Worauf wir hoffen - Fatima Farheen Mirza - E-Book
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Fatima Farheen Mirza

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Beschreibung

Was hält unsere Familien im Innersten zusammen? Amar hat es sich nicht ausgesucht, einziger Sohn und Stolz der Familie zu sein. Wenn er gegen seine muslimischen Eltern rebelliert, ist es seine ältere Schwester Hadia, die ihn schützt. Bis sie sich fragt: wovor eigentlich? Vor den Möglichkeiten, die sie nicht hat? Nach einem Streit mit dem Vater läuft Amar von zu Hause weg. Und Hadia nimmt nach und nach seinen Platz ein. Drei Jahre später heiratet sie einen Mann ihrer eigenen Wahl: für die Familie die Chance, sich neu zu erfinden. Doch dann kehrt Amar zurück.

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Fatima Farheen Mirza

Worauf wir hoffen

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Sabine Hübner

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Im Namen Gottes, des Gnädigen, des Barmherzigen

Für meine Eltern, Shereen & Mohammed,

die mich lehrten, dass die Liebe eine stetig wachsende Kraft ist

 

Und für meine Brüder, Mohsin, Ali-Moosa, Mahdi,

die mich nach Hause rufen

Ich werde nicht zu dir sprechen, ich werde an dich denken,

wenn ich einsam sitze und nachts aufwache allein,

Ich werde warten, ich zweifle nicht, daß ich dir wieder begegne,

Ich werde zusehen, daß ich dich nicht verliere.

 

Walt Whitman, »An einen Fremdling«

TEIL 1

Als Amar sah, wie sich die Halle mit Gästen füllte, die zur Hochzeit seiner Schwester eintrafen, nahm er sich vor zu bleiben. Er hatte die Pflicht, sie hier heute Abend zu begrüßen. Eine Aufgabe, für die er sich seiner Meinung nach gut eignete, und es erfüllte ihn durchaus mit Stolz, vorzutreten und den Männern die Hand zu schütteln oder sich die Hand aufs Herz zu legen, um den Frauen Respekt zu erweisen. Er hatte nicht damit gerechnet, dass sich die Gäste freuen würden, ihn zu sehen. Und es verblüffte ihn, wie beruhigend er wiederum den Anblick ihrer vertrauten Gesichter fand. Es waren tatsächlich drei Jahre vergangen. Ohne den Anruf seiner Schwester hätte er vielleicht noch weitere Jahre verstreichen lassen, ohne den Mut zur Rückkehr aufzubringen.

Er prüfte den korrekten Sitz seiner Krawatte. Er glättete sein Haar, als könnte schon eine einzelne widerspenstige Strähne Aufmerksamkeit erregen und ihn verraten. Ein alter Freund der Familie rief seinen Namen und umarmte ihn. Was würde er sagen, wenn ihn jemand fragte, wo er gewesen sei und wie es ihm gehe? Der Klang der Shenai verkündete, dass Hadias’ Hochzeit begann. Plötzlich erwachte der Saal zum Leben. Dort, im goldenen Licht der Lüster, inmitten der leuchtend bunten Frauenkleider, dachte Amar, dass es vielleicht doch richtig gewesen war zu kommen. Er würde sie alle überzeugen – die vertrauten Gesichter, seine Mutter, die ihn, wie er wohl merkte, immer wieder mit einem prüfenden Seitenblick bedachte –, seinen Vater, der Abstand hielt – er vermochte sogar sich selbst zu überzeugen, dass er hierhergehörte und es die natürlichste Sache der Welt war, diesen Anzug zu tragen und der zu sein, der er einst gewesen war, um heute Abend seine Rolle als Bruder der Braut zu übernehmen.

 

*

 

Hadia hatte entschieden, Amar einzuladen. Während sie ihrer Schwester Huda zusah, wie sie sich zurechtmachte, hoffte sie, dass das kein Fehler gewesen war. Eines Morgens war Hadia mit dem Gedanken an ihren Bruder aufgewacht und hatte sich dann den ganzen Tag gezwungen, an das zu denken, woran andere Bräute dachten – dass sie schon bald, wenn sie von Tarik sprach, mein Mann sagen würde, dass sie nach Jahren der Ungewissheit, ob sie es bis zu diesem Moment schaffen würden, genau dort angelangt waren. Was sie kaum für möglich gehalten hätte, wurde wahr: Sie heiratete den Mann ihrer eigenen Wahl.

Amar war gekommen, ganz, wie sie gehofft hatte. Als sie ihn vor sich sah, erschrak sie dennoch; bis zuletzt hatte sie nicht an sein Kommen geglaubt. Drei Jahre waren ohne Nachricht von ihm vergangen. Als sie ihren Eltern eröffnete, dass sie ihn einladen werde, hatte sie sich nicht zu beten getraut, bitte, Gott, lass ihn kommen, sondern nur bitte, Gott, mach, dass mein Vater mir das nicht verweigert. Sie hatte die Worte so lange einstudiert, bis ein unbeteiligter Beobachter sie für eine Frau gehalten hätte, die ihre Wünsche mühelos formulierte.

Huda hatte Lippenstift aufgetragen und befestigte nun die Nadel ihres silbernen Hijab. Sie sah wunderschön aus in ihrem marineblauen, mit Silberperlen bestickten Sari, dem gleichen Sari, den auch einige von Hadias engsten Freundinnen tragen würden. Ihre Schwester wirkte aufgeregt.

»Könntest du heute Abend ein Auge auf ihn haben?«, fragte Hadia.

Huda hob den Arm, um sich mehrere Silberreifen übers Handgelenk zu schieben, die klickend aufeinanderfielen. Sie wandte sich vom Spiegel ab und sah Hadia an.

»Warum hast du ihn überhaupt angerufen, wenn du nicht wolltest, dass er kommt?«

Hadia betrachtete ihre mit dunklem Henna bemalten Hände. Sie presste sich die Fingernägel in den Arm.

»Ich heirate heute.«

Diese Erklärung war banal, aber trotzdem richtig. Sie hatte zwar seit Jahren nichts mehr von ihrem Bruder gehört, aber sie konnte sich einfach nicht vorstellen, diesen Tag ohne ihn zu verbringen. Und doch war die Erleichterung darüber, dass er tatsächlich gekommen war, gleich wieder in die altbekannte Sorge umgeschlagen.

»Rufst du ihn her?«, sagte Hadia. »Und wenn er kommt, lässt du uns einen Moment allein?«

Jetzt erwiderte sie Hudas Blick. Huda wirkte einen Moment lang gekränkt, aber dennoch bat sie Hadia nicht, Teil von etwas werden zu dürfen, von dem sie seit jeher ausgeschlossen gewesen war.

 

*

 

Während sie von einem Gast zum nächsten ging und immer wieder stehen blieb, um Frauen zu umarmen, die sie noch nicht begrüßt hatte, kam Laila der Gedanke, dass sie sich ihr Leben vielleicht genau so vorgestellt hatte, als ihre Kinder noch klein waren und sie zwar gewusst hatte, wer zu ihrer Familie gehörte, aber nicht, wie das Leben für sie alle aussehen würde. Aufrecht, mit gedankenvollem Lächeln schritt sie durch den Saal und hatte das Gefühl, dass dies ebenso ihr Tag war wie der ihrer Tochter. Mit Amar in der Nähe. Während sie sich unterhielt, sah sie immer wieder zu ihm hin, folgte ihm mit dem Blick durch den Saal, forschte in seinem Gesicht nach Spuren von Unbehagen.

Die Hochzeit gestaltete sich wundervoll. Die Gäste trafen rechtzeitig ein. Auf einem Tisch standen Mango- und Ananassaft, auf einem anderen Appetithäppchen, und sobald die Platte sich leerte, wurde sofort nachserviert. Auf allen Tischen standen hohe Vasen, aus denen weiße Orchideen quollen. Jeden Gast erwartete auf seinem Platz ein goldenes Beutelchen mit Geschenken. Huda hatte Laila geholfen, die Beutel anzufertigen, und die beiden waren bis tief in die Nacht aufgeblieben und hatten zuweilen gesungen, während sie die Beutelchen mit Mandeln und verschiedenen Pralinen füllten. Der Saal war prachtvoll – sie hatte ihn vor Monaten gemeinsam mit Hadia ausgesucht –, und als sie jetzt durch die Bögen in den Hauptsaal trat, freute sie sich über ihre Entscheidung. Bei der ersten Besichtigung war es dämmriger gewesen, aber jetzt glich der Saal einem Filmset, mit seinen hohen Decken und Lüstern, die um die Wette funkelten. Die Männer in ihren dunklen Anzügen und Sherwanis wirkten elegant, die Gewänder der Frauen schillerten in allen Farben, und die Perlenstickereien reflektierten das Licht. Laila wünschte sich, ihre Eltern hätten das noch erleben dürfen. Wie stolz wären sie gewesen, wie glücklich, bei der Hochzeit ihrer ersten Enkelin mit dabei zu sein. Doch nicht einmal die Abwesenheit ihrer Eltern konnte heute Abend all das, wofür sie dankbar sein sollte, trüben, und sie murmelte weiter leise vor sich hin: Gott ist groß, Gott ist groß, und IHM allein gebührt Dank.

