Wolfspferd - Sabine Giebken - E-Book

Wolfspferd E-Book

Sabine Giebken

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Beschreibung

Tala lebt mit ihrer Familie frei und ungebunden in der Wildnis, selbst im Winter, wenn die Nächte lang und kalt sind. Ihre beste Freundin ist die Albinostute Saphira, mit der sie Jagd auf kleine Tiere macht und so versucht, ihrem Vater Pollo, dem Häuptling und Anführer des Stamms, nachzueifern. Doch der nimmt lieber die Jungen mit zur Jagd. Auch Saphira hat es nicht leicht und wird vom Leithengst Odin aus der Herde ausgeschlossen, als sie wieder einmal zu neugierig und ungestüm ist. Als Räuber das Lager überfallen und die Wintervorräte stehlen, sind Tala und Saphira plötzlich die einzige Hoffnung des Stamms auf Überleben. Man sagt, wer den in den Wäldern lebenden weißen Wolf fängt, dem winke eine große Belohnung. Auch wenn ihr Vater Pollo von alldem nichts wissen will, macht sich Tala mit Saphira mutig auf den Weg … »Sabine Giebken erzählt eine ungewöhnliche Geschichte über Freundschaft, Mut und Gleichberechtigung.« (Gelnhäuser Neue Zeitung, 10.10.2020) »Ein mystisches Märchen für Pferdefreunde ab der vierten Klasse.« (Gelnhäuser Neue Zeitung, 10.10.2020)

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Seitenzahl: 211

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1. Alte Geschichten

Das Heulen erklang tief in der Nacht.

Saphira schlug die Augen auf und spitzte die Ohren. Angestrengt lauschte sie, versuchte herauszufinden, ob der Laut aus ihren Träumen stammte oder Wirklichkeit gewesen war. Ein Klagen ohne Schmerz, fast wie – ein Ruf? Da zerriss erneut ein Jaulen die Stille und hallte an den Berghängen wider.

Die Pferde um Saphira hoben alarmiert die Köpfe und drängten sich dicht aneinander. Ihre feinen Sinne spürten Gefahr, und sie begannen, sich unruhig um ihren Anführer zu scharen, den kräftigen Hengst Odin. Seine Ohren zuckten nicht nervös, er stand ganz still und horchte in die Dunkelheit. Saphira wusste, worauf er wartete: auf das verräterische Knacken im Unterholz, das Tapsen von lautlosen Pfoten … Doch nichts geschah, und der Hengst schnaubte beruhigend. Alles in Ordnung, sagte seine Körperhaltung. Ihr könnt weiterschlafen.

Aber an Schlaf konnte Saphira nicht mehr denken. Sie war hellwach und lief ein Stück von den anderen fort, um erneut zu lauschen. Aus welcher Richtung mochte das Heulen gekommen sein? Die Berge verzerrten alles, jedes Geräusch wurde vielfach zurückgeworfen, und niemand konnte hinterher sagen, wo sein Ursprung gewesen war. Doch etwas in ihr wusste, dass sie nicht in der Ferne suchen musste. Das Wesen mit der unheimlichen Stimme verbarg sich hier, in den Wäldern.

Odin brummelte warnend, und Saphira kehrte artig zu den anderen Pferden zurück. Mit dem gewaltigen schwarzen Hengst legte man sich besser nicht an, sonst wurde man aus der Herde verbannt und durfte nicht wiederkommen, bis er Gnade walten ließ. Saphira hatte sich schon einmal gegen ihn aufgelehnt, damals, als sie noch ein halbes Fohlen gewesen war und ihren jugendlichen Dickschädel durchsetzen wollte. Oh, was hatte sie gelitten in dieser Nacht, als er sie fortgescheucht hatte! Schlimme Albträume hatten sie heimgesucht, und schließlich war sie davongelaufen, fort vor ihrer Angst und der blöden Herde, die sie einfach zurückgelassen hatte. Aber ihre Menschenfreundin hatte sie wieder eingefangen. Hatte sie zurückgebracht, sie am Feuer mit Salbeiblättern und Brennnesselkraut gefüttert und ihr Geschichten erzählt, Geschichten aus der Menschenwelt, die sie von ihrer Mutter gehört hatte und die Saphira zwar nicht verstand, denen sie aber dennoch gebannt lauschte. Daraufhin hatten die Albträume aufgehört, und Saphira war reumütig und mit hängenden Ohren zu Odin gelaufen, um ihn um Verzeihung zu bitten.

