Wolke Sieben ganz nah - Kirsty Greenwood - E-Book

Wolke Sieben ganz nah E-Book

Kirsty Greenwood

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Beschreibung

Was tun, wenn du die Liebe deines Lebens erst nach dem Tod findest? Romantisch, sexy und unglaublich witzig: Die RomCom »Wolke sieben ganz nah« ist ganz großes Kino für die Leser*innen von Emily Henry, Elena Armas, Ali Hazelwood oder Mhairi McFarlane. Ein Liebesroman zum Lachen, zum Weinen und zum Nachdenken… Mit 27 Jahren in ihrem leicht peinlichen Nachthemd an einem Mikrowellen-Burger zu ersticken, stand definitiv nicht auf Delphi Bookhams To-do-Liste. Trotzdem findet sich die Londonerin genau auf diese Weise im Nachleben wieder – das leider ganz und gar nicht so ist, wie sie es sich vorgestellt hatte. Nichts scheint im Jenseits so richtig zu funktionieren, angefangen bei der verkratzten VHS-Kassette, auf der Delphi sich die High- und Lowlights ihres Lebens anschauen soll. Doch dann steht sie plötzlich dem attraktivsten Mann gegenüber, dem sie je begegnet ist. Als sein umwerfendes Lächeln sie gerade für alles zu entschädigen scheint, wird der Fremde jedoch mit dem Kommentar »großer Fehler« auf die Erde zurückgeschickt! Aber anders als in ihrem irdischen Dasein ist Delphi diesmal nicht bereit, sich einfach so mit ihrem Pech abzufinden … Eine romantische Komödie zum Mitfiebern, Mitlachen und Mitweinen! Kirsty Greenwoods wunderbar romantische Dramedy wirft einen ebenso komischen wie wahren Blick darauf, wonach es sich im Leben zu suchen lohnt. »Wolke sieben ganz nah« hat alles, was eine witzige und berührende Liebesgeschichte ausmacht, mit einem besonderen Touch! »Kirstys Roman ist wie ein kluger und witziger Traum.« Mhairi McFarlane

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Seitenzahl: 477

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Kirsty Greenwood

Wolke Sieben ganz nah

Roman

Aus dem Englischen von Maike Hallmann

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Mit 27 Jahren in ihrem leicht peinlichen Nachthemd an einem Mikrowellen-Burger zu ersticken, stand definitiv nicht auf Delphie Bookhams To-do-Liste. Trotzdem findet sich die Londonerin genau auf diese Weise im Nachleben wieder – das leider ganz und gar nicht so ist, wie sie es sich vorgestellt hatte.

Nichts scheint im Jenseits so richtig zu funktionieren, angefangen bei der verkratzten VHS-Kassette, auf der Delphie sich die High- und Lowlights ihres Lebens anschauen soll. Doch dann steht sie plötzlich dem attraktivsten Mann gegenüber, dem sie je begegnet ist. Als sein umwerfendes Lächeln sie gerade für alles zu entschädigen scheint, wird der Fremde jedoch mit dem Kommentar »großer Fehler« auf die Erde zurückgeschickt! Anders als in ihrem irdischen Dasein ist Delphie diesmal aber nicht bereit, sich einfach so mit ihrem Pech abzufinden …

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

Widmung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Danksagung

 

 

 

 

Für meine kleine Schwester Nic.

Eine wahre Freundin durch dick und dünn und die unerschrockenste und schlitzohrigste Gefährtin, die ich je kannte.

Kapitel 1

Es kann nicht sein, dass ich so sterbe.

Auf keinen, auf wirklich gar keinen Fall.

Natürlich weiß ich, dass nicht jeder mit einem Ende gesegnet ist wie die alte Lady von der Titanic – ein Wegdämmern in seligen Schlummer, eingelullt in die Erinnerungen an Sex mit einem in voller Blüte stehenden Leonardo DiCaprio, die die Wucht des Krepierens gnädig abmildern. Aber mit siebenundzwanzig zu ersticken? Delphie, nein!

Während ich nach Luft ringe, ist mein Hirn gänzlich unfähig, sich der Frage zu widmen, wie ich mich aus diesem Horrorszenario retten kann, und kreist stattdessen ausschließlich um die erniedrigenden Umstände meines Ablebens.

Erstens: Ich ersticke an einem Burger. Und zwar nicht mal an einem Premium-Burger oder einem selbst gemachten, sondern an so einem billigen Müll, den man sich in der Mikrowelle warm macht; ich habe ihn nach der Arbeit im Minimart mitgenommen. Und zweitens sind dies die Klamotten, in denen ich ersticke: gewürzgurkengrüne Socken, kombiniert mit meiner allerschlimmsten Nachtgarderobe – einer ausgeblichenen, viel zu großen Abscheulichkeit mit einem grinsenden Cartoon-Stern auf der Brust, unter dem steht: Baby, funkle und leuchte! In meinem Fernseher läuft der bei einem Viertel pausierte Film Der Tinder-Schwindler, und auf meinem Laptop ist ein Browserfenster geöffnet – die Google-Ergebnisse meiner Frage: ist in einem mikrowellen-burger richtiges fleisch?

Wer wird mich wohl so finden? Mein widerwärtiger Nachbar von unten, Cooper, der angesichts meines Aufzugs garantiert abfällig die Nase rümpfen wird? Die Polizei, die meine persönlichen Habseligkeiten durchwühlen wird auf der Suche nach Beweisen, dass irgendein Dritter bei meinem Tod die Finger im Spiel hatte? Wird nicht leicht, jemanden mit einem Motiv zu finden, denn ich kenne in ganz London nur drei Leute – Leanne und ihre Mutter Jan von der Apotheke, in der ich arbeite, und den alten Mr Yoon von nebenan. O Gott, was, wenn der alte Mr Yoon mich findet? Das darf nicht passieren – sein Herz ist viel zu schwach, um mit etwas so Grausamem fertigzuwerden. Der liebenswürdige Mr Yoon! Wenn ich tot bin, gibt es niemanden mehr, der nachsieht, ob er vor dem Zubettgehen auch seine Zigaretten richtig ausgedrückt hat. Und wer macht ihm dann ein vernünftiges Frühstück, das nicht nur aus einer Schüssel mit pappigen Frühstücksflocken besteht?

Bei dem Gedanken an Mr Yoon, der kummervoll seine Frühstücksflocken anstarrt, stürze ich mich auf einen klapprigen Küchenstuhl und lasse den Oberkörper auf die Lehne krachen, ein Versuch, den Heimlich-Griff bei mir selbst anzuwenden. Miranda von Sex and the City hat das mal gemacht und überlebt … ordentlich mitgenommen, aber um eine Erfahrung reicher.

Wieder und immer wieder hämmere ich mein Zwerchfell auf den Stuhl. Dann umklammere ich mit der einen Hand die andere und schlage mir damit auf den Magen. Aua. Nichts passiert. Ist das die richtige Stelle? Ich versuche es noch mal, diesmal etwas tiefer. Und noch mal, jetzt höher. Es funktioniert nicht! Dieser Bissen aus Brötchen und möglicherweise nicht mal echtem Fleisch steckt fest in meinem Hals und scheint nicht vorzuhaben, dort je wieder herauszukommen.

Nein, nein, nein!

Ich rase durch mein kleines Wohnzimmer auf der Suche nach etwas, irgendetwas, das mir helfen könnte. Meine geliebte Broad City-Baseballcap, die an ihrem Haken an der Wohnungstür hängt? Nutzlos! Die ungeöffnete Schachtel mit Blackwing-Bleistiften auf dem Tisch? Komm schon, Delphie! Mein Blick fällt auf das Handy, das unter einem Sofakissen hervorlugt. Ich schnappe es mir und will den Notruf wählen, aber meine Hände zittern so sehr, dass es mir entgleitet. Es schlittert unter den Fernsehschrank, wo es sich einem regelrechten Ökosystem aus Staubflocken anschließt und der Antidepressivum-Tablette, die mir letzten Monat runtergefallen ist und die aufzuheben mir zu mühsam war.

Argh. Die Ränder meines Blickfelds verdunkeln sich. Meine Zunge fühlt sich seltsam an, ganz schwer und als würde sie sich zusammenrollen. Rollt sich wirklich gerade meine Zunge zusammen? Meine Knie knicken ein, ich segle theatralisch zu Boden, und mein Kopf landet mit einem dumpfen Laut auf dem hinreißenden, weichen, gestreiften Teppich, auf den ich die vergangenen drei Monate gespart habe.

O Gott.

Ich glaube … ich glaube, das war’s?

Mein großer Abgang.

Mein Ablaufdatum.

Das Ende.

 

Hier liegt Delphie Denise Bookham.

Sie starb, wie sie gelebt hat: allein, verwirrt und in echt hässlichen Klamotten.