Erst eine Stunde zuvor hatte sie Hadia in den schweren Kharra Dupatta geholfen und Gebete geflüstert, als sie die Sicherheitsnadeln befestigte. Während Laila um sie herumschritt, hatte Hadia geschwiegen und nur einmal leise gedankt. Laila strich die Falten des Gewandes glatt, schob eine Teekah in Hadias Haar und trat einen Schritt zurück, um ihre Tochter zu betrachten. All die verschlungenen Henna-Ornamente. Den im Licht funkelnden Schmuck.

Jetzt suchte sie in der Menge nach ihrem Sohn. Es war geradezu unvorstellbar, dass sie bis vor wenigen Tagen nachts keinen Schlaf gefunden hatte, wenn die Dunkelheit Sorgen und Ängste weckte. Bei Tageslicht redete sie sich gut zu, dass es genüge, das Gesicht ihres Sohnes auf den Fotos zu sehen, die sie aufbewahre, seine Stimme in den Familienvideos zu hören, die sie sich ansehe – Amar bei einem Schulausflug, bei dem sie die Aufsicht hatte, wie aufgeregt er war, als der Zoowärter einen gelben Python emporhielt, und wie er sich stürmisch als Erster meldete und bat, die Schlange anfassen zu dürfen. Das genügte, solange sie im Herzen wusste, dass es ihn dort draußen noch gab, dass er am Leben war, sein Verstand auf eine Weise arbeitete, die sie nie begriffen hatte.

Als sie an diesem Morgen erwachte, war die Familie vollzählig. Bevor ihre Kinder aufgestanden waren, legte sie Sadqua-Geld für sie bereit, mehr als sonst, weil es ein bedeutsamer Tag war, und dann noch etwas obendrauf, als Schutz vor Bemerkungen über die Rückkehr ihres Sohnes, in einem Tonfall, der diesen Tag vielleicht verdarb. Sie fuhr zu einem Lebensmittelladen und füllte den Kühlschrank mit Sachen, die Amar mochte: grüne Äpfel und Kirschen, Pistazieneis mit Mandeln, Kekse mit weißer Cremefüllung. Die Snacks, für die sie ihn früher getadelt hatte. War es grausam von ihr, dass sie sich über seine Rückkehr so freute und erleichtert bemerkte, dass ihre Tochter an diesem Tag, für den er eigens zurückgekommen war, in den Hintergrund trat? Bevor Rafik das Haus verließ, um die Vorbereitungen im Saal zu beaufsichtigen – Tische wurden hereingetragen, Stühle mit goldenen Schleifen drapiert, man errichtete das Podest, auf dem Hadia und Tarik sitzen würden –, ging Laila nach oben in ihr gemeinsames Schlafzimmer, um sich zurechtzumachen.

»Suno«, sagte sie, »dürfte ich dich bitten, nichts zu sagen, was ihn aufbringt oder wütend macht?«

Immer gelang es ihr irgendwie, den Namen ihres Mannes nicht auszusprechen. Anfangs war dies aus Scheu geschehen, dann aus Gewohnheit und tiefem Respekt vor ihm. Er knöpfte gerade sein Hemd zu, hielt nun aber inne und sah sie an. Es war ihr gutes Recht. Sie hatte sich so lange nicht in seine Entscheidungen eingemischt. Jetzt drängte sie weiter: »Bitte, mir zuliebe, kannst du ihn heute Abend in Ruhe lassen? Wir können morgen reden, aber gönn uns diesen Tag.«

Am Vorabend, bei Amars Ankunft, waren sich die beiden freundlich begegnet. Rafik hatte Salaam gesagt, bevor Laila die Regie übernahm – Amar in sein Schlafzimmer geleitete, ihm das Abendessen aufwärmte.

Einen Moment lang überlegte sie, ob sie Rafik gekränkt hatte. Sorgfältig schloss er an beiden Handgelenken die Manschettenknöpfe.

»Ich werde ihm aus dem Weg gehen, Laila«, versprach er schließlich und ließ die Arme fallen.

 

*

 

Als Amar quer durch den Saal dem Blick seines Vaters begegnete, begriff er, dass sie eine Abmachung getroffen hatten: Beide wussten, wem zuliebe sie hier waren und warum sie einander über das unabdingliche Salaam hinaus aus dem Weg gingen. Amar wandte den Blick als Erster ab. Noch immer empfand er Wut, spürte die damit einhergehende Distanz. Etwas hatte sich in ihm verkrampft, und das war nicht der Moment, um sich zu entspannen.

Als ihn die ersten Gäste gefragt hatten, was er in letzter Zeit so getrieben habe, hatte Amar alles Mögliche erfunden. Zum Beispiel erzählte er, er habe Sonnenuntergänge und Landschaften gemalt. Das Mienenspiel seiner Gesprächspartner amüsierte ihn. Einem anderen Onkel antwortete er auf die gleiche Frage, er sei Ingenieur, ärgerte sich jedoch, weil sein Gegenüber tief beeindruckt wirkte. Wieder jemand anderem erzählte Amar, er interessiere sich für Ornithologie. Und als der Mann ihn fragend anblinzelte, erklärte er, Vogelkunde, er würde gern mehr über Vögel wissen. Nach einer Weile verzichtete er auf Beschönigungen. Kaum hatte eine Unterhaltung begonnen, entschuldigte er sich.

Er trat durch den gewölbten Eingang und ging hinaus, an den spielenden Kindern, den Aufzügen vorbei, bis der Klang der Shehnai langsam verebbte. Er hatte vergessen, wie es war, sich durch eine Menschenmenge zu bewegen und sich dabei wie ein Heuchler zu fühlen, unter den prüfenden Blicken des Vaters, der damit rechnete, dass Amar ihn blamieren würde, der jede seiner Lügen vorausahnte, noch bevor er sie ausgesprochen hatte. Er ging bis zur Bar auf der anderen Seite des Hotels. Ganz sicher würde keiner von Hadias Hochzeitsgästen es wagen hierherzukommen. Der Klang der Shehnai war hier so leise, dass er ihn nur noch hörte, wenn er angestrengt lauschte. Er nahm zwischen zwei Fremden Platz. Schon dies fühlte sich am heutigen Abend wie Verrat an. Aber Platz zu nehmen war ja nicht das Gleiche, wie sich einen Drink zu bestellen. Er beugte sich vor, bis seine Ellbogen auf dem Tresen ruhten, ließ das Gesicht in die Hände sinken und seufzte.

Er konnte es kaum fassen, dass er es am Vorabend wirklich über sich gebracht hatte, an die Tür seines Elternhauses zu klopfen. Es überraschte ihn, wie wenig sich verändert hatte – das Haus hatte bei Nacht immer noch denselben Farbton, und an seinem alten Fenster im zweiten Stock fehlte immer noch das Fliegengitter. Es brannte kein Licht. Große Fenster, geschlossene Vorhänge, niemand zu Hause. Wenn er sich jetzt dafür entschied, wieder zu gehen, würde nie jemand erfahren, dass er dagewesen war. Welch tröstlicher Gedanke – seinem Vater nicht gegenübertreten zu müssen, nicht sehen zu müssen, wie seine Mutter unter seiner Abwesenheit gelitten hatte. Es war fast Vollmond, und wie als Kind suchte Amar zuerst nach dem Gesicht, das angeblich dort zu erkennen war, dann nach dem Namen in arabischer Schrift, auf den ihn seine Mutter immer so stolz hingewiesen hatte. Als er beides gefunden hatte, musste er fast lächeln.

Vielleicht hätte er wieder kehrtgemacht, wäre nicht plötzlich in Hadias Zimmer Licht angegangen. Blaugrün leuchtete es hinter dem Vorhang, und dieser Anblick versetzte ihm einen Stich. Sie war zu Hause. Er hatte sich für ein Leben entschieden, in dem es für ihn unmöglich war, sie zu sehen oder mit ihr zu sprechen oder auch nur von ihrer bevorstehenden Hochzeit zu erfahren, bis sie ihn einen Monat zuvor angerufen und um sein Kommen gebeten hatte. Vor Verblüffung war er nicht ans Telefon gegangen. Aber auf dem Anrufbeantworter hörte er sich ihre Nachricht so oft an, bis er sich die Details eingeprägt hatte. An manchen Abenden war er sicher, dass er zurückkehren würde, an anderen überzeugt, dass nichts Gutes dabei herauskäme.

Ihr erleuchtetes Fenster und daneben sein dunkles. Als Kinder hatten sie in einem Sommer ihre Fliegengitter aus dem Rahmen gestoßen und draußen eine Schnur, an deren Enden Styroporbecher befestigt waren, von einem Zimmer zum anderen gespannt. Hadia hatte ihn beruhigt, sie wisse schon, was sie tue. Sie habe so etwas schon mal in der Schule gebastelt. Er war sich nicht sicher gewesen, ob er ihre Stimme deshalb hörte, weil sie an der Schnur entlangsummte und im Becher tönte oder ob sie einfach durch die Luft übertragen wurde, aber das sagte er ihr nicht. Sie hatten sich damals vorgestellt, eine Katastrophe stünde unmittelbar bevor. Das war Hadias Idee gewesen. Sie befanden sich beide in einem Aussichtsturm und kontrollierten die Umgebung. Blauer Vogel auf Zweig, sagte Amar, und sah aus dem Fenster, bevor er sich wieder niederkauerte, over. Postbote fährt die Straße hinunter, sagte Hadia, jede Menge Briefe, over.

