Wolfsfieber - Lori Handeland - E-Book

Wolfsfieber E-Book

Lori Handeland

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Beschreibung

Als Kryptozoologin versucht Diana Malone Tiere aufzuspüren, die eigentlich dem Reich der Mythen und Legenden angehören. Gerüchten zufolge sollen in der Umgebung von New Orleans Werwölfe gesichtet worden sein. Diana beschließt, der Sache auf den Grund zu gehen. Sie engagiert den Ex-Agenten Adam Ruelle, damit dieser sie durch die Sümpfe von Louisiana führt. Doch schon bald wird ihr klar, dass der attraktive Mann Geheimnisse vor ihr hat. Will er sie beschützen oder von ihrem Ziel ablenken? Vierter Teil der erfolgreichen Werwolf-Serie Geschöpfe der Nacht.

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Seitenzahl: 442

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Inhalt

Titel

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Impressum

Lori Handeland

Roman

Ins Deutsche übertragen von Patricia Woitynek

 

Für meine Agentin Irene Goodman:

Einfach dafür, dass du Irene bist

1

Ein Leben, das darauf verwandt wird, einen Schwur gegenüber einem Toten einzulösen, ist in Wahrheit gar kein Leben, aber ich habe Simon Malone geliebt und ihm mein Versprechen gegeben.

Ich habe Zoologie studiert, mittlerweile aber auf Kryptozoologin umgesattelt. Wäre ich meinem eigentlichen Berufsziel gefolgt, würde ich jetzt in irgendeinem Zoo versauern oder, schlimmer noch, Giraffen und Zwergziegen erforschen.

Stattdessen gehe ich Gerüchten über mythische Tiere nach und versuche zu beweisen, dass sie tatsächlich existieren. Eine frustrierende Aufgabe. Es gibt einen Grund dafür, dass es bislang niemandem gelungen ist, einen Bigfoot zu fangen. Sie wollen nämlich nicht aufgespürt werden und sind im Verstecken wesentlich besser als irgendjemand auf der Welt im Suchen. Zumindest ist das meine Theorie, und von der rücke ich nicht ab.

Die meisten Kryptozoologen bemühen sich, unentdeckte Spezies oder evolutionäre Sensationen – echte Tiere, an denen nichts Paranormales ist – zu finden, aber ich nicht. Nein. Weil ich nun mal diesen Schwur geleistet habe.

Idiotisch, aber wenn eine Frau einen Mann auf die Weise liebt, wie ich Simon geliebt habe, tut sie nun mal idiotische Dinge – vor allem, wenn er in ihren Armen gestorben ist.

Also gehe ich, in dem Versuch, etwas Mythisches zu entdecken und seine Echtheit zu beweisen, jeder Legende, jeder Volkssage, jedem noch so kleinen Fitzelchen an Information nach. Ich habe zwar nie an Magie geglaubt, aber mein Mann hat das getan, und das Einzige, woran ich je geglaubt habe, war er.

Meine Suche verlief relativ erfolglos, bis dann in jener Nacht um drei Uhr morgens das Telefon klingelte. Die Kombination aus Schlaflosigkeit und einem sehr leeren Bankkonto brachte mich dazu, trotz der unchristlichen Stunde ranzugehen.

„Hallo?“

„Dr. Malone?“ Die Stimme war männlich, ein bisschen zittrig, der Anrufer alt oder vielleicht krank.

„Noch nicht.“

Ich musste erst ein Kryptid – ein bislang unbekanntes Tier – aufstöbern, seine Existenz nachweisen und eine Dissertation schreiben. Anschließend würde ich diese hübschen Buchstaben – Ph.D. – an das Ende meines Namens setzen dürfen. Aber seit der ganzen Sache mit dem Schwur war ich zu sehr damit beschäftigt gewesen, Seeungeheuer und Bigfoot-Klone zu jagen, um die nötige Zeit zu finden, eine neue Spezies von Irgendetwas entdecken zu können.

„Spreche ich mit Diana Malone?“

„Ja. Wer ist da?“

„Frank Tallient.“

Der Name klang vertraut, aber ich kam nicht drauf, woher ich ihn kannte. „Sind wir uns schon mal begegnet?“

„Nein. Ich habe Ihre Nummer von Rick Canfield.“

Na großartig. Der letzte Typ, der die einprägsamen Worte „Sie sind gefeuert“ zu mir gesagt hatte.

Rick war ein Anwalt, der zusammen mit einem Haufen anderer Anwälte einen Angelausflug zum Lake of the Woods, Minnesota, unternommen hatte. Mitten in der Nacht hatte er dann etwas im See entdeckt. Etwas Glitschiges, Schwarzes und sehr, sehr Großes.

Als Anwalt war er clever genug zu wissen, dass er den anderen besser nicht verraten sollte, dass er den Verstand verloren hatte. Zumindest nicht sofort.

Stattdessen war er nach Hause gefahren, hatte im Internet gesurft und ein paar Anrufe getätigt, in der Hoffnung, auf jemanden zu stoßen, der ihm dabei helfen würde herauszufinden, ob das, was er gesehen hatte, real oder eingebildet war. Er war auf mich gestoßen.

„Rick meinte, dass Sie eventuell Zeit hätten, mir behilflich zu sein“, fuhr Tallient fort.

Ich hatte Zeit, das stimmte. War arbeitslos. Wieder mal. Ein normaler Zustand in meinem Leben. Ich war zwar sehr gut darin, nach Dingen zu suchen, aber leider nicht so gut, wenn es darum ging, sie tatsächlich zu finden. Gleichzeitig zählte ich zu den wenigen Kryptozoologen, die bereit waren, gegen Bares spontan in einen Flieger zu steigen.

Ich gehörte keiner Universität an – schon nicht mehr, seit Simon verrückt geworden war und damit nicht nur seine Reputation, sondern auch meine zerstört hatte.

Ich war abhängig von der Freundlichkeit fremder Menschen – zum Teufel, wollen wir doch ehrlich sein und sie befremdlich nennen –, um meine Expeditionen zu finanzieren. Bis zu dieser Nacht hatte in beiderlei Hinsicht Ebbe geherrscht.

„Da Sie Nessie nicht gefunden haben …“

„Nessie ist das Ungeheuer von Loch Ness. Ich habe nach Woody gesucht.“

Was der Name war, den Rick der Kreatur verpasst hatte. Die Menschen sind bei der Benennung von Seeungeheuern nicht besonders einfallsreich, sondern entscheiden sich meistens für irgendeine Namensvariante des Gewässers, in dem das Monster mutmaßlich lebt.

Und noch etwas war typisch: Als ich mit meinen Kameras und Rekordern am Lake of the Woods eintraf, hatte sich das, was Rick gesehen zu haben glaubte, in Luft aufgelöst. Falls es überhaupt je da gewesen war.

Meiner Vermutung nach steckte ein abartig großer Hecht und kein übernatürliches Seeungeheuer hinter der Geschichte, aber das hatte ich ebenso wenig beweisen können.

„Ich habe einen Job für Sie“, verkündete Tallient nun.

„Ich bin ganz Ohr.“

Mir blieb gar keine andere Wahl. Meine Eltern waren zwar unglaublich reich, nur leider hielten sie mich für verrückt und hatten an dem Tag aufgehört, mit mir zu sprechen, als ich Simon heiratete.

Denn was könnte ein attraktiver, brillanter, aufstrebender Zoologe aus Liverpool schließlich an einer nicht so sehr hübschen, viel zu stämmigen Erstsemester-Studentin finden, wenn da nicht die Millionen ihrer Eltern wären? Eine Greencard besaß er bereits. Dass Simon ihnen erklärt hatte, wo sie sich ihr Geld hinschieben konnten, hatte meine Liebe zu ihm nur verstärkt.

In Wahrheit hatte ich in Simons Welt besser gepasst als jemals in meine eigene. Ich maß barfuß einen Meter achtundsiebzig und wog an guten Tagen zweiundachtzig Kilo. Ich war gern an der frischen Luft – hatte kein Problem mit Matsch oder Sonne, Wind oder Regen. Ich hatte mich den Pfadfinderinnen angeschlossen, nur um zelten gehen zu können. Und hatte so ziemlich alles getan, was mir einfiel, um mich von der Zu-reich-oder-zu-dünn-gibt-es-nicht-Mentalität meiner Mutter abzugrenzen.

„Können Sie sich ins Internet einloggen?“, fragte Tallient.

„Bleiben Sie dran.“ Ich schaltete meinen Laptop an, der wesentlich schneller aus seinem Schlummer erwachte, als ich das für gewöhnlich tat. „Okay.“

Tallient nannte mir eine WWW-Adresse, und einen Augenblick später füllte ein Zeitungsartikel meinen Bildschirm.

