Wolfsbann - Lori Handeland - E-Book

Wolfsbann E-Book

Lori Handeland

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Beschreibung

Cassandra, die Besitzerin eines Voodoogeschäfts in New Orleans, reist im Auftrag einer okkulten Geheimgesellschaft nach Haiti. Sie soll die Wahrheit über einen uralten Fluch herausfinden, bevor sie sich selbst und die Menschen, die sie liebt, ins Verderben stürzt. Der Glücksjäger Devon Murphy erklärt sich bereit, Cassandra auf ihrer Reise zu begleiten, doch sein sinnlicher Charme beschwört noch ganz andere Gefahren herauf...

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Seitenzahl: 405

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Inhalt

Widmung

Prolog

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Impressum

LORI HANDELAND

Roman

Ins Deutsche übertragen von Patricia Woitynek

 

Für Miriam Kriss, die so vieles weiß und stets bereit ist, andere daran teilhaben zu lassen.

Deine glühende Leidenschaft für Bücher ist ansteckend.

Prolog

Letzte Nacht träumte ich von einem Strand auf Haiti. Dem He­ranrollen der Wellen und dem weichen, warmen Sand, der im Licht eines silbern funkelnden Mondes weiß schimmerte.

Der Traum setzt mir noch immer zu, denn genau an diesem Strand habe ich von allem, was ich gewesen war, Abschied genommen und die Frau willkommen geheißen, die ich werden würde.

In meinem früheren Leben war ich Hausfrau und Mutter gewesen, mit einem riesigen Haus in einer südkalifornischen Vorstadt. Ich fuhr einen SUV, der viel zu groß war, um damit eine Fünfjährige zum Ballettunterricht zu kutschieren; ich war mit einem Mann verheiratet, den ich für meinen Seelenverwandten hielt.

Doch dann ging mein Bilderbuchleben zum Teufel, und ich wurde eine Voodoo-Priesterin. Wenn ich mich verändere, dann richtig.

Ich bekam ein bisschen Unterstützung durch das Zeugenschutzprogramm. Allerdings waren es nicht die Beamten, die vorschlugen, ich sollte doch ein paar Jahre damit verbringen, eine uralte afrikanische Religion zu studieren, nach Haiti reisen, um meine Weihe zu erhalten, und mich anschließend Priesterin Cassandra, Eigentümerin und Betreiberin eines Voodoo-Ladens im French Quarter, nennen. Nein, das war ganz allein auf meinem Mist gewachsen.

Ich wählte den Namen Cassandra, weil er „Prophetin“ bedeutet. Voodoo-Priesterinnnen werden oft konsultiert, damit sie einen Blick in die Zukunft werfen, nur leider war ich nie auch nur einen Funken hellseherisch begabt. Daran änderte auch mein neuer Name nichts.

Voodoo ist eine fließende, anpassungsfähige und alles umfassende Religion. Ihre Anhänger glauben an Magie, Zombies und Liebeszauber. Mir gefällt so ziemlich alles an ihr, mit einer Ausnahme.

Ihr starrsinniges Beharren darauf, dass es keine Zufälle gibt.

Es fällt mir schwer, daran zu glauben, denn wenn es keine Zufälle gibt, bedeutet das, dass meine Tochter aus einem bestimmten Grund gestorben ist, aber ich kann einfach keinen finden. Und ich habe gesucht, das dürft Ihr mir glauben.

Ich bin nicht der einzige Mensch, der Probleme mit gewissen Dogmen seiner Religion hat, aber das heißt noch lange nicht, dass ich nicht gläubig wäre.

An diesem Strand auf Haiti habe ich mich von ganzem Herzen dem Voodoo verschrieben. Ich hatte eine sehr überzeugende Motivation.

Nämlich die, meine Tochter von den Toten zurückzuholen.

1

An einem sonnigen Donnerstagnachmittag stieg ich zum zweiten Mal in meinem Leben in Port-au-Prince aus dem Flugzeug. Viel hatte sich nicht verändert. Die flirrende Hitze waberte über den Asphalt und machte mich benommen.

Im Flughafengebäude eilte ein Mann auf mich zu, dessen gestärktes weißes Hemd zusammen mit seinen Khakihosen die Ebenholztönung seiner Haut unterstrich. „Priesterin Cassandra?“

Ich krümmte mich innerlich. Was in New Orleans ein gutes Geschäft gewesen war, klang im Schatten jener Berge, in denen die Wurzeln des Voodoo lagen, lediglich hochtrabend.

„Einfach nur Cassandra, bitte“, erwiderte ich.

Einen Moment lang wunderte ich mich, wie er mich wohl erkannt hatte. Aber vielleicht lieferte die Tatsache, dass ich die einzige Weiße an Bord gewesen war, einen ganz brauchbaren Anhaltspunkt. Und bestimmt waren meine blauen Augen und mein kurz geschnittenes, dunkles Haar hier auch eher eine Seltenheit. Doch was mich für gewöhnlich aus einer Menschenmenge heraushob, war die schneeweiße Strähne an meiner Schläfe.

Diese Kuriosität, die kurz nach dem Tod meiner Tochter aufgetreten war, hatte von ihrem anfänglichen Grau nach und nach sämtliche Pigmente verloren. Vermutlich hätte ich sie mithilfe einer Tönung verbergen sollen – immerhin steckte ich im Zeugenschutzprogramm –, doch die weiße Stelle half mir, mich an meine Tochter und an meine Mission zu erinnern. Als ob es einer Erinnerung bedurft hätte.

Die Strähne diente außerdem meiner Selbstkasteiung. Ich hatte das Grundlegende, das von einer Mutter erwartet wurde, nicht getan – ihr Kind vor allem und jedem zu beschützen. Und wenn es dessen eigener Vater wäre.

Der Mann vor mir neigte den Kopf. „Ich bin Marcel, Miss Cassandra.“

Er hatte einen französischen Akzent. Was seinen englischen Worten eine hübsche Klangfarbe verlieh, musste sich im Kreolischen, der Sprache der Insel, einfach grandios anhören.

Ich öffnete den Mund, um ihm meinen Nachnamen zu nennen, als mir einfiel, dass ich keinen mehr besaß. Nachdem ich gegen meinen drogendealenden Abschaum von einem Ehemann ausgesagt hatte, war ich zur Priesterin Cassandra mit nur einem einzigen Namen geworden – so wie Cher, The Rock oder Madonna.

Beim WITSEC – das amerikanische Akronym für Zeugenschutzprogramm – hatten sie nicht gerade amüsiert reagiert, als ich die Notwendigkeit eines Nachnamens schlichtweg nicht einsehen wollte. Aber natürlich gab es nur wenig, das sie amüsieren konnte. Also hatten sie einfach „Smith“ auf meine Akten gestempelt, aber dieser Name gehörte mir genauso wenig wie Cassandra.

„Monsieur Mandenauer hat Ihnen ein Zimmer im Hotel Oloffson reservieren lassen“, erklärte Marcel und schnappte sich die eine Tasche, die ich mitgebracht hatte.

Ich hatte mich kürzlich einer Gruppe von Agenten der Regierung angeschlossen, die man die Jägersucher nannte. Diese Spezialeinheit hat sich der Jagd auf Monster verschrieben, und ich gebrauche das Wort nicht als Euphemismus für die vielen Bestien in Menschengestalt, die eigentlich in einen Käfig gehören. Ich meine damit wirkliche Monster – und zwar jene Ungeheuer, aus deren Haut ein Fell sprießt, deren Zähne zu Fängen werden, die das Blut von Menschen trinken und nicht genug davon bekommen können.

Edward Mandenauer war mein neuer Boss. Er hatte mich nach Haiti geschickt, damit ich in Erfahrung brachte, wie man einen Zombie zum Leben erweckt. Ich liebte es, wenn meine persönlichen und beruflichen Interessen Hand in Hand gingen. In solchen Momenten war ich fast geneigt, der Es-gibt-keine-Zufälle-Theorie zuzustimmen.

