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Als der Archäologe Matteo Mecate auf der Ranch von Gina O'Neill nach den Überresten einer aztekischen Kultur suchen will, ist diese zunächst wenig begeistert. Doch Matts sexy Ausstrahlung und seiner Überzeugungskraft kann Gina nicht lange widerstehen. Sie beginnen mit den Ausgrabungen, ohne zu ahnen, dass sie dadurch ein mächtiges Wesen aus seinem jahrhundertelangen Schlaf wecken.
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Seitenzahl: 435
LORI HANDELAND
Wolfsflüstern
Roman
Ins Deutsche übertragen von
Patricia Woitynek
Im ersten Jahrhundert sann er auf Rache.
Während des zweiten lechzte er nach Blut.
Als das dritte anbrach, gierte er nach Zerstörung.
Doch am Ende … verzehrte er sich nur nach dem Mond.
1
»Du hast wieder einen Brief vom alten Tattergreis Dr. Mecate bekommen.«
Gina O’Neil unterbrach das Striegeln des Pferdes, sah auf und entdeckte ihren besten Freund Jase McCord, der mit einem blütenweißen, geschäftsmäßig wirkenden Umschlag wedelte. Sie wusste genau, um welches Geschäft es darin ging. Wie sollte sie auch nicht, nachdem der hartnäckige Dr. Mecate ihr inzwischen mindestens ein Dutzend identischer Umschläge geschickt hatte?
Es wäre durchaus opportun für Sie, wenn Sie mir gestatteten, auf Ihrem Grund und Boden zu graben.
Was zum Geier bedeutete opportun?
Meine akademische These unter Beweis stellen zu dürfen, würde sich vorteilhaft auf das Renommee Ihres Unternehmens auswirken.
Das Wort Renommee stellte Gina vor ein ähnliches Rätsel.
Gerne bin ich bereit, eine Vorauszahlung auf Ihre Vergütung zu leisten.
Wer redete denn so?
»Hallo-ho.« Jase schwenkte den Umschlag hin und her. Die abgebrochene Ecke seines Schneidezahns, die ihm fehlte, seit er mit acht Jahren von einem Pferd abgeworfen worden war, nahm seinem breiten, von hohen Wangenknochen definierten Gesicht etwas von seiner Härte. In Kombination mit seinem kompakten, aber durchtrainierten Körper sah er aus wie ein grimmiger Ute-Krieger – und damit genau wie das, was er gewesen wäre, hätte er in einem früheren Jahrhundert gelebt. »Was soll ich …?«
Gina riss ihm den Umschlag aus der Hand. »Ich kümmere mich darum.« Und zwar auf die gleiche Weise, wie sie sich um all die anderen gekümmert hatte.
Durch direkte Entsorgung in den Müll.
Sie wandte sich wieder Lady Belle zu, und Jase, der mit Ginas wechselnden Launen vertraut war, zog von dannen.
Die Nahua Springs Ranch war nicht nur Ginas Zuhause, sondern auch ihr Erbe. Einst eine der angesehensten Pferdezucht-Ranches in Colorado, war Nahua Springs nach dem Tod von Ginas Eltern vor zehn Jahren zu einer Ferienranch mutiert, von denen es in der Gegend schon viel zu viele gab. Trotzdem waren sie ganz gut zurechtgekommen. Bis vor Kurzem.
Denn seit einer Weile flatterten ebenso viele Schreiben von Schuldeneintreibern wie von Dr. Mecate ins Haus. Natürlich wäre seine Vergütung im Hinblick auf ihre finanzielle Misere durchaus willkommen. Nur leider konnte sie seinem Ersuchen unmöglich stattgeben.
Sie wusste, was sie in dem Umschlag finden würde: die Bitte, ihn auf ihrem Land nach aztekischen Ruinen graben zu lassen.
Das konnte sie nicht erlauben. Was, wenn er dort suchte? Was, wenn er es fände?
Gina ging hinüber zum offenen Scheunentor und sog die Frühlingsluft tief in ihre Lungen, während sie die tintenschwarze Wellenform der fernen Berge und das frische, von den Strahlen des Mondes in Silber getauchte Gras bewunderte.
Giiiiii-naaaa!
Manchmal rief der Wind ihren Namen. Manchmal taten es die Kojoten. Manchmal hörte sie ihn sogar im Heulen der Wölfe, die nicht existierten.