 

»Mach die Augen auf … ja, so ist es gut. Es wird Zeit, wieder … wieder aufzuwachen. Ah, da bist du ja. Hey, Mädelchen!«

Die fremde Stimme gehört einer Frau und hat einen melodischen irischen Akzent. Ich reiße die Augen auf und begegne dem manischen Lächeln einer Frau mit einer kleinen Stupsnase, die nur wenige Zentimeter von meiner eigenen entfernt ist. Ich mustere die Fremde. Butterblonde Korkenzieherlocken, zu einem Pferdeschwanz hochgebunden; die todschicke goldene Brille lässt ihre ernsten grünen Augen doppelt so groß wirken. Sie trägt orangenen Lippenstift, ich sehe Spuren davon auf den großen Zähnen, die sie zu einem völlig übertriebenen Lächeln bleckt. Rasch schließe ich die Augen. Dann öffne ich sie wieder und versuche verzweifelt, mich zu orientieren. Mir dreht sich der Magen um, als ich feststelle, dass ich nicht in meiner Wohnung bin, die ich eigentlich nie verlasse, sondern auf einem fremden Plastikstuhl sitze, die Füße auf einem geblümten, dick gepolsterten Puff wie eine Oma.

Wo bin ich?

Von irgendwoher schallt Bobby McFerrins Don’t Worry Be Happy, es klingt unheimlich und wie in einem Traum. Mit weit aufgerissenen Augen sehe ich mich um: hellblau gestrichene Wände, vor mir eine Reihe türkisgrüner Waschmaschinen, die mit sich drehenden Trommeln vor sich hin gurgeln und hin und wieder warme, nach Lavendel duftende Luft ausspucken. Moment mal. Ist das ein Waschsalon? Was zum Geier tue ich in einem Waschsalon? Wie bin ich hierhergekommen? Und wann?

Über den Waschmaschinen entdecke ich ein großes gerahmtes Foto der bebrillten Frau. Sie reckt beide Daumen hoch, ihr Lächeln hat etwa tausend Volt. Mein Blick wandert von dem Bild an der Wand zurück zu der echten Frau, die neben meinem Stuhl kauert. Sie strahlt, als könnte sie sich nichts Schöneres vorstellen, als mich zu sehen. Dann reckt sie beide Daumen hoch, genau wie auf dem Foto.

Wer ist sie? Wo bin ich? »Äh … äh …«

Mein panisches Hirn weigert sich, meine Fragen in gesprochene Wörter umzuwandeln.

»Schlau, was?« Die Frau grinst. »Niemand fürchtet sich in einem Waschsalon! Ziemlich raffiniert, so einen ganz objektiv erschreckenden Moment abzumildern durch die wohl beruhigendste Umgebung, die man sich nur vorstellen kann. Ja, das hier ist ein Vorzimmer, das aussieht und sich anfühlt wie ein gemütlicher kleiner Waschsalon. In meiner Jugend, als das Leben so ein bisschen ARGH, DAS LEBEN IST SO EIN ARSCH, RAWAWA war, bin ich gern in den nahe gelegenen Waschsalon gegangen und habe zugesehen, wie all die Trommeln wirbeln und wirbeln, Stunden um Stunden. Der Blütenduft überall und das ganze Geplätscher, das ist so tröstlich, findest du nicht?«

Ich zucke zusammen, als die Frau aus der Hocke aufspringt und stolz mit den Armen wedelt, als wäre sie Gastgeberin einer Gameshow, die gleich den Hauptpreis präsentieren wird.

»Das Blau der Wände entspricht ganz genau der Farbe des Himmels kurz vor Sonnenaufgang in der letzten Juniwoche. Hat eine Ewigkeit gedauert, präzise den richtigen Farbton zu treffen. Die Farbe heißt Dehydrierte Gans, sie wird seit 92 nicht mehr hergestellt. Aber ich kenn da einen, der einen kennt, der einen kennt, der den Richtigen kennt, und ja, ich hab’s durchgezogen.« Sie presst die Lippen aufeinander, rammt beide Hände in die Taschen ihrer senfgelben Latzhose und lässt sachte die Hüften kreisen. »Die hohen Tiere haben sehr deutlich zum Ausdruck gebracht, dass sie ein professionelleres Ambiente wünschen, aber ich hab ihnen gesagt, also ich sagte, Leute, ihr könnt nicht von mir erwarten, dass ich hier die erstklassige Jenseits-Therapeutin gebe, wenn ihr mir nicht vollen Gestaltungsspielraum in Bezug auf die Räumlichkeiten gewährt, in denen ich die Toten therapiere. Ich meine, kommt schon, Leute … solche Idioten. Überall nichts als Idioten! Ist eine wunderschöne Farbe, was?« Sie betrachtet die Wände, seufzt zufrieden und beißt sich auf die Unterlippe, wobei sie sich noch mehr Lippenstift auf die Zähne schmiert. »Sie ändert sich mit dem Lichteinfall. Manchmal ist es ein kalkiges Grauviolett, dann wieder eher Jeansblau. Wie die Augen von Jamie Fraser. Du kennst doch Jamie Fraser? Aus den Outlander-Büchern? Was für ein Kerl. Er ist in meinen Top Ten der Romantik-Hauptrollen. Vielleicht sogar in den Top Five. Oder sogar in den Top …«

»Die Toten?«, unterbreche ich sie.

»Oh, ach ja … du bist tot, Süße. Tut mir leid.« Voller Mitgefühl reibt sie mir die Schulter.

»Was? Nein, ich … träume ich gerade?«

Ich dränge mein Hirn dazu, aufzuwachen. Das hier ist der eigenartigste Traum meines ganzen Lebens, und das, obwohl ich schon mal geträumt habe, ich würde gemeinsam mit Strolch aus Susi und Strolch einen ums Überleben kämpfenden Friseursalon führen.

»Du bist erstickt, weißt du nicht mehr?«, teilt mir die gesprächige Frau mit. »An einem Mikrowellen-Burger? Übrigens ist tatsächlich echtes Fleisch drin. Zu einhundert Prozent Rindfleisch. Ich nenne es allerdings lieber bœuf. Ich lerne nämlich gerade in den Wartepausen zwischen meinen Klienten Französisch. Nicht dass ich mich langweile oder so. Jedenfalls nicht sehr. Könnte hier ein bisschen mehr los sein?« Sie zuckt mit einer glatten, gebräunten Schulter und grinst schief. »Klar. Aber lieber ein stetes Hereintröpfeln von Toten als ein Tsunami, würde ich mal sagen, lol.«

Von Toten?

Die Erinnerung an das, was in meiner Wohnung passiert ist, bricht über mich herein. Das Ersticken. Ich presse eine Hand auf den Mund und ringe nach Luft.

»Oh, schon in Ordnung, Püppchen. Alles ist gut«, gurrt sie und hockt sich wieder hin, um auf Augenhöhe mit mir zu sein. »Alle körperlichen Unannehmlichkeiten werden beseitigt, sobald man hier ankommt. Die meisten psychischen ebenfalls. Aber die Übergangsphase zwischen dem Leben zum Nichtleben, die kann … ein bisschen schwierig sein. Ich bin Merritt, achtundzwanzig Jahre alt – und zwar für immer –, und meine All-Time-Favourites sind Curry und romantische Geschichten. In beiden Fällen gilt: je schärfer, desto besser. Ich bin deine zugewiesene Jenseits-Therapeutin.«

Ihre Hand schießt mir entgegen, offensichtlich, um meine zu schütteln, und mir fällt auf, dass sie an jedem Finger einen auffälligen Ring trägt. Eine diamantbesetzte Vintage-Rose, einen breiten schwarzen Emaille-Ring mit Totenkopf samt gekreuzten Knochen aus winzigen Rubinen. Am Daumen hat sie ein silbernes Band, auf dem steht: Halb Qual/halb Hoffnung. Es kommt mir vor, als hätte sie die Finger einfach in eine Kiste mit Fundsachen gesteckt und mitgenommen, was zufällig daran hängen geblieben ist. Ich starre sie nur stumm an, und sie schnappt sich meine Hand, die schlaff von der Armlehne baumelt, und schüttelt sie so eifrig, dass ich im Stuhl vor und zurück wackle.

»Mein Job ist es, dir bei der Eingewöhnung zu helfen, dafür zu sorgen, dass du nicht zu schlimm durchdrehst, all deine Fragen zu beantworten und so weiter und so weiter. Ich bin von jetzt an deine Hauptansprechpartnerin. Klingt das gut? Oui?«

Nein. Nein, das klingt überhaupt nicht gut. Non.

»Ich bin ganz wunderbar in meinem Job, keine Sorge«, fährt Merritt munter fort. »Angefangen habe ich in Evermore – so nennen wir das hier – ungefähr sechs Monate nach meinem Tod. Ich bin die jüngste Frau, die je zur vollwertigen Jenseits-Therapeutin ernannt wurde. Die meisten anderen Therapeuten sind alte Dudes in ihren Sechzigern oder Siebzigern, aber ich hab wohl einfach eine natürliche Affinität zu dieser Arbeit. Und außerdem bin ich höllisch ehrgeizig.«

»Hilfe«, flüstere ich.

