work & care - Der Weg zur Vereinbarkeitskompetenz - Iren Bischofberger - E-Book

work & care - Der Weg zur Vereinbarkeitskompetenz E-Book

Iren Bischofberger

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Beschreibung

Im Zentrum des Buches stehen Personen, die neben ihrer Erwerbstätigkeit auch Sorgeverantwortung tragen für kranke, beeinträchtigte oder hochaltrige Angehörige - also "work & care". Dieses Thema gewinnt immer mehr an Aufmerksamkeit, denn es steht im Schnittfeld zweier knapper Ressourcen - des privaten unbezahlten Sorgepotenzials für Nahestehende einerseits und des Erwerbspotenzials andererseits.  Das thematische Feld wird systematisch aufgearbeitet - sowohl begrifflich-theoretisch, als auch analytisch und unter Einbezug der internationalen Forschung. Auf dieser Wissensgrundlage fragen die AutorInnen systematisch danach, welche fachlichen, disziplinären und politischen Konsequenzen daraus erwachsen - für die Pflegewissenschaft im Speziellen und für die gesundheitspolitischen Reformen im Allgemeinen. Aus diesen intensiv verfolgten Spuren ergebensich Konturen einer breit hergeleiteten personalen und organisationalen Vereinbarkeitskompetenz.  Das Buch fördert die überfällige Weiterentwicklung der Pflegewissenschaft v.a. im deutschsprachigen Raum, die nicht im bisherigen Torso von Forschung, Hochschulbildung, Pflegemanagement und klinischer Praxis stehen bleiben darf, sondern auch die Bühne der wissenschaftlichen Politikberatung bespielen muss. Denn hier ist Meinungsbildung im Dialog mit Behörden und Politik sowohl für die Pflegewissenschaft als auch die Orchestrierung von "work & care" angezeigt.

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Iren Bischofberger

work & care – Der Weg zur Vereinbarkeitskompetenz

Erwerbstätigkeit und Angehörigenpflege kompetent vereinbaren

Mit freundlicher Unterstützung des Vereins „profawo“

Eine Marke von profawo

work & care – Der Weg zur Vereinbarkeitskompetenz

Iren Bischofberger

Wissenschaftlicher Beirat Programmbereich Pflege:

André Fringer, Winterthur; Jürgen Osterbrink, Salzburg; Doris Schaeffer, Bielefeld; Christine Sowinski, Köln; Angelika Zegelin, Dortmund

PD Dr. Iren Bischofberger, Pflegefachfrau, Pflege- und Gesundheitswissenschaftlerin, Privatdozentin und Lehrbeauftragte am Institut für Pflegewissenschaft der Universität Wien

[email protected]

www.workand.care

Wichtiger Hinweis: Der Verlag hat gemeinsam mit den Autoren bzw. den Herausgebern große Mühe darauf verwandt, dass alle in diesem Buch enthaltenen Informationen (Programme, Verfahren, Mengen, Dosierungen, Applikationen, Internetlinks etc.) entsprechend dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes abgedruckt oder in digitaler Form wiedergegeben wurden. Trotz sorgfältiger Manuskriptherstellung und Korrektur des Satzes und der digitalen Produkte können Fehler nicht ganz ausgeschlossen werden. Autoren bzw. Herausgeber und Verlag übernehmen infolgedessen keine Verantwortung und keine daraus folgende oder sonstige Haftung, die auf irgendeine Art aus der Benutzung der in dem Werk enthaltenen Informationen oder Teilen davon entsteht. Geschützte Warennamen (Warenzeichen) werden nicht besonders kenntlich gemacht. Aus dem Fehlen eines solchen Hinweises kann also nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt. Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt des Redaktionsschlusses eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

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Hogrefe AG

Lektorat Pflege

z. Hd. Jürgen Georg

Länggass-Strasse 76

3012 Bern

Schweiz

Tel. +41 31 300 45 00

[email protected]

www.hogrefe.ch

Lektorat: Jürgen Georg, Franziska Schönberger, Martina Kasper, Rita Madathipurath