Der trillernde Singsang spukte durch ihr Leben und rief ihr unaufhörlich in Erinnerung, was sie alles verloren hatte. Gina war zu dem Schluss gelangt, dass der Ruf ihrem Gewissen entstammte, das sie mit diesem letzten Wort, das ihre Eltern hervorgestoßen hatten, daran gemahnte, sich zu erinnern – als könnte sie jemals vergessen, dass sie wegen ihr gestorben waren.
Alles hatte in dieser unterirdischen Kaverne seinen Anfang und sein Ende genommen.
»Kinder sind eben Kinder«, murmelte sie, ihren Vater zitierend, der diesen Kommentar verlässlich abgegeben hatte, wann immer sie und Jase in Schwierigkeiten geraten waren.
Lass sie laufen, Betsy. Was bringt es, dieses Land zu besitzen, wenn sie sich nicht so frei darauf bewegen kann wie wir früher?
Ginas Eltern waren schon als Kinder ein Herz und eine Seele gewesen. Eigentlich langweilig, wäre da nicht der Umstand gewesen, dass ihre Beziehung unter einem schlechten Stern gestanden hatte, da Betsy die Tochter des Ranchbesitzers war und Pete der Sohn des Vorarbeiters. Jeder hatte geglaubt, dass sie einander so nahestanden wie Bruder und Schwester. Als Betsys Vater herausfand, dass sie sich noch näherstanden, hatte er seiner Tochter gedroht, sie auf ein College an der Ostküste zu schicken, und zwar gleich nachdem Pete seine Peitsche zu spüren bekommen hätte.
Mit der Entdeckung, dass ein Enkelkind unterwegs war, waren sowohl die Gefahr einer Auspeitschung als auch die Hoffnung auf ein Collegestudium vom Tisch gewesen. Nicht dass Betsy darunter gelitten hätte. Sie hatte die Ranch genauso sehr geliebt, wie Pete es getan hatte und wie Gina es heute tat.
Gina und Jase waren noch Kinder gewesen an jenem Tag, als sie auf direktem Weg zu dem Ort aufbrachen, vor dem Jases Großvater Isaac sie so eindringlich gewarnt hatte.
Am Ende des Einsamen Wildwechsels schläft der Tangwaci Cin-au’-ao. Dort dürft ihr niemals, niemals hingehen.
Isaac zufolge war der Tangwaci Cin-au’-ao ein böser Geist, der über derartige Macht verfügte, dass jeder, der sich in seine Nähe begab, ums Leben kam. Im Grunde handelte es sich dabei um den Todesengel der Ute – und er hauste ausgerechnet auf ihrem Land. Welche Fünfzehnjährige hätte da widerstehen können?
Gina ganz bestimmt nicht.
Sie hatte eine Obsession für den Einsamen Wildwechsel entwickelt, sich immer näher herangewagt und Fotos von der flachen Ebene geknipst, die plötzlich ins Nichts fiel, obwohl ein Baum aus dem Horizont zu wachsen schien. Und sobald die Abend- oder Morgendämmerung diesen Horizont rot färbten, sah es aus, als würde der Baum Feuer fangen.
Wie konnte jemand einen solchen Ort nicht erforschen wollen?
Jase hatte es nicht gewollt, aber Gina war ihm so lange auf die Nerven gefallen, bis er schließlich erwartungsgemäß nachgab. Sie musste Jase zugutehalten, dass ihm nicht ein einziges Mal der Satz Ich habe es dir ja gesagt entschlüpft war.
Nicht, als der Boden unter ihnen eingebrochen war.
Nicht, als sie aus dem Loch herauszuklettern versuchten, mit dem einzigen Erfolg, dass sie eine Lawine sonnengebackener Erde auslösten und unter ihr verschüttet wurden.
Nicht, als sie lebendig begraben waren, bewegungsunfähig und kaum in der Lage zu atmen.
Nicht, als beide begriffen, dass sie dort sterben würden.
Doch die Tatsache, dass Ginas Schlaf noch immer von dem geisterhaften trillernden Singsang gestört wurde, dass selbst der Wind gelegentlich ihren Namen rief, dass sie jeden Morgen kurz vor dem Aufwachen das Gleiche fühlte wie in dieser Kaverne – die Präsenz von etwas Dämonischem, das in einer wahnsinnigen Parodie von Ene, mene, muh mit seiner deformierten Hand erst auf Gina, dann auf Jase zeigte, bevor es seine Todeskralle schließlich auf ihre Eltern richtete, nun …
Das war vermutlich Ich habe es dir ja gesagt genug.