»Das schmeckt den anderen Therapeuten gar nicht – eine heiße junge Frau, die für Unruhe sorgt. Ständig schnappen sie mir die neuen Toten vor der Nase weg.« Kurz betrachtet sie ihre Füße. Sie ist barfuß, die Zehennägel sind Coca-Cola-rot lackiert. »Ich könnte hier echt was reißen, wenn man mir nur eine faire Chance gäbe«, murmelt sie erbost. »Na, egal, ich will dich damit nicht langweilen. Zum Glück sind zwei von diesen alten Trotteln gerade im Urlaub, und da haben sie es nicht geschafft, mir dich wegzuklauen! Du bist mein erster Neuzugang seit einer ganzen Woche! Ein Glück für mich. Für dich natürlich Pech, aber für mich? Ausgezeichnet.«

Dümmlich sehe ich ihr hinterher, als sie auf eine Tür am anderen Ende des Raums zumarschiert. Mit dem gekrümmten Zeigefinger bedeutet sie mir, ihr zu folgen.

»Wo … wo gehen wir hin?«, frage ich. Ich zittere so sehr, dass die Worte mit einem Vibrato herauskommen, das meine Stimme klingen lässt wie die von Jessie J.

»Natürlich in mein Büro. Wir können doch die Aufnahme nicht hier in der Lobby machen, oder? Was, wenn ein anderer Toter eintrifft, während du mir gerade intime Fragen beantwortest? Peinlich. Damals haben immer alle gesagt, dass ich sehr professionell bin. Privatsphäre kommt immer an erster Stelle. Keine Sorge, ich kümmere mich schon um dich, Süße.« Den letzten Satz singt sie, es klingt, als würde sie Cher imitieren.

Merritt öffnet die Tür, und zu meiner Beruhigung liegt dahinter ein sehr hübsches, ziemlich normal aussehendes Büro. Überall stehen Kerzen, die Flammen haben einen warmen rosa Schimmer. Mitten im Zimmer steht ein Glasschreibtisch, überladen mit Dekozeug, darunter drei prächtig gedeihende Pflanzen, eine munter vor sich hin nickende chinesische Glückskatze und ein Schreibtisch-Organizer, der leer ist, weil sämtliche Stifte quer über den Schreibtisch verstreut liegen. An der gegenüberliegenden Wand steht ein Bücherregal, bis unter die Decke vollgestopft mit Romanen in allen Farben des Regenbogens. Offenbar sind es ausschließlich Liebesgeschichten, ich sehe Titel wie The Proposal, A Match Made in Devon und The Bride Test. Merritt folgt meinem Blick und zieht ein Buch aus dem Regal – eine hübsche leinengebundene Hardcover-Ausgabe von Jane Austens Anne Elliot. Sie drückt es an die Brust und schließt selig die Augen, als würde sie einen Welpen knuddeln. »Du kannst dir jederzeit Bücher ausleihen«, sagt sie, schiebt das Buch zurück ins Regal und fährt mit den Fingerspitzen liebevoll über die Buchrücken.

»Ähm, danke.«

Merritt schnuppert in die Luft und atmet geräuschvoll aus. »Rosen und schwarze Johannisbeeren. Mein ganz persönlicher Duft.« Sie zeigt auf eine flackernde weiße Kerze auf einem kleinen Holztisch. »Wundervoll, oder? Wir haben einen Diptyque-Laden in Evermore. C’est magnifique. Oh, wir müssen für dich auch einen persönlichen Duft finden. Ich wette, du bist ein Geißblatt-Mädchen, stimmt’s? Du neigst zur Selbstbeobachtung, hast ein sensibles Herz und eine reiche innere Welt. Und unter der Oberfläche brodelt jede Menge Leidenschaft.«

Ich blinzle. Was zum Teufel ist hier eigentlich los? Wo bin ich hier gelandet? Und warum?

Merritt schenkt mir ein wohlwollendes Lächeln. »Okay. Ich sehe, dass du durcheinander bist, weil … wegen allem. Es ist ganz schrecklich, ich weiß. Als ich hier ankam, habe ich erst mal gekotzt. Ja, buchstäblich. Warum setzt du dich nicht und ruhst dich ein bisschen aus?« Sie deutet auf einen weißen Lederdrehstuhl vor ihrem Schreibtisch, doch bevor ich mich hinsetzen kann, klatscht sie entschlossen in die Hände. »Gut! Sehr gut. Okay.« Sie holt ein Klemmbrett von ihrem Schreibtisch und überfliegt den Zettel darauf. »Die erste Frage ist … möchtest du dein Leben vor deinen Augen vorbeiziehen sehen?«

»W-wie bitte?« Meine Zähne fangen an zu klappern.

»Ich fragte: Möchtest du dein Leben vor deinen Augen vorbeiziehen sehen? Früher haben wir diesen Service nicht angeboten, aber Hollywood hat den Menschen den Eindruck vermittelt, es würde zum Tod dazugehören. Und sosehr ich solche klassischen Erzählungen auch liebe, es entspricht einfach nicht der Realität. Na ja, aber es beschweren sich immer mal wieder Tote bei ihrer Ankunft darüber, also bieten wir es jetzt bei Bedarf an. Ganz allein deine Entscheidung, nur keinen Stress.«

Mir ist kalt. Warum ist es hier so kalt? Auf einem anderen Stuhl entdecke ich eine flauschige Decke, wickle mich fest darin ein und ziehe sie bis zum Kinn hoch.

»Also … willst du oder nicht?«, wiederholt Merritt und tippt mit dem Fingernagel aufs Klemmbrett.

»Äh … ähm …«, blöke ich und zupfe nervös an der Decke herum. »Kann ich jetzt nach Hause gehen?«

Merritt seufzt leise. »Wollen wir einfach Ja sagen zu der Sache mit dem Leben, das vor deinen Augen vorbeizieht? Das ist deine einzige Chance. Und wenn ich es dir jetzt nicht zeige und du es dir später anders überlegst, bist du wahrscheinlich böse auf mich, und das ist kein guter Start für eine ewige Freundschaft.«

Stumm sehe ich zu, wie Merritt in einer kleinen Kammer verschwindet und mit einem weißen Metallwagen zurückkehrt, auf dem ein großer grauer Neunzigerjahre-Fernseher und ein DVD-Player stehen. »Dauert nicht lange«, sagt sie. »Wir zeigen nur die unserer Meinung nach wichtigsten Clips, sonst würde man dabei einschlafen, und obwohl wir technisch gesehen die Ewigkeit zur Verfügung haben, hat niemand Zeit für so eine Nabelschau. Was vorbei ist, ist vorbei, verstehst du?«

Ich sage immer noch nichts, und Merritt drückt auf Play. Ist die DVD schon drin? Ist der Player nur Show? Ich bin völlig durcheinander.

»Los geht’s!«, sagt Merritt. »Delphie Denise Bookham. Das … war … DEIN LEBEN!«

Kapitel 2

Untermalt von Stevie Wonders Isn’t She Lovely zeigt Merritts Video eine bezaubernde Montage von Momenten aus meiner idyllischen Kindheit. Lange bevor Papa genug von uns hatte und meine Mutter versuchte, ihrem Schmerz zu entfliehen, indem sie wie besessen die Karriereleiter bei der London City Bank hinaufkraxelte. Damals, als das Leben noch so perfekt war, wie es nur sein konnte. Ich sauge die Clips förmlich ein und habe plötzlich Angst, auch nur ein winziges Detail zu verpassen. Da sind wir drei, kullern durch hohes, mit Gänseblümchen übersätes Gras, kuscheln an einem Sonntagmorgen miteinander oder tanzen zu Aretha Franklin auf dem Bett. Da ist meine Mutter, die mich ihren schimmernden Lipgloss mit Kirschgeschmack ausprobieren lässt und lacht, als ich ihn eifrig ablecke und nach mehr verlange. Ich auf verschiedenen Geburtstagsfeiern, umringt von anderen lachenden, pausenlos plappernden Kindern mit strahlenden Augen und frechen Gesichtern. In einigen Clips liegen ich und Gen, meine beste Freundin aus Kindertagen, uns in den Armen und kichern übermütig über irgendeinen längst vergessenen Unfug. Ich wende den Blick vom Bildschirm ab, Scham und Traurigkeit durchzucken meine Brust.

»O Gott«, sagt Merritt und presst eine Hand auf die Brust. »Ich dachte, ich wäre als Kind schon süß gewesen, aber du bist noch eine ganz andere Liga! Absolut hinreißend.«

Die Hintergrundmusik wechselt zu Céline Dions All by Myself, während das Video in einen Clip übergeht, der mich allein am Esstisch in unserer Wohnung in West London zeigt – derselben Wohnung, in der ich immer noch wohne. Ich schneide sorgfältig Bilder aus einer Fernsehzeitschrift aus und arrangiere sie zu Collagen. Damals hielt ich meine Werke für supercool und sehr künstlerisch, aber jetzt sehe ich, dass sie ziemlich merkwürdig waren.

Ich bin von Kopf bis Fuß linkischer Teenager: pickliges Gesicht, dicke Brille, Zahnspange, und in einem meiner Ohren steckt ein Wattebausch wegen einer hartnäckigen Ohrenentzündung, die einfach nicht weggehen will. Die Clips gehen ineinander über: Ich sitze am Küchentisch und bastle meine Collagen, zeichne irgendwelche Soap-Stars, nehme meine Ohrentropfen und zucke zusammen, dann gehe ich ins Bett. Abend für Abend.