„Hier entlang, bitte.“ Marcel deutete zum Ausgang des Flughafengebäudes.

Ich folgte ihm aus dem dämmrigen, kühlen Terminal in das helle, sonnige Gewusel von Port-au-Prince.

Obwohl Haiti entsetzlich überbevölkert ist– die neuesten Schätzungen sprechen von achteinhalb Millionen Einwohnern–, gab es in den Bergen trotzdem noch immer weite, unerforschte und nicht kartografierte Gebiete. Ich war überzeugt davon, dass jedes entdeckungswürdige Geheimnis irgendwo dort verborgen sein musste.

Ich beobachtete das menschliche Gewimmel, das die Hauptstadt prägte. Hier konnten ganz bestimmt keine Geheimnisse bewahrt werden.

Unter Missachtung der Schilder, die ihn aufforderten, genau dies zu unterlassen, hatte Marcel am Randstein geparkt. Er hielt mir die Beifahrertür auf, und ich stieg ein, wobei mir die abgestandene Luft im Inneren beinahe einen Erstickungsanfall bescherte. Nachdem er meine Tasche auf die Rückbank geworfen hatte, kletterte er hinters Steuer und jagte die Klimaanlage hoch, bevor er in einem Tempo losfuhr, das die Absicht zu verfolgen schien, jeden allzu langsamen Fußgänger zu zermalmen.

Nach ein paar sehr kurzen Minuten kamen wir mit quiet­schenden Reifen vor einem riesigen viktorianischen Haus zum Stehen. Das Hotel Oloffson war ursprünglich als Sommerresidenz des Präsidenten erbaut, während der ersten amerikani­schen Besatzung 1915 jedoch von der Marine als Lazarett benutzt und anschließend zum ersten Hotel Haitis umfunktio­niert worden.

Marcel ging mir voraus die Treppe hoch, die ins Foyer führte, und anschließend in eins der Verandazimmer mit Blick über die Stadt.

Er ließ meine Tasche mit einem Knall zu Boden fallen. „Monsieur Mandenauer hat für Sie ein Treffen mit einem Freund arrangiert.“

„Edward hat Freunde hier?“

Marcel warf mir einen Blick zu. „Er hat überall Freunde.“

Natürlich hatte er das.

„Dieser Freund wird Ihnen helfen zu finden, wonach Sie suchen.“

Ich runzelte die Stirn. „Sie wissen, was ich suche?“

„Es gab da ein kleines Problem mit einem Fluch, qui?“

Ich hätte die Bestie, die in New Orleans gewütet hatte, zwar nicht als „kleines“ Problem bezeichnet, aber wie es schien, war Marcel über das Grundlegende im Bilde.

Ich hatte in der Mondsichelstadt viele erstaunliche Dinge gesehen, aber nichts davon war so fantastisch wie ein Mensch, der sich in einen Wolf und wieder zurück verwandelt.

Werwölfe existieren wirklich. Man sollte eigentlich annehmen, dass dieses Wissen ein ehemaliges Mitglied des Elternbeirats ein wenig verstören würde, aber das war nicht der Fall. Denn wenn die Werwölfe der Legende real waren, ließ sich daraus nicht zwangsläufig folgern, dass dies auch für Zombies galt?

„Edward hat Ihnen gesagt, warum er mich hergeschickt hat?“

„Um den Fluch zu bannen, benötigt man die Voodoo-Königin, die ihn ausgesprochen hat, aber die ist tot.“

„Seit etwa hundertfünfzig Jahren.“

Marcel senkte die Stimme zu einem Flüstern. „Sie müssen sie aus dem Grab rufen. Als Zombie.“

Nun, einen schlurfenden, verwesenden, furchterregenden Alptraum zu erwecken, war nicht das, was mir vorschwebte. Auch wenn ein George-Romero-Nacht-der-lebenden-Toten-Typ von Zombie genug sein mochte, um Edward zufriedenzustellen, würde er mich nicht zufriedenstellen. Ich konnte mein eigenes Kind nicht dazu verdammen, zu einer solchen Kreatur zu werden.

Schon seit meiner letzten Rückkehr aus Haiti suchte ich nach einem Weg, Tod in Leben zu verwandeln. Aber das Einzige, was ich dabei entdeckt hatte, war noch mehr Tod. Dann waren mir immer häufiger Gerüchte von unglaublichen Mächten in diesen Bergen zu Ohren gekommen, von Fähigkeiten, die über die schiere Reanimation eines Leichnams hinausgingen. Jedoch hatte ich weder die Mittel besessen, nach Haiti zurückzukehren, noch die finanzielle Rückendeckung, um die Insel auf die Art zu durchkämmen, die nötig wäre, oder auch nur die Kohle, um den Preis zu bezahlen, den ein Geheimnis wie dieses zweifellos kosten würde.

Bis jetzt.

Ich schlenderte auf die Veranda und betrachtete die fernen Berge. Irgendwo dort draußen war ein Voodoo-Priester, der, zumindest jüngsten Gerüchten nach, den Toten neues Leben schenken konnte.

So als wären sie nie gestorben.

2

Kann man sich das vorstellen? Kein Tod mehr?

Es fiel mir selbst schwer, daran zu glauben, gleichzeitig wollte ich es unbedingt.

In New Orleans hatte ich oft große Reden darüber geschwungen, dass der Tod der Anfang und nicht das Ende wäre, eine neue Ebene, eine andere Welt, ein Abenteuer. Vielleicht stimmte das ja auch.

Trotzdem wollte ich meine Tochter zurück.

Ich wandte mich von der Aussicht ab und kehrte in das Zimmer zurück, wo Marcel wartete. „Wann werde ich Mandenauers Freund treffen?“

„Der Freund wird zu Ihnen kommen, Priesterin.“ Als er meinen finsteren Blick bemerkte, korrigierte er sich: „Miss Cassandra.“

„Wann?“, wiederholte ich.

„Wenn die Zeit reif ist.“ Mit diesem hilfreichen Hinweis öffnete Marcel die Tür und verschwand.

Ich machte mir nicht die Mühe auszupacken. Sobald ich die Richtung kannte, würde ich von hier abhauen.

Erschöpft und noch immer in meinem aus weiten Jeans, einem schwarzen Top und schwarzen Turnschuhen bestehenden Reiseoutfit schlief ich quer über dem Bett ein. Als ich aufwachte, war die Nacht hereingebrochen.

Die Geräusche von Port-au-Prince wirkten lauter in der stillen, marineblauen Dunkelheit. Wegen des Neumonds gab es am Himmel einen ähnlichen Mangel an funkelndem Silber, wie er in meinem Schmuckkästchen geherrscht hatte, bevor ich meinem ersten Werwolf begegnet war.

Meine beringten Finger tasteten nach dem glänzenden Silberkruzifix um meinen Hals, das ich nicht aus religiösen Gründen, sondern zum Schutz trug. Früher hatte ich geglaubt, dass es das Beste wäre, Schutzamulette im Verborgenen zu tragen, aber inzwischen hatte ich gelernt, dass es nichts schaden konnte, sie offen zu zeigen.

Ich drehte mich auf die Seite und erstarrte. Die Tür zu meinem Zimmer stand offen, und jemand war auf der Veranda.

„Hallo?“ Ich setzte mich langsam auf. „Ich bin Cassandra.“

„Priesterin.“

Das Wort war ein Zischen, das mich an Lazarus erinnerte, die Python, die ich in New Orleans zurückgelassen hatte. Er war mein einziger Freund gewesen, bis der Halbmond Diana Malone in mein Leben geführt hatte.

Sie war eine Kryptozoologin, die nach New Orleans geschickt worden war, um Gerüchten über einen Wolf in einer Gegend, in der es eigentlich keine Wölfe geben sollte, nachzugehen, und hatte die Überraschung ihres Lebens erlebt, als sie weitaus mehr als nur einen Wolf entdeckte. Sie war in meinem Laden aufgetaucht, und wir hatten, so wie Frauen dies manchmal tun, auf Anhieb Freundschaft geschlossen.

