Wolfspfade - Lori Handeland - E-Book

Wolfspfade E-Book

Lori Handeland

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Beschreibung

Seit ihre Schwester Katie spurlos verschwunden ist, befindet sich die Privatdetektivin Anne Lockheart auf der Suche nach ihr. Da stößt sie endlich auf einen entscheidenden Hinweis, der sie zu einem Jazzclub im French Quarter von New Orleans führt. Dessen Besitzer ist der attraktive John Rodolfo - ein begnadeter Musiker, der etwas tief in Annes Seele anrührt. Doch sein regelmäßiges nächtliches Verschwinden weckt schon bald ihr Misstrauen. Allerdings ist es nicht so einfach, Johns Geheimnis zu lüften. Weitaus einfacher dagegen, seinem verführerischen Charme zu erliegen ...

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Seitenzahl: 420

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Inhalt

Titel

Widmung

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Impressum

LORI HANDELAND

Roman

Ins Deutsche übertragen von Patricia Woitynek

 

 

Dank an Jen Enderlin.Ohne sie würde nichts von dem hier irgendeinen Sinn ergeben.

 

1

Alles war in Ordnung, bis dieses Foto in meinem Briefkasten auftauchte.

Eigentlich stimmt das nicht. Nichts war mehr in Ordnung, seit meine Schwester sich in Luft aufgelöst hatte.

Offenbar konnten Menschen so vollständig verschwinden, dass man keine Spur mehr von ihnen fand. Ist das hier nicht Amerika? Das Land der großen Freiheit, die Heimat der Überwachungskameras? Der Große Bruder beobachtet einen öfter als man vermutet. Unglücklicherweise hatte er gerade bei der Arbeit gepennt, als Katie sich unentschuldigt abgesetzt hatte.

Drei Jahre lang war trotz all der Bilder, die ich an Laternenpfähle oder Ladenfenster geklebt und auf sämtlichen Internetseiten über vermisste Personen eingestellt hatte, nicht der leiseste Hinweis auf sie aufgetaucht.

Irgendwann war ich in mein Büro gegangen, hatte angefangen, meinen Stapel Post durchzusehen, dabei einen braunen Din-A4-Umschlag geöffnet – und voilà! Da war sie, abgelichtet vor einem Gebäude mit Namen Rising Moon.

Es hatte mich keine drei Minuten gekostet zu eruieren, dass es sich dabei um einen Jazzclub in New Orleans handelte. Ich stopfte ein paar Klamotten sowie meine Zahnbürste in einen Rucksack und nahm den nächsten Flieger.

Ein paar Stunden später stand ich auf einer Straße namens Frenchmen, lauschte den Jazzrhythmen, die aus einer offenen Tür wummerten, und staunte darüber, wie es Mitte Februar so verdammt heiß sein konnte. Als ich in Philadelphia an Bord gegangen war, waren fette Schneeflocken vom Himmel gestoben.

Ich war noch nie in New Orleans gewesen, hatte nie den Drang verspürt. Ich war kein feierwütiger Typ; ich würde nicht hierher passen. Allerdings hatte ich auch nicht vor zu bleiben. Ich hatte vor, Katie aufzuspüren, und dann nichts wie weg.

Ich zwang mich, durch die Tür zu treten und den Rauch, den Lärm und die vielen Menschen einfach zu ignorieren. Das Innere war schäbig und eng, kein Vergleich zu den großen, luftigen Gaststätten zu Hause, in denen es massenhaft Tische und reichlich Platz für Billard, Dart und anderen Zeitvertreib gab. Im Rising Moon drehte sich alles um die Musik.

Ich habe keine Ahnung von Jazz. Gebt mir Aerosmith, ein bisschen Guns N’Roses, an einem echt harten Tag meinetwegen sogar Ozzie. Aber Jazz? Sein Zauber hatte sich mir nie erschlossen.

Ein Blick auf den Saxophonisten in der Nähe des Eingangsbereichs genügte, um mich das mit dem Zauber noch mal überdenken zu lassen.

Der Mann war groß und schlank, und alles an ihm – seine Haare, seine Kleidung, selbst die Brille, die seine Augen verdeckte – war dunkel.

Ich spähte zur Decke. Nicht ein einziger Strahler weit und breit. „Eigenartig“, murmelte ich und erntete damit ein paar missbilligende Blicke seitens der Zuhörer, die den Mann von allen Seiten umringten.

Es gab keine Bühne. Er stand einfach in einer Ecke und spielte. Das Mikrofon, das Klavier und das unbesetzte Schlagzeug ließen mich zu dem Schluss kommen, dass tatsächlich die Ecke die Bühne war.

Er hielt sein Saxophon, als wäre es das Einzige, was er je geliebt hatte. Obwohl es mich in den Fingern juckte, Katies Foto allem, was zwei Beine hatte, unter die Nase zu halten, konnte ich nicht anders, als gebannt diesem Fremden und seiner Musik zuzusehen und zuzuhören.

Trotz der Sonnenbrille, die sein Gesicht in zwei Hälften teilte, erkannte ich, dass er sehr attraktiv war. Er trug sein Haar kurz geschoren, wodurch die ganze Aufmerksamkeit auf die scharfe Kontur seiner Wangenknochen und den teuflisch penibel gestutzten Oberlippen- und Kinnbart gelenkt wurde.

Seine Hände waren langgliedrig und elegant – es waren die eines Aristokraten in einer Welt, die für derartige Charakteristika längst jeden Sinn verloren hatte. Er schien Europäer zu sein, was mir bei genauerer Überlegung nicht wirklich absurd vorkam.

New Orleans war schon immer mehr ein internationales als ein rein amerikanisches Pflaster gewesen. Eine Stadt, wo das Leben in gemächlicheren Bahnen verlief, Musik und Tanzen Bestandteil jedes Tages und jeder Nacht waren, wo französische Worte ebenso selbstverständlich gemurmelt wurden wie Flüche. Kein Wunder, dass ich mich seit dem Moment, als ich aus dem Flieger gestiegen war, nervös und unwohl fühlte. Ich war ein Landei und würde das auch immer bleiben.

Das Stück, was auch immer es war, verklang; die letzten Töne trudelten der hohen Decke entgegen und schwebten davon. Die gebannte Stimmung, die über den Zuhörern gelegen hatte, löste sich auf, als sie klatschten, miteinander zu plaudern begannen und ihre Gläser an die Lippen hoben.

„Vielen Dank, werte Damen und Herren.“ Seine Stimme war nicht weniger betörend als seine Hände: tief, melodiös und mit einem Akzent unterlegt, den ich nicht einordnen konnte. Vielleicht spanisch, mit einer Prise Süden und einem Hauch Norden darin und dann noch etwas Unergründlichem dazwischen.

Der Barkeeper, ein großer, muskulöser Schwarzer mit gespenstisch hellbraunen Augen und unwahrscheinlich kurzem Haar, tauchte an meinem Ellbogen auf. „Was kann ich Ihnen bringen?“

Fast hätte ich den Kopf geschüttelt, um meine von den Händen und der Stimme des Saxophonisten ausgehende idiotische Faszination zu vertreiben. Ich war keine Frau, die wegen irgendeines Kerls aus dem Häuschen geriet, und schon gar nicht wegen seines Aussehens. Wäre mir gutes Aussehen wichtig, würde ich in echten Schwierigkeiten stecken. Mein Gesicht war keineswegs dazu angetan, jemanden zu einem Sonett zu inspirieren.

Ich legte Katies Foto auf das polierte Holz der Theke. „Haben Sie sie schon mal gesehen?“

„Sind Sie ein Cop?“ Der Akzent des Barkeepers war purer Süden.

„Nein.“ Ich hätte ihm meine Privatdetektivlizenz zeigen können, aber die Erfahrung hatte mich gelehrt, dass ich leichter an Informationen herankam, wenn ich ein persönliches Interesse vorgab. „Das ist meine Schwester. Sie war achtzehn, als sie verschwand. Drei Jahre ist das her.“

„Oh.“ Sein Gesichtsausdruck wechselte augenblicklich von argwöhnisch zu mitfühlend. „Das ist wirklich schlimm.“

Ich konnte sein Alter nicht einschätzen – vielleicht dreißig, vielleicht auch fünfzig. Er schien gleichzeitig Teil dieser Bar zu sein und doch irgendwie nicht hierher zu gehören. Muskeln wölbten sich unter seinem dunklen T-Shirt, und die Hand, mit der er nach dem Schnappschuss griff, maß das Doppelte von meiner.