An jenem Abend bekam ihr Vater einen Wutanfall, als er die achtlos hinausgestoßenen Fliegengitter in der Einfahrt fand, eines davon verbogen. Die drei Kinder mussten sich in einer Reihe aufstellen. Erst Hadia, die Älteste, dann neben ihr Huda und schließlich er, der Jüngste, der sich ein wenig hinter den beiden Mädchen versteckte.

»Hast du die beiden angestiftet?«, fragte sein Vater und sah nur ihn an.

Es stimmte. Es war seine Idee gewesen. Hadia starrte zu Boden. Huda nickte, worauf Hadia ihr einen Blick zuwarf, aber weiter schwieg.

Sein Vater sagte zu den Schwestern: »Von euch beiden hätte ich was anderes erwartet.«

Amar war schmollend in sein Zimmer abgezogen, hatte das offene Fenster geschlossen und sich auf seine kühlen Bettlaken sinken lassen. Von ihm wurde also nichts erwartet. Hadia ließ fortan ihr Fliegengitter in Ruhe, doch er stieß es alle paar Jahre aus dem Rahmen, bis sein Vater es gar nicht mehr reparierte.

 

»Haben Sie es sich anders überlegt?«, fragte der Barkeeper.

Amar sah auf und schüttelte den Kopf. Was wäre dabei gewesen, Ja zu sagen. Vielleicht war es sogar besser für ihn und alle anderen. Ein Drink würde seine Nerven beruhigen, und vielleicht könnte er die Farben und Appetithäppchen und den melancholischen Klang der Shehnai besser genießen. Aber er war um seiner Mutter und seiner Schwester willen nach Hause zurückgekommen und musste ja nur diesen einen Abend durchstehen.

Sein Handy summte. Es war Huda: Hadia möchte dich sprechen, Zimmer 310.

Den ganzen Tag über hatte er befürchtet, seine Schwester habe ihn vielleicht nur aus Pflichtgefühl angerufen, womöglich aus dem gleichen Pflichtgefühl, das ihn zur Rückkehr bewogen hatte. Jetzt wallte etwas in ihm hoch, nicht direkt Vorfreude oder Beglückung, aber doch so etwas wie Hoffnung. Er stand auf und ging wieder zurück in Richtung der Musik. Seine Schwester, umgeben von engen Freunden und Familienmitgliedern, fragte nach ihm.

 

*

 

Amar würde jeden Moment klopfen, und sie durfte auf keinen Fall so reagieren wie am Abend zuvor, als sie vor Verblüffung kein Wort über die Lippen gebracht hatte. Sie hätte freundlicher sein sollen. Die drei Jahre hatten ihren Bruder verändert, sein Gesicht war ernster geworden: Schatten lagen unter seinen Augen, eine frische Narbe am Kinn gesellte sich zu den alten Narben an Lippe und Augenbraue. Er hielt die Schultern krumm, und sie merkte, dass ihm das Selbstvertrauen abhandengekommen war, als hätte eine selbstgewisse Körperhaltung ebenso zu ihm gehört wie sein gewinnendes Schmunzeln. Richtig weh tat ihr aber, wie schmal sein Gesicht geworden war, wie sehr Schulter- und Schlüsselbeinknochen hervortraten, sich sogar durchs T-Shirt abzeichneten, und wieder überfiel sie bei diesem Anblick die alte Furcht: Er versuchte immer noch zu verschwinden.

Heute Abend würde sie ihre Beobachtung jedoch für sich behalten und ihn mit einem Lächeln begrüßen. Hadia wartete reglos, weil sie ihre Kleidung nicht in Unordnung bringen wollte. Schon die kleinste Bewegung führte dazu, dass die Falten sich verschoben und gegeneinanderschabten. Der über ihren Kopf drapierte Ghoongat wog überraschend schwer, die Teekah bewegte sich, wenn sie abrupt den Kopf bewegte, die eng anliegende Kette zwängte ihren Hals ein. Wenn sie in den Spiegel blickte, erkannte sie sich kaum.

Es klopfte an der Tür. Sie erwartete ihn, aber sie hätte ihn in jedem Fall am Klopfen erkannt – erst einmal zögernd, dann nach einer kurzen Pause zweimal lauter. Huda öffnete ihm, und Hadia hörte, wie Huda Amar auf die reservierte Art dankte, mit der sie sonst Fremden begegnete. Dann wurde die Tür geschlossen und Amar erschien. Er hatte sich das Gesicht gewaschen, das Haar gekämmt, trug einen schwarzen Anzug und eine dazu passende Krawatte. Sie klopfte mit der flachen Hand auf den Platz neben sich, doch er blieb stehen.

»Wie läuft’s da unten?«, erkundigte sie sich.

»Onkel Samir glaubt jetzt vielleicht, dass ich mich als professioneller Maler versuche.« Er verzog den Mund und drückte von innen die Zunge gegen die Wange, wie er das unbewusst immer getan hatte, wenn er log oder nervös war. Hadia stand sofort wieder in seinem Bann. Er war es. Ihr Bruder. Seine Züge wirkten markanter als früher, die Wangen hohl, der Kiefer kantiger, aber er war es, unverwechselbar.

Sie wollte schon tadelnd sagen, Amar, also wirklich, musste dann aber lachen beim Gedanken an Onkel Samir, den naivsten Freund ihres Vaters. Die Hadia von früher hätte ihm geraten, es nicht darauf anzulegen – denn entweder merkte man sofort, dass er log, oder würde bald dahinterkommen. Aber sie wollte ihn nicht kränken. Wieder klopfte sie mit der flachen Hand auf den Platz neben sich.

»Du siehst sehr schön aus«, sagte er.

»Ist das alles nicht übertrieben?« Sie hob ihre geschmückten Arme, die wirkten, als gehörten sie gar nicht zu ihr, wies auf ihren Schmuck. Er schüttelte den Kopf.

»Mumma muss sehr glücklich sein. Endlich hast du zu einem Ja gesagt«, sagte er.

»Es war nicht arrangiert.«

Er wirkte einen Moment lang überrascht. Dann lächelte er. »Dann bin ich ja nicht mehr der Einzige, der die beiden enttäuscht hat.«

»Nein. Aber für mich ist es dadurch ein bisschen leichter gewesen.«

Lachten sie darauf beide aus Übermut oder Unbehagen? Amar wirkte immer noch jungenhaft. Du sagst nichts zu Baba, ja?, hatte er sie immer wieder gebeten, wenn er sich davonstahl und ihr einschärfte, sein Fenster offen zu lassen, oder wenn sie ihn beim Rauchen erwischte. Immer noch der gleiche Gesichtsausdruck. Die großen braunen Augen. Wie viele Nächte hatte sie damit zugebracht, am Fenster auf ihn zu warten und mit dem Finger über die kleine, von ihm ins Fenstersims geritzte Schnitzerei zu fahren, bei jedem Knarren voller Angst, dass ihre Eltern aufgewacht waren und alles entdecken würden. Im Lauf der Jahre wartete er ihre Antwort gar nicht mehr ab – er zweifelte nicht an ihr, er wusste schon, hatte es immer gewusst, dass sie ihn nicht verraten würde.

»Ich wollte dich fragen, ob du etwas für mich tun könntest«, sagte sie jetzt.

»Was immer du willst.«

Er hatte keine Sekunde gezögert, das kam von Herzen und bestätigte sie darin, dass es richtig gewesen war, ihn einzuladen. Sie erklärte ihm, dass sie jetzt gleich mit gesenktem Blick die Treppen hinabgehen werde, nur von Huda begleitet. Während sie dann durch die Menge bis zum Rand der Bühne schreite, wo Baba auf sie warten werde, um sie die Treppen des Podests hinauf zu Tarik zu geleiten, würden ihre engsten Freundinnen ein rotes Netztuch über sie ausgespannt halten.

»Wirst du auf meiner anderen Seite gehen?«, fragte sie.

Amar nickte.

»Du musst aber nicht.«

»Ich weiß. Aber ich will.«

Sie streckte die Hand aus und legte sie auf seine Hand. Es spielte keine Rolle, dass es zwischen ihnen nicht mehr so war wie früher und sie ihre Beziehung neu erfinden mussten – es tröstete sie, ihn in ihrer Nähe zu wissen, ein Trost, den es nur zwischen zwei Menschen geben kann, die ihre frühesten Erinnerungen teilen.

»Ich habe etwas für dich«, sagte Amar, griff in seine Jacketttasche und zog ein kleines, schlampig zugeklebtes Päckchen hervor. »Aber noch nicht aufmachen.«

Er gab es ihr. Sie schüttelte das Päckchen leicht, um zu erraten, was es enthielt. Sie verstaute es in ihrer Handtasche, sagte zu Amar, sie werde sein Geschenk als Erstes öffnen. Er blieb ernst. Dann klopfte es an der Tür. Amar half seiner Schwester auf. Als sie die Tür öffneten, füllten sich Mummas Augen bei Hadias Anblick mit Tränen. Auch Huda tupfte sich verstohlen die Augen, und das überraschte Hadia, denn Huda hatte sich sonst als Einzige von ihnen immer im Griff, und so stupste sie ihre Schwester an, als wollte sie sagen: Jetzt nicht auch noch du.