Der herumlungernde Schemen lungerte weiter herum, also sagte ich: „Kommen Sie doch bitte herein.“

Sobald die Worte heraus waren, glitt die Gestalt über die Türschwelle. Ich knipste das Licht an, dann spürte ich, wie sich meine Augen beim Anblick der Frau vor mir weiteten.

Sie war nicht nur groß und üppig gebaut, sondern gleichzeitig wunderschön und uralt. Ihre Haut hatte die Farbe von Milchkaffee, und ihre Augen waren so blau wie meine. Sie trug ein langes, fließendes purpurrotes Gewand und auf dem Kopf einen passenden Turban. Genau so sollte eine Voodoo-Priesterin aussehen. Zu dumm, dass mir das nie gelingen würde.

„Ich heiße Renee“, wisperte die Frau. „Du willst etwas über den Fluch des Halbmonds erfahren?“

Ihr Akzent klang französisch, ihre Aussprache nach Oberschicht. Sie mochte von hier stammen, aber Englisch hatte sie woanders gelernt.

Das in Kombination mit ihrer Haut- und Augenfarbe kennzeichnete Renee als Mulattin – was auf Haiti kein beleidigender Ausdruck ist, da er sich auf die Abkömmlinge der freien Farbigen der Kolonialzeit bezieht. Ihre Gemischtrassigkeit hatte ihnen damals nicht nur großen Wohlstand eingebracht, sondern auch die französischen Bürgerrechte.

Warum ich erwartet hatte, dass Mandenauers Kontakt ein Mann sein würde, wusste ich selbst nicht. Vielleicht lag es daran, dass er so alt und mir die Vorstellung eines weiblichen Freundes unheimlich war. So als würde man seine Großeltern in flagranti auf dem Küchenboden ertappen. Ich verspürte den Drang, mir eine Nadel ins Auge zu stechen, um dieses Bild loszuwerden.

„Äh, ja. Der Halbmond“, stammelte ich. „Stimmt es, dass ein Voodoo-Fluch nur von der Person aufgehoben werden kann, die ihn auferlegt hat?“

„Ja.“

„Und wenn diese Person tot ist?“

„Ah, ich verstehe.“ Sie neigte den Kopf zur Seite; der Turban verrutschte keinen Millimeter. Beeindruckend. „Du bist gekommen, um etwas über Zombies zu erfahren.“

Mir fiel kein Grund ein, warum ich ein Geheimnis daraus machen sollte. „Das stimmt.“

Auf Renees beinahe perfekter Stirn bildete sich eine Furche. Sie hatte kaum Falten, warum also war ich auf den Gedanken verfallen, sie wäre alt? Es musste mit ihren Augen zusammenhängen.

„Die Toten zu erwecken ist ein ernstes und gefährliches Unterfangen“, gab sie zu bedenken.

„Aber es kann vollbracht werden?“

„Selbstverständlich.“

Mir stockte der Atem. „Hast du so etwas schon mal getan?“

„Eine solche Handlung verstößt sowohl gegen die menschlichen als auch die göttlichen Gesetze.“

Mich kümmerte inzwischen weder das eine noch das andere. Es gab nichts, was das Gesetz mir antun könnte, das schlimmer wäre als das, was Gott mir schon angetan hatte.

Man sollte meinen, dass ich nach dem, was mit meinem Kind geschehen war, nicht länger an Gott glaubte. Eine Weile hatte ich das auch nicht getan. Ich hatte aus einem einzigen Grund – wegen Sarah – angefangen, Voodoo zu studieren, aber dann war ich von dem, was ich dabei entdeckte, verführt worden.

Voodoo ist eine komplexe Religion – adaptierbar, tolerant und monotheistisch. Vieles von dem, was ich gelernt hatte, ergab einen Sinn. Zum Beispiel, dass es das Böse nicht ohne das Gute geben kann.

Und ich hatte an das Böse geglaubt. Viel stärker, als ich je an etwas anderes geglaubt hatte.

Renee runzelte die Stirn, als hätte sie meine Gedanken gelesen. Aber vermutlich hatte sie einfach nur meinen Gesichtsausdruck richtig interpretiert. Das Einzige, wofür ich mich interessierte, war die Umkehr von Tod in Leben. Mit dieser Art von Besessenheit riskierte man seine geistige Gesundheit, aber obwohl mir das bewusst war, konnte ich nun mal nichts an dem ändern, was ich fühlte, was ich brauchte, wer ich war.

„Hast du je einen Toten erweckt?“, wiederholte ich.

„Nein.“

Ich seufzte enttäuscht.

„Aber ich kenne jemanden, der es getan hat.“

Die Hoffnung ließ mich schwindeln. „Wo kann ich diese Person finden?“

„Die Toten lebendig zu machen ist ein Akt, der ausschließlich von einem bokor vollzogen wird. Weißt du, was das ist?“

„Ein houngan, der den Geistern mit beiden Händen dient. Ein schwarzer Priester.“

„Es gibt nichts Absolutes“, erwiderte Renee. „Jeder houngan muss mit dem Bösen vertraut sein, um es bekämpfen zu können, genau wie jeder bokor irgendwann das Gute umarmt haben muss, um darauf hoffen zu können, es auszumerzen.“

Manchmal sehnte ich mich wirklich nach den Tagen von Schwarz und Weiß zurück oder zumindest nach der Illusion davon.

„Was, wenn man die Toten im Namen des Guten zurückholt?“, fragte ich.

„Auch dann kann nichts Gutes daraus erwachsen. Im Tod herrscht immerwährender Friede. Auch wenn die Lebenden ihn fürchten, hegen die Verstorbenen nicht den Wunsch zurückzukehren.“

„Hast du schon mit vielen Toten gesprochen?“, erkundigte ich mich schnippisch. „Haben sie dir das gesagt?“

„Der Tod kommt zu uns allen, wenn unsere Zeit abgelaufen ist. Zufälle gibt es nicht.“

„Daran glaube ich nicht!“

Meine Stimme war ein wenig zu laut, ein wenig zu schrill. Renee zog die Brauen hoch.

Ich musste mich in Acht nehmen. Die Frau war nicht dumm. Sie würde merken, dass ich noch aus einem anderen Grund als nur im Auftrag der Jägersucher nach Haiti gekommen war, und dann würde ich überhaupt nichts herausbekommen.

„Aber was ich persönlich glaube, ist nicht wichtig“, fuhr ich in ruhigerem Tonfall fort. „Edward möchte, dass ich einen Weg finde, den Fluch des Halbmonds zu bannen. Nach allem, was ich in Erfahrung bringen konnte, heißt das, dass die Voodoo-Königin, die den Fluch auferlegt hat, erweckt werden muss, damit sie ihn zurücknimmt. Kannst du mir dabei helfen zu lernen, wie man so etwas macht?“

Renee musterte mich mehrere Sekunden lang, dann hob sie ihre langen, grazilen Hände – die ebenfalls nicht sehr alt wirkten – und ließ sie wieder sinken. „Es gibt da einen Mann in Port-au-Prince …“

„Ich habe von einem in den Bergen gehört …“, unterbrach ich sie.

Renees Augen blitzten auf. „Das ist keiner, von dem du etwas lernen möchtest.“

„Wer ist er?“

„Namen haben Macht“, flüsterte sie. „Ich werde seinen nicht aussprechen.“

Ich teilte ihre Namen-haben-Macht-Einstellung. In den Legenden und Mythen konnten Flüche oft durch den Gebrauch eines Namen außer Kraft gesetzt werden, allerdings hatte sich das für mich in der Praxis nie bewahrheitet.