Herstellung: René Tschirren

Umschlagabbildung: Getty Images/FredFroese

Kapitelbilder: Getty Images / A-Digit (1, 2) / Nosyrevy (3) / EschCollection (4) / syntica (5, 6, 8) / KeithBishop (7) / grynold (9)

Umschlag: Claude Borer, Riehen

Satz: Claudia Wild, Konstanz

Format: EPUB

1. Auflage 2023

© 2023 Hogrefe Verlag, Bern

(E-Book-ISBN_PDF 978-3-456-96262-7)

(E-Book-ISBN_EPUB 978-3-456-76262-3)

ISBN 978-3-456-86262-0

https://doi.org/10.1024/86262-000

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Zitierfähigkeit: Dieses EPUB beinhaltet Seitenzahlen zwischen senkrechten Strichen (Beispiel: |1|), die den Seitenzahlen der gedruckten Ausgabe und des E-Books im PDF-Format entsprechen.

Inhaltsverzeichnis

Geleitwort

Vorwort zur 15-jährigen Reise

1 Gesellschaftliche Bedeutung

1.1 Megatrends zu erwerbstätigen, pflegenden Angehörigen

1.1.1 Arbeitswelt: Erwerbspartizipation, Feminisierung, Globalisierung

1.1.2 Gesellschaft: Alterung, Digitalisierung, Diversität

1.1.3 Gesundheitsversorgung: Chronifizierung, Medikalisierung, Ambulantisierung

1.2 Zwischenfazit – „work & care“ in der Gesundheitswelt verorten

2 Terminologische und konzeptionelle Annäherung

2.1 Familie im historischen Rückblick

2.2 Öffnung des Angehörigenbegriffs

2.3 Aufgabenprofil der Sorgearbeit

2.4 Kurzer Exkurs – Pflege oder Betreuung?

2.5 Ambivalenz von Belastung und Expertise

2.6 „work & care“ Begriffspaar

2.7 Zwischenfazit – Sprachliche Konzepte im Wandel

3 Überblick zu „work & care“-Diskursen

3.1 Entwicklung internationaler Diskurse

3.1.1 Historische Entwicklung in Wissenschaft und Praxis

3.1.2 (Keine) theoretische Verankerung

3.2 Diskurse bei Akteursgruppen in der Schweiz

3.2.1 Interdisziplinäre Forschung

3.2.2 Bundespolitik und -verwaltung

3.2.3 Arbeitswelt

3.4 Zwischenfazit – Diskurse im Gesundheitswesen

4 Datenlage zu erwerbstätigen Angehörigen

4.1 Internationale Datenquellen und Datenlage

4.1.1 Relevante Datenquellen

4.1.2 Datenlage im Überblick

4.1.3 Zentrale Merkmale

4.2 Datenlage in der Schweiz

4.2.1 Maßgeblicher Einfluss: Gesundheitssituation der Nahestehenden

4.2.2 Datenquellen

4.2.3 Anzahl erwerbstätiger Angehöriger und ihr Erwerbsverhalten

4.2.4 Betreuungsintensität von erwerbstätigen Angehörigen

4.2.5 Sozio-demografische und gesundheitliche Merkmale

4.2.6 Dringlichkeit des Unterstützungsbedarfs

4.3 Zwischenfazit – Geschärftes Profil erwerbstätiger Angehöriger

5 Der beeinflussende Kontext

5.1 Arbeitswelt und Unternehmen

5.1.1 Internationale Diskurse

5.1.2 Forschungsstand in der Schweiz

5.2 Soziale Absicherung bei Gesundheitseinschränkung

5.2.1 Indirekte Leistungen für Angehörige

5.2.1.1 Internationale Ansätze

5.2.1.2 Situation in der Schweiz

5.2.2 Direkte Leistungen für pflegende Angehörige

5.2.2.1 Internationale Ansätze

5.2.2.2 Situation in der Schweiz

5.3 Umsetzungsansätze