Der Mond kroch zwischen ein paar Wolken hervor und ließ ­Saphiras Fell aufleuchten. Obwohl sie noch jung war, hatte ihr Haarkleid dieselbe Farbe wie der Mond, Silberweiß mit ein paar unregelmäßigen hellen Flecken. Das war schon immer so gewesen, seit sie denken konnte. Die anderen Pferde hatten sie deshalb nach ihrer Geburt erschrocken angesehen, als wäre sie ein Geist oder ein böses Wesen aus einer anderen Welt. Seitdem war sie die Außen­seiterin gewesen, die Geisterfarbene, die Seltsame. Saphira wusste nicht, warum das so war, warum sie so anders aussah und was daran schlimm sein sollte. Auch ihre Augen hatten eine andere Farbe als die der übrigen Pferde – am Tage schillerten sie wie blaue Bergseen, nur in der Nacht färbten sie sich dunkel wie ein Himmel ohne Sterne.

Ein Pferd prustete leise, ein anderes legte sich nieder, ein drittes juckte sich am Bein, wo eine vorwitzige Spinne es mit ihren langen Beinen kitzelte. Dann senkte sich Stille über das Tal. Die Köpfe der Herde sanken herab, und Schlaf nahm sie gefangen. Nur Odins Ohren blieben wachsam; seine Lider schlossen sich nie vollständig während der Nacht.

Saphira stand am Rand in ihrem schwarzen Schatten und rührte sich nicht. Hellwach und aufgekratzt wäre sie gern losgetobt und hätte nach dem Heulwesen gesucht, dem Tier, das sie zu sich zu rufen schien und das den anderen Pferden solche Angst machte. Was war das für ein Geschöpf, das selbst Odin aufschreckte, obwohl es nur den Mond ansang?

Komm zu mir, wisperten ihre Gedanken. Sie schloss die Augen und stellte sich das fremde Tier vor. Natürlich musste es weiß sein, von Geburt an, so wie sie. Ein Anderswesen, ein Verstoßener. Keiner wusste, wie das war. So anders zu sein. Sie schon, denn sie lebte damit, seit sie auf der Welt war. Das fremde Tier und sie würden Freunde werden, und dann würden sie die Herde in Angst und Schrecken versetzen und ihnen zeigen, dass man mit Geisterfarbenen nicht umspringen durfte, wie es einem gefiel!

Ein heftiges Flattern rüttelte an den Zweigen zu Saphiras Seite, und sie tat erschrocken zwei Trippelschritte, bis sie an den warmen, schlafenden Körper einer alten Stute stieß, die unwillig grunzte. Saphira spähte in die Dunkelheit, doch es war nur ein junger Adler, der einen Schlafplatz in dem Strauch suchte. Keine Gefahr für ein Pferd, auch nicht für eines, das im Mondschein leuchtete.

Der Körper der alten Stute fühlte sich fast an wie der warme Leib ihrer Mutter, und neue Erinnerungen überrollten Saphira. Sie seufzte leise, dann ergab auch sie sich endlich dem Schlaf.

Die Männer am Feuer verstummten und sahen sich mit weit geöffneten Augen an.

»Habt ihr das gehört?«, fragte einer.

Die anderen nickten langsam, ungläubig.