Man konnte einen Werwolf bei seinem menschlichen Namen rufen, bis einen nur noch Millimeter vom Tod trennten, und das Biest würde sich trotzdem nicht zurückverwandeln. Ich hatte gehört, dass der wichtigste Aspekt des Rituals, mit dem man einen Zombie erschafft, darin besteht, den Namen des Verstorbenen dreimal laut zu rezitieren, aber ich hatte nie feststellen können, ob dieses spezielle Namensspiel tatsächlich funktionierte.

„Ich muss diesen Mann treffen.“

„Nein, das musst du nicht. Um die Voodoo-Königin zurückzubringen, brauchst du nur das Ritual zu erlernen. Rufe sie für einen Moment aus ihrem Grab; sie wird tun, was du verlangst; anschließend schickst du sie zurück.“

„Und der Mann in den Bergen?“ Ich versuchte, mir meinen Eifer nicht anmerken zu lassen, bezweifelte jedoch, dass es mir gelang. „Er macht etwas anderes?“

Renee drehte sich zur Veranda um. Für eine Sekunde glaubte ich, dass sie einfach durch die Tür schlüpfen würde, und machte deshalb einen Schritt auf sie zu. Was wirklich idiotisch war, denn ich bezweifelte, dass ich sie von irgendetwas, das sie tun wollte, hätte abhalten können. Ich spürte eine gewaltige Kraft in ihr, die zwar nicht auf Voodoo beruhte, trotzdem aber vorhanden war.

Doch sie rührte sich nicht, sondern starrte nur auf die fernen, welligen Berge, denen der dunkle Nachthimmel die Farbe immergrüner Tannen verlieh.

„Hast du je von den Egbo gehört?“, fragte sie schließlich.

„Nein.“

„In den schlimmen Zeiten, als die Menschen Afrikas verschleppt und in die Sklaverei verkauft wurden, gab es einen Stamm, der als die Efik des alten Calabar bekannt war. Sie kamen, um den gesamten Sklavenhandel an der Küste zu kontrollieren.“

„Ein Stamm, der seine eigenen Leute verkauft hat?“ Davon hatte ich noch nie gehört.

„Nicht seine eigenen. In Afrika gab es, damals wie heute, Spaltungen, Kriege und Feindschaften. Ein Stamm kämpfte gegen einen anderen, bevor der Sieger seine Gefangenen anschließend an die Efik verkaufte, die sie wiederum an die weißen Händler verschacherten.“

Ich schüttelte den Kopf. Die Menschen waren, unabhängig von ihrer Hautfarbe, einfach nicht nett zueinander.

„Innerhalb der Efik gab es eine Geheimgesellschaft, die den Namen Egbo trug. Sie begann als ein Verbund von Richtern, doch am Ende hatten die Efik so viele Sklaven in ihrem Besitz, dass sie einen Weg finden mussten, sie unter Kontrolle zu halten. Die Egbo wurden ein gefürchteter Klan, der die kleinsten Vergehen durch grausame Strafen sühnte. Allein ihren Namen zu wispern, genügte, um die Gefangenen derart einzuschüchtern, dass sie sich freiwillig unterwarfen.“

Ich verstand, wieso das hilfreich gewesen sein musste. Sklavenrevolten waren damals eine beträchtliche Gefahr, vor allem, da die Zahl der Unterdrückten oft doppelt so hoch war wie die der Unterdrücker. Tatsächlich war Haiti Schauplatz des einzig erfolgreichen Sklavenaufstands der Geschichte gewesen.

„Das alles ist wirklich sehr interessant, Renee, aber was hat das Ganze mit mir zu tun?“

„Von dem Mann in den Bergen heißt es, er gehöre den Egbo an.“

3

„Warum sollte es denn heute noch Egbo geben? Schließlich gibt es keine Sklaven mehr.“

„Bist du da ganz sicher, Priesterin?“

„Sklaverei ist illegal. Oder etwa nicht?“

„Derlei Dinge sind nur dann illegal, wenn man sich erwischen lässt.“

„Nein. Sie sind immer illegal.“

Renee lächelte. „So jung und unschuldig, trotz des Kummers in deinen Augen.“

Ich hatte keine Lust, mit ihr oder irgendjemandem sonst über den Kummer in meinen Augen zu sprechen.

„Willst du mir etwa weismachen, dass der bokor ein Sklavenhändler ist?“

„Natürlich nicht. Das wäre definitiv illegal.“

Ich rieb mir die Stirn. „Worauf willst du dann hinaus?“

„Ich werde dir nicht von dem bokor erzählen. Ich werde dich auch nicht zu ihm bringen. Du wirst dich von dem Mann fernhalten. Er ist hinterhältig und, wie mir zu Ohren gekommen ist, nicht ganz bei Sinnen.“

Dumm nur, dass das genau nach der Person klang, mit der ich mich unbedingt treffen musste.

„In Ordnung.“ Ich ließ die Hand sinken. „Wann kann ich also lernen, wie man die Voodoo-Königin erweckt?“

„Ich werde einen houngan zu dir schicken.“

„Ich dachte, nur ein bokor sei dazu fähig, die Toten zurückzuholen.“

„Nur ein bokor würde sie zurückholen. Trotzdem wissen fast alle Priester und Priesterinnen, wie es geht.“

Wie schade, dass ich nie einen von ihnen kennengelernt hatte.

„Ist dir das Erwecken der Toten wert, dich zu verlieren?“, fragte sie leise.

Ich hob das Kinn und sah ihr direkt in die Augen. „Ja.“

Renee erwiderte meinen Blick einen Moment lang, dann nickte sie knapp und trat auf die Veranda. Als ich ihr schließlich nachging, war sie verschwunden.

Ich kehrte in mein leeres Zimmer zurück. Ich musste den bokor finden und Port-au-Prince verlassen, bevor Renee ahnte, was ich tatsächlich vorhatte, falls sie das nicht längst tat.

Sie würde mich bei Edward anschwärzen, und dann würde er herkommen oder einen seiner Leute schicken. Das Resultat wäre eine Menge Gebrüll und Diskussionen, anschließend würde man mich zurück nach Hause schleifen.

Ich kannte Edward zwar nicht gut, aber in diesem Punkt war ich mir sicher. Er mochte es nicht, wenn seine Befehle missachtet wurden. Man hatte mich nicht ausgesandt, damit ich mich mit einem vermutlich geistesgestörten, gewalttätigen Mann traf. Dafür war ich nicht ausgebildet.

Man würde mich von der Sache abziehen; Edward würde einen seiner Lakaien herschicken, und damit würde die einzige Hoffnung, die ich hatte, meine Tochter zurückzubekommen, in einem glühenden Feuerball explodieren – die Standardmethode der Jägersucher, mit Problemen umzugehen. Andererseits war es zwar so, dass Werwölfe explodierten, wenn man mit Silber auf sie schoss, aber wie die Wirkung bei bösen Voodoo-Priestern wäre, wusste ich nicht.

Trotzdem durfte ich kein Risiko eingehen, bis ich herausgefunden hatte, was ich wissen musste, deshalb schloss ich meine Tür ab und schlich mich aus dem Hotel.

Geld regiert die Welt, und dank Edward verfügte ich über ein ganz nettes Sümmchen. Knapp zwei Stunden und mehrere Hundert ausgegebene Dollar später betrat ich eine Bar in einem verwahrlosten Viertel von Port-au-Prince – obwohl der Großteil der Stadt bestenfalls schäbig war.

Verstopfte Straßen, riesige Schlaglöcher, offene Abwasserkanäle und brennende Müllhaufen – mir wäre mulmig zumute gewesen, hätte ich mir viel aus meinem Leben gemacht. Aber da ich mir immerhin etwas aus meiner Tochter machte, trug ich das Messer, das ich dank Edwards Einfluss nach Haiti hatte einschleusen können, in einem Futteral an meiner Taille. Ich war nicht gut im Umgang mit Schusswaffen, aber mit dem Messer war das eine andere Sache.