5.4 Zwischenfazit – Intersektorale Denk- und Handlungsweise

6 „work & care“ in der Gesundheitswelt

6.1 Gesundheits- und Langzeitversorgung als Schnittmengenfeld

6.1.1 Brennpunkte in der Gesundheits- und Langzeitversorgung

6.1.2 Reformbestrebungen in der Langzeitversorgung

6.1.3 Integrationsversuche und integrierte Versorgung

6.1.4 „Gesundheitsstandort Privathaushalt“

6.2 Leistungserbringer für erwerbstätige Angehörige

6.2.1 „Double-Duty Caregiving“

6.2.2 Erwerbsmodell mit angestellten pflegenden Angehörigen

6.3 Leistungserbringer zugunsten erwerbstätiger Angehöriger

6.3.1 Vereinbarkeit als professionelle Haltung und Praxis

6.3.2 Vereinbarkeit koordinativ lenken

6.4 Distance Caregiving: Vereinbarkeits(un)freundlichkeit

6.4.1 Merkmale entfernt lebender Angehöriger

6.4.2 Distance Caregiving bei Leistungserbringern

6.4.3 IT-Kommunikation und assistive Technik

6.4.4 Ein Blick auf die Corona-Krise

6.5 Zwischenfazit – „work & care“ als Katalysator

7 Vereinbarkeitskompetenz

7.1 Vereinbarkeitsverständnis und -dimensionen im Wandel

7.2 Vereinbarkeitslogik in der Gesundheitsversorgung

7.3 Vereinbarkeitskompetenz als Denk- und Handlungsfigur

7.4 Entwicklungspotenziale für die Pflegewissenschaft

7.4.1 Medizinischer Fortschritt als konstituierendes Merkmal ausgeblendet

7.4.2 Angehörige nicht um ihretwillen positioniert

7.4.3 Wissenschaftliche Politikberatung als pflegewissenschaftliches Tätigkeitsfeld

7.5 Schlussfazit

8 Schlussgedanken

Anhang

Literatur

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Autorin

Sachwortverzeichnis

|9|Geleitwort

„work & care“ – ein Thema, das aktueller nicht sein könnte!

Personen, die neben ihrer Erwerbstätigkeit Sorgeverantwortung übernehmen, sind Bestandteil unserer Gesellschaft. In gewissem Maße gab es das Phänomen schon immer, auch wenn diese Gruppe, je mehr Frauen (die ja den größten Teil der Sorgeverantwortung übernehmen) gleichermaßen wie Männer über den gesamten Lebenslauf erwerbstätig sind, immer größer wird. „Work & care“ war jedoch über lange Zeit ein Phänomen, dem wenig Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit und auf politischer Ebene gewidmet wurde.

Iren Bischofberger hat allerdings schon vor vielen Jahren begonnen, ihren Forschungsfokus auf dieses Phänomen und die Personen, die in diesen Lebensarrangements eingebunden sind, zu richten. Damit hat sie fast visionär ein Thema systematisch bearbeitet, das sich heute als ein zentrales gesellschafts- und gesundheitspolitisches manifestiert. In diesem Zusammenhang ist es bemerkenswert, dass die Fertigstellung der Habilitationsschrift (die diesem Buch zugrunde liegt), nach 15-jähriger Arbeit zusammen mit dem Inkrafttreten eines Gesetzes fällt, das in der Schweiz einen Aufbruch signalisiert – dem „Bundesgesetz über die Verbesserung der Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Angehörigenbetreuung“.