»Wölfe«, wisperte ein anderer. »Sie sind zurück!«

Tala spürte, wie ihre Fingerspitzen zu kribbeln begannen. Wölfe! Sie hatte sich schon immer gewünscht, mal einen zu sehen, einen echten, nicht das tote Fell mit dem Riesenschädel im Zelt ihrer Großmutter Arna. Unzählige Geschichten über Wölfe machten die Runde in ihrer Familie, wurden von Generation zu Generation weitererzählt, und jeder neue Erzähler schmückte sie neu aus, und so wurden sie immer wilder und unwirklicher. Einmal, so behauptete ihr alter Onkel Calan, sei ein Wolf ins Lager gekommen, mitten in der Nacht, als sie alle schliefen. Er hatte nach Vorräten gesucht, und als er nichts fand, schlich er um die Zeltbahnen, bis er eine Lücke fand, durch die er hindurchschlüpfen konnte. Ein Mann und eine Frau schliefen in dem Zelt, tief und fest und ohne etwas von der Gefahr zu bemerken. Der Wolf hatte es auf die Kinder abgesehen, das kleinste von ihnen. Er schob seine lange, feuchte Schnauze ganz dicht an das winzige Gesicht heran und hauchte ihm seinen todbringenden Atem in die Nase.

Ihr Vater mochte die Geschichte gar nicht, er sagte, Wölfe würden keine Kinder stehlen und Calan hätte sich das nur ausgedacht, um ihnen Angst zu machen. Tala schüttelte die Erinnerung an seine Worte ab und sprang auf.

»Wo willst du hin, Kleine?« Pollo, der Anführer der kleinen Gruppe und gleichzeitig ihr Vater, streckte seine riesige Hand aus. »Setz dich wieder hin. Die Nacht ist kalt, und du wirst dir fernab vom Feuer nur die Nase abfrieren.«

»Können wir sie sehen?«, fragte Tala mit vor Aufregung zitternder Stimme. »Die Wölfe, sind sie so nah, dass wir hinreiten können?«

Pollo lachte, und auch die anderen Männer am Feuer schmunzelten. Talas Cousins, Taro, Kiran und Lino, grinsten sich zu und rollten mit den Augen. Ihr Vater legte den Pfeil zur Seite, dem er gerade eine neue Spitze geschmiedet hatte. »Aber mein Mädchen, wie stellst du dir das vor? Wölfe sind scheue Wesen, die zeigen sich nicht, nur weil man einen Blick auf sie erhaschen möchte.«

»Außerdem sind es Jäger«, rief Calan. »Die wissen sich in der Dunkelheit zu verbergen, glaub mir. Einen Wolf siehst du nur, wenn er will, dass du ihn siehst.«

Tala war fasziniert. »Haben sie alle dieselbe Farbe? Wie ist die Form ihrer Pupille? Wie bei einem Hund? Haben Wölfe geheime Kräfte? Und warum klingt ihr Heulen so traurig?«

Pollo schüttelte den Kopf und zog seine Tochter mit sanfter Gewalt zurück ans Feuer. »Die letzten Fragen kann dir niemand beantworten. Dazu müsstest du schon einen Wolf fragen, und soweit ich weiß, ist das noch niemandem gelungen.«

»Aber …«, begann Tala, doch erneut erklang ein langge­zogenes Heulen. Beeindruckt starrte sie hoch zu den Bergen.

»Sie leben in den Wäldern«, wusste der alte Calan zu erzählen. Ihr Onkel senkte seine Stimme, bis nur noch ein raues Flüstern aus seiner Kehle kam. »Dort bauen sie Höhlen, in denen sie ihre Babys zur Welt bringen. Welpen nennt man die, genau wie bei Hunden. Hilflose, kleine Bündel sind das, die tage­lang am Gesäuge ihrer Mutter gestillt werden müssen, ehe sie ihre Augen öffnen und erste Ausflüge unternehmen können.«

»Also nicht wie ein Pferd«, warf Tala ein. »Pferdekinder haben die Augen schon offen, wenn sie geboren werden, und sie können ziemlich schnell stehen und laufen!«

»Das müssen sie, weil es Fluchttiere sind«, erklärte Calan. »Wölfe dagegen sind die geborenen Jäger. Die müssen sich weder fürchten noch verstecken, die können sich wehren, wenn ihnen jemand zu nahe kommt. In all den Jahren hatte der Wolf nur einen einzigen Feind, der mächtig genug war, ihn zu besiegen.«

»Wer?«, fragte Tala mit großen Augen. »Wer ist so mächtig?«

»Wir, mein Kind.« Calan lächelte traurig. »Die Menschen.«

»Aber wir tun den Wölfen doch gar nichts«, rief Tala. »Sie können in den Wäldern ihre Babys kriegen und ihre Höhlen bauen und jagen gehen, was stört es uns!«

Tala hörte die drei Jungen kichern und sah, wie sie die Köpfe zusammensteckten. Wütend stemmte sie die Hände in die Hüften.