»Traurig.« Merritt schüttelt den Kopf.

Sie hat recht, es wirkt traurig. Damals, als ich allein dagesessen und gezeichnet und gebastelt habe, hat es sich nicht traurig angefühlt. Oder doch?

Das Video geht über zu meiner Zeit an der Bayswater High School. Sofort wird mir am ganzen Körper heiß, und ich werfe die flauschige Decke weg. In meinem Hinterkopf beginnt es zu pochen. »Können wir den Teil bitte vorspulen?«, frage ich, denn diese Zeit war einfach nur furchtbar, von Anfang bis Ende. Diese Erinnerungen halten mich nachts immer noch wach.

»Leider nicht«, sagt Merritt. »Wenn es einmal an ist, ist es an.«

Meine Brust zieht sich zusammen, als auf dem Bildschirm ein Bild von meinem fünfzehnjährigen Ich erscheint. Meine Haut sieht inzwischen besser aus, die Brille mit den dicken Gläsern habe ich gegen ein leichteres Modell ausgetauscht, und die schiefen Zähne sind dank Zahnspange inzwischen gerade. Meine roten Haare fallen mir in Wellen über die Schultern und heben sich hübsch vom Flaschengrün der Schuluniform ab.

Ich sitze in einem leeren Klassenzimmer, zeichne mit Bleistift auf einem Blatt Papier und beiße ab und zu in das Käsesandwich, das ich mir am Morgen gemacht habe. Und dann ist sie da. Gen Hartley. Meine beste Freundin aus Kindertagen, das Mädchen, das ich am meisten liebte, und die Hauptverantwortliche für so ziemlich all meine Traumata. In Begleitung ihres Freunds Ryan Sweeting stürmt sie in den Klassenraum. Es ist fast schon komisch, wie klischeehaft sie aussehen: Gen mit ihrem glänzenden Vorhang aus kastanienbraunem Haar, dicken Schichten blauer Wimperntusche und einem ultrakurzen Röckchen; Ryan, gut aussehend und groß für sein Alter, im Rugbytrikot des Schulteams und mit kurz geschorenem blonden Haar. Wäre dies ein Teenagerfilm, würde man sie sofort als die fiesen Kids identifizieren. Auf dem Video kommen sie mir allerdings kleiner vor als in meiner Erinnerung. Damals wirkten sie wie Riesen.

»Hey, Delphie!«, sagt Gen honigsüß, schlendert zu meinem Tisch hinüber und stützt sich mit beiden Händen auf meinen Schreibtisch. Ryan folgt ihr und schlingt die Arme um ihre Taille. Gen lächelt mich an. »Ich und Ryan haben eine Frage, und wir haben gehofft, du könntest uns helfen, sie zu beantworten.«

Ich hatte immer noch nicht gelernt, Gen nicht mehr zu vertrauen. Ich weiß noch, dass ich mich gefreut habe, dass sie wieder mit mir redete. Vielleicht vermisste sie mich ja. Vielleicht wollte sie wieder meine beste Freundin werden. Vielleicht wollte auch Ryan mein Freund werden. Er war der coolste Junge in unserem Jahrgang.

»Klar«, sage ich eifrig, lege den Bleistift weg und schiebe mir lächelnd die Brille auf die Nase. »Geht es um den Chemietest? Der wird echt schwer, aber ich helfe dir gern, wenn du möchtest. Willst du dir meine Notizen ausleihen?«

Gen lacht, eine helle, xylofonartige Melodie, die hässliche Absichten ahnen lässt. »Nein, Delphie. Unsere Frage ist: Warum sind deine Haare so … STROHIG.« Sie packt ein Büschel und reißt daran. Auf dem Video sieht man den Schmerz und Schock in meinem Gesicht deutlich. »Ehrlich, das fühlt sich an wie Drahtwolle. Benutzt du keine Spülung?«

Ryan lässt sie los und geht um den Tisch, bis er mir gegenübersteht. Reißt mir ebenfalls an den Haaren, viel härter als Gen. Mein Kopf ruckt nach vorn, und mir schießen Tränen in die Augen. »Du hast recht!«, ächzt er und wischt sich die Hände an der Jeans ab, als hätte er sich an mir besudelt. »Fühlt sich an wie Schamhaare.«

Gen kreischt vor Vergnügen. Ich springe auf, und meine Zeichnung segelt zu Boden. Hastig will ich sie aufheben, aber Ryan ist schneller. Er wirft einen Blick auf das Bild und verzieht den Mund zu einem fiesen Grinsen. »O mein Gott«, sagt er.

»Gib das zurück.« Ich strecke die Hand danach aus, aber Ryan hält das Blatt hoch in die Luft.

Gen keucht auf und greift danach. »Ist das Mr Taylor?«, kreischt sie. »Du hast Mr Taylor gezeichnet? Stehst du etwa auf den?«

Ich weiß noch, dass ich mir damals wünschte, ich wäre eine bessere Lügnerin, aber mein rotes Gesicht verriet mich. Natürlich stand ich auf unseren Kunstlehrer. So wie alle Mädchen. Er sah umwerfend aus mit seinen strahlend blauen Augen und den weizenblonden, stachlig frisierten Haaren, und er war nett und nahm sich immer Zeit, um mit mir über Komposition und Licht zu sprechen und darüber, wie wichtig es war, jeden Tag ein wenig zu zeichnen – ein Konzept, von dem ich nie zuvor gehört hatte.

»Und wie sie auf ihn steht! Sie ist ja knallrot geworden! Sie will Mr Taylor ficken. Sie will ihn ficken und ihn danach nackt mit heraushängendem Pimmel malen.«

Von Merritts Schreibtischstuhl aus starre ich auf den Bildschirm, und mein Herz klopft genauso heftig wie damals. Ich weiß noch, wie sehr es mich verwirrt hat, dass Gen so erwachsene Wörter wie »ficken« benutzte. Hatte sie schon Sex gehabt? Der Gedanke machte mich seltsam traurig, weil es bedeutete, dass ich so weit weg war von ihr und ihrem Leben, dass ich so ein bedeutendes Ereignis gar nicht mehr mitbekam.

»Oh, niemand wird Delphie jemals ficken«, stellt Ryan fest. »Da müsste schon jemand sehr verzweifelt sein.«

»Ja, wahrscheinlich bleibt sie für immer Jungfrau«, stimmt Gen ihm zu.

»Kann ich meine Zeichnung jetzt zurückhaben?«

»Morgen«, sagt Gen, und sie und Ryan schlendern zur Tür.

»Bitte zeigt das niemandem!«, rufe ich ihnen hinterher. Tränen laufen über meine Wangen.

»Mach ich nicht, versprochen!«, flötet Gen und faltet das Papier so, dass sich eine Falte quer über Mr Taylors Stirn gräbt.

Merritt schnappt nach Luft und drückt die Pausetaste. »O nein. Sie hat es allen gezeigt, stimmt’s?«

Ich nicke und denke daran, wie Fotokopien meiner Mr-Taylor-Zeichnung auf sämtlichen Schulfluren verteilt wurden. Wie schrecklich es war, als alle über mich gelacht haben. Und wie traurig ich war, als es Mr Taylor so unangenehm war, dass er über den Lehrplan hinaus nicht mehr mit mir über Kunst gesprochen hat.

»Was für ein Miststück«, keucht Merritt, bevor sie unbeirrt wieder auf Play drückt, als wäre es nur ein Fernsehdrama, das sie im Schnelldurchlauf ansieht.

Noch mehr Clips von Gen und Ryan – das Vorzeigepärchen der Schule –, die mich auf immer grausamere Weise quälen: Sie drücken mir Kaugummi in die Haare, stellen mir auf dem Flur ein Bein und sperren mich fünf Stunden lang in den Schulkeller, wo mich die Direktorin findet, nachdem ich so lange geschrien habe, dass ich nur noch ein trockenes Krächzen hervorbringe. Wir sehen mich, die ich mich auf dem Mädchenklo im obersten Stockwerk verkrieche, meinen Apfel esse und wachsam zur Tür starre, während ich auf sich nähernde Schritte lausche.

Ich schlucke schwer. »Ich habe genug gesehen«, sage ich entschlossen. »Mach es aus.« Ich habe seit meinem sechzehnten Lebensjahr nicht mehr geweint und nicht vor, jetzt wieder damit anzufangen. »Es ist mein Ernst. Ich habe genug gesehen. Mach es verdammt noch mal aus.«

»Es wird doch sicher besser?«, fragt Merritt sanft. »Es sind nur noch ein paar Minuten!«

Ich kaue auf meiner Unterlippe, während ich mir selbst dabei zusehe, wie ich erwachsen werde. Ich studiere an der Uni, wohne aber noch zu Hause, damit ich niemanden kennenlernen muss. Dann bekommt meine Mutter einen Job an der Wall Street und geht einfach mir nichts, dir nichts nach New York. Ich fange an, in der Apotheke gegenüber unserer Wohnung zu arbeiten, weil ich dort den ganzen Tag im Hinterzimmer bleiben kann, ohne mit Kunden oder meinen Kollegen reden zu müssen. Das Video zeigt eine endlose Schleife aus Tagen in der Apotheke und Nächten, in denen ich auf dem Sofa sitze und fernsehe oder im Internet surfe. Die Tage gleichen sich so sehr, dass Wochen und Monate ineinander verschwimmen. Schließlich endet das Video mit dem wenig schmeichelhaften Moment, in dem ich den Mund extra weit aufreiße, um in den mörderischen Burger zu beißen.