„Mann tot im Sumpf aufgefunden“, las ich. „Nicht gerade ungewöhnlich.“

Sümpfe waren berüchtigte Entsorgungsorte für Leichen. Falls das Moor sie nicht verschluckte, besorgten das die Alligatoren.

„Fahren Sie fort.“

„Kehle zerfetzt. Verwilderte Hunde. Hmm.“ Ich nahm mir die nächste Seite vor. „Kind vermisst. Kojoten. Keine Leiche. Scheint eindeutig zu sein.“

„Nicht wirklich.“

Tallient gab mir eine zweite Adresse, und ich las weiter. „Wölfe gesichtet.“

Mein Herzschlag beschleunigte sich. Wölfe waren Simons Spezialgebiet gewesen; sie hatten sich in seine Obsession verwandelt. Jetzt waren sie meine.

„Wo war das?“, fragte ich.

„New Orleans.“

Falls das überhaupt möglich war, schlug mein Herz nun noch schneller. Früher hatten Mähnenwölfe den Südosten vom Atlantik bis zum Golf und in den texanischen Westen hinein durchstreift. Sie waren in nördlicher Richtung noch bis nach Missouri und Pennsylvania gesichtet worden. Doch 1980 war der Mähnenwolf als in freier Wildbahn ausgestorben deklariert worden. 1987 hatte man sie dann zwar wieder angesiedelt, allerdings nur in North Carolina. Also …

„Es gibt keine Wölfe in Louisiana“, erklärte ich.

„Exakt.“

„Andererseits kursiert da so eine Legende …“ Ich versuchte krampfhaft, sie mir ins Gedächtnis zu rufen. „Über das Honey-Island-Sumpfmonster.“

„Ich bezweifle, dass die vor dreißig Jahren entdeckten Bigfoot-artigen Fußabdrücke in irgendeinem Zusammenhang mit diesen Todes- und Vermisstenfällen oder verirrten Wölfen stehen.“

Wahrscheinlich hatte er recht.

„Es könnte sich um einen Fall von ABC handeln“, folgerte ich.

Das Akronym stand für „Alien Big Cat“ – ein kryptozoologischer Begriff für die Sichtung von Großkatzen in für sie vollkommen untypischen Gegenden. Schwarze Panther in Wisconsin. Ein Jaguar in Maine. Kommt öfter vor, als man glauben würde.

Meistens wurden ABCs einfach mit der lapidaren Erklärung abgetan, dass es sich dabei um exotische Tiere handele, die man im Wald ausgesetzt hatte, nachdem sie zu groß geworden waren, um sie in einer Wohnung zu halten. Das Komische daran war nur, dass sie anschließend nie aufgespürt wurden.

Falls es sich um zahme Tiere handelte, sollten sie dann nicht leicht einzufangen sein? Würden nicht ihre Knochen oder sogar ihre Halsbänder auftauchen, nachdem sie einem echten Wildtier zum Opfer gefallen waren? Müsste es nicht wenigstens einen Bericht über ein ABC geben, das auf einer Schnellstraße von einem Laster überfahren worden war?

Aber Pustekuchen.

„Es geht um einen Wolf, nicht um eine Katze“, widersprach Tallient.

Seine kryptozoologischen Kenntnisse beeindruckten mich, aber ich war zu sehr auf das Mysterium konzentriert, das sich hier vor mir entfaltete, um ihm meine Anerkennung auszusprechen.

„Das gleiche Prinzip“, murmelte ich stattdessen. „Vielleicht hat jemand einen Wolf im Sumpf ausgesetzt. Daran ist nichts Ungewöhnliches.“

Bloß dass Wölfe nicht bösartig waren. Sie attackierten keine Menschen. Es sei denn, sie wären am Verhungern, Wolf-Hund-Hybriden oder aber tollwütig. Nichts von alledem bedeutete etwas Gutes.

„Es kursieren in und um New Orleans schon seit Jahren Gerüchte über Wölfe“, fuhr er fort.

„Seit wie vielen Jahren?“

„Mindestens hundert.“

„Wie bitte?“

Tallient lachte leise. „Ich dachte mir schon, dass Ihnen das gefallen würde. Das Phänomen scheint dabei jedoch nicht in irgendeinem speziellen Monat oder zu einer bestimmten Jahreszeit aufzutreten, sondern immer während derselben Mondphase.“

„Bei Vollmond“, mutmaßte ich.

Ganz gleich, was die Skeptiker behaupten, der Vollmond macht Mensch und Tier gleichermaßen kirre. Da kann man jeden fragen, der je in einer Notaufnahme, psychiatrischen Einrichtung oder in einem Zoo gearbeitet hat.

„Nein, nicht bei Vollmond“, erwiderte Tallient. „Sondern bei Halbmond.“

Ich warf einen Blick zu der dünnen silbernen Mondsichel, die vor meinem Fenster schimmerte. „Von wann stammen diese Artikel?“

„Mai.“

Ich runzelte die Stirn. Vor fünf Monaten. „Und seitdem?“

„Nichts.“

„Könnte daran liegen, dass die Leichen nicht gefunden wurden.“

„Ganz genau. Kreaturen, die während einer speziellen Mondphase jagen, tun dies jeden Monat. Sie kommen nicht dagegen an.“

Ich war mir zwar nicht sicher, was die „Kreaturen“ betraf, aber bei Tieren war ich mir sicher. Sie gehorchten ausnahmslos der Macht der Gewohnheit.

„Gestern wurde eine Leiche entdeckt“, fuhr Tallient fort. „Die Zeitungen haben es noch nicht gebracht.“

„Warum interessieren Sie sich eigentlich für diese Sache?“

„Die Kryptozoologie fasziniert mich einfach. Ich würde liebend gern selbst eine Expedition unternehmen, aber … es geht mir nicht gut.“

Ich stand auf und wippte aufgeregt auf den Zehenspitzen. Es juckte mich buchstäblich in den Fingern, diese Chance zu ergreifen. Aber ich musste mich an eines erinnern: Was zu gut scheint, um wahr zu sein, ist dies oft auch.

„Sie wollen mich also dafür bezahlen, einen Wolf in einer Gegend zu finden, in der es keine Wölfe geben sollte. Wenn ich das erledigt habe, was dann?“

„Fangen Sie ihn, dann rufen Sie mich an.“

In meiner Berufssparte war das kein ungewöhnliches Ansinnen. Die Menschen, die mich anheuerten, taten dies normalerweise in der Hoffnung, dass sie Berühmtheit erlangen würden, indem sie der Welt irgendeine mythische Kreatur präsentierten, und natürlich wollten sie diejenigen sein, die diese Enthüllung vornahmen. Wenn sie am Ende tatsächlich stattfand, hatte ich damit kein Problem. Das Einzige, was ich beweisen wollte, war, dass Simon nicht verrückt gewesen war.

„Das kann ich machen“, stimmte ich zu.

„Ihnen ist bewusst, dass es hier nicht einfach nur um einen Wolf geht?“

Ich hoffte, dass das zutraf, aber leider erfüllten sich meine Hoffnungen oft nicht.

„Man bezeichnet sie als loup-garou“, fuhr Tallient fort. „Das ist das französische Wort für …“

„Werwölfe.“

Der Adrenalinstoß machte mich schwindlig. Obwohl ich mich dazu anheuern ließ, nach irgendwelchen paranormalen Wesen zu suchen – arme Leute können nun mal nicht wählerisch sein –, sollte ich mich bei meiner Arbeit eigentlich auf die Lykanthropen fokussieren. So wie Simon es getan hatte.

Das Problem war nur, dass ich einfach nicht an sie glauben konnte. Obwohl mein Mädchenname O’Malley lautete und die Familie meines Vaters aus dem Land der Kobolde und Feen stammte, war in Boston, der Stadt, in der ich aufwuchs, das einzig Fantastische der fanatische Glaube der Einwohner an einen Fluch der Boston Red Sox.

In meiner Kindheit war jeder unsinnige Kinderglaube tabu gewesen – kein Weihnachtsmann, keine Zahnfee –, und ich hatte regelrechte Kämpfe ausfechten müssen, um auch nur Märchen lesen zu dürfen. Was vielleicht erklärt, warum ich mich so unsterblich in einen Mann verliebt hatte, der von Magie träumte.

Ich sah mich in unserem Apartment in der Nähe des Campus’ der Universität von Chicago um. Ich hatte kein einziges Buch angerührt, hatte seine Kleidung nicht weggegeben und bis zu diesem Moment nicht realisiert, wie pathetisch das alles war.