»Mensch, Tala«, rief Taro. »Was glaubst du, wo Arna das graue Fell herhat, mit dem sie ihr Zelt ausschmückt?«

»Bestimmt hat dieser Wolf auch versucht, ein Kind zu stehlen«, warf Lino ein und tat, als wolle er nach Kiran greifen.

Tala riss erschrocken die Augen auf. »Wir – wir töten sie auch?«

»Nein«, warf Calan schnell ein. »Doch wir sind Jäger, genau wie sie. Dieser Wolf in Arnas Zelt ist uns in die Quere gekommen. Er hätte uns angegriffen, und so mussten wir uns verteidigen.«

»Also sind sie gefährlich?« Talas Stimme war rau. »Sie greifen uns an, wenn wir ihnen zu nahe kommen? Töten wir sie deshalb?«

Calan und Pollo wechselten einen Blick. »Wir töten sie nur, wenn es nicht anders geht. Du weißt selbst, wie hart die Winter hier oben in den Bergen sein können, Mädchen. Da muss man manchmal Dinge tun, die man nicht tun will, weil man sonst nicht überleben kann.«

»Aber woher wissen wir dann, dass sie gefährlich sind?« Tala sah hinauf zu den Wäldern, die in tiefer Finsternis lagen. Sie wollte diese geheimnisvollen Wölfe sehen, am liebsten sofort! »Vielleicht«, murmelte sie, »wissen wir nur zu wenig über sie. Vielleicht könnten wir sogar – Freunde sein!«

»Ein Wolf kann nie unser Freund sein«, brummte Taro. »Und wer nicht unser Freund ist, der ist unser Feind!«

Calan lächelte und nickte leicht mit dem Kopf. »Ja, ja, so denkt man schnell. Doch Tala hat gar nicht so unrecht. Es gibt noch mehr Geschichten über Wölfe! Wollt ihr eine hören?«

»Du immer mit deinen Geschichten«, murmelte Tala, aber sie setzte sich trotzdem wieder hin. Ganz nah ans Feuer, das seine knisternde Wärme schützend um sie legte.

»Oh, diese ist anders«, flüsterte Calan. »Und sie ist uralt, viel älter als ich oder Großmutter Arna. Genau genommen ist es keine Geschichte, sondern eine Legende.«

Die Jungen rückten nun ebenfalls dichter ans Feuer und starrten Calan gebannt an. Rasch umschlang Tala ihre Knie mit den Armen und versuchte, sich ihre Aufregung nicht anmerken zu lassen.

»Also gut«, begann Calan und räusperte sich. »Diese uralte Legende erzählt von einem weißen Wolf. Er war anders als seine Geschwister, klein und schwach. Weiß geboren setzte die Sonne seiner Haut zu, und seine Augen waren so empfindsam, dass er nicht richtig sehen konnte. Während die anderen bereits draußen herumtollten, lag er nur hilflos da. Sein Rudel verstieß ihn, sie glaubten nicht, dass er überleben würde.« Calan machte eine Pause und sah in die Runde. Niemand rührte sich, alle Augen waren gespannt auf ihn gerichtet. Er lächelte leicht. »Doch eines Nachts – es war Spätherbst, genau wie jetzt – fand ihn eine Stute. Sie hatte selbst ein Fohlen und spürte, dass dieses winzige Wesen ihre Hilfe brauchte. Pferde und Wölfe sind alles andere als Freunde, doch die Stute säugte den Wolf und nährte ihn, bis der Winter kam und er groß und stark genug war, um zu jagen.«

Ein Schauder lief Tala über den Rücken. Calan hatte recht – diese Geschichte war anders. »Er hat doch nicht – er hat ihr doch nichts getan, oder?«, fragte sie. »Ihr und … dem Fohlen?«

Calan sah sie düster an, doch dann schüttelte er den Kopf. »Nein. Er tat ihnen nichts zuleide, er lief davon und verschwand in die Wälder.«