»Oh, pfui«, murmelt Merritt, schaltet den Fernseher aus und rollt den Wagen zurück in den Schrank. »Nein, es ist nicht besser geworden. All deine Tage haben einander geglichen wie ein Ei dem anderen. Du warst so allein.«

Ich hebe das Kinn. »Tja, hab ich mir nicht so ausgesucht. Und ich war vielleicht allein, aber nicht einsam. Ganz und gar nicht. Ich bin wie ein Großer Panda. Wir gedeihen als Einzelgänger am besten.«

»Das sah aber nicht nach Gedeihen aus, Süße.«

»Und im Video ist kein einziges Mal Mr Yoon aufgetaucht«, protestiere ich. »Ich sehe ihn praktisch jeden Tag zum Frühstück. Er hat zwar noch nie mit mir gesprochen, aber das liegt nur daran, dass er nicht redet. Manchmal schreibt er mir Notizen, also …«

Merritt setzt sich an ihren Schreibtisch und streicht sich nachdenklich mit den Fingern übers Kinn. »Wir haben im ganzen Video weder einen festen Freund noch eine feste Freundin gesehen, Delphie. Oder auch nur eine kurze Tändelei. Hast du denn nie …« Sie beendet den Satz nicht, sondern hebt nur eine Braue.

Ich schnaube gereizt. Diese Frau geht mir langsam ernstlich auf die Nerven. »Wenn du meinst, ob ich Sex hatte, dann nein. Nein, hatte ich nicht. Menschen können auch ohne Sex ein erfülltes Leben führen.« Ich verschränke die Arme vor der Brust. »Ja, mein Leben sah auf dem Video nicht sehr erfüllend aus, aber es war auch echt ungünstig zusammengeschnitten. Die haben meine schöne Zeit mit Mr Yoon ausgelassen und meine Solo-Reise nach Griechenland, die herrlich war. Es wurde auch nicht erwähnt, wie schön der Blick aus meinem Wohnzimmerfenster war und wie viel Freude ich daran hatte, durch dieses Fenster den Wechsel der Jahreszeiten zu beobachten.«

»Ich habe keine Ahnung, woraus ein Mensch seine Befriedigung zieht, wenn er keinen Sex hat – ich selbst war zu Lebzeiten eine richtige Schlampe. Es war glorreich. Eine goldene Ära voller Schwänze, das steht mal fest. Du tust mir wirklich sehr leid.«

Der Funke der Irritation, den ich in Gegenwart anderer Menschen oft verspüre, lodert zu einem zornigen Feuer auf. »Ich brauche dein Mitleid nicht. Schon gar nicht aus diesem Grund.«

Merritt steht auf und setzt sich auf die Kante ihres Schreibtisches, sodass sich unsere Knie fast berühren. »Du bist also noch Jungfrau«, sagt sie fast zu sich selbst. »Im Alter von siebenundzwanzig Jahren. Das hört man auch nicht oft. Oh, Moment mal … o mein Gott, Delphie, du bist eine Jungfrau …«, sie blickt auf ihr Klemmbrett runter, »… ohne Führerschein. Buchstäblich eine Jungfrau ohne Führerschein. Wie in dem fantastischen Teenager-Romantikfilm Clueless!«

Was ich daraufhin sage, kommt mir selbst lächerlich vor, aber ich habe das Gefühl, keine andere Wahl zu haben, denn ihr Verhalten ist einfach höchst unangemessen. »Kann ich mit einem Manager sprechen?«

Merritt zieht eine Grimasse. »Ja, die hohen Tiere haben mir schon gesagt, ich müsste an meinem Taktgefühl arbeiten. Tut mir leid, Süße. Was ich hätte sagen sollen, ist, dass du noch nie Geschlechtsverkehr hattest oder legal ein Auto gefahren bist und dass das in Ordnung ist.«

Bei den Worten in Ordnung zeichnet sie allen Ernstes Anführungszeichen in die Luft.

»Manager«, wiederhole ich.

»Oh, du willst ganz sicher nicht, dass ich Eric hole, glaub mir das. Der Typ ist furchtbar, ein richtiges Arschloch. Und er ist verdammt heiß, was den Umgang mit ihm noch anstrengender macht. Wenn du es unbedingt willst, dann hole ich ihn, aber ich verspreche dir, später würdest du es bereuen und dir wünschen, du wärst bei mir geblieben.« Sie senkt die Stimme. »Weißt du, ich habe ihn mal sagen hören, Adele wäre völlig überbewertet.«

Ich verziehe das Gesicht. Dieser Eric klingt tatsächlich wie ein Idiot.

»Es tut mir leid, dass ich dich verärgert habe, okay? Ich werde versuchen, mich zu bessern. Ich bin ein bisschen aus der Übung, weißt du? Aber ich verspreche, ich bin viel besser als Eric. Willst du einen Keks? Als kleine Wiedergutmachung.«

Ich seufze. Natürlich will ich einen Keks. Und ich würde es gern vermeiden, schon wieder eine ganz neue Person kennenzulernen.

Merritt öffnet ihre Schreibtischschublade und reicht mir einen in Folie eingeschweißten Keks. Ich packe ihn aus und nehme einen Bissen. Sie nimmt sich ebenfalls einen Keks und schiebt sich das ganze Teil auf einmal in den Mund, sodass ihre Backen aussehen wie die eines Hamsters.

»Okay«, sagt sie, als sie schließlich runtergeschluckt hat. »Hättest du Lust, jemanden über unsere interne Partnervermittlung kennenzulernen? Um ehrlich zu sein, ist sie noch in der Beta-Phase, hat also noch ein paar Macken, aber ich gehöre zum Team und würde dich gern einladen. Wir könnten noch ein paar willige Teilnehmer gebrauchen. Die Vermittlung heißt Eternity 4U. Ist das nicht süß?«

Ich schlucke meinen Keks hinunter. »Das Jenseits hat eine Partnervermittlung?«

»Auch tote Menschen brauchen Sex. Die Geilheit stirbt nie. Und, hey, vielleicht können wir dir ja zeigen, was du verpasst hast? Darf ich dich anmelden? Auf was für einen Typ stehst du denn? Blond, blaue Augen, so wie Mr Taylor, der Kunstlehrer, nicht wahr?«

Ich glaube, es ist die Nonchalance, mit der sie tote Menschen sagt.

Ich bin tot.

Ich bin tot?

Ich sitze hier fest? Mit dieser Frau und ihrer rastlosen Energie? Eternity 4 me?

Ich beginne wieder zu zittern.

Nein.

So was von nein.

Ich muss von hier verschwinden. Das Ganze ist ein Riesenfehler. Ich kann nicht hierbleiben. Ich kann das einfach nicht!

Ich spüre meinen raschen Herzschlag in den Wangen, als ich aufspringe und zur Tür renne. Es muss hier doch irgendwen geben, mit dem ich reden kann. Jemanden, der nicht total schräg ist. Jemanden, der mir helfen kann rauszufinden, was hier eigentlich gerade los ist.

»Delphie, warte! Geh nicht weg! O Gott, nicht schon wieder!«

Ich reiße die Tür auf, renne in den psychotischen Waschsalon-Warteraum – und pralle geradewegs gegen die Brust eines umwerfenden Fremden.

Kapitel 3

Hey, hey! Ganz ruhig!« Der umwerfende Fremde packt mich an den Armen und mustert mich besorgt, blonde Brauen ziehen sich über strahlend blauen Augen zusammen.

»O Gott, es tut mir so leid«, murmle ich, ein wenig außer Atem. »Ich muss einen Arzt finden oder den Chef von diesem Laden oder so. Ich kann nicht bleiben. Wissen Sie, wo ich jemanden finde, der mich hier rausholt?«

Der Mann schüttelt den Kopf, die Hände immer noch auf meinen Armen. Seine warme Haut zu spüren ist tröstlich, und mein rascher Atem beruhigt sich schlagartig.

»Ich fürchte, ich bin gerade erst … ich bin gerade erst hier aufgewacht«, erklärt der Mann und betrachtet neugierig die Reihe der Waschmaschinen. »Das Letzte, woran ich mich erinnere, ist das Beruhigungsmittel für eine Zahn-OP. Jetzt bin ich hier, also ist das entweder ein wirklich ungewöhnlicher Traum, oder … ich bin tot?«

Ich nicke mitfühlend. »Genau das will ich auch rausfinden – Traum oder tot?«

»Das schlimmste Ratespiel aller Zeiten.«

Mir entweicht ein Schnauben.