„Finden Sie es nicht auch seltsam“, fragte Tallient nun, „dass ausgerechnet in der Mondsichel-Stadt unerklärliche Dinge im Schein einer Mondsichel geschehen?“

Ich fand es mehr als seltsam. Ich fand es unwiderstehlich.

„Sind Sie interessiert?“

Warum machte er sich überhaupt die Mühe zu fragen? Er musste gehört haben, auf welche Weise Simon gestorben war. Er musste wissen, dass Dr. Malones glänzende Reputation in Trümmern lag. Tallient ahnte vielleicht nichts von meinem Schwur, jeden, der Simon verspottet hatte, zu zwingen, seine Worte zurückzunehmen, aber angesichts dessen, womit ich seit dem Tod meines Ehemanns vor vier Jahren meine Zeit verbracht hatte, sollte er es eigentlich vermuten.

Mein Blick fiel auf das einzige Foto, das ich von Simon besaß – schlank, blond, gelehrt und brillant stand er knietief in einem kanadischen See, und sein Lächeln ließ mich noch immer vor Sehnsucht vergehen. Mir krampfte sich das Herz zusammen, so wie es das jedes Mal tat, wenn ich daran dachte, dass er für immer gegangen war. Aber seine Hoffnungen, seine Träume, seine Arbeit lebten in mir weiter.

„Ich sitze morgen früh im Flugzeug.“

2

Tallient hatte versprochen, dass am O’Hare ein Ticket und ein Scheck auf mich warten würden. Er hatte Wort gehalten.

In der Zwischenzeit hatte ich ihn via Internet überprüft und herausgefunden, weshalb mir sein Name bekannt vorkam. Er war zwar nicht Bill Gates, aber doch nahe dran. Tallient hatte irgendein Ding für Computermodems erfunden und war dabei stinkreich geworden. Zumindest konnte er sich mich leisten.

Durch einen Unfall vor mehreren Jahren war er zum Einsiedler mutiert und hatte seither eine Faszination für die Kryptozoologie entwickelt. Interessanterweise fand ich keinerlei Details über seinen Unfall, was mich auf den Gedanken brachte, ob er möglicherweise seine technischen Fähigkeiten benutzt hatte, um sich ein wenig Privatsphäre zu verschaffen. Ich hätte es ihm nicht verdenken können.

Die Hitze schlug mir wie eine Wand entgegen, als ich den Louis Armstrong International Airport verließ. Es war Mitte Oktober, trotzdem musste die Temperatur bei fünfunddreißig Grad liegen. Kein Wunder, dass die Wölfe schon vor langer Zeit aus New Orleans geflüchtet waren.

Neben dem Flugticket und dem Scheck hatte Frank – er hatte insistiert, dass ich ihn so nennen sollte – mich außerdem mit einem Mietwagen, einem Hotelzimmer in der Bourbon Street sowie dem Namen und der Adresse eines Sumpfführers ausgestattet.

„Daran könnte ich mich gewöhnen“, sagte ich, als der Angestellte mir die Schlüssel zu einem Lexus überreichte.

Kurze Zeit später checkte ich im Hotel ein, dann warf ich meine Tasche aufs Bett. Der Luxus von fließendem Wasser und sauberen Laken würde mir nur so lange vergönnt sein, bis ich eine Operationsbasis gefunden hatte. Ich konnte nicht von der Stadt aus nach einem Kryptid suchen, sondern musste zu sämtlichen Tag- und Nachtstunden am Ort des Geschehens sein. Sobald ich die entsprechende Location gefunden hätte, würde ich meine Campingausrüstung gen Süden verfrachten.

Ich schlenderte zu einer zweiflügligen Glastür, die auf einen Balkon hinausführte. Im gleißenden Schein der Sonne wurde der Verfall sichtbar – berstende Gehsteige, marode Gebäude, Obdachlose, die die Touristen um ein paar Münzen anbettelten.

Einer der bizarrsten Aspekte an der Bourbon Street – und es gab derer viele – war, dass ein dermaßen hübsches Hotel wie dieses eine direkte Aussicht auf ein gegenüberliegendes Stripteaselokal bieten konnte.

Die Frauen tanzten auf dem Tresen. Sobald sie anfingen, mehr zu tun als das, und die Gäste zu grölen begannen, wandte ich mich von dem Schauspiel ab. Ich war kein prüder Mensch, trotzdem hatte ich Sex lieber privat und im Dunkeln.

Zumindest war das so gewesen, als ich noch Sex gehabt hatte. Nach Simon hatte es keinen Mann mehr in meinem Leben gegeben, aber es war mir egal gewesen, ich hatte es kaum bemerkt. Doch allein in einem Hotelzimmer in einer Straße, die mit Sex rund um die Uhr warb, fühlte ich mich ausgegrenzt und gleichzeitig lasterhaft. Einen Sumpfführer zu engagieren schien mir ein gutes Mittel der Ablenkung zu sein.

Ich suchte im Internet nach der Adresse, die Frank mir gegeben hatte, dann verließ ich das French Quarter und fuhr über die Schnellstraße, die über den Lake Pontchartrain führte, nach Slidell – einer interessanten Kombination aus Pendlervorort und viktorianischen Backsteinhäusern. Allerdings hatte ich nicht die Zeit, den Kontrast zu bewundern. Ich wollte die Sache mit dem Führer klären, um mich anschließend in die Arbeit stürzen zu können.

Ich kam an sämtlichen Fast-Food- und Kettenrestaurants vorbei, die ich kannte, und auch an einigen, die ich nicht kannte. Direkt hinter einem Einkaufszentrum bog ich links ab, dann passierte ich eine Reihe von neuen Häusern mit dicken Schlitten in den Einfahrten und Swimmingpools in den Hintergärten.

Diese wichen zunehmend älteren Gebäuden, dann Wohnwagen und schließlich Hütten. Eine letzte Abzweigung und schnipp – da war er, der Sumpf. Kein Wunder, dass ich Geschichten über Alligatoren in den Gärten von Menschen gehört hatte. Was erwarteten sie denn, wenn sie sie im Territorium von Alligatoren anlegten?

Ich schaltete den Motor aus, und die Stille senkte sich wie ein bleiernes Gewicht herab. Doch das Handy in meiner Tasche beruhigte mich ein wenig. Ich konnte jederzeit … irgendjemanden anrufen.

Während ich aus dem Lexus stieg, dankte ich Frank in absentia. Wann immer ich mich in irgendein kleineres Fahrzeug als einen viertürigen Mittelklassewagen zwängen musste, fühlte ich mich, als lenkte ich ein Auto für Clowns.

Meine Mutter war zwar ebenfalls recht groß, dabei aber ärgerlich schlank, mit Eis in den Adern und Haaren, die so dunkel waren wie ihre Seele. Obwohl ihr jeder Sinn für Märchen fehlte, hatte sie mich einmal mit einem Wechselbalg verglichen. Niemand schien zu wissen, woher ich meine hellgrünen Augen, das feuerrote Haar und dieses überwältigende Verlangen, Softball zu spielen, hatte. Mein Aussehen hatte mich schon als Außenseiter gebrandmarkt, noch bevor mein Verhalten dies bestätigt hatte.

Die feuchte Hitze strich zusammen mit dem Geruch von verrottender Vegetation und Brackwasser über mein Gesicht. Meine Augen durchsuchten die Düsternis nach irgendetwas. Ganz gleich was. Obwohl meine Uhr darauf beharrte, dass mir noch eine gute Stunde Tageslicht blieb, warfen die dichten Kronen uralter Eichen ihre frostigen Schatten über mich.

Ich sah nicht mehr als einen Steg und einen Flussarm, der hinter einer Biegung verschwand. Jenseits des Gewässers standen Hunderte Zypressen, von denen Louisianamoos bis ins Sumpfgras herabhing.

„Hallo?“, rief ich. Ich fasste in meine Hosentasche und kramte einen Zettel hervor. „Adam Ruelle?“

Die einzige Antwort war ein sattes Platschen, das mich auf meinem Weg den Steg hinunter abrupt innehalten ließ. Wie schnell konnte sich ein Alligator an Land fortbewegen?

Nicht so schnell wie ich. Aber was, wenn es gar kein Alligator gewesen war?

Wölfe sind sehr schnell, genau wie große Katzen, und wenn man es mit neuen oder bislang unentdeckten Tieren zu tun hat, ist alles möglich.