»Und sie haben sich nie wiedergesehen?«, wollte Kiran wissen. »Der weiße Wolf und diese Stute?«

Calan lächelte geheimnisvoll. »Oh doch, das haben sie! Eines Tages gerieten die Pferde in große Gefahr. Jäger kamen mit langen Speeren und trieben sie in eine Schlucht, aus der es kein Entkommen gab. Der weiße Wolf beobachtete die Szene. Er wusste, dass er allein nichts gegen die Jäger ausrichten konnte, doch als er zu jaulen begann, hallte sein Geheul so unheilvoll von den Felswänden wider, als wären Hunderte Wölfe hinter den Jägern her.«

Tala sprang abermals auf. »Er hat sie gerettet!«, rief sie. »Er hat sie in die Flucht geheult und die Pferde gerettet!«

»Genau«, nickte Calan und lehnte sich zufrieden zurück. »Der weiße Wolf hatte seine Schuld beglichen.«

Eine der Zeltplanen raschelte, dann erschien eine hübsche Frau mit langen schwarzen Haaren, die sie zu einem Zopf geflochten trug. Ihre Augen funkelten im Schein der Flammen, aber auf ihrem schönen Gesicht erschien eine Zornesfalte. Aufgebracht stemmte sie die Hände in die Hüften. »Werdet ihr Kerle wohl aufhören, meinem Mädchen Angst zu machen? Sie kann ja gleich nicht schlafen, wenn ihr so spät in der Nacht eure Schauer­märchen auspackt!« Barsch winkte sie Tala zu sich und legte den Arm um sie. »Los, ab ins Bett mit dir. Wölfe sind scheu, die kommen nicht in menschliche Nähe. In meinem Stamm galten sie sogar als glückliches Omen. Weißt du, was das heißt?«

»Ein gutes Zeichen«, erwiderte Tala. Sie fühlte sich noch gar nicht schläfrig.

»Genau. Denn es bedeutet, dass sie Nahrung finden in dieser Gegend. Und wo Wölfe leben können, dort werden auch wir den Winter überstehen.«

Die Mutter holte ein Fell aus der Truhe und wickelte es Tala um die Schultern. Dann trat sie zwei Schritte zurück, tunkte ihren Finger in ein Glas mit pechschwarzer Asche, beugte sich vor und malte ein Runenzeichen auf die Stirn ihrer Tochter.

»Schlaf gut, mein Kind. Und wenn du träumst, dann nur etwas Schönes.«

2. Ein verbotener Ausflug

Tala erwachte früh, vor ihrer Mutter und ihrem Vater, die dicht aneinandergeschmiegt unter ihren Felldecken lagen. Rasch zog sie ihren Umhang über und huschte aus dem Zelt. Die Luft war schneidend kalt, und ihr Atem bildete kleine Wölkchen vor ihrem Gesicht, aber Tala störte das nicht. Sie mochte es, wenn der Winter nahte.

Im Lager war es still, bis auf die Ziegen, die auf dem Boden scharrten. Auch die Jungen schliefen wohl noch. Das war typisch für sie – tagsüber die großen Jäger spielen, aber in der Früh nicht aus den Fellbetten kommen! Tala schaute zur Feuer­stelle, wo knisternd die letzte Glut ausging. Bestimmt hatten die anderen gestern noch lange um die Flammen herum gesessen und sich Geschichten von Wölfen erzählt. Ob sie die Jungen danach fragen sollte? Nein, besser nicht. Die würden ihr sowieso nichts erzählen.

Sie schnappte sich einen Eimer und lief damit zum Fluss hinunter. Calans Geschichte kam ihr wieder in den Sinn, das Wolfskind, das von einer Pferdemutter gerettet worden war. So etwas war eigentlich unmöglich – oder doch nicht? Pferde fürchteten sich vor Wölfen, soviel wusste sie. Die Stute hätte aus Angst um ihr eigenes Fohlen vor dem Wolf davon­laufen müssen, anstatt den Welpen zu säugen. Aber war es nicht genau das, was Calans Geschichte so besonders machte? Die Stute hatte nicht nach ihrem Instinkt gehandelt, sie hatte die Hilflosigkeit des Wolfskindes gespürt und deshalb geholfen. Würde ich das auch machen?, überlegte Tala. Würde ich einem Wolf helfen, der in Schwierigkeiten steckt, obwohl ich weiß, dass er mir gefährlich werden kann?