»Bist du bereit?«, fragte Huda.

Und jetzt brach alles, woran sie den ganzen Tag lang nicht gedacht hatte, über Hadia herein, und sie sagte sich: Huda fragt, ob du bereit bist, hinunterzugehen und den Saal zu durchqueren, und wenn du jetzt nickst, heißt das, dass du mit Tarik dein Leben verbringen willst. Und sie nickte, bereit für ihn und das gemeinsame Leben.

Der Fotograf hob die Kamera. Ihre Mutter schrieb Hadia mit dem Zeigefinger auf Arabisch Ya Ali auf die Stirn, jenes Schutzzeichen, das sie ihr vor jedem ersten Schultag, vor jedem großen Examen, vor jedem Flug auf die Stirn gemalt hatte. Die Art, wie ihre Mutter den Finger auf ihrer Stirn bewegte, der konzentrierte Gesichtsausdruck, mit dem sie betete, beruhigte und tröstete Hadia. Auch wenn sie sich selbst nicht überwinden konnte, im Gebet um Großes zu bitten, sich dem Glauben ihrer Mutter anzuvertrauen und auf deren Zuversicht zu verlassen. Mumma befestigte ihren Ghoongat so, dass Hadias Gesicht beim Einzug in den Saal halb verborgen blieb. Huda hakte sich bei ihr ein. Bevor Hadia den ersten Schritt tat, wandte sie sich nach Amar um und streckte ihm den anderen Arm hin.

Ihre Hochzeit feierte das Leben, auf das sie sich einließ, und markierte zugleich den Abschied von ihrem alten Leben im Elternhaus. Ihre Freundinnen warteten am Aufzug. Sie reckten die Arme hoch und spannten das rote Tuch wie einen Baldachin über sie. Rötlich drang das Licht durch den Stoff, in den kleine Spiegel eingenäht waren, die glitzernde Funken auf den Teppich warfen. Der Trommler kündigte ihre Ankunft an, und sie spürte den Rhythmus im ganzen Körper. Hadia trat einen Schritt vor.

Sie hatten den Saal betreten, und Hadia sah am Rand die Tischreihen, die flüsternden Gäste, die mit Blitzlicht fotografierten. Die Gruppe um Hadia blieb stehen. Hadias Freundinnen nahmen das rote Tuch fort, und plötzlich war das Licht golden und warm. Huda flüsterte ihr ins Ohr, du kannst jetzt aufschauen.

Baba reichte ihr die Hand, und Hadia hätte schwören können, dass sie seine Miene noch nie so zärtlich gesehen hatte. Baba küsste ihr sanft die Stirn, damit sich der Schmuck der Teekah nicht in die Haut einprägte, und es überraschte Hadia, wie tief geliebt sie sich durch diese Geste fühlte. Baba führte sie die Stufen zum Podest hinauf. Dort stand Tarik, und der Trommelschlag verstummte, und Hadia war beeindruckt, wie gut Tarik im Licht aussah, wie attraktiv er in seinem cremefarbenen Sherwani wirkte, und sie betete: Bitte, Gott, lass mich diesen Anblick nie vergessen. Als ihre Blicke sich trafen, grinste er, und sie wusste: Genau das habe ich gewollt. Ich habe ihn gewollt. Das ist mein Leben. Ich habe nicht geglaubt, dass es mir gelingen würde. Aber nun ist es so gekommen und wird so bleiben.

 

*

 

Jemand hatte Wasser auf ihren Sari verschüttet, und jetzt hatte sie vorn einen peinlichen dunklen Fleck. Laila entschuldigte sich für einen Moment, um den Sari, so gut es ging, zu trocknen. Hoffentlich war es keiner dieser Stoffe, auf denen Wasserflecken zurückblieben. Es mussten noch Fotos gemacht werden. Sie wünschte sich ein gutes Familienfoto, um das alte im Wohnzimmer zu ersetzen. Höchste Zeit, es abzunehmen. Sie hatte kein einziges Foto ausgewechselt, seitdem Amar gegangen war. Wieder sah sie zu ihrer Tochter hinüber, die auf dem Podest neben Tarik saß, zwischen ihnen ein sittsamer Abstand, bis die Nikah vollendet war. Die beiden lächelten und unterhielten sich dezent. Sie wirkten wie König und Königin aus alter, glanzvoller Zeit. Laila ging rasch mit gesenktem Kopf hinaus und glühte innerlich vor Stolz, als sie Frauen an einem Tisch sagen hörte, die Braut sehe strahlend aus.

Nie zuvor hatte sie ihre Tochter mit solcher Bewunderung betrachtet wie in jenem Moment, als Hadia aus dem Hotelzimmer trat und beides war: eine reife Frau, bereit für diesen Schritt, und zugleich immer noch das zaghafte Mädchen mit den großen Augen, das Laila am ersten Tag im Kindergarten abgeliefert hatte. Wie lange hatten sie und Rafik auf diesen Moment gewartet. Er war später gekommen, als sie es sich vielleicht gewünscht hatten – ihre Tochter wurde bald siebenundzwanzig. Jedes Jahr war ihre mütterliche Sorge gewachsen, wenn sie die Hochzeiten von Mädchen besuchte, deren Altersabstand zu Hadia immer größer wurde, während Hadia darauf bestand, erst ihr Studium abzuschließen.

Aber es gab wahrlich Grund zur Dankbarkeit. Tarik war ein respektabler, gebildeter junger Mann. Laila rief sich ins Gedächtnis, dass er eigentlich genau der Mann war, den sie sich für Hadia gewünscht hatten. Auch Rafik mochte ihn lieber, als er zugeben wollte.

In den kühlen Toilettenräumen herrschte dämmeriges Licht, und Laila war zum ersten Mal seit Stunden allein. Ihre Wangen schmerzten vom Lächeln. Sie tupfte ihren Sari mit Papiertüchern ab, aber der Fleck blieb. Sie würde abwarten müssen. Während sie sich im Spiegel betrachtete, massierte sie ihr Gesicht, beginnend bei den Wangen bis hin zum Nacken, wo sie immer einen dumpfen Schmerz verspürte. Als Nächstes wollte sie Rafik suchen und sich vergewissern, dass es ihm gut ging, sie wollte ihm sagen, schau, was wir zusammen geschafft haben.

Vorhin, als er aus dem Saal zurückkam, war Rafik so still gewesen. Laila wurde nicht schlau aus ihm. Die Annäherung zwischen Amar und ihr, als sie ihm, nach einem gemeinsamen Gang durch den Garten, den Anzug gezeigt hatte, den er tragen würde – alles wurde hinfällig, als Rafik nach Hause kam und Amar verstummte. Die einzigen Männer, die sie auf dieser Welt noch lieben durfte, und beide wussten nicht, wie sie miteinander auskommen sollten.

Kurz bevor sie zum Festsaal aufgebrochen waren, hatte Laila im oberen Stockwerk ihren Gebetsteppich ausgelegt und Rafiks Teppich nur wenige Schritte davor. Auf diese Zeit des Tages freute sie sich am meisten, und obwohl nichts zwischen ihnen passierte, herrschte doch ein Gefühl des Friedens und der Eintracht.

Sie hatte den Kindern einst das Beten beigebracht. Bei den Mädchen war das einfach gewesen; anders bei Amar. Er hatte jede ihrer Bewegungen nachgeahmt, ganz genau beobachtet, wie sie ihre gewölbt aufeinandergelegten Hände gen Himmel hob, und ihr alles nachgemacht, wobei er irgendwas vor sich hin flüsterte, denn die Surahs konnte er noch nicht auswendig. Irgendwann sagte sie ihm, es sei nun an der Zeit, sich mit eigenen Wünschen direkt an Gott zu wenden, und Amar bat um apfelgrüne Karamelllutscher.

»Nur das?«, fragte sie ihn, und er nickte.

»Aber du kannst ja um alles bitten«, sagte sie hoffnungsvoll. Sie mochte diese Lutscher nicht, weil das Karamell in den Zähnen festklebte.

»Wenn ich nur um eins bitte, wird es eher wahr«, meinte er.

»Aber nein, so handelt Gott nicht.«

»Woher weißt du das?«

Sie war verblüfft. Sie wusste es nicht. Er war damals sechs oder sieben und stellte ihr eine Frage, die sie sich selbst ihr ganzes Leben lang nicht gestellt hatte. Auch von Hadia oder Huda war diese Frage nie gekommen. Und Amar hatte, ohne es zu wissen, recht gehabt – am nächsten Tag ging sie ins Lebensmittelgeschäft, kaufte diese fürchterlichen Lutscher, die kleinste Packung, die es gab, und schob sie unter sein Kopfkissen. Er hatte um etwas gebeten, das sich so leicht erfüllen ließ, und sie dachte, wenn sie ihm die Lutscher in diesem empfänglichen Alter schenkte, würde er künftig von ganzem Herzen beten. Es hieß immer, man solle Gottes Handeln nicht hinterfragen, nicht gründlich erforschen. Es sei ein Mysterium. Und dieser Gedanke machte sie glücklich. Sie stellte sich einen dunklen, nebelverhangenen Himmel vor, so, wie ihre Mutter ihr das einst erklärt hatte: Wir können nicht durch diesen Nebel hindurchblicken, aber wir wissen, dass es Sterne gibt.