Auf den ersten Blick betrachtet könnte man sich aber fragen, wo bei diesem Thema der pflegewissenschaftliche Fokus, das originär Pflegewissenschaftliche ist. Könnte „work & care“ nicht genauso aus der Perspektive der sozialen Arbeit oder aus einer Public Health Perspektive bearbeitet werden? Und man könnte die Frage stellen, warum eine Pflegewissenschafterin wie Iren Bischofberger sich einem solchen Thema verschreibt, wo es doch vielleicht Thematiken gäbe, die noch viel deutlicher und eindeutiger der Pflegewissenschaft zugeschrieben werden können. Aber genau das ist ja auch einer der Verdienste der Autorin mit ihrem Werk: Sie zeigt, dass es wichtig ist, größere Themen des Gesundheitswesens, die man eben nicht direkt der Pflegewissenschaft zuschreibt, aus dieser Perspektive zu bearbeiten. Pflegewissenschaft darf/kann und muss sich auch solchen Themen widmen. Kann, weil in einem Gebiet, das eine Schnittstelle darstellt, die Pflegewissenschaft genauso wie andere Disziplinen berechtigt ist, dies wissenschaftlich zu beleuchten. Muss, weil wir in der Pflegewissenshaft auch damit beginnen müssen, uns in Thematiken, die allgemeine gesundheitspolitische Fragen betreffen, zu positionieren, diese aktiv zu bearbeiten. Damit kann unter anderem auch der Beitrag der Pflege im Gesundheitswesen über klassische Kernaufgaben hinaus aufgezeigt bzw. diese auch dort eingebracht werden, wo man sie auf den ersten Blick nicht vermuten würde.

Iren Bischofberger gelingt es mit ihrem Werk sowohl die Breite und Komplexität der Thematik und die vielen Schnittstellen in diesem Feld aufzuzeigen als auch die spezielle Bedeutung für die Pflege und die Pflegewissenschaft herauszuarbeiten. Damit leistet sie nicht nur inhaltlich einen wesentlichen Beitrag zu einem sehr aktuellen Thema, sondern |10|sie positioniert die professionelle Pflege im Feld der gesundheits- und gesellschaftspolitischen Diskurse und zeigt damit auch ihre Wirkungsmacht auf.

Die Arbeit ist aus vielerlei Gründen lesenswert, und ich wünsche Ihnen, die dieses Buch in den Händen halten, dass sie durch die Lektüre interessante Einblicke in das Feld „work & care“ gewinnen können, die Ihre Perspektive auf das Thema genauso erweitert wie meine, als ich zum ersten Mal die Habilitationsschrift lesen durfte.

Prof. Dr. Hanna Mayer

|11|Vorwort zur 15-jährigen Reise

Dieses Buch integriert Erkenntnisse von 15 Jahren Forschungsarbeit und Praxisentwicklung zum Thema „work & care“ – das Mit- und Nebeneinander von Erwerbstätigkeit und der Pflege von Nahestehenden. Ausgangspunkt war, dass die Querschnittsthematik der erwerbstätigen, pflegenden Angehörigen zwar inmitten eines ausgeprägten Schnittmengenfeldes liegt, aber aus der Optik der unterschiedlichen Akteure – sie werden später in den drei Handlungsfeldern Arbeitswelt, Gesellschaft und Gesundheitsversorgung ausdifferenziert – haben die erwerbstätigen Angehörigen eben eine randständige Position.

In meiner akademischen und klinischen Laufbahn waren die erwerbstätigen Angehörigen ein blinder Fleck: Im betrieblichen Gesundheitsmanagement (meinem ersten MSc Abschluss) galt die vorrangige Aufmerksamkeit den Mitarbeitenden. In der Pflegewissenschaft (meinem zweiten MSc Abschluss) wurde das Erwerbsleben der pflegenden Angehörigen ausgeblendet. Zudem: Die Angehörigen sind unbezahlt und unsichtbar – warum also darüber nachdenken, forschen, ausbilden und handeln?