Er starrte das Foto so lange an, dass ich mich schon zu fragen begann, ob seine Tigeraugen ein paar dicke Brillengläser benötigten. Schließlich legte er es zurück auf die Bar und schaute auf. „In dieser Stadt verschwinden häufig Leute. War schon immer so. Kein Wunder, mit all den Touristen, der Bourbon Street, dem Mardi Gras, dem Fluss, dem Sumpf, dem See …“ Er spreizte seine großen Hände und zuckte die Achseln.

Ich würde ihm das einfach glauben müssen. Ich hatte nicht viele Erkundigungen über die Stadt eingezogen, bevor ich in den Flieger gestiegen war, sondern das bisschen Zeit, das mir blieb, auf den Versuch verwendet herauszufinden, woher der Umschlag gekommen war. Allerdings ohne Erfolg.

Meine Adresse war sowohl in die Mitte als auch in die obere linke Ecke des Kuverts getippt worden. Es war eine Briefmarke darauf gewesen, aber kein Poststempel. Was mich zu der Annahme führte, dass jemand ihn heimlich in meinen Briefkasten gesteckt hatte.

Aber warum?

„Meine Schwester ist von zu Hause verschwunden“, klärte ich den Mann auf. „Aus Philadelphia.“

„Da haben Sie aber eine weite Reise auf sich genommen.“

Ich zuckte mit den Schultern. „Sie ist meine Schwester.“

Schwestern können sowohl das Beste als auch das Schlimmste auf der Welt sein – das kommt ganz auf den Tag, die Stimmung, die Schwester an. Meine bildete da keine Ausnahme. Trotzdem würde ich für Katie bis ans Ende der Welt und wieder zurück laufen. Natürlich hatten wir uns auch gestritten, doch zugleich waren wir beste Freundinnen gewesen. Ich hatte so vieles mit ihr geteilt, dass ich mich ohne sie nur noch wie ein halber Mensch fühlte.

„Nein, ich kenne sie nicht.“ Der Barkeeper lehnte sich zurück und nickte jemandem zu, der mit einer Handbewegung einen Drink orderte.

„Sind Sie der Besitzer?“, erkundigte ich mich.

„Nein, Ma’am. Da müssen Sie sich an John Rodolfo wenden.“

„Und wo finde ich den?“

Er nickte mit dem Kinn zum rückwärtigen Teil der Bar. „Er dürfte in seinem Büro sein.“

Als ich in die angegebene Richtung steuerte, erfüllten Stimmengemurmel und das Klirren von Gläsern die hereinbrechende Nacht. Die Bühnenecke des Raums war verwaist; der heiße Saxophonist war weg.

Meine Enttäuschung überraschte mich selbst. Ich hatte nicht die Zeit, hier herumzuhängen und mir Musik anzuhören, auf die ich eigentlich gar nicht stand. Verdammt, ich hatte noch nicht mal die Zeit, mir Musik anzuhören, auf die ich stand.

Meine Arbeit war mein Leben, aber das störte mich nicht. Ich weiß nicht, was ich getan hätte, wäre aus mir keine Privatdetektivin geworden. Damals, mit zwanzig, als ich gerade das zweite Jahr am College absolvierte und noch immer nicht den Hauch einer Ahnung hatte, welchen Abschluss ich machen sollte, war es mir als eine gute Idee erschienen, eine Weile auszusetzen und für Matt Hawkins zu jobben, jenen Privatdetektiv, den meine Eltern mit der Suche nach Katie beauftragt hatten. Er war alt, er brauchte Hilfe, außerdem war es meine Schuld, dass sie überhaupt vermisst wurde.

Na ja, nicht im buchstäblichen Sinn. Wir hatten einen typisch dummen Streit unter Geschwistern gehabt, dann war sie einfach davonstolziert. Ich hätte ihr hinterhergehen sollen; zumindest hätte ich sie, so wie abgemacht, später an jenem Abend treffen sollen. Aber ich war sauer gewesen; also hatte ich sie versetzt und seither nie mehr gesehen.

Ich war nicht mehr ans College zurückgekehrt. Matt hatte mir sein Geschäft überlassen, als er vergangenes Jahr in Rente gegangen war. Hin und wieder half er aus – wie beispielsweise jetzt –, wenn ich die Stadt verlassen musste, um einem Hinweis nachzugehen. Praktischerweise war mein letzter Fall gerade abgeschlossen, und Matt konnte sich um sämtliche Aufträge kümmern, die während der wenigen Tage, die ich unterwegs sein würde, möglicherweise hereinkamen.

Zwischen zwei Türen, auf denen „Messieurs“ beziehungsweise „Mesdemoiselles“ stand, befand sich eine dritte mit der Aufschrift Privat. Ich fragte mich, wo wohl die „Mesdames“ pinkelten.

Die meisten Menschen würden zögern, bevor sie durch eine als privat gekennzeichnete Tür stürmten, aber für mich galt das nicht. Ich war noch nie ein Ausbund an Höflichkeit gewesen – auch nicht, bevor ich meine Lizenz zum Schnüffeln erworben hatte –, folglich drehte ich einfach den Knauf und trat ein.

Das Zimmer war stockfinster. Allem Anschein nach war Rodolfo ausgeflogen. Ich wollte schon wieder gehen, als aus den Tiefen der Dunkelheit ein leiser Fluch ertönte, der mich nach dem Lichtschalter tasten ließ.

Das grelle elektrische Licht blendete mich, und ich blinzelte. Auf den Mann hinter dem Schreibtisch traf das nicht zu. Er trug noch immer seine Sonnenbrille.

Einen verwirrten Moment lang stöberte mein Gehirn nach einer Erklärung, warum er mit einer dunklen Brille auf der Nase in einem dunklen Zimmer saß. Dann durchzuckte mich die Erkenntnis wie ein Blitz, der heller war als das Neonlicht.

Er war blind.

„Können Sie nicht lesen?“ Sich mit seinen langen, geschmeidigen Fingern an der Tischkante entlanghangelnd, kam der Mann um den Schreibtisch herum. „Die Aufschrift ‚Privat‘ ist wohl eindeutig. Die Toiletten liegen zu beiden Seiten dieser Tür.“

„Ich … äh … Entschuldigung.“

„Angenommen. Und jetzt hauen Sie ab.“

Seine groben, mit diesem sexy Knurren von einer Stimme ausgestoßenen Worte bewirkten, dass ich die Augen aufriss. „Ich habe nicht nach der Toilette gesucht. Ich wollte …“

Ich verstummte. Hatte ich nach ihm gesucht? Ich war mir nicht sicher.

„Einen schnellen Fick mit dem Saxophonisten? Heute nicht, chica, ich habe Kopfschmerzen.“

Flinker als ein Mann, der nicht sehen konnte, dies hätte tun sollen, überwand er die kurze Distanz, die uns trennte. Dann packte er meinen Arm mit einem erstaunlichen Minimum an Unbeholfenheit, bevor er versuchte, mich zur Tür zu ziehen.

Ich rührte mich nicht vom Fleck. Zwar war ich mindestens zehn Zentimeter kleiner als er, mit seinen geschätzten ein Meter achtzig, und vermutlich fünfzehn Kilo leichter, trotzdem war ich in guter Kondition und außerdem fest entschlossen. Er konnte mich nicht loswerden, solange ich es nicht wollte.

„John Rodolfo?“, fragte ich, und da hörte er auf, an mir herumzuzerren.

Auf eine Stelle gleich links neben meinem Gesicht starrend, herrschte er mich an: „Wer zum Teufel will das wissen?“

„Anne Lockheart.“

Er neigte den Kopf zur Seite, und wieder nahm mich seine Attraktivität gefangen. Sogar mit seinen verdeckten Augen, die mich weder ihre Form noch ihre Farbe erkennen ließen, war er unvorstellbar anziehend.

„Kenne ich Sie?“, fragte er.