»Wo sind wir hier?« Er betrachtet das gerahmte Bild von Merritt an der Wand. »Wer ist das?«

»Das ist Merritt, die Verrückte, die hier arbeitet. Sie hat ihr Vorzimmer wie einen Waschsalon dekoriert. Sie hält das für beruhigend.«

»Aber es ist total gruselig.« Der Mann beugt sich runter und späht in die Maschinen. »Alle Kleidungsstücke haben die gleiche Farbe.«

Da hat er recht – alles ist von derselben Senffarbe wie Merritts Latzhose.

»So seltsam.« Ich schaudere.

Er neigt lauschend den Kopf. »Ist das Don’t Worry Be Happy?«

»Es läuft in der Wiederholungsschleife.«

»Natürlich. Und mit jedem Mal wird es unheimlicher.«

»Ja, oder? Selbst der beste Song klingt irgendwann bedrohlich, wenn man ihn immer und immer wieder spielt.«

»2008 habe ich nichts anderes gehört als Nickelback. Ich kann seine Stimme nicht mehr hören, ohne dass mir übel wird.«

»Nickelback?«

Er verzieht das Gesicht. »Die waren mal cool.«

»Die waren nie cool.«

Er errötet leicht.

Er ist nett, denke ich im Stillen. Das ist das längste Gespräch, das ich je mit einem ästhetisch so überlegenen Mann geführt habe. Zu meiner Überraschung verspüre ich nur einen Hauch meiner üblichen Nervosität und Gereiztheit.

Mir fällt auf, dass sein Haar die Farbe eines goldenen Weizenfelds in der Abendsonne hat. Ich habe zwar noch nie ein goldenes Weizenfeld in der Abendsonne gesehen, aber wenn ich es gesehen hätte, da bin ich mir sicher, hätte es genau so ausgesehen.

»Tot also, was?«, kommt er auf unsere scheußliche Situation zurück und zieht eine Grimasse. Ich lasse die Schultern sinken. Es war eine Wohltat, die Realität für ein paar Minuten zu vergessen.

»Tot«, wiederhole ich sanft. »Es tut mir so leid.«

»Scheiße. Ich hatte so viele Pläne für den August. Was für ein Jammer, das sommerliche London zu verpassen. Es ist magisch.« Mit einem wehmütigen Lachen blickt er in die Ferne. »So magisch wie sonst nichts auf dieser Welt.«

Sofort sehe ich vor mir, wie die Müllsackstapel auf der Straße in der Glut der Sommersonne anfangen zu stinken. Denke an dreiste Ratten, die mitten am Tag vor einem auftauchen und einem direkt in die Augen starren. An den Ansturm der Touristen, die am Bahnhof Paddington ankommen und mich damit wecken, dass sie um Mitternacht ihre riesigen Koffer durch meine Straße rollen. An den zähen Smog, der in der Rushhour unerträglich wird. Wie ein Eintopf aus Abgasen.

»O ja.« Ich nicke. »Magisch.«

Ich betrachte die gebräunten Hände des Mannes auf meinen Armen. Es fühlt sich gut an, seine Haut auf meiner Haut zu spüren. Normalerweise bekomme ich Schweißausbrüche und Panik, wenn mich jemand berührt, und mit jeder Sekunde des Kontakts steigt mein Drang, entweder wegzulaufen oder ihm vors Schienbein zu treten. Aber das hier? Es fühlt sich … angenehm an. Ruhig und weich und sinnlich zugleich. Wie ein warmes Schaumbad an einem faden Februartag.

Der Mann sieht, wie ich seine Hände anstarre, und lässt mich rasch los. Steckt die Hände in die Taschen seiner blauen Jeans.

»Entschuldigung. Ich hab nicht gemerkt, dass ich dich einfach so angrabble. Wie schräg. Ich bin kein Perversling, versprochen.«

»Schon gut.« Ich streiche mir das Haar hinters Ohr und kichere. Ich glaube, ich habe seit 2008 nicht mehr gekichert.

»Das ist seltsam.« Er kneift die Augen zusammen. »Und es klingt wahrscheinlich nach einem dummen Spruch, aber ich … ich hab das Gefühl, ich hätte dich schon mal getroffen. Als würde ich dich kennen. Hört sich das seltsam an?«

Ich nicke hastig, weil mir auf einmal bewusst wird, dass ich dasselbe empfinde. Ja, mir ist völlig klar, dass ich diesen Mann noch nie zuvor getroffen habe. Aber trotzdem empfinde ich in seiner Gegenwart einen Frieden wie bei keinem anderen Menschen je zuvor. Es ist, als würde mich dieser Mann kennen. Als wüsste er über all meine Schwächen und schlechten Angewohnheiten und unangenehmen Gedanken Bescheid, und es wäre ihm völlig egal. Als ob er mich mögen würde, obwohl ich … ja, obwohl ich ich bin. Als hätte ich ihn schon mein ganzes Leben lang vermisst. Es ist ein seltsames Gefühl. Ein gutes Gefühl.

Ich betrachte sein Gesicht. Die Zähne, der Akzent, seine Freundlichkeit und das Kornblumenblau seiner Augen erinnern mich schmerzlich an Mr Taylor, was seltsam ist, weil ich gerade erst von ihm gesprochen habe.

Sein Blick wandert über mein Gesicht und verweilt einen Moment auf meinen Lippen. Mein ganzer Körper beginnt zu kribbeln und eigenartig zu sprudeln, als wäre ich eine glitzernde Schneekugel, die gerade kräftig geschüttelt wurde. Alles ringsum verblasst angesichts seiner leuchtend hellen Gegenwart. Wer zum Teufel ist dieser Mann?

Er lacht verlegen und streicht sich über den Kiefer. »Und, äh, bist du öfter hier?« Er zieht eine alberne Grimasse, und ich grinse und vergesse, wo ich mich befinde und dass ich anscheinend tot bin. Dieser schöne Fremde sieht mich an, wie ich in meinem ganzen Leben noch von niemandem angesehen wurde. Als wäre ich faszinierend und wunderbar und in keinster Weise ein Totalausfall … und außerdem sehr, sehr hübsch.

»Du bist so jung.« Er runzelt die Stirn. »Zu jung zum Sterben.«

»Du auch.«

»Fuck.«

»Off.«

»Na ja. Wenigstens sind wir jetzt wohl für immer heiß. In unserer Jugend konserviert, quasi.«

Er hat es gesagt. Er findet mich heiß. Mit meinen ungewaschenen Haaren und in meinem komischen Nachthemd. Wow. Meine Wangen glühen vor Freude. Was passiert hier bloß gerade?

»Ich muss deinen Namen wissen«, sagt er und kommt einen Schritt näher, seine Stimme ist plötzlich tief und vertraulich.

»Ich heiße Delphie. Delphie Bookham.«

»Es freut mich, dich kennenzulernen, Delphie Bookham.« Er lächelt. Lieber Himmel, seine Zähne sind perfekt, so gerade und weiß. Er geht bestimmt sehr regelmäßig zum Zahnarzt.

Er hält mir seine Hand hin, und ich ergreife sie. Aber wir schütteln uns nicht die Hand, wir halten uns nur fest.

»Wie heißt du?«, frage ich.

»Ich bin Jonah. Jonah T…«

Den Rest seines Namens erfahre ich nicht mehr, denn Merritts Bürotür fliegt auf, und sie kommt herausgerannt und starrt Jonah und mich mit großen Augen an. Wir zucken zusammen, und Merritt, ein Fax in der Hand, schreitet mit energisch wippenden blonden Locken auf uns zu.

»Hi!«, sagt sie mit zerknirschtem Lächeln und blinzelt ein paarmal. »Jonah, richtig?«

»Äh, ja?« Vor Schreck ist seine Stimme ganz kieksig. Er räuspert sich und versucht es noch mal. »Ja. Das bin ich.«

»Hi, Jonah, mein Süßer. Aaalso, ich fürchte, es gab da eine kleine Verwechslung – das passiert manchmal, kein Grund zur Sorge.«

»Was ist los?«, fragt Jonah. Er ist nicht mehr entspannt. Sein Gesicht ist gespenstisch bleich geworden.

»Tja«, sagt Merritt, bläst ihre Wangen auf und pustet die Luft wieder heraus. »Gute Nachrichten, wie sich herausstellt! Du bist nicht wirklich tot, Jonah. Du bist das, was wir einen versehentlichen Besucher nennen. Unsere Systeme spielen manchmal verrückt und liefern uns Leute, die noch gar nicht hierhergehören.« Ihr Blick zuckt zu dem Fax in ihrer Hand. »Und zwar, wie es aussieht, noch für sehr lange Zeit nicht. Also …«

Und dann, bevor Jonah oder ich etwas sagen oder tun können, tritt Merritt vor und drückt ihren Daumen mitten auf Jonahs Stirn. Ich schreie auf, als sein Körper aufschimmert. Und dann sieht es aus, als würde er zerplatzen, wie eine Seifenblase, die gerade jemand zerstochen hat.

Ich blicke auf meine Hand hinunter, die eben noch seine gehalten hat.

Sie ist leer.

Nein.

Nein, nein, nein!

Ich glaube … ich glaube, ich habe gerade den einzigen Menschen getroffen, den zu treffen mir wirklich vorherbestimmt war.

Und jetzt ist er weg.