Auf der Suche nach Antworten startete die Reise im Jahr 2006 mit dem ersten Antrag für ein Forschungsprojekt „work & care – die Arbeitgebenden- und Arbeitnehmendensicht“. Es wurde im Jahr 2007 vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) gefördert. Dieses und zahlreiche weitere Projekte zielten darauf ab, das wissenschaftliche Interesse mit dem versorgungspraktischen Handlungsbedarf zu verbinden und datengestütztes Arbeiten zu ermöglichen. Auch Fachstellen für Gleichstellung, insbesondere das Eidgenössische Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann, finanzierten mehrere „work & care“-Projekte und förderten so die Sensibilität in Betrieben, bei Mitarbeitenden und Vorgesetzten. Dass die erwerbstätigen Angehörigen – wie sich in betrieblichen Umfragen zeigte – kein Randphänomen sind, war nicht ganz unerwartet in Anbetracht der demografischen, genderbezogenen und epidemiologischen Trends sowie den Auswirkungen des medizinischen Fortschritts, der das Leben mit Gesundheitseinschränkungen verlängern kann. Mit diesem verschränkten forschungs- und praxisorientierten Ansatz fand das Thema unerwartet rasch Gehör bei Behörden und Politik, in der Unternehmenswelt sowie den Publikumsmedien und damit einer breiteren Öffentlichkeit.

Was aber weiterhin fehlte, war die Sichtweise der Gesundheitswelt – also mein eigenes berufliches und akademisches Terrain. Dazu möchte dieses Buch ganz besonders beitragen. Es soll aus einer breiten Optik – geschärft auch durch meine pflegewissenschaftliche Ausbildung – die Bedeutung für Leistungserbringer, Kostenträger und Behörden aufzeigen, damit erwerbstätige, pflegende Angehörige ihrer privaten Sorgearbeit bei guter Gesundheit und der nötigen Aufmerksamkeit nachgehen können.

Dieser breite Blick auf „work & care“ charakterisiert den Aufbau dieses Buches. Es umfasst im Dreieck „Empirie – Theorie – Praxis“ sowohl konzeptionelle, datengestützte als auch praxisreflektierende Kapitel. Entsprechend setzt es auch auf verschiedenen Ebenen an – der Wissenschaft, der Politik sowie in Betrieben, Orga|12|nisationen und ebenso bei den erwerbstätigen, pflegenden Angehörigen. Damit sollen nicht nur erwerbstätige Angehörige mehr Aufmerksamkeit erhalten, sondern „work & care“ soll insgesamt eine Schubwirkung für eine angehörigenfreundliche Gesundheitsversorgung erzielen.

Förderlich für den „work & care“-Diskurs und das entsprechende Forschungs- und Entwicklungsprogramm waren der konsequent interdisziplinäre Blick des langjährigen Programmteams auf das Thema, ausgehend von der Pflegewissenschaft mit der Soziologie, Anthropologie, Gesundheitswissenschaft, sowie zusätzlich außerhalb des engeren Teams zusammen mit Kolleg:innen der Volkswirtschaft, Betriebswirtschaft und dem Sozialversicherungsrecht. Insofern verfolgte die Forschungsgruppe ein ausgesprochen querschnittiges Thema und schließt damit an einen bereits langjährigen internationalen und interdisziplinären Diskurs zu „work & care“ an. Dieses Buch soll in diesem Horizont den Forschungsgegenstand aus der pflegewissenschaftlichen Optik heraus beleuchten und Erkenntnisse für die Weiterentwicklung dieser im deutschsprachigen Raum noch jungen Disziplin liefern.

Während dieser 15-jährigen Reise mit einem äußerst dichten Arbeitsprogramm im Auf- und Ausbau des Departements Gesundheit der Kalaidos Fachhochschule Schweiz – der heutigen Careum Hochschule Gesundheit – und damit verbundenen Qualifizierungs-, Forschungs-, Struktur- und Gremienaufgaben standen wissenschaftliche Publikationen allzu oft hinten an. Gleichzeitig waren diese Jahre verbunden mit vielfältigen Entwicklungsmöglichkeiten. Deshalb war die Zeit für das Buch – und damit auch die Habilitation an der Universität Wien – reif, um die Diskurse aufzuarbeiten und darzulegen. Die COVID-19-Pandemie erlaubte unerwartet mehr Schreibzeit dank ersparter Pendelzeit. Im Denk- und Schreibprozess war Prof. Dr. Uli Otto als langjähriger und innovativer Kollege ein wichtiger Sparring Partner, wofür ich ihm herzlich danke.