Ich holte tief Luft. Ich war zwar verweichlicht erzogen worden, aber Simon und ich hatten ein paar Selbstverteidigungskurse absolviert, bevor wir anfingen, möglichst viel Zeit in freier Wildbahn zu verbringen. Man kann nicht in einem Dutzend verschiedener Staaten unter freiem Himmel schlafen, ohne früher oder später in Schwierigkeiten zu geraten.

Allerdings würde mir das Wissen, wie ich einen Mann, der zwanzig Kilo schwerer war als ich, überwältigen konnte, nicht viel bringen, wenn ich an ein wildes Tier geriet. Was hatte ich mir bloß dabei gedacht, allein und unbewaffnet hierherzukommen?

Ich schnaubte. Ich besaß überhaupt keine Waffe. Langsam und die Augen auf das fließende Gewässer fixiert, trat ich den Rückzug zum Ufer an. Das gedämpfte Platschen kam näher und näher. Ich sollte die Beine in die Hand nehmen und rennen, aber ich hasste die Vorstellung, dem mit Seerosenblättern überwucherten Fluss – und was auch immer sich in seinen Tiefen verbarg – den Rücken zuzukehren.

Ich hörte ein Rascheln, das nicht von einem Fisch stammen konnte und auch gar nicht nach Wasser klang. Es war eher das Flüstern von Gräsern, das Knacken eines Zweiges. Langsam hob ich den Blick und richtete ihn auf das gegenüberliegende Ufer.

Eine einzelne Blüte an einem schwankenden Stängel, eine flammend rote Nuance vor dem feuchten blaugrünen Hintergrund und das hohe Gras, das sich hinter einem Körper schloss.

Hätte alles oder jeder sein können.

„Bis auf den Schwanz“, murmelte ich.

Buschig. Schwarz. Ich legte den Kopf zur Seite. Hund? Oder Katze?

Ich trat an den Rand des Stegs, um einen besseren Blick auf das zu bekommen, was längst verschwunden war. Als Wasser über meine Schuhe spritzte, zuckte ich zusammen und rutschte aus.

Mit rudernden Armen und vor Entsetzen geweiteten Augen fiel ich auf den zweieinhalb Meter langen Alligator zu, der mich mit aufgerissenem Schlund erwartete. Jemand griff nach mir und riss mich zurück. Meine Absätze schlugen laut gegen die Holzplanken, und der Alligator fauchte wütend.

Ich erwartete, losgelassen zu werden, sobald ich wieder Boden unter den Füßen hatte, aber mein Retter, mein Geiselnehmer, hielt mich weiter fest.

„Wer sind Sie?“ Seine Stimme klang so heiser, als würde er nur selten sprechen, und es schwang in ihr nicht nur der Rhythmus des Südens, sondern auch ein Hauch Französisch mit. Ich hatte so einen Akzent nie zuvor gehört.

„Diana“, antwortete ich trotz beachtlicher Atemnot und meines fast schon schmerzhaft beschleunigten Herzschlags. „Diana Malone.“

Na also. Ich hörte mich kühl, ruhig und kontrolliert an, auch wenn ich es nicht war.

„Ich brauche einen Sumpfführer“, ergänzte ich.

„Hier gibt’s keinen Führer.“

„Man hat mir gesagt, es gäbe hier einen.“

„Dann hat man Ihnen was Falsches gesagt. Aber machen Sie doch ’ne Propellerboot-Tour den Fluss runter.“

Cajun, realisierte ich, während ich mich anstrengte, die Worte mit dem sexy Akzent zu verstehen.

Sexy? Was zur Hölle stimmte nicht mit mir? Ich konnte noch nicht mal sein Gesicht sehen. Wie es schien, hatte ich eine Schwäche für Akzente.

Ich versuchte, mir ins Gedächtnis zu rufen, was ich über die Kultur wusste. Die Cajuns, ursprünglich Akadier, waren aus Frankreich über Kanada nach Louisiana gekommen. Die meisten von ihnen hatten sich westlich von New Orleans angesiedelt und waren Farmer oder Fischer geworden, was jedoch nicht hieß, dass nicht auch ein paar in die Nähe der Mondsichel-Stadt gezogen sein konnten.

„Diese Typen werden Sie sogar ein Alligator-Baby halten lassen“, murmelte er.

Ich erschauderte, als ich daran dachte, wie knapp ich davor gestanden hatte, selbst von einem Alligator gehalten zu werden – und zwar von einem, der nicht gerade wie ein Baby ausgesehen hatte.

„Nein“, ächzte ich. „Ich brauche …“

Sein Kinn stieß gegen meinen Kopf. Ich hätte schwören können, dass er an meinem Haar schnüffelte. Ich verspannte mich, während ich mich zu erinnern versuchte, was man mir beigebracht hatte, um aus einer solchen Situation zu entkommen, aber mir fiel nichts ein.

Er war größer als ich, wenn auch nicht viel, und definitiv stärker. Mit nur einem Arm hielt er mich so fest, dass ich mich nicht rühren konnte. Ich überlegte gerade, was er wohl mit seinem anderen Arm tat, als ich spürte, wie seine Handfläche meinen Schenkel hinaufglitt.

„Hey!“

„Eine Frau sollte nicht allein hier rauskommen“, flüsterte er. „Sie könnten Dinge sehen, die Sie nicht sehen sollten.“

„Wie zum Beispiel?“

Es trat Stille ein, unterbrochen nur vom Sirren der Insekten, die über das Wasser tanzten. Ich hätte schwören können, ihn lachen zu hören. Doch als er wieder sprach, lag keinerlei Belustigung in seiner Stimme.

„Neugierige Katzen sollten auf der Hut sein.“

„War das als Drohung gemeint?“

„Nur eine Beobachtung, chérie.“

Chérie? Ich hatte sein Gesicht noch nicht gesehen, und er nannte mich Liebling? Der hatte ja echt Nerven.

Ich wand mich in seinem Klammergriff, um freizukommen oder ihn zumindest sehen zu können. Er spannte das Stahlband an, das ihm als Arm diente, und ich bekam keine Luft mehr. Meine Brüste – nicht groß, aber auch nicht übel – rieben gegen sein Handgelenk. Irgendetwas pochte gegen mein Kreuz, bevor er mich mit einem Schubs freigab.

Als ich mein Gleichgewicht wiedergefunden hatte und mich zu ihm umdrehte, flüchtete er bereits in den Schutz der Bäume, wobei er sich mit einer Geschmeidigkeit bewegte, die mich an die ABCs erinnerte, über die ich bei seinem Eintreffen gerade nachgegrübelt hatte.

Sein weißes T-Shirt hob sich leuchtend vor der anbrechenden Dämmerung ab. Er hatte die Ärmel abgeschnitten, vielleicht, um der Hitze Tribut zu zollen, vielleicht aber auch, um seine gebräunten muskulösen Arme zur Geltung zu bringen. Kakihosen umschmiegten seine schmalen Hüften; er trug keine Schuhe. Sein dunkles zerzaustes Haar fiel ihm auf die Schultern. Ich konnte sein Gesicht noch immer nicht sehen.

„Wer sind Sie?“, wisperte ich.

Er antwortete nicht, sondern zündete sich stattdessen eine Zigarette an, wobei er das Streichholz mit der Hand abschirmte, so als wollte er verhindern, dass die Flamme etwas anderes erreichte als den Tabak. Ein bronzenes Armband, das den gleichen Farbton hatte wie seine Haut, umschloss sein Handgelenk. Ich hatte mir nie viel aus Schmuck bei Männern gemacht, doch in seinem Fall schien es seine Maskulinität noch zu unterstreichen.

„Haben Sie irgendwelche Wölfe gesehen?“, fragte ich.

Er inhalierte tief und genüsslich, so als hätte er keine einzige Sorge oder Verpflichtung auf dieser Welt. Trotzdem spürte ich ein leises Aufflackern von Interesse.

„Oder vielleicht einen schwarzen Kojoten?“, hakte ich nach.

Allein schon der Gedanke versetzte mich in Aufregung. Ein schwarzer Kojote würde mir vielleicht endlich diesen verdammten Doktortitel einbringen.

„Wie steht’s mit einer großen Wildkatze?“, fuhr ich fort, als er nicht reagierte, sondern nur wieder an seiner Zigarette zog. „Ein Puma?“

Er stieß Rauch durch seine Nase aus. „So weit im Süden gibt’s keine Wölfe.“

„Kojoten?“

„Die haben wir jetzt. Wurden angesiedelt, um Jagd auf Biberratten zu machen.“

Von denen hatte ich gelesen. Riesige Nager, die zwar Ähnlichkeit mit Bibern, dabei aber rattenähnliche Schwänze hatten. Ich hoffte, dass die Kojoten siegen würden.