Sie betrachtete ihr Spiegelbild genauer. Mittlerweile war der Sari einigermaßen trocken. Sie zupfte den Hijab zurecht, um den verbleibenden Fleck zu verbergen, und zog sich die Lippen nach. Als sie in den Saal zurückkehrte, hatte die Hadith-e-kisa begonnen, und bald würde ihr Lieblingsvers kommen: Gott hatte den blauen Himmel und die sich wandelnden Landschaften, den leuchtenden Mond und die sengende Sonne, die rotierenden Planeten, die wogenden Meere und die darauf segelnden Schiffe geschaffen – aus Liebe für die fünf unter seiner Decke, den Propheten, seinen Schwiegersohn Imam Ali, seine Tochter Bibi Fatima und seine Enkelsöhne Hassan und Hussain.

Sie suchte in der Menge nach Rafik und entdeckte ihn am anderen Ende des Saales an einem Tisch, den Kopf respektvoll gesenkt. Er sah zufrieden aus. Nach dem Gebet würde sie zu ihm gehen. Sie würde sagen: Das haben wir geschafft. Das ist unser Werk. Unsere Kinder sind jetzt erwachsen. Wofür leben wir, wenn wir nicht hin und wieder innehalten, um zu betrachten, was um uns geschieht – unsere Tochter im Mittelpunkt, unser Sohn in Sicherheit, und all unsere Freunde und Verwandten heute hier, meilenweit gereist, um sich in diesem Saal zu versammeln, nur um mit uns zu feiern.

 

*

 

Er wollte den kühlen Wind auf seinem Gesicht spüren. Weg von allen, die vielleicht das Gespräch mit ihm suchten. Vielleicht zum Himmel aufsehen, der schön war, wenn der Dunst der Straßenlampen die Sterne nicht zu sehr verblassen ließ. Amira Ali war hier. Sie hatten noch keinen Blickkontakt gehabt, aber er war sicher, dass sie ihn gesehen hatte – wie auch nicht? Die Menschen um ihn herum waren ununterscheidbar, nichts als blaue, grüne oder gelbe Farbtöne, doch als er Amira sah, verschlug es ihm den Atem. Während alle anderen Gesichter sich der eintretenden Braut zuwandten, hatte Amira zur Bühne geschaut und wohl entweder auf seinen Vater oder Tarik geblickt.

Er hatte darauf gehofft, dass sie kommen würde, hatte sich gut zugeredet, dass er diesen Abend überstehen würde, ob sie nun kam oder nicht. Er fischte eine Zigarette aus der Tasche und zündete sie an. Er konnte den Blick nicht abwenden – ihre Nackenlinie, die gerundete Wange, ihr Kinn, der tiefdunkle Haarschopf. Er musste sich zwingen, weiterzugehen, bis sie die Bühne erreicht hatten, sich nicht umzudrehen. Er wartete einfach nur, bis Hadia neben Tarik Platz genommen hatte, bevor er sich aus dem Saal schlich, den Blick auf seine glänzenden Schuhe gesenkt.

Als er mit Hadia in deren Hotelzimmer gesessen hatte, war ihm klar geworden, dass er von dem Mann, den sie heiraten würde, im Grunde gar nichts wusste. Aber war es nicht zu spät, sich darüber Gedanken zu machen, oder, noch schlimmer, hatte er überhaupt noch das Recht auf eine eigene Meinung? Doch Hadia hatte ihn nicht nur eingeladen, sie hatte ihn sogar gebeten, teilzunehmen, bei ihr und Huda zu stehen. Er wusste, sie hätte das nicht tun müssen. Er war so nervös gewesen, als er ihr Zimmer betrat, voller Angst, dass sie eine Frage stellen könnte, die er nicht beantworten wollte, aber sie hatte ihm jedes Unbehagen erspart. Jetzt konnte er sich wenigstens ihr zuliebe zusammenreißen. Er trat die Zigarette mit dem Schuh aus und zündete sich eine neue an.

Am Morgen, allein in seinem alten Zimmer, hatte er die Tür hinter sich abgeschlossen. Er hatte seinen Wandschrank geöffnet und seine Kleider beiseitegeschoben – soweit er sehen konnte, hingen sie alle noch da – und war in die Nische geschlüpft. Und dort stand sie, hinter Wolldecken und unbenutzten Koffern, seine schwarze Andenkenschatulle, genau so, wie er sie zurückgelassen hatte. Einen Moment lang berührte er nur das weiche Leder. Er hatte immer gewusst, dass er eines Tages zurückkommen würde, und sei es nur, um die Schatulle zu holen. Er kannte die Zahlenkombination immer noch auswendig. Das Klicken, als das Schloss aufsprang. Er saß da und machte sich wieder mit den Dingen vertraut, die ihn an sein altes Leben erinnerten: Tagebücher, alberne selbst verfasste Gedichte, fremde, die er aufbewahrt hatte, aus Familienalben geklaute Fotografien, und schließlich in einem Umschlag, den er zur Sicherheit noch extra zugeklebt hatte, die in Amiras zarter Handschrift verfassten Briefe und Fotos, wie sie sich nach ihm umwandte oder die Hand hob, um ihr Gesicht zu verbergen. Er wusste, dass er diese Fotos aufgenommen hatte. Er erinnerte sich an jeden jener Momente, in denen er sich auf sie zu- oder von ihr wegbewegt hatte, und es war ganz offensichtlich, dass diese Bilder mit den Augen der Liebe aufgenommen worden waren. Er wusste, dass sein Entschluss, bei der Hochzeit anwesend zu sein, ins Wanken geraten würde, wenn er die Briefe las, und so legte er sie unangetastet zurück, schloss sorgfältig den Deckel und ließ das Schloss zuklicken.

Sein Kopf dröhnte. Er war nicht umsonst von so weit hergekommen. Die Dua, die gerade begonnen hatte, als er den Saal verließ, würde schon bald zu Ende sein. Er schloss die Augen, sah rötliches Gewimmel, wenn er mit Daumen und Zeigefinger gegen seine Lider drückte, die Farbe des Kharra Dupatta seiner Schwester, die Farbe, die in Amiras Wangen gestiegen war, lange bevor sie zum ersten Mal richtig miteinander gesprochen hatten. Er hatte ihr die Tür geöffnet und ein Kompliment gemacht, ein nichtssagendes Kompliment wie, deine Schuhe gefallen mir, und da sie, wie er später erfuhr, nichts verbergen konnte, hatte ihr Gesicht geglüht.

 

Um sich zu beschäftigen, häufte er sich am Büffet Samosas und Tandoori Chicken auf den Teller. Er wollte verschleiern, dass sein Atem nach Alkohol roch, und außerdem etwas im Magen haben, das die Wirkung des Drinks abschwächte. Er fühlte sich jetzt ruhiger. Aber er hätte nicht nach hinten zur Bar gehen sollen. Kaum eine Stunde hier und schon der erste Fehltritt. Den Rest des Abends würde er sich an die Regeln halten. Seiner Mutter zuliebe, seiner Schwester. Plötzlich ihr überraschendes Hallo. Er blickte auf und sah Amira nur wenige Meter entfernt. Sie griff nach einem Teller, mit einer langsamen Bewegung, als müsste sie erst überlegen, und lächelte. Er erwiderte ihr Hallo. Er hatte Angst, ihr zu lange in die Augen zu sehen, und konzentrierte sich stattdessen auf ihre Handgelenke, beobachtete, wie die roten und goldenen Reifen über ihre Arme glitten, während sie mit dem Teller hantierte. Er fühlte sich unsicher auf den Beinen, deshalb versuchte er stillzustehen. Er blickte zum Kronleuchter hinauf, dann in die rings um ihn verschwimmenden Farben, bemühte sich verzweifelt, sie nicht anzuschauen. Er wollte unbeteiligt wirken.

Bald schon standen sie nebeneinander. Sie legte ein einzelnes Samosa auf ihren Teller. Als sie sich für die Minzsauce entschied, machte es ihn traurig, dass er das vorhergesehen hatte. Sie wandte sich ihm zu. Ihr Haar fiel ihr ins Gesicht und verdeckte ein Auge wie ein Vorhang. Er hätte gern die Hand ausgestreckt und ihr die Strähne hinters Ohr gestrichen. Aber er konnte sie nicht mehr berühren. Stattdessen deutete er auf seine eigene Stirn, und sie, die sich daran erinnerte, wie oft er ihr das Haar aus dem Gesicht gestrichen hatte, begriff sofort und strich sich die Strähne selbst hinters Ohr. Ihre Wangen verfärbten sich. Wie hatte er das vermisst. Es folgte eine lastende Stille, weil beide spürten, dass sie immer noch eine Sprache teilten, die sie längst hätten vergessen sollen.

TEIL 2

1.