Mateo Mecate starrte auf die Hieroglyphen, bis sie vor seinen überanstrengten Augen verschwammen. Er mochte einer der herausragendsten Gelehrten der Aztekenforschung sein, trotzdem lasen sich die Buchstaben manchmal wie Kauderwelsch. Er schob die Papiere von sich, nahm seine Brille ab und rieb mit der Hand über sein Gesicht.
Eigentlich hätte es ja im Mai Frühling sein sollen. Aber wie gewöhnlich hielt sich Tucson nicht an den Kalender. Die Temperatur überstieg schon seit einer Woche die Dreißig-Grad-Marke.
Die Tür von Matts kleinem, verstaubtem, stickig-heißem Büro öffnete sich, und sein Boss, George Enright, trat ein. Sein Blick erfasste die Papiere auf Matts Schreibtisch, und er runzelte die Stirn.
»Mateo.« In Enrights Stimme schwang eine große Enttäuschung mit. Matt wartete nur darauf, dass er tadelnd mit der Zunge schnalzte, den Kopf schüttelte oder mit einem Finger drohte. »Das muss aufhören. Wegen des Respekts, den ich vor deiner Mutter hatte, habe ich bisher ein Auge zugedrückt, doch jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, endlich zu neuen Ufern aufzubrechen.«
Enright war Leiter der anthropologischen Abteilung der Universität von Arizona, wo Matt als Archäologieprofessor arbeitete, und zwar – wie vor ihm bereits seine Mutter – auf dem Spezialgebiet aztekische Kultur.
Nora Mecate stammte von dieser großartigen Zivilisation ab. Sie war fasziniert – besessen, wie böse Zungen behaupteten – gewesen von der Idee, den Beweis für eine Theorie zu erbringen, auf die sie in den uralten Schriften, die seit vielen Generationen innerhalb der Familie weitervererbt worden waren, gestoßen war. Sie hatte ihr Leben damit verbracht – nein, sie hatte ihr Leben dafür gegeben –, diesen Beweis zu finden.
»Du könntest der Leiter dieser Abteilung werden, wenn ich mich zur Ruhe setze. Aber du musst diese lächerliche Theorie deiner Mutter aufgeben. Du machst dich allmählich zum Gespött.« Enright senkte die Stimme. »So wie Nora.«
Matt versteifte sich. Jeder Akademiker, der sich weigerte, Fakten zu akzeptieren, wurde zum Mittelpunkt amüsanter Anekdoten am Wasserspender der Belegschaft. Ihm war nicht entgangen, dass viele der Doktoranden neuerdings mit seltsamen Blicken und Getuschel auf ihn reagierten.
Nicht, dass ihm solches Verhalten fremd gewesen wäre. Denn aus unerklärlichen Gründen neigten die Frauen in seinem Umfeld dazu, in ihm einen hispanischen Indiana Jones zu sehen. Er war keiner; trotzdem hielt sie das nicht davon ab, kichernd mit dem Finger auf ihn zu zeigen oder ihn während seiner Bürosprechzeiten mit albernen Fragen zu belästigen, auf die sie längst die Antworten kannten.
Matt war nicht interessiert. Nicht, dass er nicht gelegentlich ein Date hatte – sofern man Treffen mit den willigen Damen, die er zum Essen ausführte, anschließend mit in sein Bett nahm und hinterher nie wiedersah, als Dates bezeichnen konnte –, aber sein Leben war der Arbeit gewidmet, und für viel mehr gab es darin keinen Platz.
»Ich habe noch eine letzte Grabungsstätte auf Noras Liste der Möglichkeiten«, sagte Matt.
Enright hob seine künstlich dunkler gefärbten Brauen. Alles an ihm war künstlich – sein nach hinten gegeltes schwarzes Toupet, seine Hochglanz-Maniküre, sogar seine rechte Hüfte.
Als Matt nicht näher ins Detail ging, seufzte Enright. Sein Atem stank nach dem Jack Daniels, den er unter W archiviert hatte.
