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"Zahnpasta-Verkäufer", antwortet Götz Werner gerne auf die Frage, was er sei. Doch der Gründer und Inhaber der Drogeriemarktkette dm ist sehr viel mehr: Vordenker moderner Managementmethoden, Vorkämpfer für das bedingungslose Grundeinkommen und ruheloser Rhetoriker in Sachen Unternehmensethik. Götz Werner ist überzeugt, dass Integrität zum Erfolg führt. Deswegen steht bei dm das ganzheitliche unternehmerische und soziale Denken im Mittelpunkt. Respekt vor der Individualität der Mitarbeiter und vor dem regionalen Umfeld der Märkte wurden zur Grundlage für organisches Wachstum. Der Erfolg gibt dem Milliardär und "Realträumer", wie er sich selbst bezeichnet, recht. 40 Jahre nach der Gründung des ersten dm-Marktes und zu seinem 70. Geburtstag legt Götz Werner seine Autobiographie vor.
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Götz W. Werner
mit Claudia Cornelsen
Die Autobiographie
Econ
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ISBN 978-3-8437-0595-0
© der deutschsprachigen AusgabeUllstein Buchverlage GmbH, Berlin 2013
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eBook: LVD GmbH, Berlin
Die besten Entdeckungsreisen macht man, indem man die Welt mit anderen Augen betrachtet.
Marcel Proust
Prolog Evidenzoder warum ich im Leben nichts gelernt habe
»Um Gottes willen, Herr Werner, das ist doch illusorisch. Das kann doch gar nicht funktionieren!« Sie können sich gar nicht vorstellen, wie oft im Leben ich diesen Satz gehört habe. Von Freunden, von Kollegen, in der Duz-Variante von Eltern und anderen Verwandten. Sie alle meinten es nur gut. Sie hatten schon ihre Erfahrungen gemacht und wollten mir Schlimmes ersparen.
Die meisten Menschen meinen, wir handelten aus Erfahrung. Aber das stimmt nicht immer. Wenn wir etwas Bestimmtes tun wollen, wird uns oftmals von guten Freunden sogar die Erfahrung als Gegenargument vorgehalten.
»Denk doch dran«, mahnen sie besorgt, »du wolltest doch nie wieder …«, und dann folgt irgendeine der schlechten Erfahrungen, die man gemacht und über die man sich bei den guten Freunden ausgeweint hat. Stimmt, man wollte nie wieder ein Fahrrad mit einem wackligen Gepäckträger fahren. Ja, man hatte sich in der letzten Wohnung oft darüber beklagt, dass der Weg zum Supermarkt so weit sei. Und genau, man wollte keine Beziehung mehr mit einem Menschen beginnen, mit dem man nicht auch über berufliche Probleme reden kann. Richtig, richtig, richtig. Aber ganz gleich, wie sehr andere dagegen reden, für einen selbst stimmt es trotzdem.
Sie werden das kennen: Diesen Moment, in dem man weiß, dass etwas richtig ist. Dass etwas stimmt. Vielleicht sind Sie gerade auf Wohnungssuche. Sie haben schon unzählige Wohnungen besichtigt, aber plötzlich stehen Sie in einer Wohnung und denken: »Die ist es! Hier will ich wohnen!« Oder Sie möchten sich ein neues Fahrrad kaufen, sind schon dieses und jenes zur Probe gefahren, bis Sie dann plötzlich auf einem Rad sitzen, bei dem Sie sicher sind: »Das soll es sein. Das ist das richtige für mich!« Und mit etwas Glück ist Ihnen auch schon einmal ein Mensch begegnet, bei dem Sie auf einmal und unvermittelt spürten: »Das ist der Mensch, mit dem ich den Rest meines Lebens verbringen will!«
Solche Situationen nenne ich Evidenzerlebnisse. Evident ist etwas, das durch unmittelbare Anschauung überzeugt. Es bedarf keiner langen Argumentation, keiner besonderen Methode, keines Vorwissens und keiner Expertise, um etwas als evident zu erkennen. Wenn etwas evident ist, dann braucht es keine Prüfung und lange Analyse mehr. Wobei durchaus wahrscheinlich ist, dass Sie für die Wohnungssuche eine detaillierte Checkliste geschrieben haben. Darauf steht alles, was Ihnen wichtig ist: Lage, Größe, Preis, Ausstattung. Sicher haben Sie auch an das neue Fahrrad im Vorfeld konkrete Ansprüche über Sportlichkeit und Stabilität gestellt. Und möglicherweise hatten Sie vom Mann oder der Frau Ihrer Träume auch klare Vorstellungen, was Aussehen, Charakter oder Hobbys betrifft. Aber in der konkreten Situation hat man ein Evidenzerlebnis, bevor Sie auch nur den ersten Punkt Ihrer Checkliste in Erwägung gezogen haben.
