

Blume trat neben sie. »Geht es dir gut?«

Ihr Blick glitt zu meinem Nacken. Sie sog erschrocken die Luft ein. »Sie ist verletzt!«, jaulte die braun-weiße Hüterin schockiert.

»Und das deinetwegen!«, knurrte Falke, der hinter den beiden Wölfinnen stand und zu unseren Rivalen hinübersah. Als ich seinem Blick mit den Augen folgte, sah ich Stachel, mit ausgerissenem Fell und blutenden Kratzern. Habicht und Staub führten den Wolf unter drohendem Knurren in ihren Teil des Waldes zurück, Vogel blieb bei uns. Zu meiner Überraschung auf unserer Seite der Grenze. »Fels, es tut mir wirklich leid. Stachel ist noch jung ...« Fels unterbrach sie mit einem wütenden Jaulen. »Stachel hat einen unserer Schattenläufer angegriffen und schwer verletzt! Glaubst du ernsthaft, ich würde eine lahme Entschuldigung akzeptieren?!«

Vogel blickte ihn mit ehrlich bedauerndem Blick an.

»Nein, das glaube ich natürlich nicht, Fels. Aber wäre es womöglich ...«

Wieder unterbrach unser Krallenmondwolf die Hüterin. »Eigentlich müssten wir für dieses Vergehen euer Rudel angreifen! Euch zum Kampf auffordern! Diese Sache wird ein Nachspiel haben, Vogel, das kannst du mir glauben!«

Mit einem wütenden Schnauben wandte er sich ab, schaute jedoch nochmal wutentbrannt zu der braunen Wölfin. »Und jetzt verschwinde in dein eigenes Gebiet, oder ich zerfetz´ dir den Pelz!«

Vogel nickte unterwürfig, trat mit geduckter Haltung über die Grenze und blieb stehen. Ich hatte erwartet, dass sie in den Büschen verschwand, doch sie sah mich an.

»Es tut mir leid, Silber. Stachel wird eine gerechte Strafe dafür bekommen, was er dir angetan hat.«

Bevor sie ging, fügte sie hinzu: »Gute Besserung.«

Ein drohendes Knurren von Fels, brachte Vogel dazu, zu gehen. Irgendjemand sagte noch etwas, aber nun waren meine Schmerzen so groß, dass sie schon wieder betäubend wirkten.

Langsam fiel ich in ein dunkles Loch ...

Dunkelheit. Ich sah nur Schwärze. Mir war kalt, doch gleichzeitig heiß.

Ich hatte keine Ahnung, was passiert war.

Wahrscheinlich lag ich einfach nur in meinem Bau und schlief. Vage erinnerte ich mich an den Wald, an einen rötlichen Pelz und einen Stachel. Oder einen stacheligen Pelz? Oder einen Wolf mit schildpattfarbenem Fell? Ich wusste es nicht mehr. Ich wusste noch, dass ich mit Klee jagen war, ein Eichhörnchen gefangen und eine Herde Rehe gefunden hatte.

Aber das war alles, woran ich mich zurückerinnerte.

War da nicht auch noch ein Vogel gewesen? Irgendetwas mit einem Vogel ... Hundedreck, ich habe es vergessen!