Am Flussufer kniete Tala sich ins taufeuchte Gras und hielt ihre Hände ins Wasser. Im Nu waren ihre Finger taub, aber sie wusch sich das Gesicht und die Ohren, bevor sie den Eimer hineintauchte und bis zum Rand mit kaltem Wasser füllte. Friedliche, stille, kalte Welt! Sie blieb einen Moment lang am Ufer hocken und lauschte.

Wind rauschte durch die Blätter und flüsterte den Tieren des Waldes zu, dass der Morgen angebrochen war. Es raschelte im Unterholz, dann sprangen zwei Eichhörnchen hervor. Mit ihren langen, buschigen Schwänzen fegten sie einen Strauß Blätter zusammen, die der Herbst auf den Boden gestreut hatte. Sie keckerten und fiepten und jagten sich spielerisch über das nasse Laub. Irgendwo hoch über ihren Köpfen erklang der Schrei eines Adlers, und die beiden Eichhörnchen erstarrten in ihren Bewegungen. Dann flohen sie mit flinken Füßchen einen Baum hinauf, um in seinem Nadel­kleid Schutz zu suchen.

Tala suchte mit den Augen den Himmel ab, doch der Adler war nirgends zu entdecken. Nur seinen Schrei hörte sie noch lange durch die Wipfel der Bäume hallen. Sie rieb ihre Finger aneinander, dann packte sie den Eimer, um damit zurück zum Lager zu laufen. Als sie sich umwandte, schrie sie erschrocken auf.

»Na, na. Ist dir wieder eine böse Traumgestalt erschienen, oder warum fürchtest du dich vor deiner eigenen Groß­mutter?«, fragte Arna stirnrunzelnd.

Tala pustete sich ein paar dicke dunkle Haarsträhnen aus dem Gesicht. »Nein, mein Traum heute war wunderschön. Trotzdem musst du mich doch nicht so erschrecken!« Sie schleicht sich an wie eine Schlange, sagte ihr Vater manchmal. Obwohl ihre Mutter mit ihm schimpfte, wenn er so über Arna redete, kam ihr die Beschreibung jetzt passend vor.

Die alte Frau, die so dicht vor ihr stand, dass Tala sie hätte berühren können, lächelte düster. »Dann kann der Tag nur schlecht werden. Schöne Träume sind zu nichts nütze.«

Tala verdrehte die Augen und drängte sich an ihrer Großmutter vorbei. Aber die alte Frau folgte ihr und blieb ihr dicht auf den Fersen. Fast schien es, als warte sie darauf, dass Tala über eine Wurzel stolperte und das Wasser sich über ihren Fellumhang ergoss, nur damit sie triumphierend danebenstehen und behaupten konnte, mit ihrer Voraussage recht zu haben.

»Hast du auch die Wölfe gehört?«, fragte Tala. Sie achtete genau auf ihren Weg und versuchte, nicht einen Tropfen Wasser zu verschütten.

»Pah. Wölfe!« Arna schüttelte sich unwirsch. »Ich sage dir eins, mein Kind. Wölfe und Menschen – das verträgt sich nicht!«

»Aber sie tun uns doch nichts«, widersprach Tala. »Mama hat gesagt, Wölfe gelten sogar als gutes Omen.«

Arna schnaubte, und ihre Augen glitzerten feindselig. »Erst ein guter Traum, dann auch noch Wölfe! Kennst du die alten Geschichten nicht? Weißt du nicht, wozu Wölfe fähig sind?«

»Oh doch«, sagte Tala, und wieder musste sie an Calans Worte denken. An diese – Legende. »Wölfe sind Wesen wie wir, sie jagen, um zu überleben. Das unterscheidet uns nicht so sehr voneinander, oder?«

