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Seit Alexandra Trevalyns Eltern von Werwölfen getötet wurden, macht sie Jagd auf die Gestaltwandler. Doch als sie die Frau des Alphawolfs Julian Barlow umbringt, rächt sich dieser, indem er Alexandra selbst in eine Werwölfin verwandelt. Nun steht sie auf der Seite der Geschöpfe, die sie einst so gnadenlos verfolgt hat. Und muss feststellen, dass der gut aussehende Julian verwirrende Gefühle in ihr weckt
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Seitenzahl: 454
LORI HANDELAND
WOLFSFEUER
Roman
Ins Deutsche übertragen von
Patricia Woitynek
1
Sie folgte dem Mann seit einer Woche. An den Kragen wollte sie ihm seit einem Monat. Werwölfe waren nicht leicht zu fassen.
Werwölfe waren auch nicht leicht zu töten, trotzdem schlug sie sich nicht schlecht. Einst hatte Alexandra Trevalyn den Jägersuchern angehört, einer Monster jagenden Elite-Spezialeinheit. Dann hatten diese ihren Biss verloren, und seither operierte Alex allein und ohne Skrupel.
Die Nacht war schon vor Stunden über L. A. hereingebrochen. Früher hätte sie vielleicht den Himmel betrachtet und Fantasien gesponnen über … Hm, sie erinnerte sich nicht, welche Fantasien sie damals gesponnen hatte. Mit fünfzehn Jahren ihren Vater sterben zu sehen, hatte jeden ihrer Träume in einen Albtraum verwandelt. Heute Abend war sie einfach nur froh, dass der Mond voll war und der Mann sich bald verwandeln würde. Anschließend würde sie ihn erschießen. Aber wie üblich lief nichts nach Plan.
Plötzlich stand der Kerl direkt vor ihr. Ihr Herz machte einen schnellen, schmerzhaften Satz, bevor sie ihre Panik unter Kontrolle bekam. Werwölfe tranken den Geruch von Angst, wie Vampire Blut tranken; er war ihnen Stärkung und Genuss zugleich.
»He, Jorge«, sagte sie. »Que pasa?«
Seine Augen wurden schmal. »Warum folgst du mir, puta? Bist du ein Bulle?«
»Das würde dir so gefallen.«
Verwirrung flackerte über seine Züge. »Wieso sollte mir das gefallen?«
»Weil ein Bulle nicht wüsste, wie man einen Werwolf zur Strecke bringt.«
Er knurrte, das Geräusch nicht mehr ganz menschlich. Doch anstatt sich in einen Wolf zu verwandeln, griff er nach ihr, zu begierig darauf, ihre Brüste zu betatschen, um auf ihre Hände zu achten.
»Kleine Mädchen, die den großen bösen Wolf suchen, finden ihn meistens«, grunzte er mit einer Stimme, die zwischen Tier und Mensch schwankte.
»Ich finde ihn immer«, sagte Alex und drückte den Abzug der Pistole, die sie aus dem hinteren Hosenbund gezogen hatte, während Jorge die Melonen betastete.
Feuer explodierte aus der Wunde – die typische Reaktion, wenn ein Werwolf mit Silber in Berührung kam. Alex wand sich aus Jorges noch immer zupackenden Fingern und schlug die Flammenspratzer auf ihrer schwarzen Bluse aus. Anschließend entlud sie, nur um auf Nummer sicher zu gehen, ihr restliches Magazin in seinen Körper und sah zu, wie er verbrannte. Das war ihr Lieblingsteil.
Zum Glück befanden sie sich in einem Viertel von L. A., in dem Schüsse keine Aufmerksamkeit erregten. Jorge hatte sie hierher gelockt, und sie war ihm nur allzu gern gefolgt.
Trotzdem hätte sie besser warten sollen, bis er sich verwandelte, ehe sie ihn abknallte. Die Gesetzeshüter legten ein gegrilltes Tier bedeutend schneller ad acta als einen gegrillten Mann. Nur dass Jorge ihr nicht wirklich eine Wahl gelassen hatte. Sie hätte sich ganz sicher nicht von ihm umbringen lassen. Oder Schlimmeres.