In einem Park in der Nähe ihres Hauses warten sie auf dem feuchten Rasen alle darauf, dass der Himmel aufflammt, an jenem Vierten Juli. Dass sie überhaupt hierhergekommen sind, grenzt an ein Wunder. Hadias Erinnerung nach ist es das erste Mal, dass sie den Vierten Juli wenigstens ein bisschen feiern, und es fühlt sich an wie ein Fest – hier zu sitzen und zum leeren Himmel hinaufzublinzeln. Vor einer Stunde erst, als die Sonne sich davonstahl, bettelten sie, Baba solle sie das Feuerwerk anschauen lassen, und er sträubte sich und meinte, da werde Alkohol getrunken, sie könnten das Feuerwerk doch ebenso gut zu Hause im Fernsehen anschauen. Aber selbst Amar, der noch zu klein war, um zu wissen, worum er eigentlich bettelte, rief immer wieder, bitte bitte bitte, als wäre es ein einziges langes Wort, bis Baba schließlich sagte, gut, gehen wir.

Hadia und Huda halten sich an den Händen und sitzen mit gekreuzten Beinen am Boden. Hadias Freundinnen nennen das indisch, und Hadia weiß nicht, was das bedeutet oder warum sie sich dann immer ein bisschen komisch fühlt. Nur ein kleines bisschen. Sie haben ihre Jacken als Decken auf den Boden gelegt und die Ärmel wie Sternspitzen ausgebreitet. Baba sitzt neben ihr. Sein Blick wandert durch den Park, ruht auf den anderen Familien, die Klappstühle und warme karierte Decken mitgebracht haben. Familien, die nach Popcorn riechen und rote Becher in den Händen halten, die im Dunkeln violett aussehen. Mumma sitzt neben Huda, und Amar sitzt an Mumma gelehnt, den Daumen im Mund. Dann eine Detonation, ein Lichtstreif zischt empor, und als er hoch über den Baumwipfeln schwebt, explodiert er mit einem Knall – genau so ein Feuerwerk hat sie schon auf Fotos gesehen. Huda lässt Hadias Hand los und klatscht und kreischt. Eine Rakete nach der anderen explodiert, schießt zischend in die Höhe, und die ganze Zeit fühlt es sich an, als wären die Geräusche in ihrem eigenen Körper. So laut ist es. Amar hält sich die Ohren zu, aber seine Augen sind weit aufgerissen, vor Staunen, nicht vor Schreck. Hadia blickt dem kleinen Lichtstrahl nach, der in den Himmel hinaufschießt, bevor er in tausend Funken zerstiebt. Sie versucht, beim Schauen den Mund geschlossen zu halten, denn sie ist schon sieben Jahre alt und kein Baby mehr, aber es geht nicht, sie lächelt, bis ihre Wangen schmerzen, und manchmal sagt sie unwillkürlich, oh wow.

Jede Rakete ist anders. Manche lassen den ganzen Himmel in leuchtendem Grün erstrahlen wie gespenstisches Tageslicht. Dankbar betrachtet Hadia die gelben Sonnen mit ihren gleißend weißen Strahlen. Manche verlöschen ganz schnell, andere sinken sanft herab, werden zu Lichtflecken wie größere Sterne. Die gefallen ihr am besten, wie sie zerspringen und wie ihr Licht verharrt, bevor die funkelnden Schweife allmählich verglühen. Amar hält sich zwar immer noch die Ohren zu, kichert aber bei Feuerwerkskörpern, die wie Raketen zischen oder in Spiralen verpuffen. Mumma hält ihn jetzt von hinten umschlungen auf dem Schoß, und ihr Kinn ruht auf seinem Kopf. Es fühlt sich an, als dauerte das Feuerwerk schon sehr lange. Als werde es ewig weitergehen. Jede Explosion macht Hadia ein bisschen Angst – was, wenn die Baumwipfel Feuer fangen oder die Flamme, die so nah scheint, ihre Jacken erfasst?

»Woran merken wir, wenn das Finale kommt?«, flüstert ihre Schwester Hadia ins Ohr. Ihr Atem bewegt eine Haarsträhne, die ihren Nacken kitzelt. Zu Hause hatten sie Baba dadurch überzeugt, dass sie ihm erzählten, erst würden viele kleine Feuerwerkskörper explodieren, und am Ende gebe es ein großes Finale – Hadia hatte das Wort ins Spiel gebracht – wie bei einem Orchesterkonzert.

»Du weißt es einfach«, sagt sie, hat aber keine Ahnung, wann es so weit sein wird oder ob sie das Ende dann erkennt, wenn sie es sieht. Sie blickt sich nach Baba um. Selbst ihm steht der Mund offen, und sie kann seine weißen Zähne sehen. Sein Gesicht leuchtet grün auf. Auch er sieht aus, als fände er den Himmel schön. Als dächte auch er – wie kann ich hinaufschauen, ohne zu lächeln? Dann kommt das Raketengeräusch, Hadia hört Amars Lachen, sieht die winzigen, spiraligen Explosionen, und Babas Gesicht färbt sich rot, dann blau, dann golden und dann wieder dunkel, nur seine Zähne strahlen hell.

 

*

 

Die Sonne brennt gnadenlos. Laila sitzt mit geradem Rücken an der Balkonwand und trainiert ihre Körperhaltung. Ihre jüngere Schwester Sara sitzt neben ihr. Sie berühren sich nicht. Jeder Körperkontakt könnte die Hitze noch unerträglicher machen, und außerdem ist das eine der Verhaltensregeln, die sie sich für den Aufenthalt auf dem Balkon ausgedacht haben. Die Straßengeräusche bieten ihr Trost. Ein Mann bietet Granatäpfel und Mangos feil. Ein Junge schreit seinen Freund an und benutzt Wörter, die ihr verboten sind. Autohupen, das Klappern von Hufen, ein Tier, das an ihrem Haus vorbei in das geschäftige Treiben hineinläuft.

»Hast du ein Geheimnis?«, fragt Sara leise. Flüstern ist eine weitere Balkonregel – sie kommen hier nur her, wenn niemand mithören soll.

Laila will es ihr selbst erzählen. Sie greift hinauf und zupft an einem der purpurroten Blütenblätter der Bougainvillea über Saras Kopf. In diesem Sommer fühlt sie sich ihrer Schwester zum ersten Mal nahe. Davor war Sara nur ein kleines Mädchen, mit dem sich Laila unglücklicherweise ein vollgestopftes Schlafzimmer teilen musste. Ein kleines Mädchen, bei dem sie sich immer vergewissern musste, dass es nicht sein Ohr an die Tür presste und lauschte, wenn Lailas Freundinnen zu Besuch kamen. Jetzt ist sie die Schwester, mit der Laila sich vor dem Einschlafen bis tief in die Nacht flüsternd unterhält. Die Schwester, bei der sie sich über ihren strengen Lehrer beklagt oder zu der sie sich flüchtet, wenn sie nachts aus ihren Träumen aufschreckt. Sara hat einen leichten Schlaf, ist eine geduldige Zuhörerin. Sie wacht auf, sobald Laila sie beim Namen ruft, und ist begierig darauf, ins Vertrauen gezogen, von ihr als junge Frau, als Freundin betrachtet zu werden.

»Ich werde vielleicht heiraten«, sagt Laila. Sie wickelt den Orni ganz eng um ihren Finger.

Sara fragt, wann. Ihre Stimme klingt verletzt, und Laila überlegt, ob es deswegen ist, weil sie ihr erst heute davon erzählt hat oder weil es bedeutet, dass sie bald ausziehen wird. Am Abend wird der Heiratskandidat mit seinem Onkel kommen, um mit Mumma und Baba zu sprechen und sie kennenzulernen.

»Mumma findet, dass es ein großartiger Antrag ist. Dass ich keinen Grund habe, ihn abzulehnen.«

Sara legt ihren Kopf an Lailas Schulter. Laila erinnert sie nicht an die Balkonregel.

»Wo lebt er?«, fragt Sara.

»In Amerika.«

»Das ist weit weg.«

»Andere Orte sind noch weiter weg.«

»Was macht er?«

»Weiß ich nicht genau. Mumma sagt, dass er eine gute Stelle hat. Und dass er sehr hart arbeitet – er hat schon früh seine Eltern verloren. Er ist ganz allein dort hingezogen, hat eine Stelle gefunden und eine Wohnung.«

Sie weiß nicht, warum das so klingt, als wolle sie ihre Schwester überzeugen.

»Hast du Ja gesagt?«

Wind kommt auf. Er weht durch die Zweige der Bougainvillea, das Rascheln der Blätter klingt wie Beifall, eins von den Geräuschen, die Laila auf der ganzen Welt am liebsten hört.

»Noch nicht.«

»Aber du wirst Ja sagen?«

Noch fester lässt sich der Orni nicht um ihren Finger wickeln. Sie weiß wirklich nicht, was sie sagen wird. Schließlich hat sie noch nie eine so große, so tiefgreifende Entscheidung treffen müssen.

»Weil es keinen Grund gibt, Nein zu sagen?« Saras Stimme klingt, als wäre sie wieder ein Kind.

»Mumma findet, er ist eine gute Partie.«

Mumma hat ihr sofort von dem Antrag berichtet. Der Mann komme aus einer guten Familie, seine Eltern seien ehrbare Leute gewesen und er gehöre zu den wenigen Glücklichen, die nach Amerika ausgewandert seien. Aber so weit von ihrer Familie wegziehen? Ich möchte, dass du ein gutes Leben hast, hat Mumma zu ihr gesagt, ein erfülltes Leben, ein gottgefälliges Schicksal. Laila vertraut darauf, dass alles gut wird, wenn sie auf ihre Mutter hört. Die leisen Befürchtungen, die sich jetzt melden, lösen sich schon auf. Ihre Eltern würden sicher keinen lieblosen Mann für sie aussuchen oder jemanden, dem es an Werten fehlte. Gott war zufrieden mit ihr, wenn sie ihre Eltern zufriedenstellte, und sie würde dafür belohnt werden.