»Dann hör gut zu, mein Kind. Auch ich hatte in der letzten Nacht einen Traum, aber ein schöner war es nicht. Ich sah ein Rudel Wölfe, das sich auf den Körper eines liegenden Pferdes stürzte. Sie rissen ihm das Fleisch vom Leib, und ihre Augen glühten dabei wie Feuersteine.« Arna richtete sich auf, ihr faltiges Kinn in die Höhe gereckt, und deutete zum Hügel hinüber. »Es war nicht Saphira, von der ich geträumt habe. Und doch: Du wirst noch an meine Worte denken, glaub mir! Wölfe bringen nichts als Unglück.« Damit drehte sie sich abrupt weg und stapfte zurück zum Flussufer.

»Alte Sumpfnatter«, brummte Tala. »Die immer mit ihren komischen Träumen. Aber mir kann sie damit keine Angst machen!«

Sie packte den Eimer fester und lief weiter. Arna träumte ständig von Unglück und Verrat. Niemand hörte ihr mehr zu, weil all die schlimmen Dinge, vor denen sie warnte, gar nicht passierten! Meistens zumindest nicht. Einmal, das wusste Tala noch zu genau, hatte ihre Mutter sie nicht allein zum Fluss gehen lassen, eine ganze Woche lang. Erst als die Männer mit einem erlegten Braunbären zurückgekehrt waren, durfte sie wieder am Wasser spielen. Hatte Arna sie damals gewarnt, dass ein Bär sich in ihrer Nähe aufhielt? Aber selbst wenn sie zuvor davon geträumt hätte – sie konnte den Bären auch einfach gesehen haben. Es bedeutete noch lange nicht, dass ihre Träume wirklich eine Bedeutung besaßen.

Im Lager waren die Männer und die älteren Jungen bereits dabei, ihre Pfeile in Köcher zu sortieren und ihre Reiterbogen umzuschnallen. Tala ließ den Eimer mit Wasser vor dem Zelt ihrer Mutter fallen und rannte los.

»Darf ich mitkommen?«

Pollo umfing sie mit seinen Prankenhänden. »Aber Tala. Die Jagd ist nichts für junge Mädchen! Willst du nicht lieber deiner Mutter zur Hand gehen?« Er senkte die Stimme und zwinkerte ihr zu. »Du kannst sie doch nicht mit deiner Großmutter allein lassen, wer weiß, welchen Floh sie ihr heute wieder ins Ohr setzt!«

Tala zog einen Schmollmund. »Och, bitte. Immer lässt du mich im Lager sitzen und warten. Das ist total langweilig!«

Pollo lächelte leicht. »Du wirst bald eine Frau, Tala! Frauen gehen nun mal nicht auf die Jagd. Frauen räumen auf, nähen Felljacken, kochen das Essen …«

»Dann will ich keine Frau werden.« Tala schob ihn von sich weg und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich hasse Kochen, und bei dieser doofen Näherei steckt die Nadel öfter in meiner Haut als in dem Leder. Dafür bin ich besser mit dem Bogen als die alle zusammen!« Sie deutete mit einem Finger auf Taro und seine Brüder, die bei dieser Aussage ein lautes Gelächter anstimmten.

Calan klopfte ungeduldig mit dem Bogen gegen seinen Stiefel. »Wir müssen los, Pollo! Beweise mal, dass du der Anführer bist, und befiehl deiner Tochter zu gehorchen.«

»Bitte, Papa«, versuchte Tala es erneut. »Lass mich mitkommen, nur dieses eine Mal! Ich beweise dir, dass ich eine Jägerin bin und keine – keine Frau!«

»Nein«, sagte Pollo, und diesmal klang seine Stimme streng. Er sah auf sie herab. »Du bleibst hier, Tala. Es ändert auch nichts, dass du meine Tochter bist. Die Jagd ist nichts für Mädchen.«

Die Jungen grinsten wieder, und Tala machte auf dem Absatz kehrt und verschwand zwischen den Bäumen. Wie sie das hasste! Immer fortgeschickt zu werden, immer das brave Töchterchen zu spielen. Ich will aber nicht herumsitzen und auf euch warten, dachte sie, ich will auch etwas tun!