»Glaubst du, auf eine Leiche zu schießen, würde sie noch toter machen?«
Alex wirbelte zu der Stimme herum, in der sie das vertraute, unterschwellige Vibrieren eines nicht menschlichen Knurrens hörte. Ein Mann lehnte so lässig an dem leer stehenden Nebengebäude, als wäre er schon seit Stunden hier.
Nur dass er vor ein paar Minuten noch nicht da gewesen war. Und auch sonst niemand.
Er war groß – circa einen Meter neunzig –, um die hundertzehn Kilo schwer, trug lässig sitzende schwarze Hosen, ein langärmliges schwarzes Hemd und eine schwarze Strickmütze, die sein Haar verdeckte. Seine Aufmachung wirkte ein bisschen zu warm für diesen lauen kalifornischen Abend, aber das Gleiche traf auf Alex’ Kleidung zu. Je geschickter man Schusswaffen, Messer und andere glänzende Gegenstände verbarg, desto einfacher war es, mit der Dunkelheit zu verschmelzen oder ganz in ihr zu verschwinden.
Alex konnte die Farbe seiner Augen im fahlen Mondschein und den vom Smog durchzogenen Schatten nicht erkennen, aber sie ahnte, dass sie so hell waren wie die ihren, wenn vielleicht auch blau statt grün.
Sie hatte ihn nie zuvor gesehen – sie würde sich erinnern –, aber das musste nichts heißen. In dieser Stadt wimmelte es nur so von Werwölfen.
Er kam auf sie zugeschlendert, als hätte er alle Zeit der Welt, als fürchtete er sich nicht vor ihrer Pistole, und das machte Alex nervöser als die Tatsache, dass er überhaupt hier war.
Welcher Mensch schreckte nicht vor einer Schusswaffe zurück, welches Tier nicht vor dem Silber darin?
Mit der Wucht eines Faustschlags, der ihr den Magen umdrehte und den Kopf vernebelte, durchzuckte Alex plötzlich die Erinnerung …
Sie hatte jede einzelne Kugel in Jorge gejagt.
Sie tastete nach einem Ladeclip, als sein Arm mit schwindelerregendem Tempo auf sie zuschnellte. Alex wappnete sich gegen den Schlag, der sie zehn Meter durch die Luft katapultieren konnte. Anstelle dessen berührte er sie mit einem Metallobjekt. Sie hatte einen einzigen Gedanken –Elektroschocker –, bevor sie zu Boden ging.
Der Mann beugte sich über sie, und da wusste sie, dass sie geliefert war. Sie wartete auf die Brutalität, den Schmerz, das Blut. Stattdessen spürte sie einen scharfen Stich; dann wurde alles schwarz.
Alex erwachte in einem kleinen, von einer einzelnen Glühbirne beleuchteten Zimmer. Ihr tat jeder Knochen weh, und ihr Mund war trocken wie ein Wüstenwind. Sie war immer noch vollständig bekleidet, aber sie spürte nirgendwo das Gewicht ihrer Waffen – keine Pistole, keine Munition, kein Silberstilett. Ohne sie fühlte Alex sich trotzdem nackt.
Ihr schulterlanges, hellbraunes Haar hatte sich aus dem festen Knoten gelöst, den sie vorzugsweise bei der Arbeit trug, und fiel ihr nun übers Gesicht. Sie bewegte nur die Augen, während sie ihre Umgebung scannte – vier Wände, eine Tür und der Mann, der ihr das angetan hatte, nicht weit von ihr an einem klapprigen Holztisch.
Alex war an eine Pritsche fixiert, und obwohl es sie drängte, an den Fesseln zu zerren, um festzustellen, wie robust sie waren, blieb sie still liegen und atmete langsam und gleichmäßig ein und aus. Sie durfte nicht verraten, dass sie wach war, bevor sie so viel wie möglich über ihren Aufenthaltsort herausgefunden hatte.
Sie studierte ihren Kidnapper durch den Vorhang ihrer Haare, während er, die Ellbogen auf den Tisch gestützt, auf irgendeinen Punkt zwischen ihnen starrte. Seine hängenden Schultern gaben ihm ein kummervolles, beinahe gramgebeugtes Aussehen. Allerdings hatte sie noch nie von einem Werwolf gehört, der wegen irgendetwas Kummer empfand, es sei denn, wegen einer entkommenen Beute.