Nachdem meine ganze Welt in die Brüche gegangen war, hatte ich mich verständlicherweise ziemlich nervös gefühlt. Also hatte ich nicht nur ein wenig Karate erlernt, sondern auch, wie man ein Messer handhabt. Ich konnte das Ding sogar so werfen, dass es im Flug um seinen eigenen Schwerpunkt rotierte, und dabei acht von zehn Malen ein bestimmtes Ziel an einem Baum treffen. Sollte mich also jemals ein Baum angreifen, wäre ich bestens gewappnet.

Während der letzten zwei Stunden hatte ich herausgefunden, dass es keinen einzigen Haitianer gab, der sich in die Nähe des bokor wagen würde. Aber Devon Murphy würde es tun. Wenn der Preis stimmte, würde er angeblich sogar seine Seele verkaufen.

Obwohl es mir bei dieser Beschreibung kalt den Rücken runterlief – mein Exmann war derart geldbesessen gewesen, dass er alles wirklich Wertvolle einfach weggeworfen hatte –, brauchte ich genau so einen Mann, damit er mich in die Berge führte.

Im Inneren des Chwal Lanme – der kreolische Ausdruck für Seepferdchen, falls das Zeichen auf dem Schild irgendeinen Hinweis lieferte – hing ein überwältigender Bierdunst in der Luft, und es herrschte dichtes Gedränge. Mit dem Teakholztresen und dem Steuerrad, das als Kronleuchter diente, erinnerte die Kneipe an eine alte Seemannsspelunke. An einem ansonsten unbesetzten Tisch kauerte mit halb geschlossenen Augen und einem halb vollen Bierkrug vor sich ein Weißer.

„Murphy?“, fragte ich.

Seine dunklen Augen schimmerten wie schwarze Perlen in seinem aufgedunsenen Gesicht. Seinem struppigen, grauen Bart nach war er mindestens fünfzig, wenn nicht sogar sechzig. Aber solange er wusste, wo der bokor lebte, konnte er meinetwegen auch hundert sein.

„Gestatten Sie?“ Ich zog mir einen Stuhl heran.

Er kippte den letzten Rest seines Biers runter, knallte das Glas auf den Tisch und zeigte darauf.

Ich hob die Hand, um Nachschub zu ordern, dann setzte ich mich. Nachdem der Kellner einen frischen Krug gebracht und neben mir gewartet hatte, bis ich bezahlte– anschreiben zu lassen schien in einer Bar wie dieser keine Option zu sein–, kam ich direkt zur Sache. „Man hat mir gesagt, dass Sie der Richtige wären, um mich in die Berge zu führen.“

Murphy grunzte.

„Wie viel verlangen Sie dafür, mich zum bokor zu bringen?“

Seine weißen, buschigen Brauen kollidierten, während er das Bier in einem einzigen langen Zug leerte. Er öffnete den Mund; kein Laut drang hervor. Seine Augen rollten nach hinten, er verlor das Bewusstsein und sackte nach vorn, bis seine Stirn die Tischplatte küsste.

„Mistkerl“, fluchte ich.

„Ist das etwa die Art, wie eine Dame sprechen sollte?“

Ich drehte mich um, und mir stockte der Atem. Der Mann in der Tür war …

Mein Gehirn suchte fieberhaft nach dem passenden Wort; das einzige, das mir einfiel, war exotisch. Das Haar fiel ihm bis auf die Schultern. Von Natur aus hellbraun, war es von der Sonne fast blond gebleicht und mit Perlen und Federn unbekannter Herkunft geschmückt.

Seine Haut war bronzefarben getönt. Polierte Goldreifen umrankten seine wohlgeformten Bizepse, die aus den abgeschnittenen Ärmeln seines ehemals weißen T-Shirts ragten. Seinen Khakihosen war unterhalb der Knie eine ähnliche Behandlung zuteilgeworden, sodass seine sehnigen Waden ebenso nackt waren wie seine Füße.

Aber was mich wirklich faszinierte, war sein Gesicht. Mit seinen scharf gemeißelten Wangenknochen, dem kantigen Kinn und diesen Augen, deren Farbe irgendwo zwischen Blau und Grau changierte, sah er einfach umwerfend aus.

Als er den Kopf zur Seite legte, blitzte in seinem linken Ohr ein Ring auf. Unwillkürlich fasste ich mit der Hand an mein eigenes durchstochenes, aber schmuckloses Ohrläppchen.

Er lächelte, und dieser Ausdruck erinnerte mich an plündernde Piraten und Errol Flynn.

„Suchen Sie nach mir, mademoiselle?“

Seine ersten Worte hatten irisch geklungen; dann war sein Akzent nach Frankreich abgewandert. Ich sah zu dem verlotterten Betrunkenen, der vor mir über dem Tisch hing. „Das hoffe ich.“

„Womit wir schon zu zweit wären. Kommen Sie in mein Büro.“

Er verschwand durch die Tür nach draußen. Ich zögerte gerade lange genug, um mit den Fingerspitzen über den Griff meines Messers zu streichen, dann folgte ich ihm.

Als ich in die schmale Gasse trat, streichelte die Hitze einer tropischen Nacht mein Gesicht. Der Mann lehnte an einem Maschendrahtzaun, der das Chwal Lanme von irgendeinem anderen, nicht genau zu erkennenden Geschäft abtrennte. Er setzte sich eine Bierflasche an die Lippen und trank.

Fasziniert beobachtete ich, wie seine Kehle arbeitete und ein einzelner Tropfen seinen Hals hinabrann, bevor er im Ausschnitt seines T-Shirts verschwand. Ich schluckte, und dieses Geräusch durchdrang hörbar die Stille, die sich zwischen uns ausdehnte.

Er wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und bot mir die Flasche an. Die Vorstellung, meine Lippen würden dieselbe Stelle berühren wie seine, brachte mich derart aus der Fassung, dass ich stotterte: „We-wer sind S-sie?“

„Wer wollen Sie, dass ich bin?“

„Was?“

„Für den richtigen Betrag werde ich sein, wer oder was auch immer Sie wollen.“

Sein Akzent klang jetzt amerikanisch. Er brachte mich völlig durcheinander.

„Ich verstehe nicht.“

Er hob die Bierflasche, trank und ließ sie wieder sinken. „Nach wem suchen Sie?“

„Devon Murphy.“

„Dann sind Sie an den richtigen Ort gekommen.“

„Sie sind Murphy?“

„Haargenau.“

Ich war mir inzwischen nicht mehr sicher, ob ich darüber glücklich sein sollte oder nicht.

Er kam einen Schritt näher. Ich wich einen Schritt zurück. Meine Schultern streiften die Außenmauer der Kneipe. Er überragte mich, was nicht schwierig war, denn ich war nicht sehr groß, aber ich schätzte ihn auf über einen Meter achtzig durchtrainierter Muskelmasse.

Meine Hand glitt zu meinem Messer, aber noch bevor sie es erreichte, schloss er die Finger um meine, und unsere Blicke trafen sich

„Nein“, sagte er leise und drückte bis knapp an die Schmerzgrenze zu, bevor er losließ.

Er selbst bewegte sich nicht, aber sein Körper war so nah, dass ich das Gefühl hatte, er würde mich berühren. Das Einzige, was ich hätte tun müssen, war, mein Knie blitzschnell nach oben zu reißen, und er würde weggehen – oder vielleicht auch zu Boden gehen –, aber ich tat es nicht. Weil ich es nicht wollte.

Was war es nur, das mich an Devon Murphy derart anzog? Seine Schönheit? Seine Rätselhaftigkeit? Seine Muskeln?

Vielleicht hing es auch einfach nur mit meiner sexuellen Enthaltsamkeit zusammen. Seit ich die Wahrheit über meinen Ehemann erfahren hatte, war ich mit keinem Mann mehr zusammen gewesen. Und zuvor hatte es immer nur Karl gegeben. Ich hatte geglaubt, innerlich tot zu sein, aber offensichtlich war das ein Irrtum gewesen.