»Du könntest es wie diese Frauen in den Filmen machen, die sagen: Aber Babu-ji, ich kann ihn nicht heiraten! Ich liebe einen anderen! Einen, der verboten ist.«

»Sei nicht albern.«

»Was ist mit Raj?«, flüstert Sara, immer noch lächelnd.

Laila bedeutet ihr zu schweigen. Das ist jetzt nicht mehr lustig. Aber irgendwie versetzt die Nennung seines Namens sie in Erregung, und sogleich verspürt sie leise Traurigkeit. Raj verkauft Eis vor ihrer Schule. Er nickt ihr immer zu, wenn sie vorbeigeht. Das macht er nur bei ihr, glaubt Laila. Sie kauft alle paar Tage eine Kugel – selbst wenn sie gar keine möchte. Und manchmal schüttelt er den Kopf, wenn sie ihm ihre Münzen reicht, und sie geht mit ihrem Geschenk nach Hause. Sie haben begonnen, Scherze über ihn zu machen. Raj und ihre Zukunft mit ihm, die Eissorten, die es bei der Hochzeit geben, die erfolgreichen Läden, die er in ganz Haiderabad eröffnen würde.

»Wie heißt der Mann denn, den du heiraten sollst?«, fragt Sara nach langem Schweigen.

Laila öffnet den Mund, um zu antworten, aber dann merkt sie, dass sie es vergessen hat.

 

In jener Nacht wiederholt Laila im Geiste immer wieder seinen Namen: Rafik. Wird sie mit ihm nach Amerika gehen? Wie werden die Straßen dort aussehen und die Leute in ihren Häusern? Sie kann nicht schlafen. Sie versucht, sich an seinen Besuch zu erinnern, an das hellbraune Knopfhemd, das nicht zu seinem Teint passte. Den ganzen Abend hat sie ihre Hände gemustert, die sie im Schoß hielt, den einen Fingerknöchel, der röter war als die anderen, ihre unebenmäßigen Fingernägel. Bevor er kam, hatte Mumma ihr geraten, nicht aufzuschauen, wenn er sie nicht direkt ansprach. Doch selbst dann, hatte Mumma gesagt, sieh ihn nicht an. Aber Laila hat einen verstohlenen Blick auf ihn geworfen, gerade lange genug, um die Farbe seines Hemdes zu registrieren.

Sie ruft Saras Namen ins Dunkel.

»Kannst du dich an irgendetwas an ihm erinnern?«, fragt Laila.

»Von wem sprichst du?«

»Du weißt schon, von wem«, sagt Laila und merkt plötzlich, dass sie sich scheut, seinen Namen auszusprechen.

»Er hatte ein hässliches Hemd an«, sagt Sara.

Laila lacht. Sara beginnt aufzuzählen, woran sie sich erinnert: Er hat über Babas Witze gelächelt, aber nicht gelacht, er hat die Süßigkeiten, die Ma bereitet hat, nicht angerührt, aber fast alle Mandeln aus der Schale mit den gemischten Nüssen aufgegessen, er hat in ein gefaltetes Tuch gehustet, er hat nicht selber Gesprächsthemen angeschnitten, sondern sich immer nur zu etwas geäußert, und er hat Laila von Zeit zu Zeit angesehen.

»Magst du ihn?«, fragt Sara.

Laila zuckt mit den Schultern, aber im Dunkeln sieht Sara das nicht.

»Das ist am Anfang so«, sagt Sara.

Laila nickt, und wieder sieht Sara es nicht, also spricht sie weiter: »Vielleicht zieht er die Vorhänge zu, sobald es Nacht wird. Und ist beim ersten Weckerklingeln wach. Oder er weiß, wann du allein sein willst und wann du nur so tust, als wolltest du allein sein, in Wirklichkeit aber möchtest, dass er mit dir redet.«

»Du meinst so wie du.«

Laila fragt, ob ihr noch irgendetwas anderes aufgefallen sei.

»Du hast die ganze Zeit über gewusst, welche Stimme seine war.«

 

*

 

Hadia konzentriert sich gerade darauf, dem unteren Bogen des Ypsilon den richtigen Schwung zu verleihen, als das Telefon im Klassenzimmer klingelt. Sie will sichergehen, dass ihre Handschrift ordentlich aussieht, falls Baba an diesem Abend gute Laune hat und ihre Schularbeiten sehen möchte. Also legt sie ihre Hand fest auf und beißt sich auf die Unterlippe, ohne daran zu denken, dass es dort bereits wehtut. Die Lippe pocht. Manchmal klopft Baba auf ihre Blätter und sagt zu Amar, schau, so schreibt man ordentlich. Und Hadias Glück verwandelt sich beim Anblick von Amars gequälter Miene in Schuldgefühle, schon wieder ist sie auf Babas Lob erpicht gewesen. Ihre Lehrerin, Mrs Burson, legt die Kreide auf die silberfarbene Ablage, geht zum Klassentelefon, um zu antworten, und Hadia gräbt ihre Fingernägel in die Haut unterhalb des Handgelenks, bitte, lieber Gott, nicht schon wieder, denkt sie.

Mrs Burson hängt den Hörer ein, dreht sich um und blickt Hadia direkt an. Sie nickt ihr zu. Hadia weiß, was das bedeutet. Ihre Klassenkameraden flüstern. Sie rutschen auf ihren Sitzen hin und her. Hadia hasst es, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen. Sie wird bereits rot, wenn die Lehrerin sie aufruft. Sie sieht ohnehin schon so anders aus, ist in der ganzen Grundschule das einzige Mädchen, das einen Hijab trägt. Sie steckt ihr Heft weg, schiebt schnell ihren Stuhl unter das Pult und meidet alle Blicke bis auf den ihrer besten Freundin Danielle, die ihr nachwinkt, als sie zur Tür hinausgeht.

Wahrscheinlich ist gar nichts passiert. Als sie den leeren Korridor entlanggeht, lässt sie sich Zeit und ist ärgerlich auf Amar, weil er sie wieder in eine peinliche Situation gebracht, sie aus ihrer Schulstunde herausgeholt hat. Ihre Schritte hallen, und sie bemüht sich, auf Zehenspitzen zu gehen. Aus Schulzimmern wehen Sätze durch halb offene Türen. Höhere Klassen als die fünfte, in denen über Rechtschreibung, Mathe, Sterne und Geschichte gesprochen wird. Und wenn dieses Mal doch etwas passiert ist? Sie denkt an aufgeschürfte Knie und Knochenbrüche. Sie denkt daran, wie Amar immer aufschreit, wenn er sich wehgetan hat, sie erkennt seinen Schrei immer sofort, selbst dann, wenn sie in der Moschee durch einen Raumteiler getrennt sind. Sie stürzt Treppen hinunter oder durch Flure, bis sie bei ihm ist, immer ist ihre Anwesenheit gefragt, selbst wenn ihre Eltern da sind. Sie beschleunigt ihre Schritte. An der nächsten Ecke rennt sie bereits, und das sich im Boden spiegelnde Licht der Glühbirnen verschwimmt ihr vor den Augen.

Die Schulschwester schaut von ihrer Büroarbeit auf, sieht Hadia an, die ganz außer Atem eintrifft, und winkt sie herein. Als Hadia die Geste sieht, weiß sie, dass alles in Ordnung ist. Schlechte Nachrichten werden immer hastig überbracht.

»Er ist im Krankenzimmer«, sagt die Schulschwester und weist mit der Hand auf den Korridor, obwohl Hadia weiß, wo das Zimmer liegt.

»Er hat nach dir verlangt«, sagt die Schwester.

Hadia weiß auch das. Amar liegt auf der hellbraunen Pritsche, er trägt eine rote Cordhose und ein weißes T-Shirt, die Kombination, die sie immer an einen kleinen Bären erinnert, und als er sich bewegt, knistert unter ihm die Papierauflage. Der Raum ist kühl und grau. Amar sieht gesund aus, leidet nur unter Langeweile, er bläst sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, die ihm gleich wieder in die Stirn fällt, aber er steht auf, als Hadia hereinkommt und winkt ihr zu, als ob er sie zu einer Kinderparty erwartet hätte.

»Was ist passiert?«, keucht sie und versucht, wieder zu Atem zu kommen.

»Nichts«, flüstert er auf Urdu. Er sieht aus wie ein Junge, der ein Geheimnis hat und es kaum erwarten kann, sie einzuweihen.

»Warum bist du dann hier? Warum hast du mich rufen lassen?«, antwortet sie ebenfalls auf Urdu. Die Schwester soll nicht mithören und ihren Verdacht, dass gar nichts passiert sei, bestätigt finden. Hadias Ton ist barsch.

»Ich wollte nicht in der Klasse bleiben«, sagt er, und sie funkelt ihn böse an. »Und ich wollte nicht allein sein.«

Sie hatte in Gesellschaftskunde Notizen mitgeschrieben, als der Anruf kam. Sie nehmen gerade die Amerikanische Revolution durch. Sie hat noch nicht alles fertig von der Tafel abgeschrieben, und bei ihrer Rückkehr ist sicher schon alles weggewischt. Sie dreht sich um, um zu gehen.