Er hatte die Strickmütze abgesetzt, und sein goldblondes Haar schimmerte in dem wenigen Licht. Es war mit einem Gummiband zusammengefasst und ließ eine markante Wangen- und Kieferpartie sowie einen Bartschatten an seinem Kinn erkennen.
Er wandte ihr den Kopf zu. Seine Augen hatten die Farbe des Himmels direkt nach Sonnenuntergang – kühl und blau, dämmrig vor entschwundener Wärme. Für den Bruchteil einer Sekunde hätte Alex schwören können, einen Funken von Rostrot in den Iriden zu sehen, was sie an die Flammen der Hölle erinnerte, die auf ihn warteten, sobald sie sich ihre Waffe zurückgeholt hätte.
Zu träumen musste schließlich erlaubt sein.
»Alexandra Trevalyn«, murmelte er und stand langsam auf. »Ich warte hierauf schon eine sehr lange Zeit.«
Mit langen Schritten durchmaß er die wenigen Meter, die sie trennten; er schob ihr das Haar aus dem Gesicht, dann umfasste er ihr Kinn und hielt es erbarmungslos fest, als sie sich wehrte.
»Sieh sie an«, verlangte er in einem Tonfall, der sie trotz des Feuers in seinen Augen frösteln ließ.
Er hielt das, worauf er zuvor gestarrt hatte, vor ihr Gesicht. Ein einziger Blick auf das Foto – eine Frau, hübsch und jung, blond und lachend – genügte, und Alex schloss die Augen.
Oh, verflucht.
»Kennst du sie?« Seine Finger drückten fest genug zu, um einen blauen Fleck zu hinterlassen.
Und ob Alex sie kannte. Sie hatte sie getötet.
Julian Barlow war hin- und hergerissen zwischen dem überwältigenden Bedürfnis, sie loszulassen, und dem ebenso übermächtigen Verlangen, ihr Gesicht zwischen seinen Fingern zu zerquetschen, zu hören, wie die Knochen brachen, wie sie schrie. Doch das wäre zu einfach.
Für sie.
Er hatte etwas viel Raffinierteres im Sinn.
Sie versuchte, sich aus seinem Klammergriff zu befreien, aber er war zu kräftig, sodass sie schließlich ein scharfes, schmerzgepeinigtes Keuchen ausstieß, als er noch fester zudrückte.
»Ihr Name war Alana«, sagte er. »Sie war meine Frau.«
Alex rümpfte angewidert die Nase. »Sie war ein Werwolf.«
»Sie war ein Mensch.«
»Nein.« Als sich ihre Blicke trafen, erkannte er in ihren Augen die Endgültigkeit ihrer Meinung. »Das war sie nicht.«
So, wie nicht alle Menschen gleich waren, waren auch nicht alle Werwölfe gleich. Einige waren abgrundtief böse, dämonisch, außer Kontrolle geratene wilde Tiere. Aber seine Alana …
Julian wurde die Kehle eng, und er hatte Mühe, die Verzweiflung, die sein ständiger Wegbegleiter war, niederzuringen. Er würde tun, wofür er gekommen war, und vielleicht, nur vielleicht, würde er dann endlich schlafen können.
Er holte tief Luft, dann runzelte er verwirrt die Stirn. Er roch keine Angst. Er kniff die Augen zusammen, aber das Einzige, was er in Alexandras Gesicht entdecken konnte, war stoische Resignation.
»Bringen wir es hinter uns«, sagte sie.
»Was denkst du, warum ich dich hierher gebracht habe?«
»Um mich sterben zu sehen.«
»Das würde dir so gefallen.«
Alexandra knirschte mit den Zähnen, als er dieselben Worte benutzte, mit denen sie Jorge verhöhnt hatte. Mit einem verachtungsvollen Rucken seines Handgelenks ließ er sie los. Sie sollten es hinter sich bringen, genau wie sie gesagt hatte.
Julian öffnete einen nach dem anderen die Knöpfe seines Hemds, dann zog er es aus und ließ es zu Boden fallen. Mit geweiteten Augen ließ sie den Blick über ihn gleiten. Wo immer dieser Blick ihn traf, bewirkte er eine Gänsehaut. Er wollte nicht, dass sie ihn ansah, aber es ließ sich nicht umgehen.