„Nein.“

Er ließ meinen Arm fallen, trat jedoch nicht zurück. „Lassen Sie uns das hier noch mal versuchen. Was wollen Sie, wenn nicht eine schnelle Nummer auf meinem Schreibtisch?“

„Ich ziehe meine schnellen Nummern immer an eine Wand gelehnt durch, aber nicht heute und vor allem nicht mit Ihnen.“

Seine Lippen zuckten leicht. Ich überlegte, wie er wohl aussah, wenn er lächelte, dann schob ich den Gedanken beiseite. Ich bezweifelte, dass ein solcher Ausdruck je über sein Gesicht huschte, was wirklich traurig war.

Wobei mir einfiel, dass traurig exakt das war, wie er im hellen Schein des Deckenlichts gewirkt hatte, bevor er eine Sekunde später aufgesprungen und auf mich zugekommen war.

„Sie bevorzugen Frauen.“ Er zuckte mit den Achseln. „Ich könnte Ihre Meinung ändern.“

Ich schnaubte. Eine typische Macho-Antwort – so als würde eine einzige Nacht mit ihm genügen, um jedermanns sexuelle Vorlieben zu ändern.

„Nicht, dass es Sie etwas angeht, aber ich bevorzuge keineswegs Frauen. Was ich bevorzuge, ist, endlich zum Punkt zu kommen.“

„Der da wäre?“

Ich hielt noch immer das Foto in der Hand, aber da es mir bei Rodolfo nichts nützen würde, schob ich es in die Tasche meiner Jeans. „Ich suche nach meiner verschwundenen Schwester.“

Jedes Anzeichen von Belustigung fiel von ihm ab. „Was hat das mit mir zu tun?“

„Jemand hat mir ein Foto von ihr geschickt, auf dem sie vor diesem Jazzclub steht.“

„Und Sie wollen wissen, ob ich sie gesehen habe?“ Er breitete die Hände aus. „Da kann ich Ihnen nicht weiterhelfen. Ich habe schon ziemlich lange niemanden mehr gesehen.“

„Ihr Name war … ist Katie. Katie Lockheart.“

Den Schnitzer hatte ich schon früher gemacht: von Katie zu sprechen, als ob sie tot wäre. Nach drei Jahren fiel es schwer, das nicht zu tun.

Ich hatte in genügend Vermisstenfällen ermittelt, um zu wissen: Wenn jemand nicht in den ersten sechsunddreißig Stunden gefunden wurde, bedeutete dies, dass man die Person meist auch nicht mehr lebend finden würde. Insgeheim darum betend, dass die Statistiken in Katies Fall eine Ausnahme machen würden, tätschelte ich meine Hosentasche.

„Hab noch nie von ihr gehört“, murmelte Rodolfo.

„Was nicht heißen muss, dass sie nicht hier war.“

„Das stimmt.“ Er stand so nah, dass sein Atem über meine Haare strich. Obwohl die Tür offen war und das Licht brannte, fühlte ich mich bedrängt, verloren und ein bisschen wie in einer Falle.

Ich rückte von ihm ab. „Ich habe zwar schon mit dem Barkeeper gesprochen, würde mich aber gern noch mit Ihren anderen Angestellten unterhalten …“

„Da sind keine.“

„Keine was?“

„Andere Angestellte.“

„Aber …“

„Wir haben noch nicht sehr lange geöffnet.“

„Wie lange genau?“, hakte ich nach.

Falls das Rising Moon ein neues Lokal war, würde das dem Foto eine zeitliche Datierung geben und mir eine bessere Vorstellung davon, wann Katie hier gewesen sein könnte.

„Weniger als ein Jahr.“

„Wie hieß der Club davor?“

„Genauso. Ich habe nicht viel gemacht, außer aufzuräumen und die Vorräte aufzufüllen.“

„Das Äußere ist unverändert? Sie haben kein neues Schild gekauft?“

„Nein.“

Meine Aufregung verpuffte wie Luft aus einem durchlöcherten Ballon.

„Wir hatten ein paar Cocktail-Kellnerinnen, aber im Gastronomiegewerbe …“ Er zuckte mit den Schultern. „Die Leute kommen und gehen. Wir sind ständig unterbesetzt, und das, obwohl ich neben dem Gehalt ein Zimmer biete. Viele der billigen Apartments sind von Katrina davongeschwemmt worden.“

„Ist einer ihrer früheren Mitarbeiter vielleicht noch in der Stadt und arbeitet woanders?“

„Nicht, dass ich wüsste, aber das muss nichts heißen.“

Seufzend zog ich den Schnappschuss aus der Tasche und betrachtete das Konterfei meiner Schwester. Katie war immer das Goldkind gewesen, und das meine ich wörtlich. Während meine Haare von eher unbestimmbarer Farbe waren, leuchteten ihre wie die Strahlen einer Morgensonne. Meine Augen hatten die Tönung einer Matschgrube, ihre schienen das tiefste Meeresblau zu reflektieren. Ihre Nase war gerade und niedlich, ihre Haut hell und rein. Und dann ihr Körper … Ich will es mal so ausdrücken: Als Gott Körbchengrößen vergab, schenkte er Katie drei Viertel von meiner noch dazu.

Man sollte meinen, dass ich jemanden von solcher Perfektion hassen müsste, und manchmal hatte ich das auch getan. Nur dass Katie neben all ihrer Schönheit auch wirklich lieb war und man unwahrscheinlich viel Spaß mit ihr haben konnte. Als Kinder hatten wir tausend Variationen von Verstecken gespielt – Katie gewann immer, aber das machte mir nichts aus, so sehr genoss ich es, mit ihr zusammen zu sein.

Die Suche nach ihr war für mich zur Besessenheit geworden, und das bis zu einem Grad, an dem fast alles andere bedeutungslos wurde. Aber sie war nun mal meine kleine Schwester, und ich hätte auf sie aufpassen müssen. Ich hatte versagt.

„Machen Sie beim Gehen das Licht aus.“ Rodolfo wandte sich so abrupt ab, als könnte er es nicht erwarten, wieder allein zu sein.

Ich weiß nicht genau, warum, aber ich berührte seine Schulter; vielleicht, um mich für mein Eindringen zu entschuldigen oder um ihm – für nichts – zu danken. Er wirbelte herum, seine Hand schoss nach oben und umfing mein Handgelenk, dann zog er mich an sich.

Ich keuchte überrascht auf, dann wurde mir der Atem aus der Lunge gepresst, als ich mit seinem Oberkörper kollidierte. Ich starrte in sein Gesicht, doch das Einzige, was ich sah, war mein Spiegelbild in den dunklen Gläsern, die seine Augen verdeckten. Ich wirkte blass, verängstigt und irgendwie hübscher, als ich mich in Erinnerung hatte.

„Es tut mir leid“, ächzte ich. „Ich wollte Sie nicht erschrecken.“

„Ich mag es nicht, angefasst zu werden“, erwiderte er.

Was erklärte, warum er so verstimmt gewesen war, als er gedacht hatte, dass ich wegen Sex gekommen sei. Was es hingegen nicht erklärte, war die Ausbuchtung in seiner seidigen schwarzen Hose, die gegen meine Hüfte drängte und deren Hitze und Pulsieren verrieten, dass Rodolfo vielleicht nicht gern berührt wurde, sein Körper jedoch anderer Auffassung war.

Mit einem verärgerten Schubs stieß er mich von sich, dann stolzierte er zu seinem Schreibtisch und nahm dahinter Platz, sodass seine untere Körperhälfte effektiv vor meinem Blick verborgen wurde. Trotzdem wusste ich, was ich gespürt hatte.

Der heiße Typ fühlte sich zu mir hingezogen. Ich hatte keine Ahnung, was ich davon halten sollte.

 

2

Im Gegensatz zu meiner mädchenhaften Schwester war ich schon immer ein echter Wildfang gewesen. Ich zog Sport Puppen vor und spielte lieber an der frischen Luft, als Bücher zu lesen. Männer fühlten sich von meiner Aggressivität bedroht, von meinem spülwasserfarbenen Haar, der krummen Nase, meinem gewöhnlichen Gesicht und Körper nicht gerade angezogen. Ich war weder dick noch dünn, weder klein noch groß. Ich war okay – durchschnittlich und unscheinbar.