Erst im Nachhinein gehen Sie die Kriterien einzeln durch und prüfen, ob das Evidente der kritischen Betrachtung standhält – wobei durchaus häufig vorkommt, dass einzelne reale Aspekte nicht den ideal erdachten Bedingungen entsprechen. Dann fängt man an, die Checkliste zu korrigieren, etwa indem man einzelnen Kriterien weniger Wert beimisst. »So wichtig ist mir bei dem Fahrrad ein stabiler Gepäckträger gar nicht. Denn so lange Radtouren mache ich eigentlich gar nicht, dass ich eine schwere Tasche transportieren müsste.« Oder indem man die negativen Punkte ins Positive wendet: »Es wäre zwar bequemer, wenn von der neuen Wohnung aus der nächste Supermarkt fußläufig erreichbar wäre. Aber mit dem Bus sind es nur zwei Stationen. Und es ist ohnehin viel gesünder, wenn ich mit dem Fahrrad hinfahre, dann mache ich gleich ein bisschen Sport.« Oder wir werfen die vielen guten Argumente in die Waagschale, um das eine oder andere Manko auszugleichen: »Okay, ich kann mit der Frau nicht über Fußball diskutieren, aber sie sieht toll aus, hat ein großes Herz und ist umwerfend klug!«
Denn bei allem, was wir tun: Worauf kommt es dabei an? Auf die Zukunft! Und eben nicht auf die Verlängerung des Erfahrenen. Nur ein Bürokrat handelt aus der Vergangenheit heraus. Der unternehmerisch veranlagte Mensch fängt immer neu an. Er handelt auf Grundlage von heute und dem, was er aus der Zukunft antizipiert – gestärkt mit den Fähigkeiten, die er in der Vergangenheit entwickelt hat. Mit der Empirie erfasst man die Vergangenheit, mit der Evidenz bewältigt man die Zukunft. Wir bewegen uns durch die Welt, machen unsere Erfahrungen und ziehen daraus irgendeine Erkenntnis. Die Erkenntnis versucht man abzusichern, dann fühlt man sich sicher und geht weiter. Der Weg führt zu einer neuen Begegnung, man entdeckt ein Interesse an der Sache und hat dann eine Intuition. Diese Intuition sagt einem: Jetzt musst du hier weitergehen! Das ist kein Empirieerlebnis; das ist ein Evidenzerlebnis. Die Evidenz verschafft mir Erkenntnis. Man handelt nicht aus Erfahrung, sondern aus Erkenntnis. Vielleicht sind Sie noch gar nicht verliebt, aber Sie treffen das andere Wesen und sagen: Das hat etwas mit mir zu tun. Aus der Evidenz wird eine Erkenntnis. Alle sagen, es ginge nicht, aber Sie spüren, dass es doch gehen könnte. Es ist eine innere Überzeugung, das Richtige zu tun.
Ausbruch aus dem Erfahrungsgefängnis
Es gibt die kleineren Evidenzerlebnisse: Man steigt aus irgendeinem Grund in einen Zug nicht ein, und später stellt sich heraus, dass dieser Zug mit zwei Stunden Verspätung ankommt. Und es gibt die schicksalhaften Evidenzerlebnisse: Man studiert nicht dies, sondern das andere. Man fängt nicht hier, sondern dort mit der Arbeit an.
Oftmals lässt man sich aber auch von Ratschlägen aus der Umgebung beirren. Dann kauft man ein Haus, zu dem einem alle geraten haben. Oder beginnt eine Ausbildung, die zwar die Eltern oder die Lehrer für zukunftsweisend halten, aber die einen selbst eigentlich nicht interessiert. Viele Menschen stecken in einem Erfahrungsgefängnis, das andere für sie errichtet haben. Manche bauen sich ihr eigenes. Sie müssen erst lernen, zwischen den Gitterstäben der Empirie hindurchzuschauen, um hinter dem weiten Horizont neue Handlungsfelder zu entdecken. Manchmal schafft man es erst Jahre später, empirische Entscheidungen zu revidieren und sich den evidenten zuzuwenden.