Julian senkte die Hände zu seiner Hose; Alex folgte der Bewegung mit den Augen. Doch kaum dass der einzelne Knopf aufsprang, zuckten sie zu seinem Gesicht. Das Ratschen des Reißverschlusses sprengte die bleierne, angespannte Stille.
Alex wurde blass und zuckte zurück, und nun endlich roch er ihre Furcht.
»Der Tod ängstigt dich nicht«, murmelte er, als er den Daumen in den Bund seiner schwarzen Hose hakte und sie über seine Hüften schob. »Mal sehen, wie es hiermit steht.«
»Du wirst einige Mühe haben, mich damit zu vergewaltigen«, zischte sie und nickte mit dem Kinn zu seinem schlaffen Glied.
»Vergewaltigen?« Er zog den Gummi aus seinem Pferdeschwanz und ließ die Haare auf seine Schultern fallen. »Das ist nicht mein Stil.«
Verwirrung flackerte über ihr Gesicht. »Wozu dann der Striptease?«
Anstelle einer Antwort warf er den Kopf zurück und ließ ein Heulen erklingen.
Der Geruch ihrer Angst lockte das Tier in ihm hervor. Er hatte hiervon, von ihr, geträumt, es geplant, dafür gelebt. Er wollte, dass Alexandra Trevalyn verstand, was sie getan hatte, dass sie lange Zeit dafür büßte, und dafür gab es nur einen Weg.
Julians Körper verbog sich, als seine Wirbelsäule sich verformte. Knochen knackten, Gelenke knirschten; Nase und Mund verlängerten sich zu einer Schnauze; Hände und Füße wurden zu Pfoten, Krallen traten hervor, wo eben noch Finger- und Zehennägel gewesen waren. Während er sich auf alle viere sinken ließ, sprossen ihm goldene Haare aus allen Poren. Als Letztes bildeten sich ein Schweif und spitze Ohren, um seine Metamorphose in einen Wolf zu vervollkommnen – wenn man von zwei winzigen Details absah: die menschlichen Augen in einem nicht menschlichen Gesicht und die menschliche Intelligenz hinter dem Antlitz eines Tiers.
»Niemand kann sich derart schnell verwandeln.« Julian schwenkte den Kopf zu der Frau, die ihn mit aufgerissenen Augen anstarrte.
Aber Julian konnte es.
Seine Geburt lag Jahrhunderte zurück, und mit dem Alter erlangte man nicht nur Weisheit, sondern auch besondere Fähigkeiten – zumindest galt das für einen Werwolf. Je älter Julian wurde, desto schneller konnte er sich transformieren.
Mit aufgestellten Nackenhaaren und gebleckter Oberlippe stakste er steifbeinig auf Alex zu. Sie verkrampfte den Kiefer vor lauter Anstrengung, nicht vor ihm zurückzuschrecken, aber ihr Körper gehorchte den Befehlen ihres Gehirns nicht. Sein heißer Atem strich in Wellen über ihren Arm, ihren Hals, ihr Gesicht. Sie war ihm komplett ausgeliefert. Er konnte mit ihr tun, was er wollte. Sie wusste es, und ihre Angst hüllte Julian ein wie ein hochsommerlicher Nebel.
War es das, was Alana in den Sekunden vor ihrem Tod gefühlt hatte? Oder hatte sie nicht die Chance bekommen, irgendetwas zu fühlen, bevor dieses Kind sie mit einer Silberkugel erschossen und anschließend zugesehen hatte, wie sie verbrannte? Ein Knurren entrang sich Julians Kehle.
Alex spannte jeden Muskel an, dann schrie sie: »Tu es!«
Gehorsam schlug Julian die Zähne in ihre Schulter.
Alex gestattete sich nicht zu kreischen, obwohl der Schmerz schlimmer war als alles, was sie je gekannt hatte. Vielfarbige Flecken tanzten vor ihren Augen, dann begann die Welt zu wabern und zu flirren, bevor sie sich auflöste.
Stunden, Augenblicke, Sekunden später erlangte sie spuckend das Bewusstsein wieder. Jemand hatte ihr Wasser ins Gesicht geschüttet.