Ich trug meine Jeans eine Nummer zu weit und dazu übergroße Herrenhemden, ausschließlich in Weiß. Nicht, dass ich keine Freunde, Beziehungen oder keinen Sex gehabt hätte. Nur eben nicht in letzter Zeit. Mit Katies Verschwinden war es mir zur Lebensaufgabe geworden, sie zu finden. Ich hatte nicht in Betracht gezogen, dass es tatsächlich mein ganzes Leben in Anspruch nehmen könnte, aber falls es so sein sollte, dann war es eben so. Nur weil ich mich insgeheim nach der Art von Liebe sehnte, die meine Eltern verband – eine, die trotz der vielen Ehejahre und der unfassbar schmerzvollen Erfahrung, ein Kind zu verlieren, nie wankte –, bedeutete das nicht, dass ich sie auch finden würde. Frauen wie ich zogen in der Regel irgendwann mit einer Katze zusammen. Ich mochte Katzen nicht besonders, aber das nur nebenbei.

Rodolfo war sicher eine Nummer zu groß für mich. Andererseits – mein Blick blieb an seiner Sonnenbrille hängen – wusste er das nicht.

Trotzdem, woher rührte sein schnelles Interesse? Er hatte sich gebärdet, als hätte er mehrere Jahre hinter Gittern gesessen. Ich machte mir eine geistige Notiz, seinen Hintergrund zu überprüfen.

„Jedenfalls … danke“, stammelte ich.

„Für die unsanfte Behandlung?“

Er klang, als wäre er von sich selbst angewidert. Ich fühlte mich ein bisschen schlecht. Er hatte mir nicht wirklich Angst eingejagt. In Wahrheit hatte ich die letzten paar Minuten mehr als nur ein bisschen genossen. Ich war nicht der Typ Frau, der das Tier in einem Mann zum Vorschein brachte. Bis heute war mir nicht bewusst gewesen, dass ich es gern wäre.

„Ich werd’s schon überleben“, entgegnete ich trocken und ging langsam zur Tür.

„Das Licht“, erinnerte er mich.

Meine Hand verharrte vor der Wand. Warum bekümmerte es mich, ihn in einer Dunkelheit zurückzulassen, die er ebenso wenig sehen konnte wie mein Gesicht? Ich kannte den Mann doch kaum. Was ging es mich an, wenn er gern im Finstern vor sich hin brütete?

Ich knipste das Licht aus und zog die Tür hinter mir zu, dann blieb ich, unfähig mich abzuwenden, im Flur stehen. Fast, aber nur fast hätten das Stimmengemurmel der Gäste, das Gläserklirren und das Einspielen der nächsten Band verhindert, dass ich die Geräusche aus dem mit PRIVAT beschrifteten Zimmer hörte.

Rodolfo führte Selbstgespräche.

Ich bezweifelte, ob es ihn glücklich gestimmt hätte, mich hier draußen herumlungern zu wissen, also drehte ich mich um und ging ein paar Schritte in Richtung der lauten, überfüllten Bar, bevor ich von Neuem stehen blieb.

Ich wollte da nicht wieder durchlaufen; ich wollte einfach nur hier raus. Zu meiner Rechten entdeckte ich einen Hinterausgang. Ich nahm ihn und schlüpfte hinaus in eine dunkle, müllübersäte Seitengasse. Vielleicht wäre der Weg durch die Menge doch die bessere Alternative gewesen.

Ich streckte die Hand nach der Tür aus, als sie im selben Moment mit einem Klicken hinter mir zufiel. Ich zog daran, aber sie war von innen verschlossen.

„Verdammt!“ Ich wünschte, ich hätte eine Schusswaffe dabeigehabt.

Ich besaß die Lizenz, in Pennsylvania eine tödliche Waffe mitzuführen – ich hatte Unterricht genommen und all das –, aber meistens verzichtete ich darauf. Um nach verschollenen Personen zu suchen oder Leuten hinterherzuschnüffeln und Fotos von untreuen Ehepartnern oder unehrlichen Angestellten zu knipsen, brauchte man keine Handfeuerwaffe.

Ich hätte meine mitbringen können, aber die Scherereien, die damit verbunden waren, eine Pistole mit an Bord eines Flugzeugs zu nehmen, lohnten die Mühe einfach nicht. Wie hätte ich ahnen sollen, dass ich nach Einbruch der Dunkelheit allein in einer unheimlichen Seitengasse landen würde?

Und sie war unheimlich – kühl, trotz der stickigen Hitze der Nacht, dabei fast marineblau, mit flackernden silbrigen Tupfen von einem Mond, den zu viele Wolken bedeckten, als dass man seine Form erkennen konnte. Ein fauliger Geruch hing in der Luft, und irgendwo, nicht allzu weit entfernt, huschte etwas auf mehr als zwei Füßen davon.

Ich mochte ein Wildfang sein; ich mochte wissen, wie man eine Waffe abfeuerte; ich war in der Lage, jemandem, der fünfzehn Kilo schwerer war als ich, den Arsch zu versohlen – ich hatte gleich beim ersten Mal, als mich so ein Irrer bei der Arbeit attackiert hatte, einen Selbstverteidigungskurs belegt. Trotzdem war ich noch immer Frau genug, um Ratten zu hassen. Gab es irgendwen, der die Viecher wirklich mochte?

Ich zwang mich, mit selbstsicheren Schritten auf eine einsame, schummrige Straßenlaterne zuzugehen. Es musste einen Weg zurück in die Frenchmen Street geben, wo ich mir ein Taxi schnappen konnte, das mich in das neonhelle Zentrum der Bourbon Street zurückbringen würde. Da ich ein Partymuffel war, hätte diese Aussicht eigentlich nicht ganz so verlockend sein sollen.

Ich war noch keine vier Schritte weit gekommen, als aus dem Rising Moon das Schmettern einer Trompete zusammen mit dem Wummern eines Schlagzeugs dröhnte. Erschrocken fuhr ich herum, und dabei hätte ich schwören können, aus dem Augenwinkel irgendein Tier zu sehen, das an der Seite des Gebäudes entlangglitt.

Sollte ich die Flucht ergreifen? Ich konnte mir nicht vorstellen, dass eine Ratte mich verfolgen würde.

Aber wenn das wirklich eine Ratte gewesen war, dann die größte, die es in Louisiana je gegeben hatte, wenn nicht sogar weltweit. Was ich gesehen hatte, war eher mit einem Hund zu vergleichen – einem großen.

Nur dass ein Hund mein Herz nicht so sehr in Aufruhr versetzen sollte, dass es mir die Rippen zu sprengen drohte. Ein Hund würde sich nicht halb außer Sichtweite in den Schatten herumdrücken, sondern auf mich zustürmen, um mich zu begrüßen oder zu versuchen, mir ein Leckerli abzubetteln. Es sei denn, er hatte ein Problem. Wie zum Beispiel Tollwut.

Was wiederum bedeutete, dass eine Flucht vermutlich keine gute Idee wäre.

Also schlich ich mich stattdessen rückwärts davon. Meine Augen unverwandt auf die dunklen Schatten rund um das Rising Moon fixiert, schwor ich mir, mein Zuhause nie wieder ohne meine Pistole zu verlassen.

Je weiter ich mich der einzelnen Straßenlaterne näherte, desto undurchdringlicher wurden diese Schatten. Die Musik schallte durch die offenen Fenster in die Nacht und übertönte beinahe das Hämmern meines Herzens. Dennoch hätte ich schwören können, ein leises Knurren darin mitschwingen zu hören.

Ich war nervös, das war alles. Eigentlich hätte ich es besser wissen müssen, als mich allein in einer dunklen Straße herumzutreiben. Aber mein Wunsch, Rodolfos Stimme zu entkommen, war so übermächtig gewesen, dass ich den erstbesten Fluchtweg nach draußen genommen hatte. Was idiotisch und impulsiv war – zwei Adjektive, die nur selten auf mich zutrafen. Sollte Matt je hiervon erfahren, würde er mir eins auf den Hinterkopf geben, und das zu Recht. Hey, sollte ich ihn je lebend wiedersehen, würde ich mir selbst eine verpassen.