»Das Semester ist fast vorbei, Mateo. Ich erwarte, dass du dich bis zum Herbst neu orientierst.«
»Mich neu orientieren?«, echote Matt.
»Such dir neue Forschungswege oder such dir eine neue Uni.« Mit einem entschiedenen Klicken fiel die Tür hinter ihm ins Schloss.
Matt zog die Notizen seiner Mutter wieder heran. Er blätterte sie durch, suchte nach etwas, das ihm bei den achttausend Malen, die er sie durchgeblättert hatte, entgangen sein könnte, dabei hätte er schwören können, dass Noras Duft – Orangen, Erde, Sonne – den Papieren entströmte. Manchmal, wenn er nachts über ihnen brütete, war ihr Knistern Noras Stimme, die ihn von seinen Streifzügen, die er als Kind an jeder ihrer Ausgrabungsstätten unternommen hatte, zurückrief.
Er hatte eine verzauberte Kindheit erlebt. Was konnte es Schöneres geben, als in einem Zelt zu wohnen, nach vergrabenen Schätzen zu suchen und niemals – bis er hier gelandet war – einen Fuß in eine Schule setzen zu müssen?
Nora war der einzige Abkömmling der steinreichen Familie Mecate gewesen. Als sie sich dazu entschieden hatte, Archäologin zu werden, hatten sich mehr als nur ein paar tintenschwarze Mecate-Brauen gehoben. Sie musste ihren Lebensunterhalt nicht durch Arbeit bestreiten, und erst recht nicht damit, dass sie in der Erde herumbuddelte. Dass sie darauf bestand, hatte das Begreifen vieler, inklusive das ihres Vaters, überstiegen.
Andererseits waren nur arme Leute verrückt. Reiche Leute waren exzentrisch, und je mehr Exzentriker eine betuchte Familie vorzuweisen hatte, desto größer das Prestige. Es dauerte nicht lange, und die erhobenen Brauen senkten sich.
Als Nora schwanger wurde – ohne einen festen Freund oder Ehemann in Sicht –, hatte sich überhaupt niemand den Umstand gemacht, seine Augenbrauen zu bemühen. Dass Mateo ein Mecate sein und diesen kostbaren Namen weiterführen würde, hatte viel dazu beigetragen, die Kluft zwischen Nora und ihrem Vater zu schließen.
Sie war mit Matt durch ganz Mexiko und den Südwesten gezogen. Dabei hatte sie ihm alles beigebracht, was sie über Archäologie wusste. Sie war in dem Sommer, bevor er ans College gehen wollte, gestorben.
»Verdammt«, murmelte Matt und zeichnete mit einem Finger die krakelige Handschrift seiner Mutter nach.
Als junge Frau hatte Nora die uralten Aztekenschriften, auf die sie in der muffigen Bibliothek des Familienanwesens gestoßen war, übersetzt und dabei etwas Erstaunliches entdeckt.
Der Grund, warum die Azteken niemals eine Schlacht verloren, war der, dass sie über eine Geheimwaffe verfügten, die Nora den Superkrieger getauft hatte – ein Wesen von solch unglaublicher Stärke und Macht, dass es sich ihrer Ansicht nach nur um einen Zauberer handeln konnte. Dieser Krieger hatte irgendwo im amerikanischen Südwesten seine letzte Ruhe gefunden. Sie musste nichts weiter tun, als sein Grab aufzuspüren.
Gelehrte hätten es sicher akzeptiert, wenn sie nördlich des Rio Grande nach aztekischen Überresten gesucht hätte, wenngleich die meisten davon ausgingen, dass die Azteken nicht weiter als bis nach Zentralmexiko vorgedrungen waren. Aber das Grab eines Superkriegers? Eines Zauberers?
Niemand außer Nora hatte daran geglaubt.
Natürlich hatten Noras Geschichten Matt als Kind in ihren Bann gezogen. Er hatte sie vollständig verinnerlicht. Doch im Lauf der Jahre hatte sein Enthusiasmus bezüglich des übernatürlichen Kriegers deutlich nachgelassen.
Trotzdem war Noras Suche nach dem Grab an sich eine solide Sache. Irgendetwas lag jedenfalls an einer noch nicht entdeckten Stätte nördlich des Rio Grande begraben. Vielleicht nicht mehr als ein sehr großer, Furcht einflößend starker und noch tödlicherer Azteke als der Durchschnitt, aber wenn es Matt gelänge, dieses Grab samt Überresten aufzuspüren, könnte er die Theorie seiner Mutter verifizieren. Oder zumindest die Teile, die sich verifizieren ließen. Dann würde sie nicht länger eine Lachnummer sein.