Der Werwolf, jetzt in menschlicher Gestalt – er hatte sich sogar angezogen –, beugte sich über sie und knautschte die leere Wasserflasche in seiner gewaltigen Pratze. »Bald schon wirst du verstehen«, murmelte er.
Ihre Schulter brannte wie Feuer; Alex fühlte sich schwach, benommen, fiebrig, aber sie erinnerte sich an alles und hätte sich vor Entsetzen fast übergeben.
»Du Bastard!«, brüllte sie und riss wie von Sinnen an ihren Fesseln. »Du hast mich gebissen.«
»Du hast mich dazu aufgefordert«, antwortete er gelassen.
»Das habe ich nicht. Niemals hätte ich …«
»Hast du ›Tu es!‹ geschrien oder hast du nicht?«
»Ich wollte, dass du mir die Kehle rausreißt. Mich tötest.«
Wenn ein Werwolf einen Menschen biss, mutierte der Mensch zu einem Werwolf. Wenn das räuberische Tier von seinem Opfer aß, war der gesegnete Tod die Folge.
Ihr Peiniger legte den Kopf schräg, sodass sein langes Haar über seinen Hals glitt und sich gleich einem goldenen Fächer darüberbreitete. »Du wärst also lieber tot«, sinnierte er, »als ein Werwolf zu sein.«
»Verdammt richtig.«
»Und meine Frau wäre lieber ein Werwolf gewesen, als tot zu sein.« Er zuckte gleichgültig die Achseln. »Ich schätze, ihr seid quitt.«
Frustration gepaart mit Zorn wallte in Alex auf. Sie kämpfte wieder gegen ihre Fesseln an und brachte die Pritsche zum Wackeln. Sie wurde schon jetzt stärker.
»Lass mich frei.« Julian lachte nur. »Warum tust du das?«
»Ich will, dass du begreifst, was du getan hast.«
»Ich habe Monster getötet. Böse, dämonische Kreaturen, die zur Hölle fahren sollen.«
»Du hast Ehefrauen und Ehemänner, Mütter und Väter getötet, jemandes Kinder. Denkst du, wir lieben nicht? Denkst du, wir trauern nicht?«
»Tiere haben keine Gefühle.«
Er griff wieder nach ihrem Kinn. »Du irrst dich.«
Alex hätte einen ansehnlichen blauen Fleck von seiner vorhergegangenen Misshandlung zurückbehalten müssen. Seine Berührung hätte wehtun müssen, doch das war nicht der Fall. Sie heilte schon jetzt schneller, als es einem Menschen möglich war.
Mit einem Zurückzucken seiner Hand ließ er sie los, als könnte er den Hautkontakt nicht eine Sekunde länger ertragen – Alex kannte das Gefühl gut –, dann entfernte er sich von ihrer Pritsche. Sie musste sich den Hals verrenken, um ihn durch die Tür verschwinden zu sehen.
»Halt!«, rief sie, dann dachte sie nach. Wäre sie besser oder schlechter dran, wenn er sie hier zurückließe?
Die Frage beantwortete sich von selbst, als er mit einem leblosen Körper auf den Armen zurückkam und ihn auf den Boden legte.
»Keine Sorge.« Er trat wieder aus der Tür und zog sie dabei hinter sich zu. »Er ist ein sehr schlechter Mensch.«
Sobald er verschwunden war, strengte Alex sich ernsthaft an freizukommen.
Er hatte sie gebissen, anstatt sie zu töten, und sie anschließend gefesselt mit einem wehrlosen Menschen in einem Zimmer zurückgelassen. Sie musste sich befreien und fliehen, ein silbernes … egal was auftreiben und ihrem Leben ein Ende setzen, bevor sie sich verwandeln konnte. Denn wenn das geschah, würde sie menschliches Blut brauchen, und genau hier vor ihrer Nase gab es welches.
Vor Anstrengung brach ihr der Schweiß aus. In dem Raum gab es keine Klimaanlage, kein Fenster. Verbittert kämpfte sie gegen ihre Fesseln an, bis ihre Handgelenke bluteten. Der Geruch von Blut, von Mensch, bewirkte, dass ihr Magen zu grummeln begann.