Dann endlich schien die Straßenlampe direkt auf mich herab. Ein schmaler Korridor zwischen zwei Häusern gab den Blick auf die belebte Frenchmen Street am anderen Ende frei. Ich bog in ihn ein.

Die mich umgebenden Gebäude waren so hoch, dass sie jedes Licht abblockten; ich sah nichts als einen grauen Klecks vor mir. Ich hastete darauf zu und hielt auch dann nicht inne, als hinter mir etwas in den Korridor glitt, dessen massiger Körper die Schatten zum Tanzen brachte. Dann konnte ich mich nicht länger beherrschen; ich rannte los.

In der engen, von Mauern umschlossenen Gasse hallte das harsche Keuchen meines Atems in abgehacktem Stakkato zu dem dumpfen Aufschlag meiner Turnschuhe auf dem Asphalt und dem Wummern meines Rucksacks, den ich mir über eine Schulter geschlungen hatte, wider.

Das Ende des Korridors war nur verschwommen zu erkennen und schien immer weiter zu entschwinden, je näher ich ihm kam. Die Region zwischen meinen Schulterblättern brannte, als wäre dort plötzlich eine rote Markierung angebracht – ein Ziel für den Einschlag einer Kugel, das Eindringen eines Messers oder den Angriff eines wilden Tiers.

Ich versuchte gerade mich umzusehen, so wie alle dummen Menschen es tun, wenn sie verfolgt werden, da verfing sich meine Schuhspitze in einem der Risse im Asphalt, die es hier zuhauf gab. Ich kippte vornüber, meine Hände schnellten zur Seite und prallten hart gegen die Hausmauern rechts und links von mir. Ein Spreißel bohrte sich in eine Handfläche, ein splittriges Brett zerschrammte die andere, aber wenigstens fiel ich nicht hin.

Schweißüberströmt, mit wildem Blick und von Panik übermannt, stürzte ich Sekunden später ins Freie. Mit einer zitternden Hand strich ich mir das wirre, schulterlange Haar aus den Augen, während ich mit der anderen ein vorbeifahrendes Taxi anhielt.

Falls ich ein bisschen zu hektisch eingestiegen sein sollte und mir dabei fast den Fuß in der Tür gequetscht hätte, dann schien es der Fahrer nicht zu bemerken. „Wohin?“, fragte er.

„Bourbon Street.“

Schimmernd und von einem geisterhaften Silber schob sich der Mond hinter den dichten Wolken hervor. Ich warf einen letzten Blick in die schmale Gasse, die jetzt so hell erleuchtet war wie der Times Square.

Dort war nichts.

Ich zwang mich, nach vorn zu sehen, während der Taxifahrer eine Kehrtwendung machte und das Wehklagen eines Saxophons gleich einem Heulen zum marineblauen Himmel aufstieg.

 

3

„Wo bekomme ich ein Zimmer?“, fragte ich.

Der Taxifahrer ließ ein abfälliges Schnauben hören und guckte in den Rückspiegel. „Die Mardi-Gras-Paraden beginnen bald. Es gibt keine Zimmer mehr.“

„Was, überhaupt keine?“ Meine Stimme klang schrill.

Er zuckte die Achseln. „Sie können es ruhig versuchen.“

Er setzte mich an der Ecke Bourbon Street und St. Peter ab. Ich marschierte in das nächstbeste Hotel, wo man mir das Gleiche sagte. Ich bat um eine Empfehlung und wurde ausgelacht. Offenbar war es mehr als naiv von mir gewesen, so kurz vor der Hauptsaison ohne eine Reservierung nach New Orleans zu kommen.

Allen widrigen Umständen zum Trotz war ich fasziniert, als ich die Bourbon Street entlangspazierte. In direkter Nachbarschaft zu einem hübschen Restaurant mit Tischen im Garten befand sich ein Kino, das, seinen Plakaten nach, nicht unbedingt Disney-Filme zeigte. Eine Bar mit einer Dixieland-Band teilte sich ihren Standort mit einem Geschäft, das voller Stolz pornografische T-Shirts feilbot. Ein prächtiges Hotel aus dem neunzehnten Jahrhundert – ebenfalls komplett ausgebucht – mit einer Flut von über Glastüren zugänglichen Balkonen im ersten und zweiten Stock blickte direkt auf ein an der anderen Straßenseite gelegenes Stripteaselokal.

Ein unverkennbarer Geruch – nach schalem Bier, frischen Pflanzen und Fäulnis – reflektierte den Charakter der Straße.

Ich ging in eine der Bars, bestellte ein Sandwich und zeigte Katies Foto herum, aber niemand kannte sie. Auf diese Weise würde ich sie niemals finden. Ich brauchte Hilfe.

Die nächstgelegene Polizeiwache befand sich in der Royal Street, dem Herzen des French Quarter.

Ich erklärte dem ersten Polizisten, der mich ansprach, meine Situation, zeigte ihm meinen Ausweis und Katies Foto. Wenige Minuten später schüttelte ich die Hand von Detective Conner Sullivan.

„Setzen Sie sich.“ Er deutete auf einen Stuhl vor seinem Schreibtisch.

Sullivan hatte das Format eines Footballspielers der NFL – circa zwei Meter fünfzehn groß und hundertzwanzig Kilo schwer –, dazu einen Blondschopf, der aussah, als wäre er bei den Marines gestylt worden, und braune Augen, die weder zu seinem Namen noch zu seinem hellen Teint passen wollten.

Am besten gefiel mir seine Krawatte, auf der ein herzförmiger, Konfetti werfender Harlekin prangte. Der Kontrast zwischen Sullivans Bürstenkopf, seinem tadellosen Anzug, den abgeklärten Polizistenaugen und der lustigen Krawatte faszinierte mich mehr, als gut für mich war.

Ich hatte den ersten Teil des Abends damit zugebracht, nach einem leicht verrückten blinden Jazz-Musiker zu lechzen; überflüssig, nun auch noch ein Interesse an dem imposanten, gut gekleideten Detective zu entwickeln. Ich hatte Wichtigeres zu tun.

„Ich bin auf der Suche nach meiner Schwester“, erklärte ich und legte das Foto auf den Schreibtisch. „Ihr Name ist Katie. Katherine Lockheart.“

Seine riesigen Hände griffen sich den Schnappschuss. Er betrachtete das Foto mindestens dreißig Sekunden lang, bis ich schon zu glauben begann, dass er sie wiedererkannte, doch dann schüttelte er bedächtig den Kopf. „Ich habe sie noch nie gesehen, und auch ihr Name ruft keine Erinnerung wach.“

Ich holte tief Luft, schluckte meine Angst hinunter und wagte den Vorstoß. „Irgendwelche nicht identifizierten weiblichen Toten?“

Sein Blick glitt von Katie zu mir. „Laufend. Aber keine, die aussieht wie sie.“ Er gab mir das Foto zurück. „Sie sollten in den Krankenhäusern nachfragen.“

Ich nickte. Ich kannte das Procedere.

„Sind Sie vom Dezernat für Vermisstenfälle?“, fragte ich.

„Nein, Mordkommission.“ Auf meine verwirrte Miene hin erklärte er: „Es ist eine ganze Reihe von Leuten hier in der Gegend verschwunden. Viele von ihnen wurden tot aufgefunden. Genauso viele sind überhaupt nicht mehr aufgetaucht.“

„Wenn Sie von einer ganzen Reihe sprechen, meinen Sie …“

„Dutzende.“

Meine Augen weiteten sich. „Und Sie waren nicht auf CNN?“

„Nein, noch nicht“, entgegnete er trocken. „Obwohl sich die Dutzende über einen Zeitraum von mehreren Jahren erstrecken, ist die Zahl in letzter Zeit drastisch angestiegen.“

„Wie drastisch?“

„Während der letzten sechs Monate doppelt so viele Vermisste und Tote wie sonst.“

„Sie tippen auf einen Serienmörder?“

Er blinzelte. „Wie kommen Sie denn da drauf?“

„Ist Ihnen der Gedanke nie gekommen?“

„Immer wieder, bevor er sich irgendwann dauerhaft in meinem Kopf eingenistet hat. Ich hatte nur nicht damit gerechnet, dass jemand meine Meinung teilen könnte.“

„Warum nicht?“

„Zum Beispiel wegen der unterschiedlichen Tötungsmethoden.“

„Unterschiedlich?“

„Ja.“ Sein resigniertes Seufzen sprach Bände.