Kapitel 4

Ich starre auf den Fleck, an dem Jonah gerade noch stand, blinzle und versuche zu begreifen, was gerade passiert ist.

»Sieh an, sieh an, sieh an!«, sagt Merritt gedehnt und wischt sich die Hände ab. Sie wackelt mit den Augenbrauen und setzt ein wissendes Lächeln auf. »Selbst die wundervolle Nora Roberts persönlich würde ihr letztes Hemd dafür geben, um eine solche Chemie auf eine Manuskriptseite zu bannen.«

»Das … das war … Wer war das? Er war … Und jetzt ist er …«

»Er ist weg, mein liebes Mädchen. Wieder zurück im Land der Lebenden. Eine Verwaltungspanne – das kommt hin und wieder mal vor. Wie schade. Mit ihm gemeinsam hättest du eine viel schönere Zeit in Evermore gehabt. Es tut mir so leid, Delphie. Ich wünschte, das wäre anders gelaufen.«

Ich sehe Merritt direkt in die großen grünen Augen. »Moment mal … du hast ihn gerade zurückgeschickt. Schick mich auch zurück! Du hast die Macht dazu, ich habe es gerade mit eigenen Augen gesehen!« Verzweifelt greife ich nach ihrem Daumen und drücke ihn gegen meine Stirn. »Komm schon, tu es einfach! Mach das Ding mit dem Daumen! Ich will nicht hier sein. Ich kann nicht bleiben! Mr Yoon braucht mich. Ich … ich habe einen Job! Du hast Jonah gerade zurückgeschickt. Schick mich auch zurück!«

Merritt reißt ihren Daumen weg und hält ihn schützend an ihre Brust. »Jeder kann versehentliche Besucher auf die Erde zurückschicken – das war ja nur ein Verwaltungsfehler.« Sie zuckt mit den Schultern, als wäre nichts dabei, dass sie gerade einen schönen und an mir interessierten Menschen einfach hat verschwinden lassen. »Aber Leute, die hierhergehören? Das geht nicht. Jeder Mitarbeiter von Evermore hat nur eine einzige Rücksendegenehmigung für die ganze Ewigkeit, und ich habe meine bereits für eine unglaubliche junge Ärztin verwendet, die ein Medikament entwickelt hat, das im Erfolgsfall PMS vollständig beseitigen würde. Aber selbst wenn ich meine Option noch hätte, würde ich sie wohl kaum für dich benutzen … nichts für ungut.«

Ich lasse mich auf einen der Plastikstühle sinken. Ja, ich verstehe. Wenn ich hier arbeiten würde und während der gesamten Ewigkeit nur einen einzigen Menschen zurück ins Leben schicken könnte, würde ich mir dieses Privileg für jemanden aufheben, den ich kenne. Jemanden, den ich liebe. Zugegeben, solche Jemande gibt es nicht viele, aber jedenfalls würde auch ich diese einmalige Chance sicher nicht an jemanden wie mich verschwenden. Jemanden wie mich, der manchmal vergisst, Papier und Wertstoffe zu trennen, und einfach alles in dieselbe Mülltonne wirft. Jemanden, der sich mal vierundzwanzig Stunden lang unter einer Decke versteckt hat, um eine Lebensmittelvergiftung vorzutäuschen, nur damit er nicht zur Weihnachtsfeier mit seinen Arbeitskollegen gehen musste. Nein, auch ich würde mir wohl nicht ausgerechnet so jemanden aussuchen, um ihm das Leben wiederzuschenken.

»Es tut mir leid, Süße.« Merritt streichelt mir über den Kopf. »Zwischen euch beiden hat es wirklich gefunkt, hm? Er hat deine Hand gehalten, obwohl ihr euch gerade erst kennengelernt habt? Das ist total schräg. Schade, dass er gehen musste und du bleiben musst.«

Ich vergrabe den Kopf in beiden Händen und stöhne leise. Sieht so die Ewigkeit aus? Stecke ich für immer mit dieser Frau fest?

»Oh, aber warte mal kurz …«, sagt Merritt nachdenklich. »Was wäre, wenn ich …? Vielleicht könnte ich … und dann würdest du zurückgehen und … nein … das würde nicht funktionieren … Hmmmm, außer wenn …«

Ich hebe den Kopf und spitze die Ohren wie ein aufmerksam lauschender Hund. »Was hast du gerade gesagt? Vielleicht könnte ich zurückgehen, wenn was? Was würde nicht funktionieren? Wovon redest du?«

Merritt lässt sich mir gegenüber aufs Sofa plumpsen und klopft sich mit den beringten Händen auf die Oberschenkel. »Nun, ich denke da gerade an die Franklin-Bellamy-Klausel. Vielleicht könnte das klappen …«

»Die Franklin-Bellamy-Klausel? Was ist die Franklin-Bellamy-Klausel?«

Merritt schiebt sich die Brille auf die Nase und beugt sich vor. »Also. Es gibt eine Klausel im Evermore-Handbuch, geschrieben von so einem hohen Tier namens Franklin Bellamy. Das war damals in den 1990ern, glaube ich. Er hat eine Regel eingeführt, die besagt, dass ein Toter innerhalb von drei Stunden nach seiner Ankunft – vorausgesetzt, er ist noch nicht offiziell als verstorben registriert – von einem Jenseits-Therapeuten auf die Erde zurückgeschickt werden kann. Natürlich nur unter bestimmten Bedingungen.«

»Welche Bedingungen?«

»Er kann zurückkehren, um einem Jenseits-Mitarbeiter einen wichtigen Gefallen zu tun. In diesem Fall darf der Tote auf der Erde bleiben.«

»Er darf am Leben bleiben?«

»Wenn er die gestellte Aufgabe erfolgreich löst, ja. Franklin Bellamy hat die Klausel eingeführt, um jemanden auf die Erde zurückkehren zu lassen, der jener Frau, die im Jahr 2028 das Reizdarmsyndrom heilen soll, sagt, dass sie ein Kohlenmonoxid-Leck in ihrer Wohnung hat. Er hat ihren Tod verhindert, und im Jahr 2028 wird die Welt für viele glücklicher und angenehmer sein.«

»Warum ist er nicht einfach selbst zurückgegangen? Wenn er so viel Macht hatte? Warum musste er jemand anders schicken?«

Merritt verdreht die Augen. »Hast du mir nicht zugehört, Süße? Es ist sehr wichtig, dass die zurückkehrenden Toten noch nicht als Verstorbene registriert wurden. Kannst du dir das Chaos vorstellen, wenn ich auf der Erde auftauche, nachdem ich fünf Jahre lang weg war? Ganz egal, wie vorsichtig ich bin, es besteht immer die Möglichkeit, dass jemand, der mich kannte, mich auf einmal fröhlich umherspazieren sieht. Das wäre eine potenzielle Katastrophe im Gefüge von Raum und Zeit, ganz zu schweigen davon, wie peinlich es wäre.« Sie erschauert bei dem bloßen Gedanken.

»Also kann man nur neue Tote – ich meine, Neuankömmlinge – für einen solchen Gefallen losschicken.«

»Ja. Die Regeln besagen, dass ein Mitarbeiter so etwas nur einmal tun darf, es muss einen wichtigen Grund haben, und es darf niemals jemanden direkt betreffen, den man auf Erden gekannt hat.«

»Warum nicht?«

Merritts Augen weiten sich. »Oh, wenn wir in das Schicksal derer eingreifen könnten, die wir auf Erden kannten und liebten, würden wir den Verstand verlieren. Alle würden die Regeln brechen und riskieren, die Existenz von Evermore zu enthüllen. Ein Albtraum!«

»Hast du deine Rücksendung noch frei?«, frage ich atemlos.

Merritt nickt. »Ja, ich habe sie mir aufgespart.«

»Wofür?«

»Als gutes Argument in Verhandlungen – was denn sonst?« Sie hebt eine Augenbraue. »Wir können unsere Rücksendungen an andere Mitarbeiter verschenken oder sie gegen Beförderungen oder Vergünstigungen eintauschen. Solange ich meine behalte, habe ich immer ein Ass im Ärmel.«

Ich stehe auf. »Spar dir deine Rücksendung nicht weiter auf! Schick mich zurück!« Ich werfe einen Blick auf die rosa Digitaluhr an der Wand. »Ich bin erst seit etwa zwei Stunden hier, oder? Noch kann ich zurückgehen! Dir fällt bestimmt etwas ein, das ich für dich tun kann. Was auch immer es ist – ich will leben! Ich tu alles, was du verlangst!«

Merritt verzieht den Mund und hebt dann das Kinn, ihre Augen leuchten. »Du würdest alles tun?«

»Ja!«, rufe ich. »Alles, was du willst!«

Merritt wirft einen Blick auf eine andere Tür, bevor sie auf ihrem Stuhl ganz nach vorn rückt. Ihr Gesicht ist auf einmal so nah, dass ich ihren Keksatem rieche. »Okay, ich hätte da vielleicht eine kleine Idee. Aber …«, sie stockt und senkt die Stimme. »Aber sie würde den anderen Therapeuten gar nicht gefallen …«