„Treten Sie zurück“, befahl ich.

Seine Augen weiteten sich; seine Lippen zuckten, aber immerhin bewegte er sich. Plötzlich bekam ich wieder Luft. Nur leider war das Einzige, was ich riechen konnte, er.

Warum stank er nicht, wie man das von einem halb nackten, Bier süffelnden Kneipengänger erwarten würde? Warum duftete er nach Seife, Regen und Sonnenschein? Ich war süchtig nach Sonnenschein.

Ich schüttelte so heftig den Kopf, dass es wehtat. Als ich wieder klar sehen konnte, stand Murphy unverändert hinreißend noch immer direkt vor mir. Ich dachte an meine Tochter und an den Grund, warum ich hier war.

„Ich habe gehört, Sie kennen sich in den Bergen aus.“

Er zuckte mit den Schultern. „So gut, wie man sich eben in ihnen auskennen kann.“

„Würden Sie mich dort hinbringen?“

„Das hängt davon ab, wo genau dieses dort liegt.“

„Das weiß ich selbst nicht. Ich weiß nur, wonach ich suche.“ Ich presste die Lippen zusammen. „Besser gesagt, nach wem.“

„Sie suchen nach jemandem in den Bergen? Ich habe gar nicht mitbekommen, dass irgendwelche Touristen vermisst werden.“

„Sehe ich für Sie wie eine Touristin aus?“

„Abgesehen von dem Messer würde ich sagen, ja.“

„Ich bin aber keine.“

Er hob kapitulierend die Hände. „Mein Fehler. Auf Haiti laufen nun mal nicht sehr viele zierliche, weiße Frauen rum. Also, was sind Sie dann?“

„Das geht Sie nichts an. Das Einzige, was Sie wissen müssen, ist, dass ich zahlen kann, wenn Sie mich hinbringen.“

„Wohin?“

„Zum bokor.“

Sein Mund wurde angespannt, während das Licht in seinen Augen noch heller erstrahlte. „Mezareau?“

Trotz der nächtlichen Hitze überfiel mich ein plötzliches Frösteln, so als würde jemand meinen Rücken mit Blicken durchbohren. Ich sah mich um, obwohl ich wusste, dass niemand außer uns hier war.

Gleichzeitig froh, nun endlich den Namen des Mannes zu kennen, schüttelte ich meine Nervosität ab. „Sie kennen ihn?“

„Nicht persönlich, nein.“

„Aber Sie wissen, wo er sich aufhält?“

Sein Ausdruck wurde wachsam. „Vielleicht.“

Ich musste mich zwingen, nicht zu grinsen. „Wie viel?“

„Hunderttausend.“

Ich lachte. „Dollar? Netter Versuch.“

Er zuckte mit den Achseln. „Es ist Ihre Entscheidung.“

„Man hat mir gesagt, dass Sie für Geld alles tun.“

Doch anstatt beleidigt zu reagieren, lächelte Murphy einfach nur.

„Was ist so schlimm an den Bergen?“, fragte ich. „Warum will niemand dorthin gehen?“

„Es sind nicht die Berge, die die Menschen fürchten, es ist Mezareau. Er … tickt nicht ganz richtig.“

„Wer tut das schon?“

Murphy legte wieder den Kopf schräg, und ich starrte fasziniert auf seinen funkelnden Ohrring. Hypnotisierte mich das Ding etwa? „Was ist es, das Ihre Augen so traurig und ihre Stimme so scharf gemacht hat, Miss …?“

„Cassandra.“

Er wartete auf meinen Nachnamen, aber da konnte er lange warten.

„Hmm“, murmelte er schließlich. „Geheimnisse, ma chère?“

Dieses Mal schwang in seinem Französisch ein irischer Akzent mit.

„Wie machen Sie das?“, fragte ich.

Er breitete die Hände aus und versuchte, unschuldig zu wirken, jedoch erfolglos. „Ich habe gar nichts gemacht.“

„Sie wechseln alle paar Minuten den Akzent. Woher kommen Sie?“

„Von irgendwo. Von nirgendwo. Von hier.“

„Geheimnisse?“, spottete ich.

„Sie verraten mir Ihre“, sagte er augenzwinkernd, „dann verrate ich Ihnen meine.“

„Eher friert die Hölle zu.“

„Sie entblößen sich also nicht gern?“

„Nein, weil mich das jedes Mal in Schwierigkeiten bringt.“

Er grinste, und meine Wangen wurden heiß.

„Abgesehen davon bezweifle ich, dass Sie mir tatsächlich etwas sagen würden“, ergänzte ich. „Zumindest nicht die Wahrheit.“

Er legte sich in einer theatralischen Geste die Hand aufs Herz. An seinem Daumen prangte ein Silberring. „Sie trauen mir nicht?“

„Nein.“

„Und trotzdem wollen Sie, dass ich Sie in den tiefsten Urwald führe.“

„Es gibt hier keinen Urwald mehr.“

Der Großteil Haitis war von einem vollständigen Mangel an Bäumen gekennzeichnet. Durch die hundertprozentige Abhängigkeit von Holz als Energiequelle waren die Bestände des Landes noch vor dem zwanzigsten Jahrhundert stark dezimiert worden. Es gab nur noch sehr wenige Wälder, ausschließlich in Nationalparks.

„War nur so eine Redensart.“ Murphys Mundwinkel wölbten sich nach oben. „Woher wollen Sie eigentlich wissen, dass ich nicht einfach Ihr Geld nehme und mich aus dem Staub mache?“

„Weil ich es Ihnen erst geben werde, sobald wir zurück sind.“

„Und woher weiß ich, dass Sie es überhaupt haben?“

„Ich habe es.“

Er schüttelte den Kopf. „Ich hab eine bessere Idee.“

Er musterte mich von oben bis unten, und ich verdrehte die Augen. „Denken Sie sich eine andere aus.“

Er lachte. „Nur leider scheint sich genau diese in meinem Kopf festgesetzt zu haben.“

„Typisch Mann.“

„Ja. Wir sind schon ein abscheulicher Haufen.“

Nun hörte er sich wie ein Engländer an. Ich widerstand dem kindischen Bedürfnis, ihn gegen das Schienbein zu treten. „Gibt es irgendjemanden sonst, den ich anheuern könnte?“

Er lehnte sich wieder gegen den Zaun und verschränkte die Arme. Seine Muskeln schienen die goldenen Reifen sprengen zu wollen. Sein Schmuck, die Perlen und Federn hätten ihm etwas Weibisches verleihen müssen, aber absurderweise bewirkten sie genau das Gegenteil.

„Woran denken Sie?“, murmelte er.

Ich machte mir nicht die Mühe zu antworten. Ich hatte bereits die ganze Stadt durchkämmt. Alle fürchteten sich vor dem bokor, sofern sie überhaupt zugaben, dass sie wussten, wer das war oder dass auf der Insel einer lebte. Die einzige Person, die nicht ängstlich, sondern lediglich wachsam zu sein schien, war Murphy. Darüber hinaus war er der Einzige, der den Namen des bokor kannte und eine Ahnung zu haben schien, wo er zu finden war.

Was waren schon hunderttausend Dollar verglichen mit dem Leben meines Kindes und dem Ende des Halbmond-Fluchs? Ich war überzeugt, dass Edward einverstanden sein würde. Ich wollte gerade den Mund öffnen, um Murphys Bedingungen zuzustimmen, als er zuerst sprach. „Sie sagen mir, warum Sie Mezareau treffen wollen, und ich bringe Sie gegen eine vernünftige Bezahlung zu ihm.“

Ich schlug die Zähne zusammen und verfehlte dabei nur knapp meine Zunge. „Warum?“

Er zuckte mit den Schultern und sah weg. „Sie wirken verzweifelt.“

Und er wirkte nicht wie ein Typ, den so etwas interessierte.