„Wildkatzen?“, wiederholte ich. „Was ist mit Bären?“

„Rotluchse. Ein paar vereinzelte Bären. Aber die sieht man nicht oft.“

Es verblüffte mich immer wieder, wie leicht es diesen Tieren fiel, sich in ihrem natürlichen Lebensraum zu verstecken.

„Ich habe von Vermissten gehört. Und von Geschichten über einen Wolf.“

„Solche Geschichten gibt es immer.“

„Wo Rauch ist, ist auch Feuer“, belehrte ich ihn.

Das Ende seiner Zigarette glimmte rot, als er daran zog. „Sind Sie ein Cop?“

„Nein, Wissenschaftlerin.“

Zuzugeben, dass ich Kryptozoologin war, verwirrte die Menschen nur.

Mit einem verächtlichen Schnauben schnippte er die Kippe weg. Das anschließende Zischen verriet, dass er ins Wasser getroffen hatte.

„Können Sie mich führen?“ Ich trat auf ihn zu. „Kennen Sie einen Adam Ruelle?“

„Nein.“

Seine Stimme war hypnotisierend. Ich wollte, dass er weitersprach – für immer.

Ein mächtiges Platschen ertönte, gefolgt von einem dumpfen Aufschlag auf dem Steg. Mich plötzlich daran erinnernd, dass es in dem Sumpf noch andere wilde Tiere als solche mit Fell gab, schoss ich herum, aber da war nichts.

Und es war auch nichts mehr da, als ich mich wieder zu den Bäumen umdrehte – kein Mann, kein Tier.

Verdammt, ich konnte noch nicht mal die Zigarettenkippe finden.

3

Während ich noch zu der Stelle starrte, wo der Mann gestanden hatte, zerriss ein lang gezogenes tiefes Heulen die abendliche Stille. Mir stellten sich die Nackenhärchen auf. Ich hätte schwören können, dass das Geräusch direkt vor mir gewesen war.

Ich bin Zoologin. Deshalb weiß ich, dass es mit dem Heulen von Wölfen etwas Seltsames auf sich hat. Nicht nur ist es für einen Menschen praktisch unmöglich, die Richtung oder Distanz zu bestimmen, sondern oft können einige wenige Wölfe wie ein großes Rudel klingen.

Natürlich klingt ein einzelner auch wie ein einzelner, allerdings war das bereits einer mehr, als hier eigentlich sein sollte.

„Keine Wölfe hier im Sumpf, dass ich nicht lache“, murmelte ich.

Trotzdem kehrte ich zu meinem Wagen zurück, so schnell ich konnte, ohne dabei über meine eigenen Füße zu stolpern. Ich hatte nicht die Absicht, meine Theorie unter Beweis zu stellen, indem ich einem einsamen Wolf gegenübertrat – oder worum auch immer es sich sonst handelte. Recht zu haben würde mich nicht vor dem Tod bewahren.

Da Wölfe nachtaktiv sind, wäre es das Beste, mit der Sonne, einem Führer und einer Schusswaffe zurückzukehren.

Aber vielleicht würde mir eine Waffe gar nichts nützen. Oder zumindest keine, die nicht mit Silberkugeln geladen war.

Der Gedanke brachte mich unwillkürlich zum Lachen. Da dem Geräusch etwas leicht Hysterisches anhaftete, ließ ich den Motor an und fuhr zurück in die Stadt, wobei ich mein Tempo nicht verringerte, bis ich meinen Hintern auf einen Barhocker in einem Lokal namens Kelly’s gepflanzt hatte. Es gab überall ein Kelly’s.

Mehrere Blocks entfernt wurden die Musik und die Stimmen aus der Bourbon Street mit Fortschreiten der Nacht zunehmend lauter. Ich wartete, bis die Touristen das Lokal allmählich verließen und die Einheimischen hereinströmten; dann begann ich, Fragen zu stellen.

„Haben Sie sie noch alle? Ruelle ist doch kein Führer.“

Stirnrunzelnd musterte ich den uralten Mann, der so braun und faltig war, dass er wohl die letzten vierzig Jahre in der Sonne verbracht haben musste.

„Was ist er dann?“

„Verrückt.“

„Wie bitte?“

Mein Kumpel starrte mit einem Ausdruck solch ergreifender Einsamkeit in seinen leeren Bierkrug, dass ich den Barkeeper herbeiwinkte, damit er ihn wieder füllte.

„Ihm gehört ein altes Herrenhaus am Rand der Sümpfe, aber das Ding fällt in sich zusammen. Er selbst lebt in der Wildnis.“

„Also kennt er sich in der Gegend aus.“

„Besser als jeder andere. Aber man hat ihn schon seit Jahren nicht mehr gesehen. Wahrscheinlich ist er tot.“

Seltsam. Aber vielleicht hatte Frank Adam gekannt, bevor der den Verstand verloren hatte.

„Warum sollte Ruelle das Haus einfach so aufgeben?“

„Er ist direkt nach der Highschool in die Armee eingetreten. Man sagt, er sei bei irgendeiner Spezialeinheit gelandet. Als er dann wieder nach Hause kam, konnte er nicht mehr in der Welt leben, deshalb hat er sich in die Sümpfe zurückgezogen.“

Ich stellte mir insgeheim die Frage, wieso ein junger Mann, der irgendeine Alternative hatte, überhaupt zum Militär gehen sollte. Aber natürlich hatte ich mich selbst auch gegen die Alternative entschieden und es vorgezogen, mit dem Mann meiner Träume in einem Zelt zu schlafen, anstatt Geld wie Heu zu verdienen, indem ich für Daddy arbeitete.

Allerdings bezweifelte ich, dass Adam Ruelle wegen einer Frau Soldat geworden war. Andererseits, was wusste ich schon?

Während ich noch überlegte, was die Sache mit Ruelle zu bedeuten hatte, nahm ich ein Streichholzbriefchen von der Bar, auf das in gruseliger Schrift das Wort Cassandra’s geprägt war.

Der alte Mann beugte sich zu mir und tippte mit einem nikotingelben Finger auf den Namen. „Wollen Sie was über Voodoo und so erfahren?“

Ich runzelte die Stirn. „Warum?“

„Die Priesterin Cassandra hat Marie Laveaus altes Haus in der Royal Street gekauft.“

„Marie Laveau, die Voodoo-Königin?“

„Ja, Ma’am.“ Sich offensichtlich für das Thema erwärmend, nickte er. „Die meisten vermuten, dass Marie Laveau in Wirklichkeit zwei Frauen war – nämlich Mutter und Tochter. Als die eine starb, nahm die andere ihren Platz ein, was erklärt, weshalb die Leute damals glaubten, dass Marie magische Fähigkeiten besaß.“

„Jünger zu werden und nicht zu sterben, könnte so was schon bewirken“, stimmte ich ihm zu.

„Niemand weiß genau, wo Marie gelebt hat“, meldete sich der Barkeeper zu Wort, „oder wo sie begraben liegt.“

„Sie wurde auf dem St. Louis Cemetery Number One beerdigt“, insistierte der alte Mann. „Die am zweithäufigsten besuchte Grabstätte des Landes.“

„Welches ist die am häufigsten besuchte?“ Ich hätte auf das Grabmal des Unbekannten Soldaten oder die Ewige Flamme getippt.

„Graceland.“

Tja, es hat noch nie jemand behauptet, dass die Amerikaner nicht bizarr sind.

„Die Priesterin Cassandra lebt in Maries Haus“, wiederholte mein neuer Freund beharrlich. „Hat dort einen Voodoo-Laden eröffnet.“

„Klingt ziemlich abgeschmackt.“

„Abgewrackt?“

„Touristisch. Kitschig.“

„Nein, ihrer nicht. Sie hat Sachen, die man nirgendwo sonst finden würde. In ihrem Hinterhof steht sogar ein Voodoo-Tempel.“

Den hätte ich gern mal besichtigt, aber eins nach dem anderen.

„Wie ich höre, gibt es hier eine Reihe von Vermisstenfällen.“

„In New Orleans?“ Er zog eine Braue hoch. „Was Sie nicht sagen.“

Sein Sarkasmus war verständlich. Ich hatte bei meiner Suche nach dem Paranormalen schon früh festgestellt, dass wesentlich mehr Menschen spurlos verschwanden, als der Allgemeinheit bewusst war. Mit der riesigen Anzahl von Personen ohne festen Wohnsitz – Obdachlose wie auch Touristen – in dieser Stadt sowie einem Fluss, einem See und einem nahen Sumpfgebiet wäre ich jede Wette eingegangen, dass es noch nicht einmal eine vollständige Vermisstenliste gab.