Sie lief den Hügel hinauf und versteckte sich zwischen den Hagebuttensträuchern, bis die Männer auf ihre Pferde gestiegen waren und laut schwatzend das Lager verließen. Ihr Blick klebte an Odin, dem stolzen schwarzen Hengst, den ihr Vater ritt. Eines Tages werde ich Odin reiten, schwor sie sich. Dann werde ich die Horde in den Wald führen, und die blöden Jungen werden nicht mehr dämlich grinsen, sondern tun, was ich ihnen sage!

Sie wartete, bis der letzte Pferdeschweif zwischen den Stämmen verschwunden war, dann lief sie weiter zu der Wiese, auf der nur noch zwei Pferde standen: Jadin, die braune Stute, die zu alt war für die Jagd und deshalb hierblieb, um den Frauen ab und an eine schwere Last zu schleppen – und Saphira. Ihre hellblauen Glitzeraugen schauten Tala wachsam entgegen, und sie spürte wieder diese seltsame tiefe Verbindung zu diesem zu klein geratenen schneeweißen Pferd. Ihr war klar, dass Saphira ihren Ärger teilte, denn auch sie würde lieber mit den anderen Pferden gehen, als sich hier zu langweilen. Tala blieb am Rand der Wiese stehen und streckte lockend den Arm aus.

»Hallo, Saphira!«

Saphira wieherte laut, dann stieg sie hoch auf die Hinterbeine, galoppierte aus dem Stand los und buckelte zweimal übermütig. Erst kurz vor Tala bremste sie ab, und ihre Hinterhufe schlidderten dabei über das Gras. Sie schnaubte, drückte ihren Kopf ungestüm in Talas Bauch und rieb die Stirn an ihrer Brust.

Tala musste lachen. Sie packte die Ohren ihrer Stute, küsste sie auf den Schopf und merkte, wie die Wut in ihrem Bauch sich in etwas Neues verwandelte: ein tiefes, wohliges Glücksgefühl.

»Komm, wir machen einen Ausflug. Vielleicht läuft uns ein fetter Hase vor die Hufe, den wir zum Abendessen fangen können. Die anderen würden Augen machen!«

Sie trabten über ein Grasplateau in Richtung der Wälder und folgten der Spur, die die Hufe der anderen Pferde auf dem trockenen Boden hinterlassen hatten. Kalter Wind fegte durch Talas Kleider, und sie zog den Umhang, den ihre Mutter während vieler Nächte in mühevoller Arbeit für sie genäht hatte, fest über ihren Schultern zusammen. Wie immer trug Saphira keinen Sattel, sondern nur eine Decke aus Schaffell, die Tala zusätzlich wärmte.

Als sich die Baumkronen dicht und grün über ihr schlossen, verließen sie die vorgestampfte Hufspur und schlugen ihren eigenen Weg ein.

»Wenn wir ihnen folgen, gibt das nur wieder Ärger«, erklärte sie Saphira und zog den Kopf ein, um den tief hängenden Ästen der Nadelbäume auszuweichen.

Immer weiter ritten sie in den Wald, und Tala spürte Saphiras Aufregung. Die Stute schien auf etwas zu horchen, denn immer wieder spitzte sie die Ohren und lauschte ins Versteck der Schatten zwischen den Bäumen. Doch kein einziges Wesen ließ sich blicken, weder ein Hase noch ein Reh, nicht mal ein Sumpfhuhn oder ein Streifenhörnchen kreuzte ihren Weg. Enttäuscht lenkte Tala die Stute in einer Senke hinaus aus dem Wald und über ein offenes Landstück, das sich endlos vor ihnen ausbreitete.

»Na, was meinst du?«, fragte Tala, dabei spürte sie längst, was ihre Stute wollte. Sie lehnte sich ein wenig nach vorn und schnalzte mit der Zunge. Mehr brauchte es nicht – Saphira zuckte erfreut und schoss im Galopp los. Tala stieß einen Freuden­schrei aus, und Saphira streckte sich, wurde lang und länger und lief mit dem kalten Wind um die Wette, ohne müde zu werden. Das war es – genau dieses Gefühl, das Tala so sehr brauchte wie die Luft zum Atmen.