Serienkiller folgen fast schon pedantisch einem bestimmten Muster. Sie entwickeln eine Methode, ihre Taten zu verüben, und bei der bleiben sie.

„Ein paar der Opfer wurden stranguliert, andere starben an Messerverletzungen, wieder andere wurden erschossen. Wir hatten sogar eine Reihe von Todesfällen durch Tierattacken.“

„Was nicht nach einem Serienkiller klingt.“

Sein Schnauben schien zu besagen, dass er da nicht so überzeugt war.

„Haben Sie das FBI eingeschaltet?“, wollte ich wissen.

Zwei hellrote Flecken breiteten sich unter Sullivans Wangenknochen aus. Seine irische Haut verbrutzelte unter der Sonne Louisianas wahrscheinlich wie Speck.

„Ja. Sie haben uns einen Agenten namens Franklin geschickt. Er hat sich die Fälle angesehen und entschieden, dass es sich unmöglich um einen Serienmörder handeln kann.“

„Weil die Tötungsarten so unterschiedlich waren?“

„Deswegen, und weil die Opfer keinerlei Ähnlichkeiten aufwiesen – es waren Frauen und Männer, junge und alte.“

Serienkiller hielten auch ziemlich pedantisch daran fest, wen sie umbrachten, und pickten sich – je nachdem, welcher Typ sie mehr an ihre Mutter erinnerte – zum Beispiel entweder zierliche, kecke Blondinen oder dralle Rothaarige heraus.

„Mein Vorgesetzter war nicht glücklich darüber, dass ich das FBI in einen Fall involvierte, der ganz offensichtlich nicht Sache der Bundespolizei ist.“

Vorgesetzte waren in dieser Hinsicht eigen. Einmal mehr war ich froh darüber, keinen zu haben. Ich war noch nie ein guter Mannschaftsspieler gewesen – außer bei Katie, und manchmal selbst da nicht.

„Man hat mich angewiesen, die Morde nicht miteinander in Verbindung zu bringen. Aber …“ Er zuckte mit den Schultern.

„Ihr Bauchgefühl sagt Ihnen etwas anderes.“

„Irgendetwas sagt es mir jedenfalls“, murmelte er. „Ich kann einfach nicht glauben, dass dieser plötzliche Anstieg der Mordrate auf ein Dutzend verschiedene Täter zurückzuführen sein soll oder dass ein anderes Dutzend einfach so verschwindet, ohne eine Spur zu hinterlassen. Das wäre einfach zu viel Zufall.“

Menschen, die spurlos verschwanden – das war genau mein Gebiet. Ich musste gestehen, dass ich mehr als fasziniert war.

„Trotz allem, was wir über das Verhalten von Serienmördern wissen“, sagte ich, „halten Sie es für wahrscheinlich, dass ein einziger Täter sie alle getötet hat?“

„Es wäre zumindest ordentlicher.“

Mein Blick schweifte über seinen blauen Anzug, das blütenweiße Hemd, die sorgfältig gebundene Krawatte, und ich erkannte, wie wichtig Ordnung für ihn war.

„Wie kommt es, das man mich zu Ihnen geführt hat?“, fragte ich.

„Ich habe eine Abmachung mit dem Dezernat für Vermisstenfälle. Wir tauschen Informationen aus, und falls jemand reinkommt und von ihnen keiner da ist, ich aber schon, nehme ich das Protokoll auf und gebe ihnen anschließend eine Kopie.“

„Und vice versa?“

„Ganz genau.“ Sullivan zog eine Schreibtischschublade auf und holte einen riesigen Aktenordner heraus. „Ich habe ein bisschen auf eigene Faust ermittelt, aber inzwischen fehlt mir die nötige Zeit.“

Ich hatte keine Ahnung, warum er mir das alles erzählte, allerdings sagte man mir nach, dass es leicht sei, sich mir anzuvertrauen. Was mir sehr entgegenkam, denn immerhin bestand der wichtigste Teil meiner Arbeit darin, den Leuten Informationen, ein Geständnis, einen Namen zu entlocken.

„Wieso beißen Sie sich da so fest, wenn es doch keine Verbindung zwischen den Opfern gibt?“, platzte ich heraus.

Er hob den Kopf und sah mich an. „Weil ich auf eine gestoßen bin.“

Ich beugte mich nach vorn. „Was?“

„Die meisten der Opfer wurden davor schon einmal vermisst.“

Es trat Stille ein, die nur von dem fernen Läuten eines Telefons durchbrochen wurde.

„Nur dass ich Sie richtig verstehe: All diese Toten und Vermissten, deren Zahl so abrupt angestiegen ist, wurden bereits zu einem früheren Zeitpunkt vermisst?“

„Nicht alle, was jedoch daran liegen könnte, dass niemand ihr Verschwinden bemerkt oder gemeldet hat.“

„Trotzdem muss das nicht zwangsläufig heißen, dass sie einem Serienkiller zum Opfer fielen.“

„Nein. Aber es ist eine Verbindung.“

„Haben Sie Ihrem Boss davon erzählt? Dem FBI?“

„Ich brauche mehr Informationen, bevor ich mich das nächste Mal zum Affen mache.“ Er musterte mich mehrere Sekunden. „Hätten Sie Lust, einen Blick in die Akte zu werfen?“

„Was, ich?“

„Jeder der Toten oder Vermissten wurde schon früher einmal vermisst“, wiederholte er so langsam, als spräche er mit einer geistig Minderbemittelten.

„Das habe ich verstanden.“

„Ihre Schwester wird vermisst.“

„Sie wird schon seit langer Zeit vermisst.“

„Allem Anschein nach wurde sie zuletzt in dieser Stadt gesehen. Genau wie eine Menge anderer Leute.“

Ich runzelte die Stirn. Mir gefiel nicht, was er nicht sagte.

Sullivan schob mir den Ordner hin, schlug ihn auf und zeigte auf eine Liste von Namen. „Das hier sind die Vermissten und die Toten; daneben steht jeweils der Ort, an dem sie zuletzt gesehen wurden.“

Ich überflog die Seite, dann zuckte ich zusammen, als ob mich jemand in den Hintern gekniffen hätte.

„Wie Sie sehen können“, fuhr Sullivan fort, „landeten die meisten von ihnen auf dieser Liste, nachdem sie im Rising Moon gewesen waren.“

 

4

„Ich verstehe nicht.“

„So schwer ist das nicht, Miss Lockheart.“

„Anne“, korrigierte ich geistesabwesend, während ich die Liste anstarrte, mir auf die Lippen biss und dann zu dem Foto schaute, das Katie vor dem Rising Moon zeigte.

„Anne“, wiederholte Sullivan. „Menschen sind verschwunden, ein paar von ihnen wurden anschließend tot aufgefunden, und der letzte Ort, an dem man sie lebend sah, war dieser Jazzclub in der Frenchmen Street.“

„Zufall.“

„Zufall ist nichts weiter als ein Synonym für Indiz. Besonders, nachdem Sie jetzt hier mit einem Foto auftauchen, das eine vermisste Person vor dieser verfluchten Bar zeigt.“

„Verflucht?“

New Orleans galt als die Voodoo-Hauptstadt Amerikas. Wenn es einen Detective gab, der an Flüche glaubte, würde er zweifellos hier arbeiten.

„Das war nur so dahingesagt.“ Die Art, wie er den Mund verzog, verriet, mit welcher Verachtung er diesem Thema gegenüberstand. „Wenngleich es Gerüchte gibt, denen zufolge es in dem Gebäude spuken soll. Aber das tut es hier wohl überall.“

„So ist das nun mal in sehr alten Städten.“

Er zog eine Schulter hoch. „Irgendetwas ist jedenfalls seltsam an dem Club; ich kann bloß nicht den Finger drauflegen. Er wurde vor etwa sechs Monaten unter einem neuen Besitzer wiedereröffnet.“

Ich riss den Kopf hoch, als mir einfiel, dass Rodolfo behauptet hatte, seinen Laden vor weniger als einem Jahr aufgemacht zu haben, aber sechs Monate …

Sullivan senkte das Kinn und beantwortete damit die Frage, die ich erst noch stellen musste. „Exakt zu dem Zeitpunkt, als sich die Zahl der Toten und Vermissten zu verdoppeln begann.“

„Sie können nicht ernsthaft …“ Ich verstummte.