Ich ließ seinen Krug noch mal nachfüllen, bevor ich es mit einer anderen Taktik versuchte. „Mir ist auch was von einem Wolf in den Sümpfen zu Ohren gekommen.“

„Ich habe einen Wolf auf dem Jackson Square gesehen.“

Ich blinzelte. „Hier in der Stadt?“

Der alte Mann nickte.

„Sie sind sich ganz sicher?“

Wölfe wagten sich definitiv nicht in dicht besiedelte Gebiete – es sein denn, sie waren völlig von der Rolle.

„Wenn Sie mir nicht glauben, fragen Sie doch Jay.“ Er stieß einen Finger in Richtung eines jungen Mannes, der am anderen Ende des Tresens genüsslich einen riesigen Hamburger verdrückte. „Er schafft auf dem Square.“

„Schaffen?“ Ich nahm Jay in Augenschein. Er sah ganz niedlich aus, trotzdem konnte ich mir nicht vorstellen, dass er auf den Straßenstrich ging.

„Po-li-zei.“

Nun, das ergab schon mehr Sinn.

Ich unterdrückte den Drang, mir vor Entzücken die Hände zu reiben. Ein Streifenpolizist außer Dienst. Was könnte mir gelegener kommen?

Ein Werwolf, der dem Kelly’s einen Besuch abstattete, aber darauf konnte ich nicht warten.

„War da wirklich ein Wolf auf dem Jackson Square?“, erkundigte ich mich.

Officer Jay sah von seinem Teller auf. „Nein.“

Ich wandte mich wieder dem alten Mann zu.

„Ich habe ihn mit eigenen Augen gesehen“, murmelte er.

„Die Leute sehen hier in jeder Nacht eigenartige Dinge“, erklärte Officer Jay.

„Was zum Beispiel?“

Er stand auf und warf ein paar Münzen auf den Tresen. „New Orleans ist die amerikanische Stadt, in der es am häufigsten spukt, und dafür gibt es auch einen guten Grund.“

„Geister?“

„Alkohol, Drogen, laute Musik.“ Er hielt auf die Tür zu. „Das vernebelt den Leuten den Verstand.“

Nachdem ich mich ein paar Augenblicke später ebenfalls verabschiedet hatte, schlenderte ich eine stille, dunkle Seitengasse in Richtung Bourbon Street hinunter. Binnen weniger Minuten überfiel mich das dumpfe Gefühl, nicht allein zu sein.

Möglicherweise hatte ja einer der Geister beschlossen, mir nach Hause zu folgen. Oder vielleicht war es auch nur ein Straßenräuber. Ich sehnte mich fast schon nach der Gelegenheit, irgendeinem Abschaum in den Arsch zu treten, nachdem ich heute so grob behandelt worden war von diesem …

Wem?

Ich blieb stehen und hätte in diesem Moment alles darauf verwettet, dass das, was auch immer hinter mir herschlich, ebenfalls stehen blieb. So viel zum Thema Paranoia.

Ich schaute nach links, nach rechts, nach hinten und entdeckte nichts als finstere Schatten. Ich beschleunigte mein Tempo, und als ich das tat, hörte ich ein Tapp-tapp-tapp wie von Fingernägeln, die auf eine Schreibtischplatte klopfen. Oder von Krallen, die über den Gehsteig klackten.

Jetzt verlor ich wirklich den Verstand.

Heißer Atem strich über meine Oberschenkel, ein Knurren grollte durch die Nacht, und mein Herzschlag setzte aus. Ich hatte Angst, mich umzudrehen, Angst vor dem, was ich sehen oder nicht sehen würde.

Ein Stück vor mir hatte jemand das Hoftor zu einem Privatgrundstück offen gelassen. Ich täuschte vor vorbeizulaufen, dann schlüpfte ich hindurch.

Etwas flitzte an mir vorbei, etwas Niedriges und Pelziges. Ich war dermaßen fassungslos, dass ich nach vorn stolperte, um besser sehen zu können, und dabei mit dem Zeh in einer Betonritze hängen blieb.

Meine Knie schlugen als Erstes auf, dann meine Hände. Ich wartete, insgeheim damit rechnend, heißen Atem in meinem Gesicht zu fühlen.

Nichts passierte.

Mich an der Mauer abstützend, rappelte ich mich auf die Füße, dann trat ich aus dem Tor. Ein Auto raste vorbei. Der Wind trug Gelächter herbei. Ein Hund bellte, doch der Gehsteig war wie ausgestorben.

Abgesehen von dem Mann, der einen Block entfernt an einem Gebäude lehnte. Hinter ihm funkelten Lichter, hämmerte Musik, tanzten Menschen auf der Straße. Sein Bizeps wölbte sich, als er sich nach vorn beugte, um das Ende seiner Zigarette anzuzünden, das hinter seiner langen dunklen Mähne gerade noch sichtbar war.

Er bog um die nächste Ecke, und ich begann zu rennen. Doch als ich die Bourbon Street schließlich erreichte, war dort nur noch die feiernde Menge.

In dieser Nacht träumte ich, dass jemand auf meinen Balkon kletterte. Ich hatte die Glastüren offen gelassen. Ich hatte gewusst, dass er kommen würde.

Er bewegte sich mit der Geschmeidigkeit eines Raubtiers auf mein Bett zu. Seine Augen waren so blau, dass mir der Atem stockte, noch bevor er seine raue schwielige Hand ausstreckte und mich berührte.

In meinem Traum sah ich ihn, und er war wunderschön. Volle Lippen, scharfe Wangenknochen, lange Wimpern – das Gesicht eines Aristokraten und der Körper eines Arbeiters. Kein Müßiggänger könnte je solch vernarbte Finger, ausgeprägte Muskeln oder gebräunte Haut haben.

Nackt stand er über mir, und das fahle Silberlicht fiel auf seine Rippen und seinen straffen Waschbrettbauch. Beinahe überwältigte mich das Verlangen, meine Finger über die Wellen gleiten zu lassen, ihre Hitze und Kraft zu spüren, meinen Mund dagegenzupressen und dann tiefer nach unten zu rutschen, um ihn zu schmecken.

„Göttin der Jagd, des Mondes und der Nacht“, murmelte er, und seine Stimme strömte wie ein Wasserfall über meine Haut.

Ich wollte mich in dieser Stimme, in ihm, verlieren.

Das Bett schaukelte. Er tat Sachen, die ich nur aus meiner Fantasie kannte, flüsterte Verlockungen in einer Sprache, die ich nicht verstand. „Loup-garou“, entfuhr es mir, und ich erwachte von meinem eigenen atemlosen, heiseren Ausruf.

Die Vorhänge flatterten in einer Brise. Kein Wunder, dass ich einen Albtraum gehabt hatte. Heiße Luft wehte ins Zimmer, zusammen mit dem Getöse der Party, die noch immer unten auf der Straße tobte.

Ich stand auf, knallte die Balkontüren zu und ließ das Schloss einrasten. Ich zitterte noch immer unter dem Eindruck des Traumes, der mir gar nicht wie ein Traum vorgekommen war.

Aber ich musste wegen einer erotischen Fantasie keine Schuldgefühle haben. Schließlich war ich eine junge gesunde Frau, die sich seit vier Jahren keinen Sex mehr gestattet hatte. Nach meiner unerwarteten Begegnung mit diesem geheimnisvollen Mann, der so anders war als alle, die ich je gekannt hatte, hätte ich mir eher Sorgen machen müssen, wenn ich nicht von ihm geträumt hätte.

Trotzdem ärgerte ich mich über mich selbst, war frustriert und schweißgebadet. Außerdem viel zu munter für diese Uhrzeit, deshalb freute ich mich gar nicht auf das, was mir bevorstand.

Dunkle Stunden der Einsamkeit und Schuld, denn obwohl Simon tot war, hatte er in meinen Träumen weitergelebt. Bis zu dieser Nacht, als ein anderer Mann seinen Platz eingenommen hatte.

Ich wandte mich vom Fenster ab und bekam plötzlich keine Luft mehr.

Am Fußende meines Bettes lag, als krasser Kontrast zu dem cremefarbenen Satinlaken, die hellrote Blume, die ich an diesem Nachmittag auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses gesehen hatte.

4

Nein, nicht dieselbe. Das war unmöglich.

Kopfschüttelnd und unverständlicherweise von einer Blume aus der Fassung gebracht, stand ich am Fenster.

Na ja, vielleicht nicht unverständlicherweise. Ich hatte sie schließlich nicht dorthin gelegt.