Und er auch nicht.
Seine Mutter hatte die von ihr gefundenen Hieroglyphen übersetzt und eine Liste mit potenziellen Grabstätten erstellt. Sie hatten alle – mit Ausnahme von einer – erforscht, waren jedoch bis dato auf nichts als Steine gestoßen.
Kritiker verwiesen darauf, dass die Spanier die meisten – wenn nicht gar alle – Aufzeichnungen der Azteken zerstört hatten. Dabei handelte es sich um flache ziehharmonikaartige Bücher, bekannt als Codices, die aus Hirschleder oder Agavenpapier bestanden. Alle Texte, die überdauert hatten, waren unter der strengen Aufsicht und oft sogar mithilfe des spanischen Klerus verfasst worden.
Folglich waren die Schriften, auf die Nora Mecate ihr Lebenswerk begründet hatte – Superkrieger? Zauberer? Sonst noch was? –, nichts als ein Schwindel, den irgendein Scherzkeks von einem Priester im fünfzehnten oder sechzehnten Jahrhundert ersonnen hatte.
»Schließlich waren die Priester damals besonders für ihren Sinn für Humor bekannt«, spottete Matt.
Seit Noras Tod hatte Matt selbst das Studium der Dokumente übernommen. Er konnte weder einen Fehler in ihren Übersetzungen der geografischen Hinweise noch weitere potenzielle Grabstellen finden.
Darum hatte er nur noch eine allerletzte Chance, um ihre Theorie zu beweisen. Sollte auch diese Location nichts erbringen, bliebe ihm kaum etwas anderes übrig, als den Traum seiner Mutter aufzugeben – was gleichbedeutend mit dem Eingeständnis wäre, dass sie verrückt gewesen war – und die Sache auf sich beruhen zu lassen. Leider gab es da ein Problem mit der verbliebenen Ausgrabungsstätte.
Matt nahm einen Hochglanz-Flyer aus der mittleren Schublade seines Schreibtischs. Die Vorderseite zeigte majestätische Berge in vier verschiedenen Facetten: Frühling, Sommer, Herbst und Winter – eine prächtige Farbenvielfalt aus Grün, Blau, Gold, Braun, Weiß, Violett und Orange. Pferde sprangen umher. Er drehte die Broschüre um, um nachzusehen, ob sich dort Hasen tummelten und Vieh graste.
Stattdessen entdeckte er das künstlerische Porträt eines Cowboys, der als Silhouette abgebildet war, den Kopf gesenkt, das Gesicht von einem Hut überschattet. Die Körperkontur entsprach dem Wunschtraum eines jeden Möchtegern-Cowboys.
Auf der Innenseite fand sich der Werbetext in Form von mehreren überaus engagierten Absätzen, die den in Sepia gehaltenen Abdruck eines Gebäudes überlagerten, von dem Matt annahm, dass es sich um das Haupthaus handelte, das ungeachtet der pittoresk-altmodischen Stimmung des Fotos gepflegt und gut instand gehalten wirkte. Der Broschüre zufolge komplementierte eine Gourmetküche die authentische Wildwest-Erfahrung.
»Yee-ha«, machte Matt und rieb den glatten Prospekt zwischen Daumen und Zeigefinger, bevor er ein älteres, weniger glattes, abgegriffeneres Papier aus dem Schreibtisch nahm.
Er war kein Experte auf dem Gebiet der Fotografie, trotzdem war er sich ziemlich sicher, dass es sich bei der Person, die die Aufnahmen für den Flyer gemacht hatte, um dieselbe handelte, die für dieses Foto verantwortlich zeichnete, das Matt vor etwa einem Jahr im Internet entdeckt hatte. Jenes Foto, das mit Nora Mecates endgültiger Übersetzung, die den Standort des Superkrieger-Grabes beschrieb, übereinstimmte.