Ich erinnere mich an einen Mann, der neben mir im Zug saß, ein Rentner, der erzählte, er habe vierzig Jahre lang einen ungeliebten Beruf ausgeübt. Er hätte immer gern Medizin studiert, aber kriegsbedingt nur einen Volksschulabschluss gehabt. Und da er schon sehr früh für seinen Lebensunterhalt sorgen musste, habe er es sich nie leisten können, den Schulabschluss nachzuholen. Deswegen habe er erst jetzt als Rentner angefangen, sich mit Homöopathie zu beschäftigen. Dann strahlte er mich an: Jetzt hole ich nach, worauf ich vierzig Jahre verzichten musste!
Da hat jemand fast sein ganzes Leben gebraucht, um endlich sein Leben zu leben. Tragisch. Aber zum Glück dann doch noch den Mut und die Kraft gefunden, sich darauf einzulassen. Das Wichtigste: Er hat wenigstens das Evidenzerlebnis gehabt. Für ihn war immer evident: Medizin ist sein Metier! Bei anderen Menschen ist manchmal das Gespür für Evidenz fast ganz verschüttet. Oder sie haben es noch nie erlebt. Denn obgleich jeder Mensch mehr oder weniger bewusst die Fähigkeit dazu hat, gibt es Evidenzerlebnisse nicht für jeden gleichermaßen. Man kann sich dafür sensibilisieren, man kann empfänglich werden für Evidenzerlebnisse. Nur, wie geht das?
Dazu eine kleine Geschichte: Mir hat vor vielen Jahren mein damaliger Chef, Helmut Nießner, der später auch Patenonkel meiner ältesten Tochter wurde, sehr imponiert: Seine damals heranwachsende Tochter hatte sich mit einem jungen Mann angefreundet, der aus Sicht eines fürsorglichen Vaters eher ein Graus war. Aber statt der Tochter Vorhaltungen zu machen und sich über die Frisur, die Kleidung oder gar die gesamte Lebensweise ihrer Jugendliebe zu empören, ging er auf – für die damalige Zeit – geradezu sensationelle Weise mit der Situation um: Er freute sich für die Tochter, gratulierte ihr zu dieser Erfahrung und lud das frisch gebackene Paar zu einem gemeinsamen Urlaub mit der ganzen Familie ein. Im Urlaub fand die Tochter dann von selbst heraus, was der Bursche eigentlich für ein Typ war, und damit war die Beziehung beendet. Der Vater hat einfach darauf vertraut, dass die Charakterschwächen des jungen Mannes, die für ihn evident waren, auch der Tochter evident werden würden. Aber er hat sich eben auch dafür geöffnet, im Urlaub möglicherweise die Vorzüge des jungen Mannes zu entdecken – und seinerseits von der Evidenz erfasst zu werden, wie die Tochter sie erlebt hatte. Er hat sich der Situation erlebend gegenübergestellt.
Genau darum geht es: Man muss sich selbst aufmerksam machen – auf die Menschen und die Welt um einen herum. Es braucht Menscheninteresse und Weltinteresse. Und es braucht Wärme und Licht. Zuerst muss man für andere Menschen und für die Welt Interesse entwickeln. Man muss sich für das, was einem entgegenkommt, erwärmen können. Zu der Wärme kommt dann das Licht, indem man die Welt und die Menschen mit seinem Denken beleuchtet – das Geisteslicht, das Denklicht.
Initiative kommt immer aus der Wärme, Reflektion kommt aus dem Kopf. Initiativ wird man mit dem Herzen, und der Kopf fragt dann: Halt mal, wo führt das hin?, und checkt, ob das auch der richtige Weg ist.
Man kann nicht sagen: Ich will jetzt was ganz Tolles machen, ich lege mich mal einen Tag in die Tiefkühltruhe. Ein cooler Typ ergreift keine Initiative. Den muss man erst anfeuern. Erst wenn ein Funke überspringt oder die Leidenschaft entflammt, dann schreitet man zur Tat.