Meine Augen suchten das Zimmer ab. Es gab keinen Ort, an dem man sich verstecken könnte, außer …

Ich schaute zu Boden, dann ließ ich den Atem, den ich angehalten hatte, in einem erleichterten Seufzer entweichen. Der hölzerne Bettrahmen reichte bis zum Teppich. Es gab kein Unter-dem-Bett.

Langsam schlich ich mich zum Bad. Warum ich nicht einfach den Sicherheitsdienst verständigt habe, weiß ich bis heute nicht. Vielleicht brachte ich es einfach nicht über mich zu rufen: „Ich habe eine Blume gefunden. Retten Sie mich!“

Ich hatte wie immer, wenn ich in einer unvertrauten Umgebung schlief, das Badezimmerlicht angelassen. Ich hasste es, im Halbschlaf gegen Wände zu laufen.

Die Reflexion im Kosmetikspiegel bewies, dass niemand im Bad war. Genauso wenig wie im Kleiderschrank. Was bedeutete …

Ich drehte mich zum Fenster um.

Die Vorhänge, die dazu gedacht waren, die Sonne auszusperren, wenn Mardi-Gras-Besucher den Tag verschlafen wollten, blockten auch alles andere aus. Unfähig, das Nichtwissen zu ertragen, durchquerte ich das Zimmer und zog sie auf.

Dann starrte ich über den leeren Balkon hinweg zu den flackernden Neonlichtern auf der anderen Straßenseite. Mein Zimmer lag im vierten Stock. Wie könnte irgendwer an der Hotelfassade hochklettern, ohne von unten gesehen zu werden?

Aber wäre der Eindringling den Betrunkenen überhaupt aufgefallen? Und falls ja, hätten sie sich dafür interessiert oder ihn einfach angefeuert?

„Verdammt“, murmelte ich.

Irgendjemand war hier gewesen. Bloß wer? Wie? Warum?

Alles Fragen für eine Stunde, zu der die Sonne schien. Dumm nur, dass sie mich für den Rest der Nacht wach hielten.

Bei Morgengrauen war ich längst angezogen und schüttete Mengen von Kaffee aus dem Spender in der Lobby in mich hinein. Wenn ich meinen Mund direkt unter den Hahn hätte halten können, ohne unnötiges Aufsehen zu erregen, hätte ich es getan. Ich war hundemüde.

Ich zeigte dem Concierge die Adresse auf meinem Zettel. Entgegen der Behauptung des Cajun mit der sexy Stimme, bestätigte der Mann, dass es der Sitz einer zuverlässigen Firma namens CW-Swamp-Tours war, die Sumpfführungen anbot.

Ich fuhr zurück zum Steg, wo ein Mann auf einem Propellerboot wartete. „Deanna Malone?“

Allem Anschein nach wartete er auf mich.

„Diana“, korrigierte ich, und er grinste.

Ich wünschte, er hätte das nicht getan. Seine Zähne waren nichts, worüber man nach Hause schreiben würde. Und falls doch, würde es ein kurzer Brief werden, weil nur noch sehr wenige übrig waren. Eine echte Schande. Er wirkte keinen Tag älter als zwanzig.

„Mr Tallient schickt mich.“

Sein Akzent war tiefster Süden – nicht ein Hauch von Frankreich, was ich bedauerte.

„Ich war schon gestern hier“, erwiderte ich.

Sein Gesicht, welches trotz des weißblonden Haars, das in der Morgensonne strahlte wie ein Reflektor, sowohl an Howdy Doody als auch an Richie Cunningham erinnerte, wurde ganz knittrig, so angestrengt dachte er nach.

„Hätte ich gestern kommen sollen? Manchmal bin ich ein bisschen verwirrt.“

Mist. Ich konnte bloß hoffen, dass ihn die Verwirrung nicht mitten im Sumpf übermannen würde.

„Da war so ein Kerl …“, setzte ich an.

„Niemand außer mir kommt hierher.“

„Groß, dunkler Teint.“ Aus Angst, zu sehr nach Schneewittchen zu klingen, ließ ich „hübsch“ unter den Tisch fallen. „Lange Haare.“

Mein Führer zuckte mit den Schultern. „Sagt mir gar nichts.“

„Hat Frank – Mr Tallient – Ihnen gesagt, worum es geht?“

Ich überlegte, ob er Adam Ruelle sein könnte, nur dass Ruelle auf mysteriöse Weise verschwunden war. Abgesehen davon bezweifelte ich, dass ein Mann, der in einer herrschaftlichen Villa, wie marode sie inzwischen auch sein mochte, aufgewachsen war, zulassen würde, dass ihm die Zähne im Kiefer verfaulten. Aber ich konnte mich natürlich irren.

„Wie heißen Sie?“

„Charlie Wagner. Tallient sagte, dass Sie nach dem Wolf suchen wollen.“

„Haben Sie einen gesehen?“

Charlies Blick glitt zur Seite. „Kann nicht sagen, dass es so wäre.“

Ich fand seine Wortwahl interessant. Er konnte es nicht sagen. Was nicht zwingend heißen musste, dass er keinen gesehen hatte.

„Wollen wir uns bei Einbruch der Dämmerung hier treffen?“, schlug er vor.

„Bei Einbruch der Dämmerung?“ Das letzte Mal, dass ich am Abend hergekommen war, wäre ich fast von einem Alligator gefressen worden, und das war noch der beste Part gewesen.

Ich dachte an seine Stimme, den Geruch nach Rauch, seinen Atem in meinem Haar und seinen Arm vor meinen Brüsten. Es war schon sehr, sehr lange her, dass irgendein Körperteil von einem Mann in ihrer Nähe gewesen war.

Vielleicht war der Alligator am Ende doch nicht der beste Part gewesen.

„Wölfe zeigen sich nicht bei Tageslicht“, erklärte Charlie.

Das war mir bekannt. „In Ordnung“, verkündete ich. „Bei Einbruch der Dämmerung.“

Er machte keine Anstalten davonzudüsen. Nach einigen schweigsamen Momenten stellte ich ihm die einzige Frage, die ich noch hatte: „Kennen Sie Adam Ruelle?“

Charlie hatte mir bis dahin ins Gesicht gesehen, doch jetzt schaute er weg. „Nie begegnet.“

„Wissen Sie, wo er wohnt?“

„Das weiß keiner.“

„Was ist mit dem Haus der Ruelles?“

Charlie deutete über das Wasser auf das schwankende Sumpfgras in der Ferne.

Ich hatte nichts anderes vor. Tallient hatte Charlie bereits angeheuert. Und ich war neugierig.

„Bringen Sie mich hin.“

Die Fahrt auf Charlies Boot verlief geschmeidig und schnell. Vermutlich hätte ich besorgt sein sollen, denn solche Sumpfgleiter überschlugen sich des Öfteren. Aber das Peitschen des Windes in meinem Haar und die Sonne in meinem Gesicht waren zu schön, um die Erfahrung durch Was-wäre-wenns zu ruinieren.

Bei Tageslicht war der Sumpf einfach unbeschreiblich. Eine Explosion von Farben, kaum Alligatoren und nicht eine einzige Biberratte. Ich bezweifelte allerdings, dass die Szenerie am Abend genauso ansprechend sein würde.

Die rote, sternförmige Blume wuchs praktisch überall. Während wir übers Wasser jagten, deutete ich mit dem Finger auf ein ganzes Bündel, aber da wir beide Kopfhörer trugen, um das Getöse des Bootes zu dämpfen, würde Charlie meine Fragen nicht so bald beantworten. Er grinste mich einfach mit seinen Un-Zähnen an und fuhr weiter.

Das Ruelle-Anwesen kam in Sicht, als wir in einem weiten Bogen eine kleine Insel umrundeten. Das Gebäude würde sich bestens auf einer Halloween-Karte machen. Die Dachziegel waren grau geworden, die Fenster zerbrochen; die Veranda kippte zu einer Seite weg. Aber trotz seines Zustands und offensichtlichen Alters kam einem automatisch das Wort imposant in den Sinn. In längst vergangenen Tagen waren die Räume bestimmt von Musik, Lachen und Menschen erfüllt gewesen. Wenn ich mich stark genug konzentrierte, konnte ich vor meinem geistigen Auge sehen, wie das Herrenhaus der Ruelles wieder zum Leben erwachte.

In diesem Teil Louisianas lagen die meisten Plantagen an der Great River Road, die von New Orleans bis nach Baton Rouge verlief. Hier auf eine zu stoßen, war ebenso mysteriös wie faszinierend. Ich hatte das Gefühl, durch eine Zeitschleuse in ein anderes Jahrhundert katapultiert worden zu sein.

Charlie schaltete den Motor aus, und das Boot stieß gegen die vermoderte Anlegestelle.