Irgendwo auf dieser Ferienranch wartete seine letzte Chance, dem Lebenswerk seiner Mutter und seinem eigenen Geltung zu verschaffen. Er hatte seinen Assistenten ein Dutzend bis heute nicht beantwortete Nachrichten auf den Anrufbeantworter sprechen lassen, gefolgt von ebenso vielen nicht erwiderten E-Mails. Schließlich hatte Matt das Ruder selbst in die Hand genommen und begonnen, Briefe zu schreiben, in denen er um die Erlaubnis bat, auf dem Land graben zu dürfen. Er hatte bis heute auf keinen eine Antwort erhalten. Es machte ihn rasend.
Tief im Herzen wusste er, dass sein zielstrebiger Eifer, die These seiner Mutter zu beweisen – zumindest so weit, wie sie bewiesen werden konnte –, seinem schlechten Gewissen geschuldet war. Denn er hatte schon vor langer Zeit aufgehört, an den Superkrieger zu glauben. Tatsächlich fragte er sich manchmal, ob seine Mutter nicht die Exzentrikerin gewesen war, für die alle sie hielten.
Werde erwachsen, Mom. Ich wurde es auch.
Selbst jetzt noch ging Matt die Erinnerung durch Mark und Bein. Nora hatte bis zu ihrem Tod an ihrer Überzeugung festgehalten, während er sich …
»Neu orientiert hatte«, murmelte er. Er hatte keinen anderen Ausweg gesehen.
Wenn also Gina O’Neil, die Eigentümerin der Nahua Springs Ranch, glaubte, ihm durch ihr Schweigen den Wind aus den Segeln zu nehmen …
Matt fuhr seinen Computer hoch und klickte auf den Link für Expedia.com.
Dann würde sie bald feststellen, wie sehr sie sich irrte.
2
Jase war losgefahren, um ihre Gäste vom La Plata County Flughafen abzuholen. Sie waren wieder nicht komplett ausgebucht, und das bereitete Gina Sorgen.
Während sie ihr dunkles Haar zu einem französischen Zopf flocht, bewegte sie sich durch ihr Zimmer im ersten Stock des Ranchhauses. Manchmal dachte sie, dass sie es wie Jase tragen sollte, der ungeachtet seiner indianischen Wurzeln seinen pechschwarzen Schopf so raspelkurz schor wie ein Marinesergeant. Kurze Haare wären wesentlich unkomplizierter, besonders bei den Übernachtungen unter freiem Himmel, die Bestandteil jeder Arbeitswoche waren. Aber sie würde sich nie dazu überwinden können. Eine ihrer liebsten Erinnerungen war die an ihre Mutter, wie sie ihr vor dem Schlafengehen die wirren Strähnen ausbürstete. Wenn sie nun ihre Haare kürzen und damit aufhören würde, sie auf die gleiche Weise jeden Abend durchzukämmen, würde, so glaubte sie, diese Erinnerung an ihre Mutter so schnell davongeweht wie abgeschnittene Locken in einem Wintersturm.
Gina runzelte die Stirn, als sie hörte, wie eine Autotür geöffnet wurde. Es war noch zu früh für Jases Rückkehr. Was nur Ärger bedeuten konnte. Jeder Besucher, der in letzter Zeit unangemeldet in Nahua Springs aufgetaucht war, hatte welchen mitgebracht.
Sie trat ans Fenster und spähte, sorgsam darauf bedacht, außer Sicht zu bleiben, nach draußen und sah, wie ein Mann aus einem Wagen stieg. Sein Rücken war ihr zugewandt, und die Sonne verlieh seinem dunkelbraunen Haar, das sich wie die Schwanzfedern eines Fasans über seine breiten Schultern fächerte, mahagonifarbene Glanzlichter.
Gina kannte ihn nicht, aber seinen abgetragenen Jeans, dem verwaschenen weißen T-Shirt und den gut eingelaufenen Stiefeln nach zu urteilen, stammte er aus der Gegend. Die meisten Gäste trafen in fast identischer Aufmachung ein, nur war bei ihnen alles nagelneu.
Seine Unterarme waren kräftig und gebräunt; seine Oberarme konnten sich ebenfalls sehen lassen. Ginas Blick glitt an seinen langen Beinen hoch zu einem anderen Teil, der ebenfalls nicht von schlechten Eltern war.
Er drehte sich um, und Gina richtete sich überrascht auf. Dieses Gesicht hätte als Werbeträger für die zweifellos sündteure Hornbrille dienen können, die seine überperfekte Nase zierte.
Wer war dieser Kerl?
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