Um sich für Evidenzerlebnisse zu sensibilisieren, sollte man hinaus in die Welt treten, mit Neugier und Offenheit schauen und sich darauf einlassen, wer und was einem begegnet und wofür man sich erwärmt. Jeder Mensch kommt ohne Bewusstsein auf die Welt. Erziehung ist nicht nur dafür da, Wissen zu vermitteln, sondern Erziehung muss ein Feuer entfachen. Gute Eltern, gute Freunde und gute Pädagogen sind in der Lage, die vorhandene Glut zu erahnen und entsprechend anzufachen – das Implizite explizit zu machen. Aber man muss sich auch selbst bemühen. Den roten Faden im Leben findet der Mensch nur, wenn er sich auf die Suche macht. Der Mensch ist ein suchendes Wesen, und das Leben ist ein permanenter Suchvorgang. Wer sich zurückzieht, wird nicht nur einsam, sondern lebt irgendwann nur noch abgekühlt. Irgendwann sitzt er ratlos vor dem Fernseher und weiß gar nicht mehr, was er eigentlich will, was ihm noch Spaß macht, wofür er lebt. Einen solchen Menschen muss man erst wieder hinausführen in die Welt und öffnen für das Funkenfeuer, das uns das Leben bereithält. Irgendwann wird auch er entdecken, welcher der für ihn richtige Weg ist. Der Schlüssel für Evidenz ist also Entwicklung von Weltinteresse und Menscheninteresse. Man muss sich Einlassen auf Welt und Mensch.
Seelische Offenheit mitselten harmonischer Begleitmusik
Ein guter Arzt kommt oft über das Evidenzerlebnis zur Therapie. Zunächst macht er eine ausführliche Anamnese. Vielleicht fragt er den Patienten nach seinen Geschwistern, den Eltern und so weiter. Dadurch macht er sich mit ihm vertraut. Das geht nicht mit Coolness, sondern nur mit Wärme. Anschließend schickt er den Patienten ins Labor. Da werden Blutwerte und ähnliches analysiert. Anschließend betrachtet der Arzt durch die Wärme der Begegnung hindurch die nüchternen Werte und fragt sich, was sich ihm jetzt aufgrund der Anamnese und der Ergebnisse offenbart. Der Arzt sucht das Evidenzerlebnis.
Dazu muss man die Menschen und die Welt an sich herankommen lassen und schauen: Berührt es mich? Lehne ich es ab? Was macht es mit mir? Das erfordert eine seelische Offenheit. Das ist kein akademischer oder wissenschaftlicher Weg. Es geht nicht darum, Vokabeln oder Grammatik zu lernen oder sich Techniken und Methoden anzueignen, sondern diese seelische Offenheit zu entwickeln und zu trainieren. Wenn man erst hinaustritt in die Welt, dann wirft einem das Leben eine Vielzahl von Bällen zu. Es geht dann nur darum, die richtigen aufzufangen. Es sind Angebote, die das Schicksal einem unterbreitet, und es braucht dann Geistesgegenwart und Evidenz, im entscheidenden Moment zu sagen: »Ja, jetzt greife ich zu!«
Es ist selten so, dass es nur eine richtige Entscheidung gibt. Je nachdem wie ich mich entscheide, eröffnen sich neue Möglichkeiten. Mit jeder neuen Möglichkeit, die sich bietet, muss ich mich neu entscheiden, immer auf Basis von Evidenz. Man bekommt eine innere Gewissheit, obwohl es keinen äußerlichen Beweis gibt. Man hat seinen persönlichen Polarstern vor Augen. Und dann weiß man immer ganz genau, wie es weitergeht.
Man muss sich – wie Christoph Kolumbus oder Heinrich der Seefahrer – ins Ungewisse begeben. Damals war die Erde noch eine Scheibe. Es gab nur Küstenschifffahrt. Trotzdem wagt sich ein Mensch, obwohl er die Scheibe im Bewusstsein hat, immer weiter raus aufs Meer. Er sieht kein Land, nichts mehr. Er segelt einfach im Vertrauen darauf weiterzukommen. Durch dieses »Hinwegschreiten über die Übergänge«, wie es der Philosoph Johann Gottlieb Fichte formuliert hat, gewinnt man Erkenntnisse, durch die man in Zukunft das Leben kreativer, schöpferischer, tatkräftiger, einsichtsvoller gestaltet. Auf diese Weise sind mir viele wunderbare Dinge widerfahren, mit denen ich nie gerechnet hatte – eben weil ich gar nicht erst gerechnet habe.