»Ich dachte, du sagtest, diese alten Dudes wären allesamt Trottel?«

Merritt nickt schnell, ihre Locken hüpfen im Takt. Sie gräbt die Zähne in ihre Unterlippe. »Das habe ich gesagt, ja. Und es stimmt. Evermore ist der Erde sehr ähnlich – das Sagen hat ein Haufen alter Männer, die völlig festgefahren sind in ihren Gewohnheiten. Der Himmel helfe jedem, der tatsächlich versucht, innovativ zu sein und ein wenig modernen Schwung in die Sache zu bringen.«

»Erzähl mir von deiner Idee.«

»Ah ja, meine Idee. Es klingt seltsam, aber … ich glaube, Delphie, dass Jonah dein Seelenverwandter gewesen sein könnte.« Sie greift nach meinen Händen. »Ich meine, technisch gesehen hat jeder Mensch fünf Seelenverwandte, die gleichzeitig mit ihm auf der Erde umherwandern … aber ich glaube, Jonah könnte einer von deinen sein. So, wie ihr euch angesehen habt?« Sie seufzt verträumt. »Wie Laurie und Jack in Josie Silvers Ein Tag im Dezember. Als wolltet ihr nichts lieber, als euch einfach nur zu berühren. Ich meine, wie groß ist die Chance, dass dieser Typ zufällig zur gleichen Zeit hier auftaucht wie du? Noch dazu in meiner Lobby.« Sie keucht, springt auf und marschiert im Zimmer auf und ab. »Was, wenn es Schicksal war und ich ihm nur einen kleinen Schubs geben muss?«

Ich blinzle. Ein Seelenverwandter. Seelenverwandte gibt es wirklich? Plötzlich stelle ich mir vor, wie ich Hand in Hand mit Jonah die verschneite Oxford Street entlanglaufe. Das ist völlig daneben, denn ich verabscheue die Hektik der Oxford Street und meide Schnee, wann immer es möglich ist. In meiner Fantasie tragen Jonah und ich zusammenpassende Fäustlinge und kichern. Und mir ist weder irritiert noch ängstlich oder traurig zumute. Als wäre ich ein anderer Mensch. Es ist komisch, ich habe noch nie über Seelenverwandte nachgedacht … aber was, wenn Merritt recht hat? Wenn es tatsächlich möglich ist, mich besser zu fühlen als je zuvor?

»Ich gebe dir zehn Tage«, sagt Merritt entschlossen.

»Zehn Tage?«

»Zehn Tage zurück auf der Erde, um Jonah zu finden. Wenn er dich küsst, kannst du bleiben.«

»Ich kann am Leben bleiben? Als wäre das alles nie passiert? Als hätte ich mich niemals an diesem blöden Burger verschluckt?«

»Ja. Aber er muss dich küssen. Aus freiem Willen.«

Ich kneife die Augen zusammen. »Warum nur zehn Tage?«

Merritt verschränkt die Arme vor der Brust. »Diese Therapeuten, von denen ich dir erzählt habe? Die beiden alten Knacker, die mir ständig die neuen Toten vor der Nase wegschnappen und mir nicht zutrauen, hier was zu reißen? Sie sind die nächsten zehn Tage im Urlaub. Wir erledigen das alles, bevor sie zurückkommen … und niemand muss es je erfahren!«

»Moment mal … du darfst das eigentlich gar nicht?«

Merritt schüttelt schnell den Kopf. »Natürlich darf ich! Ich würde niemals die Regeln von Evermore brechen.« Sie schnalzt mit der Zunge. »Es wäre nur trotzdem besser, wenn das unter uns bliebe. Mein Gott. Bei deinem Blick würde man nicht auf die Idee kommen, dass dir gerade die Chance deines Lebens geboten wurde.«

Ich ziehe eine Grimasse.

»Was ist denn jetzt schon wieder?«

»Inwiefern würde ich dir damit denn einen Gefallen tun?«

Merritt lacht und wackelt leicht mit den Augenbrauen. »Nun, ich könnte alles miterleben.«

»Was meinst du damit?«

»Hör mal, du kennst nicht mal den vollen Namen dieses Mannes. Du weißt nicht, wo in London er steckt. Im Hintergrund tickt eine Uhr, meine tickende Uhr, und es gibt Gott weiß wie viele Hindernisse auf eurem Weg zueinander. Das ist wie ein echter Liebesroman! Und ich darf zusehen, wie er sich in Echtzeit entfaltet! Ein Traum.« Sie klatscht in die Hände und wippt auf den Fersen auf und ab.

»Du sagst mir nicht mal seinen vollen Namen?« Ich starre sie an.

»Wo bliebe denn da der Spaß? Oh, und seine Erinnerung wird übrigens gelöscht sein, er erinnert sich nicht an eure kleine Tändelei.« Merritt geht zu ihrem gerahmten Bild rüber und stellt es zärtlich wieder hin. »Ich will das Schicksal in Aktion sehen. Mal sehen, ob du es schaffst. Wie ich schon sagte, die Toten werden mir am laufenden Band gestohlen. Irgendwie muss man sich doch seinen Kick holen.«

Ich stehe auf und gehe auf und ab. »Was, wenn ich ihn nicht finden kann? Was, wenn er mich nicht küsst? Muss ich dann hierher zurückkommen? Denn das will ich wirklich nicht.«

Merritt reibt die Hände aneinander und starrt einen Moment lang ins Nichts. Dann breitet sich ein strahlendes Lächeln auf ihrem Gesicht aus. »Ja. Dann musst du hierher zurückkommen und mit mir an dem Dating-Service arbeiten, den ich gerade aufbaue. Eternity 4U. Wir brauchen Versuchskaninchen. Freiwillige, die zu Testverabredungen gehen und Rückmeldung geben, wie das System verbessert werden könnte. Du müsstest dich bereit erklären, so lange mein Versuchskaninchen zu sein, wie ich dich brauche. Außerdem musst du diesen Vertrag unterschreiben, in dem du dich mit meinen Bedingungen einverstanden erklärst.« Scheinbar aus dem Nichts holt sie ein Stück Papier hervor und legt es mir auf den Schoß. Dann greift sie in ihre Latzhosentasche und holt einen goldenen Kugelschreiber mit burgunderroter Feder heraus.

Date-Testerin … das klingt wie mein persönlicher Albtraum. Ich habe noch kein einziges Mal mit der Verkäuferin des Ladens an der Ecke gesprochen, obwohl ich fast jeden Tag dort bin. Ich habe es nun mal nicht so mit Menschen.

Aber dann denke ich daran, wie Jonah mich eben angesehen hat. Als würde er mich ganz bestimmt aus freien Stücken küssen. Und zwar ohne auch nur eine Sekunde zu zögern. Vielleicht muss ich ihn einfach nur finden. Ich weiß immerhin schon, dass er in London lebt. Und dass sein Vorname Jonah ist und sein Nachname mit dem Buchstaben T beginnt. Wie viele Jonah Ts kann es in einer Stadt schon geben?

Ich denke an meine gemütliche Wohnung mit dem neuen gestreiften Teppich. An all die Fernsehserien, die ich noch nicht zu Ende gesehen habe. Den alten Mr Yoon, der in letzter Zeit immer vergesslicher wird und außer mir niemanden hat, der nach ihm sieht. Das wäre die Gelegenheit, mich zu vergewissern, dass es ihm gut geht und er alles hat, was er braucht, falls ich am Ende doch den Löffel abgeben muss. Mein Herz beginnt verzweifelt zu rasen, erfüllt von dem angeborenen menschlichen Instinkt, das eigene Leben zu retten. Weiterzuatmen und zu leben und zu sein, koste es, was es wolle.

Bevor meine Zweifel mich überwältigen können, schnappe ich mir den Stift aus Merritts Hand und kritzle meine Unterschrift unten auf das Dokument. Die feuchte Tinte ist lila und schimmert wie Öl in einer Pfütze.

»Zehn Tage«, wiederholt Merritt. »Und er muss dich küssen.«

»Aber was ist, wenn …«

Ich komme nicht dazu, meine Frage zu beenden, da reißt Merritt mir bereits das Papier aus der Hand, streckt mit einem manischen Lachen ihren Daumen aus und drückt ihn mir entschlossen auf die Stirn.

Ich keuche auf und blicke auf meine Arme hinunter, die erst aufschimmern und sich dann zu einer silbrigen Flüssigkeit aufzulösen scheinen, und dann …

Kapitel 5

Delphie? Verdammt noch mal. Delphie? Wach auf.«

Stirnrunzelnd öffne ich die Augen und sehe ein Augenpaar vor mir, so dunkel, dass sie fast schwarz wirken. Das Gesicht des Mannes ist so nah an meinem, dass ich die Seife auf seiner Haut riechen kann, ein sauberer, teurer Duft. Wieder sagt er meinen Namen, er klingt wütend. Es dauert ein paar Sekunden, bis ich die herrische Stimme erkenne, und ein scharfer Stich der Abneigung zuckt durch meinen Bauch. Ich setze mich kerzengerade auf und schiebe das Gesicht des Mannes von mir weg.

»Mein Gott.« Ein kurzer Anflug von Erleichterung geht über sein verabscheuungswürdiges Gesicht. »Du lebst noch.«