„Wann hat zuletzt jemand hier gewohnt?“

„Früher haben sich immer wieder mal Obdachlose hier einquartiert. Aber in letzter Zeit nicht mehr.“

„Warum nicht?“

„Sie bekamen’s mit der Angst zu tun. Soll gespukt haben und so. Wie ich gehört hab, sind ein paar Menschen verschwunden und nie wieder aufgetaucht.“

Ich starrte zu dem Gebäude. Wenn irgendetwas wie ein Spukschloss aussah, dann das Herrenhaus der Ruelles.

„Man sollte meinen, dass die Wände wegen der Feuchtigkeit längst vermodert wären.“

„Sie sind aus dem Holz von Sumpfzypressen. Das verrottet nie. Das Haus wird bis zum Ende aller Tage dort stehen.“

Eigentlich hätte es mich beruhigen sollen, dass die Bausubstanz solide war, doch stattdessen machte es mich ein bisschen nervös, dass das Haus noch hier sein würde, wenn die restliche Welt untergegangen war.

„Kommen Sie mit“, befahl ich.

Ich fürchtete mich nicht vor Geistern, aber es fiel mir schwer zu glauben, dass sämtliche Obdachlosen der Gegend durch die Gerüchte vertrieben worden sein sollten. Der Gedanke, einem heimlichen Bewohner über den Weg zu laufen, während ich durch das Haus spazierte, behagte mir gar nicht.

Charlie zuckte mit den Achseln, vertäute das Boot und folgte mir.

„Was sind das für Blumen?“ Ich deutete auf einen Streifen, der die Grenze zwischen Garten und Sumpf zu markieren schien. „Die hohen roten meine ich.“

„Feuerlilien.“

„Hübsch.“ Ich machte einen Schritt auf sie zu.

„Fassen Sie sie nicht an!“

„Warum nicht?“

Durch meinen Kopf blitzten Bilder von Nesselsucht, Hautausschlag und Sumpfwarzen. Verdammt. Und so was hatte auf meinem Bett gelegen.

„Bringt Unglück.“

„Welche Art von Unglück?“

„Hoodoo und so was.“

Hoodoo war vermutlich eine altmodische, hinterwäldlerische Vision von …

„Voodoo?“

Seine einzige Antwort bestand in einem weiteren Schulterzucken.

Dies war seit meiner Ankunft das zweite Mal, dass Voodoo Eingang in ein Gespräch gefunden hatte. Aber natürlich war ich in New Orleans, der amerikanischen Voodoo-Hauptstadt. Es sollte mich also nicht überraschen.

Das tat es auch nicht. Trotzdem entschied ich, dass es eine gute Idee wäre, dieser Priesterin Cassandra einen Besuch abzustatten.

Charlie ging die Treppe hoch, wobei seine Stiefel auf den abgetretenen Holzstufen ein Geräusch wie fernes Donnergrollen erzeugten. Obwohl die Sonne alles gut durchzubraten drohte, trug er Jeans, ein langärmeliges Hemd und Arbeiterstiefel. Ich vermutete, dass Letzteres etwas mit den Schlangen zu tun hatte. Nach einem Blick auf meine Tennisschuhe machte ich mir eine geistige Notiz, mir robusteres Schuhwerk zuzulegen.

Er öffnete die Tür, und ich folgte ihm nach drinnen. Hier hatte früher tatsächlich jemand gewohnt. Mehrere hundert Jemands sogar, der Größe des Müllhaufens nach zu urteilen. Der Gestank war nicht gerade appetitlich.

Alte Essensreste, frischer Schmutz und …

Ich hätte schwören können, Blut zu riechen.

Ich schüttelte den Kopf. Das Haus war düster, staubig und verdreckt, aber da war kein Blut. Aus welchem Grund hätte welches hier sein sollen?

Falls es je Möbel gegeben hatte, waren sie inzwischen verschwunden – entweder gestohlen oder als Brennholz benutzt, wobei ich mir nicht vorstellen konnte, dass die Temperatur jemals weit genug in den Keller sinken würde, um ein Feuer zu rechtfertigen.

Es klafften keine Löcher im Dach oder im Boden, nur die Fenster waren zerbrochen. Mit ein bisschen Knochenschmalz und ein paar Litern Seife und Wasser könnte man das Haus wieder bewohnbar machen. Hey, ich hatte schon Schlimmeres gesehen.

Über uns knarrte eine Diele, als ob jemand versehentlich auf eine nachgebende Stelle getreten und dann wegen des Geräuschs erstarrt wäre.

„Hallo?“, rief Charlie.

Keine Antwort.

Ich nickte zur Treppe; wir stiegen sie gemeinsam hoch, dann trennten wir uns im ersten Stock. Charlie ging nach rechts, ich nach links. Ich entdeckte nichts als weiteren Unrat, bis ich dann das letzte Zimmer im rückwärtigen Teil des Hauses erreichte.

Niemand war darin – zumindest kein lebendes Wesen. Haha. Dafür hing ein Foto an der Wand. Ein sehr altes, sehr interessantes Foto. Als Charlie fünf Minuten später zu mir stieß, starrte ich es noch immer an, bemüht, nicht zu hyperventilieren.

„Wer ist das?“, ächzte ich.

„Ruelle.“

„Ich dachte, Sie wären ihm nie begegnet.“

Charlie warf mir einen raschen Blick zu. „Ich meine nicht Adam. Das da ist ein Urahn von ihm.“ Er tippte auf eine Ecke des Fotos, wo ein winziger Vermerk stand. 1857. Ich war zu verwirrt gewesen, um ihn zu bemerken.

„Er hieß Henri.“ Charlie sprach den Namen französisch aus, indem er das H wegließ und die Betonung auf die zweite Silbe legte. „Er ist schon seit fast hundertfünfzig Jahren tot.“

Charlies Worte erreichten mich wie aus weiter Ferne. Ich konnte einfach nicht aufhören, das Foto anzustarren.

Das Gesicht war das des Mannes aus meinem Traum.

5

„Ich schätze, New Orleans ist wirklich die amerikanische Stadt, in der es am häufigsten spukt“, murmelte ich.

„Sie glauben, dass das hier oben ein Geist war?“, fragte Charlie mit zittriger Stimme, während er langsam zur Tür zurückwich.

„Was?“ Ich riss meinen Blick von dem Bild los. „Ach so. Wäre möglich.“

Was wusste ich schon? Ich hatte im Traum das Gesicht eines Mannes gesehen, der seit eineinhalb Jahrhunderten tot war. Ich hatte eine Unglück bringende Blume auf meinem Bett gefunden. Ich war nach Louisiana gekommen, um einen Werwolf aufzuspüren, verdammt noch mal. Man sollte mich nicht ohne Aufsicht unter die Menschen lassen.

Charlie zog mich am Arm. „Lassen Sie uns von hier verschwinden.“

Seine Hände waren eiskalt. Armer Junge. Er tat mir leid, also folgte ich ihm.

Während wir über den Rasen liefen, überlegte ich laut: „Das Foto ist der einzige Gegenstand, der im Haus zurückgelassen wurde. Warum wurde es nicht längst gestohlen?“

Charlie sprang von der Anlegestelle auf seinen Sumpfgleiter. „Keine Ahnung.“

Genau wie ich.

Er jagte das Boot übers Wasser, als ob wir verfolgt würden, dann setzte er mich an derselben Stelle ab, an der er mich zuvor aufgelesen hatte.

„Steht unsere Verabredung für heute Abend noch?“, fragte ich.

„Klar. Mit dem Sumpf hab ich kein Problem.“

Mit aufheulendem Motor machte Charlie so rasant kehrt, dass sich eine gewaltige Welle über den Steg und meine Turnschuhe ergoss.

Ich fuhr zurück zum Hotel, wo ich feststellte, dass meine Blume verschwunden war. Ich hätte angenommen, dass das Zimmermädchen das Ding entsorgt hätte, nur dass mein Zimmer noch gar nicht gemacht worden war.

„Nein, Ma’am“, beharrte die junge Frau, nachdem ich sie aufgespürt hatte. „Auf Ihrer Etage war ich noch nicht.“

„Irgendjemand sonst vielleicht?“

„Nein. Für Ihr Stockwerk bin ich zuständig.“

Sie hätte natürlich lügen können, aber aus welchem Grund?

Sobald ich wieder in meinem Zimmer war, klingelte mein Handy. Ich schaute aufs Display.

Frank.

Ich hatte vorgehabt, ihn anzurufen, war aber immer wieder abgelenkt worden.

„Was haben Sie entdeckt?“, fragte er, ohne auch nur Hallo zu sagen.