»Der Unterricht war so anstrengend, Hadia Baji. Mir ist schlecht geworden.«

Er nennt sie nur Schwester, wenn er etwas von ihr braucht.

»Geh nicht.«

Warum klingt auf Urdu immer alles trauriger? Und hübscher. Sie mag es, dass sie Urdu miteinander sprechen, die Sprache ist wie ein Tor zu ihrer gemeinsamen geheimen Welt, einer Welt, in der sie sich anders fühlen, in der sie zu Gefühlen Zugang haben, die Hadia auf Englisch niemals empfinden würde und erst recht nicht benennen könnte. Sie dreht sich um und blickt ihn an. Er wirkt beunruhigt und kratzt sich an der Wange. Er ist erst sechs. Das erste Schuljahr hat gerade begonnen, und es fällt ihm schwer, sich an das viele Stillsitzen zu gewöhnen.

In dem Jahr bevor Amar in den Kindergarten kam, verschwand Mumma einmal für drei Tage, und Baba brachte die Kinder bei einer Freundin der Familie unter. Amar war fast vier und zum ersten Mal von Mumma getrennt. Hadia erinnert sich, dass sie Baba fragte, wo Mumma denn sei, während Baba den Kindern eine Reisetasche mit Kleidung und Zahnbürsten packte, aber Baba warf ihr einen stummen Blick zu, der besagte: Frag mich das bloß nicht nochmal. Sie hatten noch nie bei jemand anderem übernachtet. Das durften sie nicht. Dann, als bedauerte Baba seinen Blick, sagte er, Mumma gehe es gut, alles werde gut. Sein Gesichtsausdruck war ernst wie immer, aber diesmal auch niedergeschlagen, und als Baba die Kinder bei Tante Seema ablieferte und ihr die Reisetasche reichte, wirkte auch Tante Seema so besorgt, dass Hadia sich noch mehr ängstigte. Hadia sah zu, wie Huda und Amar Tante Seema in ihr großes Haus folgten. Selbst die Tatsache, dass dieses Haus so groß war, machte ihr Angst: Was, wenn sie sich darin verirrten und Baba sie nicht mehr fand, wenn er zurückkam? Baba legte ihr die Hand auf die Schulter. Er sagte, er werde am nächsten Abend nach der Arbeit wiederkommen und nach ihnen sehen.

»Als große Schwester ist es deine Aufgabe, dich um sie zu kümmern«, sagte er zu Hadia, »du bist sozusagen die Mutter, wenn Mumma nicht da ist.«

Hadia fasste sich an den Arm und kniff ihre Haut so fest, dass sie nicht spürte, wie traurig sie über das war, was Baba da gerade gesagt hatte.

»Ich weiß, dass du das gut machen wirst, Hadia. Ich bin sicher«, sagte Baba, beugte sich zu ihr herunter und küsste sie auf die Stirn.

Ihr kam der hässliche Gedanke, dass es für sie ganz in Ordnung wäre, Mumma einen oder zwei Tage nicht zu sehen, wenn das hieß, dass Baba an sie glaubte. Doch dann fuhr Baba die Auffahrt hinab, und Amar wurde klar, dass weder er noch Mumma an diesem Abend zurückkommen würden, und er klammerte sich verzweifelt an Hadia und schrie wie am Spieß, sobald sie versuchte, sich von ihm loszumachen. Doch er verlangte kein einziges Mal nach Mumma, und Hadia fragte sich, ob er etwas begriff, was ihr verborgen blieb.

Am nächsten Tag konnte Hadia nicht zur Schule gehen, weil Amar weinte, sobald sie ihre Socken anzog, und brüllte, sobald sie den Reißverschluss ihrer Schultasche zumachte. Am Ende durfte Hadia mit Amar zu Hause bleiben. Wenn Amar vor dem Fernseher saß, blickte er alle paar Minuten zu Hadia hinüber, als hätte er Angst, dass auch sie verschwinden könnte, wenn er zu lange wegsah. Wenn sie auf die Toilette ging, wartete er draußen im Flur, bis sie wieder herauskam. Tagsüber ließ Tante Seema Hadia mit den Videogames ihres Sohnes spielen.

Als Baba abends zu Besuch kam, beobachtete Hadia ihn aufmerksam, um zu erraten, was los war, doch er sah einfach nur müde aus oder geistesabwesend. Bevor Baba sich zum Gehen wandte, nahm er Hadia und Huda in den Arm und stand dann lange da, um Amar zu betrachten, der mit dem Rücken zu ihm auf der Couch saß. Auch Hadia starrte auf Amars Rücken, um zu sehen, worauf Baba blickte, konnte aber nichts Besonderes entdecken.

»Du kannst sehr stolz auf Hadia sein«, sagte Tante Seema zu Baba, »sie hilft so viel, dass ich selber kaum auf die Kinder aufpassen muss.«

Hadia wartete auf eine Reaktion von Baba, aber er nickte nur und sagte, er müsse jetzt gehen. Hadia sah, wie die Autoscheinwerfer sich entfernten, und die schreckliche Angst vom Vorabend überfiel sie wieder, und es war kein Trost, dass Tante Seema sie nett behandelte, dass ihr kleines Töchterchen süß war, dass das Essen wie das von Mumma schmeckte und Tante Seemas Söhne ihr Spielzeug mit ihnen teilten.

In jenen Tagen fühlte Hadia sich zum ersten Mal wirklich wie eine Schwester, als wäre das ein Job, bei dem sie ihr Bestes gab, und dieses Gefühl sollte sie nie mehr verlassen. Sie übernahm diese Aufgabe mit demselben Ernst, wie sie im Unterricht aufpasste oder die Arbeitsflächen in der Küche säuberte, wenn Mumma ihr ein Geschirrtuch reichte. Schüttelte Amar weinend den Kopf, wenn Tante Seema Reis in seine Schale geben wollte, reckte Hadia sich auf ihrem Stuhl, nahm den Löffel und tat ihm auf, in Erinnerung an das, was Baba ihr gesagt hatte. Sie ließ es nicht zu, dass Huda Amar ärgerte. Sie dachte sich Spiele aus. Sie erzählte vor dem Einschlafen Geschichten, die den Kindern gefielen. Etwa die vom Propheten, der den Mond spaltet, oder die von den beiden Kindern, die sich im Wald verirren, aber dann doch wieder nach Hause finden, weil sie zusammenhalten und Brotkrumen auf den Weg streuen.

»Du kannst gut Geschichten erzählen«, sagte Tante Seemas ältester Sohn, er war so alt wie Hadia. Sie freute sich über das Kompliment.

»Meine Mumma erzählt gute Geschichten«, sagte sie stolz, zum ersten Mal fehlte ihr Mumma, und sie bekam ein schlechtes Gewissen, weil das so lange gedauert hatte, wo Amar sie doch jeden Tag vermisste.

Am dritten Tag beruhigte sich Amar. Vielleicht wusste er, dass Hadia bleiben würde, wer auch immer sonst ging, oder vielleicht langweilte sie ihn, und er wollte mit den vielen Spielsachen spielen. Hadia überließ ihn sich selbst und spielte den ganzen Tag mit Huda und den drei Jungs von Tante Seema. Zwischendurch sah sie nach Amar, er war wohlauf, half Tante Seema, den Kindern Snacks in den Garten zu bringen, oder spielte mit der Kleinen, wenn Tante Seema mit Kochen beschäftigt war. Das kleine Mädchen folgte Amar durchs ganze Haus. Und als sie ihn im Gesicht kratzte und auf seiner Haut sofort ein langer roter Striemen prangte, lachten alle, und Hadia war beeindruckt, dass Amar auch einfach lachte, weil er wusste, dass er es ihr nicht heimzahlen durfte; dabei hatte er gar keine Erfahrung mit kleinen Kindern.

Im Garten fragte der älteste Junge Hadia, wo ihre Eltern seien, während er mit dem unteren Ende eines langen Stockes in der Erde wühlte, und sie zuckte mit den Schultern. Inshallah, so Gott will, sind sie bald wieder da, und alles wird gut sein, sagte er, und Hadia dachte, wie seltsam, dass ein Junge ihres Alters mit ihr sprach wie ein Erwachsener, und das sagte sie ihm auch. Er zuckte mit den Schultern und meinte, er bemühe sich nur, nett zu sein. Er hatte haselnussbraune Augen, und in der Sonne sah sie kleine goldene und orangefarbene Flecken darin. Damals trug sie noch kein Kopftuch und spielte mit den Jungs in dem großen Garten hinterm Haus Fußball. Mit seinen Brüdern ging er raubeinig um, aber wenn er in ihre Nähe kam, nahm er sein Tempo zurück und spielte ihr den Ball sanft zu. An diesem Abend kam Baba wieder und sagte ihr, sie solle ihre Sachen holen, und da wusste Hadia, dass Mumma wieder zu Hause war. Wie Hadia jedoch zu ihrer Überraschung bemerkte, hatte sie gar keine Lust, diesen Ausflug zu beenden. Sie hielt Amar an der Hand, während sie zum Wagen gingen, drehte sich um und winkte dem Jungen zu, und er winkte zurück.