Wenn ich in diesem Buch also das »aus der Erfahrung Erkannte« beschreibe, dann standen die Lerneinheiten in keinem Stundenplan, gab es kein Klassenzimmer und keine ausgebildeten Pädagogen. Ich habe gelernt, was auf den Tisch kam. Manche Lektion habe ich mir selbst eingebrockt, manche war schwer verdaulich und brauchte etwas länger, bis ich sie verstehen konnte, und bis heute weiß ich nicht zu sagen, welches das Hauptgericht und welches das Dessert war – oder ob ich überhaupt schon über die Vorspeise hinausgekommen bin. Selbst wenn in der Rückschau auf meinen Weg der vergangenen Jahrzehnte alles scheinbar so linear, strategisch und zielgerichtet aussieht.
Übrigens, die Begleitmusik zu solcher Art des Hinwegschreitens klingt selten harmonisch. Den Refrain dazu kennen Sie schon. Er lautet: »Um Gottes willen, Herr Werner, das ist doch illusorisch. Das kann doch gar nicht funktionieren!«
Lass dir von keinem Fachmann imponieren, der dir erzählt: »Lieber Freund, das mache ich schon seit zwanzig Jahren so!« – Man kann eine Sache auch zwanzig Jahre lang falsch machen.
Kurt Tucholsky
Kapitel 1 Der Anfang oder wie ich wider Willen ein Unternehmen gründete
Anfang der 1950er-Jahre wurden zwei Schuhverkäufer nach Afrika geschickt. Sie sollten den Markt erkunden und nach drei Tagen ein Telegramm über ihre ersten Eindrücke schicken. Telegrafiert der eine: »Nullmarktchancen, alle laufen barfuß.« Telegrafiert der andere: »Riesenmarktchancen, noch keiner trägt Schuhe.«
Das ist eine in der Wirtschaftswelt sehr beliebte Geschichte, die ich 1981 bei dem Vortrag eines Franzosen im Gottlieb-Duttweiler-Institut in Zürich aufgeschnappt habe. Sie illustriert, wie sich das alte Motiv vom halbleeren oder halbvollen Glas auch im unternehmerischen Denken widerspiegelt: Der nicht-unternehmerisch Disponierte sieht das Problem; der unternehmerisch Disponierte sieht die Gestaltungsmöglichkeit.
Der Vortrag hat mich damals sehr beeindruckt, obgleich ich alles nur in der Simultanübersetzung verfolgen konnte, weil ich kein Französisch verstehe. In Frankreich hatte gerade François Mitterand als erster Sozialist die Regierung übernommen. Der Referent berichtete, dass viele Unternehmen diesen Regierungswechsel als Bedrohung erlebten. »Aber«, sagte er, »wir haben es uns in unserem Unternehmen zur Angewohnheit gemacht, aus einer Bedrohung ein Problem zu machen und aus einem Problem eine Gestaltungsmöglichkeit.« Da leuchtete mir spontan ein: Es gibt keine Probleme; es gibt nur Herausforderungen. Bei dieser Gelegenheit habe ich auch gelernt, dass die Chinesen für die Chance und die Krise ein und dasselbe Schriftzeichen nutzen.
Wenn man sich dieses Zusammenspiel von Krise und Chance zur Lebenshaltung macht, dann fühlt man sich nie bedroht. Man hadert auch nicht mit seinen Fehlern, obwohl man ständig etwas falsch macht. Aber Fehler werfen einen nicht aus dem Gleis. Man muss dann eben anders weitermachen. Fertig. Allerdings sollte man aufpassen, dass man nicht übermütig wird. Große Risiken sollte man nur eingehen, solange man sicher ist, das eine Entscheidung reversibel ist. Leider können viele Menschen nicht gut unterscheiden, was reversibel und was irreversibel ist. Dabei ist das eigentlich ganz einfach: Solange ich auf meine Fähigkeit vertrauen kann, eine Lösung zu finden, wenn etwas schief geht, solange ist eine Entscheidung reversibel. An dieser Stelle kommen Evidenz und Empirie zusammen.
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