„Was verstehen Sie unter vernünftig?“

„Zehntausend plus Spesen.“

Das war vernünftig. Wenn man außer Acht ließ, dass ich vor einem Fremden einen Seelenstriptease hinlegen sollte.

„In Ordnung“, sagte ich schließlich und reichte ihm die Hand.

Er nahm sie mit Fingern, die so langgliedrig, geschmeidig und gelenkig waren, dass sie mich an einen Klavierspieler denken ließen, bis dann dicke Schwielen gegen meine Haut rieben. Mein Blick huschte über die zahllosen Schnitte, Kratzer und Narben, die seine Hand bedeckten.

Murphy hielt meine Hand zu lange fest, und als mir bewusst wurde, dass ich es zuließ, zog ich sie abrupt weg; ich machte mir nicht die Mühe, mein Unbehagen zu verbergen, während ich meine kribbelnden Finger an meiner Jeans abwischte.

Er schien nicht gekränkt zu sein. Nicht, dass es mich interessiert hätte. Immerhin arbeitete er jetzt für mich.

„Wollen Sie es hier draußen machen oder lieber drinnen?“

Ich schnappte nach Luft, während mir verschiedene Versionen von „es machen“ durch den Kopf schossen.

„Wa-was denn machen?“

Sein Schmunzeln verriet, dass er mich absichtlich in die Irre geführt hatte. Diese Expedition würde nicht einfach werden, aber das hatte ich auch nicht erwartet.

„Sie wollten mir doch erzählen, warum Sie so scharf drauf sind, den bokor zu treffen.“

„Das stimmt.“ Ich ging in Richtung Tür. „Allerdings habe ich nicht gesagt, wann.“

4

Ich rechnete damit, dass Murphy mir Wortklauberei vorwerfen würde, doch stattdessen murmelte er: „Touché“, und folgte mir in die Bar.

„Wann können wir aufbrechen?“, fragte ich.

„Sobald ich den Proviant besorgt habe.“

„Ich soll Ihnen also einfach das Geld aushändigen und darauf vertrauen, dass Sie zurückkommen werden?“

Verärgerung zuckte über sein Gesicht. „Wenn ich einen Job annehme, dann erledige ich ihn auch; andernfalls würde ich in einem Land wie diesem nicht lange überleben.“

In Dritte-Welt-Ländern wie Haiti herrschte tatsächlich oft eine Knüpft-den-Pferdedieb-auf-Mentalität. Nicht, dass ich es den Menschen hätte verübeln können. Sie besaßen sehr wenig, und dieses wenige beschützten sie gnadenlos. Im wahrsten Sinne des Wortes.

„In Ordnung.“ Ich fasste unter mein T-Shirt, um etwas Geld aus meiner Gürteltasche zu holen. Murphys blaugraue Augen folgten jeder Bewegung.

„Wann können wir also aufbrechen?“, wiederholte ich.

„Bei Sonnenaufgang.“

Meiner Armbanduhr zufolge war es ein gutes Stück nach Mitternacht.

„Werden Sie Träger engagieren?“

„Ich würde keine bekommen.“ Er sah mich scharf an. „Wollen Sie immer noch losziehen?“

„Nichts könnte mich aufhalten.“

Er starrte mir noch ein paar Sekunden länger ins Gesicht, so als versuchte er, mein Innerstes zu ergründen. Viel Glück, Kumpel.

„In Ordnung, dann treffen wir uns bei Sonnenaufgang.“

Ich kehrte ins Hotel Oloffson zurück und weckte den Geschäftsführer. Edward hatte dafür gesorgt, dass ich über Bares verfügen konnte, wann immer ich es brauchte. Ich nahm eine Geldanweisung über die vereinbarte Summe vor, dann ging ich in mein Zimmer.

Kaum dass ich das Licht angeknipst hatte, wusste ich, dass jemand hier gewesen war. Womit ich nicht das Zimmermädchen meine. Die malen nämlich normalerweise keine Zeichen an die Wand über dem Bett.

Hellrot. Könnte Blut sein.

Ich durchquerte den Raum und strich mit dem Zeigefinger über den Putz. Es war vermutlich auch Blut.

Ich hatte nicht die Absicht, die Polizei zu verständigen. Ich hatte ebenso wenig die Absicht, hier rumzusitzen und auf eine Untersuchung zu warten. Ich musste mich mit Murphy treffen, und die Cops würden mich nicht gehen lassen, sobald sie das hier sahen.

Auf Haiti wusste jedes Kleinkind, dass man, indem man die Symbole eines Sargs und eines Kreuzes zeichnete, den loa Baron Samedi herbeirief, der gleichzeitig der Lord des Todes und der Pförtner zur Anderwelt war.

Loas sind die unsterblichen Geister des Voodoo. Sie bilden eine Brücke zwischen Gott – Gran Met genannt – und der Menschheit, wobei sie vergleichbar sind mit den Heiligen, Engeln und Teufeln des Katholizismus.

Und durch einen Zufall, der vermutlich keiner ist, dient Baron Samedi zudem als Wächter über die Metamorphose von Toten in Zombies sowie die Gestaltwandlung von Tieren.

Auch wenn ich nicht wusste, was das zu bedeuten hatte, wusste ich eines definitiv: Nämlich, dass ich hier rauswollte, bevor ich es herausfinden würde. Ich wandte mich von der besudelten Wand ab, als etwas unter meinem Schuh knirschte.

Erdklumpen bedeckten den Boden von der Tür bis zum Bett. Ich war in dem Zeug rumgelatscht, seit ich das Zimmer betreten hatte.

Das Wispern Tausender Stimmen umfing mich. Fiebrig und benommen taumelte ich zurück. Irgendjemand hatte die Toten zu mir geschickt.

Nein, nicht irgendjemand. Nur ein bokor konnte diesen meistgefürchteten aller bösen Zauber wirken.

Der Magier sammelt eine Handvoll Friedhofserde für jeden Geist, der vom Körper seines Opfers Besitz nehmen soll. Die Menge, die auf meinem Fußboden verstreut lag, erklärte, warum ich so viele Stimmen hörte, warum ich diese unzähligen Hände spürte, die mich stießen, an mir zerrten, mich malträtierten, diesen Druck in meinem Kopf, als die Geister versuchten, in mein Bewusstsein einzudringen.

Falls sie Erfolg hätten, würde ich verrückt werden und schließlich sterben. Die einzige Möglichkeit, einem solchen Zauber ein Ende zu setzen, bestand in der Intervention eines mächtigen Voodoo-Priesters.

Moment mal! Ich war ja selbst eine Priesterin.

Mich mit aller Kraft darauf konzentrierend, den Schmerz, die Stimmen und meine Verwirrung zu ignorieren, suchte ich nach einer Antwort und einem Ausweg.

Jeder loa besitzt eine helle und eine dunkle Seite oder, anders ausgedrückt, Rada und Petro. Sich an die dunkle Seite zu wenden, erfordert Blut, üblicherweise das eines großen Tiers, oft eines Schweins.

Mein Blick glitt zu den Zeichnungen an der Wand. Ich war mir sicher, dass der Spender dieses Blutes ehemals gegrunzt hatte. Der Baron Samedi ist ein Ghede, ein Totengott. Um ihn fortzuschicken, musste ich einen Geist des Lebens herbeirufen, und es gab keinen mächtigeren als Ayida Wedo, die Göttin der Fruchtbarkeit. Praktischerweise war sie gleichzeitig die Ehefrau meines Schutzgeistes Damballah. Es hatte mir noch nie Probleme bereitet, einen von beiden herbeizurufen, manchmal tat ich es sogar, ohne es zu wollen.

Leise darum betend, dass das heute Abend nicht anders sein würde, griff ich in meine Hosentasche und seufzte erleichtert, als sich meine Finger um das kleine Kreidestück schlossen, das ich dort aufbewahrte.

Gegen den Schmerz und die wahnsinnigen Visionen von Blut, Dunkelheit und Isolierung, die durch meinen Kopf zuckten, ankämpfend, zeichnete ich einen Regenbogen auf den Fußboden – das Symbol Ayida Wedos, die über das Reich neuen Lebens herrscht.