Ein Mensch, der gebissen wird, verwandelt sich binnen vierundzwanzig Stunden. Eigentlich können Werwölfe nur zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang ihre Gestalt wechseln – mit Ausnahme dieses einen ersten Mals. Da macht es keinen Unterschied, ob es Tag oder Nacht ist, ob Voll- oder Neumond – der neue Wolf wird geboren. Er kann nichts dagegen machen.
Plötzlich war das Zimmer verschwunden, und Alex rannte durch einen dichten Wald. Die warme Sonne sandte ihre Strahlen durch die Äste. Die frische Luft schien zu flirren. Kiefernduft hüllte sie ein.
Alex brach zwischen den Bäumen hervor und fand sich auf einer welligen Ebene wieder. Hier und da schimmerten Flecken von Schnee, die sich elektrisierend weiß gegen das jungfräuliche, mit violetten Wildblumen gesprenkelte Gras abhoben. In der Ferne ragten Türme von Eis auf, die hoch wie Berge schienen.
Ein Gefühl von Freiheit, von unbändiger Freude erfüllte sie. Sie wollte für immer über dieses Land streifen. Sie war …
Zu Hause.
Nur dass Alex kein Zuhause hatte. Sie war in Nebraska geboren, wo es nicht viele Berge gab – weder aus Eis noch sonst irgendwelche. Auch Wälder waren dort rar gesät. Zudem hatte sie seit ihrem fünften Lebensjahr nie länger als einen Monat am selben Ort verbracht.
Sie fing den Duft von warmem Blut, von appetitlichem Fleisch auf und machte kehrt, um in den Wald zurückzulaufen. Etwas huschte an ihr vorbei und verschwand panisch ins Unterholz.
Wams!
Alex glitt zurück in ihren Körper, der noch immer auf der Pritsche in diesem entsetzlich heißen, entsetzlich kleinen Zimmer gefangen war. Sie war ihrer Freiheit kein Stück nähergekommen, doch nach dem, wie sich ihre Haut anfühlte – zu eng, um sie zu beherbergen –, stand sie kurz davor, ihre Menschlichkeit zu verlieren.
»Kollektives Bewusstsein«, stöhnte sie. »Oh Gott.«
Wenn ein Opfer infiziert wird, transformiert ihn das Lykanthropie-Virus von einem Menschen in ein Tier. Es beginnt sich an Eindrücke zu erinnern, die von anderen gewonnen wurden – der Nervenkitzel der Jagd, die Mordlust, der Geschmack von Blut.
»Es passiert«, sagte Alex mit einer Stimme, die ihrer eigenen nicht mehr ähnelte. Sie war tiefer, verzerrt – sie hatte diesen Klang schon früher gehört.
Aus dem Mund angehender Pelzträger.
Der Schmerz wurde mehr zu einem Jucken, zum Drang auszubrechen. Alex versuchte, sich diesem Drang zu widersetzen, doch es gelang ihr nicht. Ihre dunkle Jeans und ihre schwarze Bluse platzten mit einem ohrenbetäubenden Knarzen auf; ihre Stiefel schienen zu explodieren, als ihre Füße zu Pfoten wurden.
Ihre Nase tat weh; ihre Zähne waren zu groß für ihren Mund. Dann plötzlich wurde dieser Mund Teil der Nase, und ihre Zähne fühlten sich genau richtig an.
Die Fesseln, die sie gefangen hielten, zerrissen. Alex krümmte und wand sich, knurrte und stöhnte, und als sie sich endlich auf den Boden rollte, war sie nicht länger eine Frau, sondern ein Wolf.
Sie starrte auf ihre Pfoten, die von einem Fell bedeckt waren, das dieselbe Farbe aufwies wie ihre Haare; sie brauchte keinen Spiegel, um zu wissen, dass ihre grünen Augen aus dem Gesicht eines Tiers blickten.
Die Welt dehnte sich aus – Geräusche wurden scharf wie Messerklingen, Gerüche so intensiv, dass ihr vor Verlangen das Wasser im Mund zusammenlief; sie konnte jedes einzelne Stäubchen in der Luft trudeln sehen wie Schneeflocken aus Silber und Gold.
Der Hunger, ein hämmerndes Pulsieren in ihrem Kopf, übermannte sie. Wenn sie ihn nicht bald stillte, wenn sie nicht bald etwas tötete, würde sie den Verstand verlieren.