„Was?“

„Annehmen, dass Rodolfo ein Serienmörder ist.“

„Sie haben ihn kennengelernt?“

„Ja.“

Er presste die Lippen zusammen. „Nur weil er Saxophon und Klavier spielen kann …“

„Klavier?“ Die Vorstellung, wie diese Hände über die Tasten streichelten, machte mich leicht benommen.

Sullivans Augen wurden schmal. „Er ist ein talentierter, gut aussehender Kerl, aber das heißt nicht, dass er nicht gefährlich ist.“

„Außerdem ist er blind. Ich bezweifle, dass er in der Lage wäre, Menschen durch die Stadt zu jagen und umzubringen.“

„Vielleicht hat er einen Komplizen.“

„Sie meinen, weil er so verdammt anziehend ist, würde sich jedermann darum reißen, sein mörderischer Handlanger zu sein?“

„Man kann nie wissen“, brummte Sullivan. „Mir sind schon verrücktere Sachen untergekommen.“

Das glaubte ich ihm aufs Wort. Ich hatte schon oft genug mit Bullen zu tun gehabt. Sie sahen eine ganze Menge, und meist waren es hässliche Dinge. Dass Sullivan an dieser Sache dranblieb, obwohl er nicht nur von seinem Vorgesetzten, sondern auch vom FBI eins auf den Deckel bekommen hatte, zeigte, wie wichtig sie ihm war. Dafür bewunderte ich ihn.

„Haben Sie ihn überprüft?“, fragte ich.

Sullivan bedachte mich mit einem langen Blick. Natürlich hatte er das.

„Und?“

„Er ist in dieser Stadt geboren. Kreolische Wurzeln.“

Ich hatte den Begriff schon gehört, wusste aber nicht genau, was er bedeutete.

Sullivan bemerkte meine Verwirrung. „Kreolen sind in diesem Land geborene Abkömmlinge europäischer Einwanderer. Spanier und Franzosen siedelten sich in New Orleans an. Der Stadt haftet etwas Französisches an, gleichzeitig ist ein Großteil der Architektur spanischen Ursprungs, und Rodolfo ist ein alter spanischer Name.“

Was seinen leichten Akzent erklärte, auch wenn er Englisch nicht als Zweitsprache zu sprechen schien.

„Wie weit reicht seine spanische Abstammung zurück?“

„Ein paar Generationen, aber hier hält man die Vergangenheit gern am Leben.“

Verständlich, wenn die Vergangenheit an jeder Straßenecke lebt und atmet.

„Also hat Rodolfo Familie in New Orleans?“

Sullivan schüttelte den Kopf. „Den Archiven zufolge ist er der letzte Abkömmling. Er hat seine Familie verlassen, noch bevor er seinen Highschool-Abschluss in der Tasche hatte.“

„Warum?“

„Das weiß niemand. Wahrscheinlich das Übliche – seine Eltern verstanden ihn nicht; er wollte Rockstar werden.“

„Was hat er dann gemacht?“

„Er ist herumgestromert, wodurch es höllisch schwer wurde herauszufinden, was er die Jahre über getrieben hat. Ich habe versucht, seinen Lebenslauf anhand seiner Sozialversicherungsnummer nachzuvollziehen …“

„Gab es in den Städten, in denen er lebte oder arbeitete, einen plötzlichen Anstieg von Vermissten- oder verdächtigen Todesfällen?“

Sullivan zog eine Braue hoch. „Sie haben so was früher schon gemacht.“

„Hin und wieder.“

„Ich konnte keinen Hinweis auf ihn entdecken. Er hat bis zum letzten Jahr nicht eine einzige Steuererklärung abgegeben.“

Das war eigenartig, aber auch kein noch nie da gewesener Fall. Vor allem nicht bei einem Ausreißer, der vermutlich auf der Straße gelebt hatte.

„Werden Sie die Steuerbehörde informieren?“

„Gut möglich.“

„Bestimmt hat Rodolfo gegen Bares gearbeitet; vermutlich hat er in verschiedenen Bars gespielt und sich schwarz bezahlen lassen. So was kommt ständig vor.“

„Trotzdem ist es illegal.“

„Erbsenzähler“, murmelte ich, ohne mich um den mürrischen Blick, den er mir zuwarf, zu kümmern. „Wie hat er sein Augenlicht verloren?“

„Darüber konnte ich auch nichts herausbekommen.“

Eigenartig. Die Erblindung konnte durch einen Unfall, eine Krankheit, möglicherweise sogar durch einen Tumor verursacht worden sein. Solch ein Vorfall musste eine Spur von Unterlagen hinterlassen haben. Irgendwo.

Es sei denn, er wäre zu abgerissen und fertig gewesen, um überhaupt einen Arzt aufzusuchen, und erst dadurch erblindet.

„Werden Sie mir helfen?“, wollte Sullivan wissen.

Da der Detective recht damit hatte, dass Katie ins Muster passte – wie auch immer dieses Muster aussah –, und ich weder andere Anhaltspunkte hatte noch ein dringender Job in Philadelphia auf mich wartete …

„Kann ich die Akte mitnehmen?“

Sullivan grinste; der Ausdruck machte mir bewusst, dass er Jahre jünger sein musste, als ich anfangs gedacht hatte – Ende zwanzig statt Mitte dreißig. Nicht, dass es von Belang gewesen wäre.

„Ich werde sie Ihnen kopieren.“ Er verschwand im Hinterzimmer, aus dem Sekunden später das Surren einer Maschine ertönte.

Ich hatte zugestimmt zu bleiben, aber wo würde ich bleiben? Vielleicht hatte Sullivan eine Idee.

Er kam zurück und warf den Ordner auf den Schreibtisch, dabei segelte die Liste mit den Opfern zu Boden. Ich fasste nach unten, um sie aufzuheben, als mein Blick an der Wiederholung des Namens „Rising Moon“ hängen blieb. Fast schien es, als wollte mich der Club zu sich locken.

Dem Rising Moon fehlten helfende Hände, und ich hatte Hände. Neben der Bezahlung wurde ein Zimmer zur Verfügung gestellt, und ich brauchte eins. Und zufälligerweise verschwanden von dort reihenweise Menschen. Ich sollte den Laden wirklich im Auge behalten.

Sullivan wäre bestimmt nicht damit einverstanden, dass ich mich in die Höhle des Löwen wagte, folglich würde ich ihm einfach nichts davon sagen.

Wie gefährlich konnte Rodolfo schon sein? Er leitete ein erfolgreiches Unternehmen, hatte Angestellte, Gäste. Sicher, er führte Selbstgespräche im Dunkeln, aber das war nicht mein Problem.

Abgesehen davon hatten wir uns darauf geeinigt, dass Rodolfo als Mörder nicht infrage kam; trotzdem konnte es jemand anders aus dem Rising Moon sein.

„Wie kann ich Sie erreichen?“, hörte ich Sullivan fragen.

Ich kritzelte meine Handynummer in die Ecke eines Blatts, riss sie ab und gab sie ihm, während ich gleichzeitig fieberhaft nach einer Lösung suchte, wie ich einen Job in einem Jazzclub ergattern sollte, ohne irgendetwas über Jazz zu wissen, geschweige denn je als Kellnerin oder Bardame gearbeitet zu haben.

Nachdem ich versprochen hatte, in Kontakt zu bleiben, verließ ich das Polizeirevier. Draußen schwelgte ich in der kühlen Luft kurz vor dem Morgengrauen.

Ich musste meine Eltern anrufen und ihnen irgendeine Notlüge erzählen. Auf keinen Fall durfte ich ihnen verraten, dass ich einem potenziellen Serienmörder nachspürte. Sie würden ausflippen, noch bevor ich ihnen den Grund nennen konnte.