„Hilf mir“, flüsterte ich.

Die Geister in meinem Kopf begannen zu kreischen, bis mir das Trommelfell zu platzen drohte. Einen Moment lang glaubte ich, dass ich sie lediglich wütend gemacht hatte, als plötzlich Licht auf mein Gesicht fiel.

Ein Regenbogen spannte sich durch mein Hotelzimmer; seine Farben waren so leuchtend, dass ich nichts anderes sehen konnte als sie. Leise Musik erstickte die gellenden Stimmen, und Frieden erfüllte mich. Ayida Wedos Regenbogen war die Ruhe, die auf jeden Sturm folgt.

Das Wispern und der Schmerz wurden schwächer. Als die Farben verschwanden, verschwanden auch die blutigen Symbole an der Wand.

Sobald ich zu zittern aufgehört hatte und wieder normal atmen konnte, rief ich Edward an. Obwohl er es vorzog, per E-Mail auf dem Laufenden gehalten zu werden– der alte Mann war praktisch besessen vom Internet–, hatte ich gegen seinen Vorschlag, ein Laptop nach Haiti mitzunehmen, mein Veto eingelegt. Was hätte ich damit anfangen sollen, während ich in den Bergen herumkletterte?

Da ich auch kein Handy dabeihatte – hier würde sowieso keins funktionieren –, rief ich ihn vom Zimmer aus an.

„Mandenauer“, bellte er. Edward hielt sich nie mit einem „Hallo“ oder einem „Adieu“ auf.

„Sir.“ Ich widerstand dem Drang, Haltung anzunehmen und die Hacken zusammenzuschlagen. Edward hatte auf mich immer diesen Effekt.

„Haben Sie die Antwort entdeckt?“

Um ein Haar hätte ich entgegnet: SagenSiemirnochmaldieFrage?, nur dass Edward ein erhebliches Humordefizit be­saß.

Ohne Zweifel war er durch seine Tätigkeit als Spion im Zweiten Weltkrieg schon vor langer Zeit von jedem Bedürfnis zu lachen kuriert worden, und die letzten sechzig Jahre der Monsterbekämpfung hatten seine Gemütsverfassung auch nicht gerade aufgehellt. Man hatte mir zwar gesagt, dass er in letzter Zeit etwas fröhlicher geworden sei, aber es fiel mir schwer, das zu glauben.

„Ich bin noch nicht mal einen Tag hier.“

„Was haben Sie also herausgefunden?“

„Es gibt da einen Mann, der weiß, wie man die Toten auferstehen lassen kann.“

Es war überflüssig, Edward zu sagen, dass der Kerl das personifizierte Böse, zumindest aber leicht irre sein könnte oder dass ich plante, mich von einem Goldgräber in die Berge führen zu lassen, um ihn aufzuspüren. Genauso wenig Sinn hatte es, ihm zu berichten, dass ich bedroht worden war. Was hätte er schon unternehmen können?

„Ist irgendetwas passiert?“, bohrte er nach.

Wie kam es bloß, dass er immer alles wusste? Vielleicht lag es an seiner Altersweisheit, allerdings hatte ich da so meine Zweifel. Manchmal fragte ich mich, ob Edward wirklich menschlich war.

„Mir geht es gut“, antwortete ich, obwohl er sich danach nicht erkundigt hatte.

„Erzählen Sie es mir, Cassandra.“

Etwas in seiner Stimme bewirkte, dass meine Augen zu brennen begannen. Also platzte ich, bevor ich in Tränen ausbrechen und meine Jägersucher-Mitgliedskarte aufs Spiel setzen konnte, mit dem heraus, was ich in meinem Zimmer entdeckt und dagegen unternommen hatte.

„Sie sind ganz sicher, dass Sie sich die Symbole nicht nur eingebildet haben? Hinter Ihnen liegen eine lange Reise und ein hartes Leben.“

Ich erstarrte. Niemand sollte von meinem Leben wissen. „Was haben Sie da gesagt?“

„Dachten Sie wirklich, dass ich jedem x-Beliebigen erlauben würde, für mich zu arbeiten? Dass ich keine Recherchen über die Jahre anstellen würde, bevor Sie in New Orleans auftauchten?“

„Die haben versprochen …“

„Das versprechen sie immer.“

Eigentlich sollten nur der Bundesbeamte, der meinen Umzug organisiert hatte, und vielleicht noch sein Boss wissen, wer ich wirklich war und wo ich jetzt lebte, aber Edward verfügte über einflussreiche Kontakte. Es gab praktisch nichts, das er nicht tun oder eruieren konnte. Weshalb überraschte es mich also, dass er meine wahre Identität entdeckt hatte?

„Trauen Sie niemandem, Cassandra. Dann leben Sie länger.“

Ich runzelte die Stirn. Seine Warnung schien prophetisch zu sein; aber was war das auf dieser Insel nicht?

„Also soll ich auch Ihnen nicht trauen?“

„Das ist Ihre Entscheidung. Aber Sie müssen wissen, dass ich alles opfern werde, um die Monster zu vernichten.“

„Mit ‚alles‘ meinen Sie ‚jeden‘.“

„Selbstverständlich.“

Zumindest war er ehrlich. Abgesehen davon war ich die Letzte, die mit Steinen werfen sollte. Ich würde alles und jeden opfern, um meine Tochter wiederzubekommen.

„Um wieder auf diesen Besuch der Toten zurückzukommen“, fuhr Edward fort. „Was hat das Ganze zu bedeuten?“

„Entweder gibt es hier einen sehr mächtigen bokor, der über meine Anwesenheit nicht allzu glücklich ist, oder ich habe den Verstand verloren.“

„Wofür entscheiden Sie sich?“

Ich fuhr mit der Schuhspitze durch die Erde auf dem Fußboden, dann musterte ich meinen Zeigefinger. Das Blut war an meiner Haut getrocknet.

„Bokor.“

„Das wäre auch meine Einschätzung. Aber woher weiß dieser Mann überhaupt, dass Sie da sind?“

Ja, woher bloß?

„Wie heißt er?“, fragte Mandenauer, und da fiel es mir wie Schuppen von den Augen.

Renee hatte sich geweigert, Mezareaus Namen zu nennen. Ich hatte so eine Ahnung, dass ihre Zurückhaltung nicht allein darauf basierte, dass sie ihn nicht mochte.

Als Murphy den Namen des bokor laut ausgesprochen hatte, war ich von dem bizarren Gefühl, beobachtet zu werden, übermannt worden. Ich glaubte nicht daran, dass es nur ein nervöser Schauder gewesen war, sondern dass Mezareau, wo auch immer er steckte, die Augen geöffnet und mich gesehen hatte.

„Cassandra“, sagte Edward. „Woher weiß er es?“

Rasch weihte ich ihn in meine Überlegungen ein, wobei ich mich davor hütete, den Namen Mezareau zu artikulieren.

„Dieser Typ klingt eher nach einer Legendengestalt als nach einer realen Person.“

Mein Herzschlag setzte für eine Sekunde aus. Ich brauchte Mezareau, deshalb musste das, was ich über ihn gehört hatte, unbedingt wahr sein.

„Ist nicht die Bekämpfung real gewordener Legendengestalten Dreh- und Angelpunkt des Jägersucher-Jobs?“, argumentierte ich.

„Doch. Und genau deshalb sind Sie auf Haiti.“

Touché, dachte ich und rief mir mit diesem Wort unfreiwillig Devon Murphy ins Gedächtnis. Ich sah zum Fenster. Im Osten hellte sich der Horizont auf, genau wie meine Stimmung, als mir plötzlich etwas klar wurde.

„Die Toten herbeizurufen ist ernsthafter Voodoo.“

Jemand, der eine solche Magie praktizieren konnte, musste wirklich unglaublich mächtig sein.