Dann sah sie ihn – direkt vor sich auf dem Boden, gefesselt und reglos. Wie war sein Name?
Ach ja. Leckerbissen.
Alex machte einen Schritt auf ihn zu, und die Tür flog auf. Der Schemen eines Mannes breitete sich über den Boden. Erschrocken knurrend taumelte sie zurück, dann hob sie die Schnauze und schnupperte. Vages Wiedererkennen durchströmte sie. Sie kannte ihn, trotzdem sträubten sich ihr die Nackenhaare, und ihr Knurren steigerte sich zu einem Grollen.
Der Drang zu attackieren, stand im Widerstreit zu dem nagenden Hunger in ihrem Bauch. Ihr Kopf schwang zwischen den beiden Männern hin und her, während ihr menschlicher Verstand die Optionen gegeneinander abwog.
Der gefesselte Mensch konnte warten; er würde nirgendwo hingehen. Sobald sie den Neuankömmling überwältigt hätte, gäbe es doppelt zu viel zu essen und halb so viel zu fürchten.
Sie spannte die Muskeln an und sprang mit einem Satz auf ihn zu. Bevor ihr Körper jedoch den Mann in der Tür frontal rammen konnte, fuhr ihr ein scharfer Schmerz in die Brust. Ihre Glieder fühlten sich an, als wären sie mit Sand beschwert, während ihr Geist sich auf wundersame Weise klärte, und als sie zu Boden taumelte, erinnerte sie sich, wer er war.
Edward.
Jetzt war sie endgültig geliefert.
2
Als Alex wieder zu Bewusstsein kam, war sie kein Wolf mehr, sondern wieder eine Frau. Sie lag nackt unter einer Decke auf der Pritsche, an die sie erst vor so kurzer Zeit fixiert gewesen war. Der gefesselte Mann war verschwunden. Leider galt das nicht für Edward.
Edward Mandenauer, Boss der Jägersucher – seines Zeichens groß, hager und blass –, wirkte nicht beunruhigt darüber, dass er sich mit einer Frau, die fähig war, sich Fangzähne und einen Schwanz wachsen zu lassen, in einem winzigen Zimmer aufhielt. Was vermutlich daran lag, dass ihm solche Situationen schon seit sechzig Jahren widerfuhren.
Ein Gewehr auf den Rücken geschnallt, eine Pistole in der Hand und einen Patronengurt um seine eingesunkene Brust geschlungen, war Edward wie üblich bereit für Armageddon.
»Es ist lange her«, sagte er.
Nachdem er seit mehr als einem halben Jahrhundert in den Vereinigten Staaten lebte, hätte man eigentlich annehmen müssen, dass sein schwerer deutscher Akzent inzwischen verblasst wäre. Alles andere an ihm hatte das getan. Sein ehemals blondes Haar war weiß, das Blau seiner Augen trüb, seine Haut dünn wie Pergament. Es verblüffte Alex immer wieder, dass die Trefferquote des Mannes doppelt so hoch lag wie ihre eigene. Zumindest war sie das gewesen, als sie noch hatte mitzählen müssen.
Sie setzte sich auf, ohne sich darum zu kümmern, dass die Decke zu ihrer Taille hinabrutschte. Bis vor wenigen Stunden wäre sie vor Scham gestorben, was bewies, dass sie sich in mehr als nur einer Hinsicht verändert hatte.
Sie fühlte sich verdammt gut. Jeder noch so kleine Schmerz, jedes Zwicken war verschwunden. Energie pulsierte durch ihren Körper, was sie daran erinnerte, wie sie einmal versucht hatte, in einem billigen Motel den Fön einzuschalten, während sie noch triefnass von der Dusche war. Brrzz! Sie hatte das nie wieder versucht.
Die Welt schien plötzlich so viel präsenter zu sein. Alex konnte die Luft an ihrer Haut fühlen, sie hörte jeden Atemzug, den Edward tat; wenn sie die Ohren spitzte, würde sie wahrscheinlich das dumpfe Pochen seines alten Herzens von dem langsamen Fluss des Blutes in seinen Adern unterscheiden können. Sie war überzeugt, es zu riechen.
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