Solange es nicht hundertprozentig feststand, dass Katie einem Mord zum Opfer gefallen war, würde ich die Klappe halten. Gleichzeitig brauchte ich sie, damit sie mir zusätzliche Klamotten schickten.

Ich warf einen Blick auf meine Armbanduhr – fünf Uhr morgens. Die Zeitverschiebung eingerechnet, würden sie in einer halben Stunde aufstehen. Bis dahin wollte ich dem Café du Monde einen Besuch abstatten.

Als ich das in Flussnähe gelegene Café endlich erreichte, drohte mich die Erschöpfung zu übermannen. Nicht, dass ich in meinem Leben nicht schon ganze Nächte durchgemacht hätte, aber die Kombination aus allem, was seit gestern passiert war – der Umschlag mit Katies Foto, die Reise, die emotionale Achterbahnfahrt –, ließ mich vor Müdigkeit schwindeln.

Wie ich herausfand, waren Zichorienkaffee und Beignets ein hervorragendes Gegenmittel. Als ich anschließend die Treppe zu dem erhöhten Fußgängerweg neben dem Fluss hochlief, war ich völlig aufgedreht. Ich betrachtete die verschlafene Stadt und rätselte, was die Gründerväter wohl geritten haben mochte, sich in der halbmondförmigen Biegung des Mississippi anzusiedeln. Damals musste das Areal ein einziger moskitoverseuchter Sumpf gewesen sein.

Meine Mutter nahm beim zweiten Läuten ab, so als ob es für sie ganz alltäglich wäre, in aller Herrgottsfrühe angerufen zu werden. Aber natürlich konnte seit Katies Verschwinden jeder Anruf „der Anruf“ sein.

Meine Berufswahl hatte meine der oberen Mittelschicht angehörenden Eltern nicht gerade begeistert. Mein Vater war Buchhalter; meine Mutter hatte früher als Krankenschwester gearbeitet. Nach Katies Geburt war sie zu Hause geblieben und hatte ihren Job für immer an den Nagel gehängt. Man hätte meinen können, meine Familie wäre in den Fünfzigern stecken geblieben, nur dass in jener goldenen Dekade nicht oft Töchter spurlos verschwanden oder Frauen Privatdetektive wurden.

„Guten Morgen …“, setzte ich an.

„Wo steckst du?“

Manchmal hätte ich schwören können, dass die Frau hellseherisch veranlagt war. Andererseits sah sie natürlich meine Rufnummer auf dem Display.

„In New Orleans“, erklärte ich, bevor ich ihr so schnell wie möglich so wenig wie möglich erzählte.

„Anne, du weißt noch nicht mal, ob das Mädchen auf dem Foto wirklich Katie ist.“

„Doch, das weiß ich.“

„Warum sollte dir jemand ein Foto schicken, ohne seine Identität preiszugeben oder dir zu sagen, warum er es geknipst hat?“, hörte ich die Stimme meines Vaters. Wie üblich hatte er im selben Moment, als meine Mutter rangegangen war, am Nebenanschluss abgenommen.

„Ich bin überzeugt, dass derjenige Katies Gesicht auf einer Internetseite oder einem Plakat gesehen und überrascht festgestellt hat, dass er es von einem seiner Urlaubsfoto kennt.“

Mein Vater ließ ein Grunzen hören – er glaubte daran so wenig wie ich.

„Wir wissen nicht, wann das Foto geschossen wurde, es könnte ebenso gut vor ihrem Verschwinden entstanden sein“, wandte meine Mutter ein.

„Aber Katie war nie in New Orleans.“

„Bist du da ganz sicher?“

„Du etwa nicht?“, fuhr ich auf. „Sie war gerade erst mit der Highschool fertig, als sie verschwand. Wurde sie davor etwa schon mal vermisst, ohne dass ich davon weiß?“

„Nein, nur dieses eine Mal“, flüsterte meine Mutter.

Ich hätte mich ohrfeigen können, weil ich ihr Kummer bereitete, gleichzeitig musste ich mich beherrschen, um nicht ein Freudentänzchen aufzuführen.

„Begreifst du denn nicht?“, fragte ich aufgeregt. „Das Foto muss nach ihrem Verschwinden gemacht worden sein, was wiederum bedeutet, dass sie nach der Nacht, in der sie zuletzt gesehen wurde, noch am Leben war.“

Bis zu diesem Moment war mir nicht bewusst gewesen, dass ich insgeheim befürchtete, Katie könnte am Grund des Delaware River liegen.

„Annie.“

Meine Mutter war die Einzige, die mich so nannte. Ich war kein Annie-Typ. Weder hatte ich lockiges rotes Haar noch konnte ich singen, und ich vertrat auch nicht die Meinung, dass morgen immer die Sonne scheinen würde. Morgen, das war in der Regel ein Tag voller Wolken.

„Du musst diese Sache irgendwann loslassen“, fuhr sie fort.

„Welche Sache?“

„Deine Obsession, Katie zu finden. Sie ist fort, Schatz. Deine Schwester wird niemals zurückkommen.“

Ich ließ mich auf eine Bank sinken und starrte auf den Mississippi, der so friedvoll dahinströmte, als wollte er das plötzliche kaffeesaure Gurgeln in meinem Magen verhöhnen.

Meine Eltern hatten aufgegeben. Sie hielten Katie für tot.

„Du hast dich seit dem Verlust sehr verändert“, murmelte meine Mutter.

„Trifft das nicht auf uns alle zu?“

Zuvor hatten meine Eltern jung gewirkt. Sie hatten beim Essen gelacht, an warmen Sommerabenden im Sternenlicht getanzt, und in ihren Haaren war nicht eine Spur von Grau gewesen.

Danach waren sie praktisch über Nacht gealtert. Zunächst gingen sie nicht mehr aus, für den Fall, dass Katie anrief, später dann für den Fall, dass man sie gefunden haben könnte. Aber in letzter Zeit …

In letzter Zeit hatten sie wieder angefangen auszugehen. Vergangenen Monat waren sie sogar nach Florida in Urlaub geflogen. Warum hatte ich nicht realisiert, was das bedeutete?

„Ihr müsst mir per FedEx ein paar Klamotten schicken“, sagte ich und ignorierte einfach, was ich nicht an mich heranlassen wollte. „Sommersachen, okay?“

„Wie lange wirst du bleiben?“, erkundigte sich mein Vater.

„Ich gebe euch Bescheid.“

„Du solltest nach Hause kommen, Anne.“

„Ich kann nicht.“

Stille drang aus der Leitung. Schließlich bat er mich leise: „Pass auf dich auf.“

Ich wusste nicht, ob ich ihm auch nur das versprechen konnte.

„Wohin soll ich die Kleidung schicken?“ Meine Mutter kramte Papier und Bleistift heraus. Sie mochte manchmal an mir verzweifeln, trotzdem war sie immer für mich da. Genau wie Katie immer für mich da gewesen war.

Bis sie es dann nicht mehr konnte.

 

5

Die einzige Adresse, die ich ihr geben konnte, war die des Rising Moon, die ich auf die Rückseite des Fotos gekritzelt hatte. Ich nannte sie meiner Mutter, bevor wir uns mit „Ich liebe dich“ und „Bis bald“ verabschiedeten.

Das Sonnenlicht lag wie ein goldener Teppich über der Straße vor mir. Bald schon würde sengende Hitze von dem Asphalt aufsteigen. Zweifellos war es auf der Frenchmen Street bis vor wenigen Stunden heiß hergegangen, und noch immer flanierten massenweise Menschen über die Gehsteige.

Die großen Fenster an der Front des Rising Moon blickten dunkel und abweisend. Wo letzte Nacht Ausgelassenheit und Lebendigkeit geherrscht hatten, waren Düsterkeit und Stille eingekehrt; selbst das unbeleuchtete Neonschild war nur mehr totes Glas. Las Vegas musste bei Tageslicht einer Geisterstadt gleichen.

Da ich annahm, dass der Club mindestens bis zum Nachmittag geschlossen sein würde, beschloss ich, ins French Quarter zurückzukehren. Ich wollte mir die Schaufenster ansehen und feststellen, ob ich nicht ein paar luftigere Klamotten erstehen konnte, um die Zeit zu überbrücken, bis mein Päckchen eintraf.