Ein besonderer Dank gilt der Organisation profawo für die finanzielle Unterstützung dieses Werkes.

PD Dr. Iren Bischofberger

Herbst 2022

|13|1  Gesellschaftliche Bedeutung

|15|„While the case manager’s job is to coordinate services, a family caregiver’s job is to coordinate life.“ (Levine, 2014, S. 15)

Das Begriffspaar „work & care“ ist die Kurzform für das Neben- und Miteinander von Erwerbsarbeit und privater Sorgearbeit von pflegenden Angehörigen für ihre gesundheitseingeschränkten Nächsten – gerahmt von demografischen, gesellschaftlichen, versorgungspolitischen und gesundheitsbezogenen Entwicklungen. Dabei gerät der seit Jahrzehnten als selbstverständlich geltende „größte Pflegedienst der Nation“ – d. h. die betreuenden und pflegenden Angehörigen – mitten in die Schnittmenge von Megatrends in der Arbeitswelt, Gesellschaft, Gesundheits- und v. a. der Langzeitversorgung. In dieser Schnittmenge kulminieren sich die Herausforderungen für die rund 407 000 erwerbstätigen Angehörigen in der Schweiz (Otto et al., 2019, S. 20): In einer modernen, individualisierten Welt brechen die pflegenden Angehörigen die ihnen traditionell zugesprochenen Rollen auf und provozieren dadurch Friktionen sowohl im Erwerbs- als auch im Privatleben und letztlich auch in ihrer gesellschaftlichen Positionierung. Diese Friktionen bedeuten allerdings nicht, dass die Angehörigen ihre Hilfepotenziale entscheidend reduzieren, denn familiale Verantwortung und Verbindlichkeit dauern durchaus auch bei Erwerbstätigkeit und hohem Hilfe- und Pflegebedarf ihrer Nächsten an, wie Studien der letzten Jahrzehnte aus dem Ausland (Tennstedt et al., 1993; Verbakel et al., 2017) und der Schweiz (Bischofberger & Höglinger, 2008; Otto et al., 2019) aufzeigen.

Die Hilfearrangements verändern sich allerdings für die erwerbstätigen Angehörigen aufgrund ihres in der Regel engeren Zeitkorsetts. Dabei gilt es angesichts gesellschaftlicher, arbeitsmarktlicher und gesundheitspolitischer Umwälzungen, Friktionen zu überbrücken. Dies wird zur zentralen Aufgabe für alle beteiligten Akteure, damit die Berufs- und Privatwelt nicht nur kombiniert werden, sondern dass tatsächlich eine Vereinbarkeit entstehen kann. Konkret heißt dies, dass die Erwerbsarbeit und die private Sorgearbeit nicht (mehr) voneinander getrennt sind, sondern sich Interaktionen ergeben, die befruchtend oder bereichernd sein können, aber auch Spannungen standhalten müssen, für die es oft keine standardisierten Lösungen gibt. Dies illustriert das in der „work & care“-Literatur immer wieder verwendete Bild, dass gleichzeitig (zu) viele Bälle in der Luft sind (Phillips et al., 2002, S. 30). So kommt das Jonglieren deshalb einer Orchestrierung gleich, die zwar Übung verlangt, aber für alle beteiligten Akteure auch Kompetenzen ermöglicht – bis hin zu Befriedigung –, wenn dies gelingt.

Vor diesem Hintergrund ist eine Reihe von Megatrends in der Schweiz und international für erwerbstätige pflegende Angehörige maßgeblich, die auf diese Orchestrierung einwirken. Die Pflegewissenschaft spielt bisher bei diesem Schnittstellenthema erstaunlicherweise kaum mit, auch wenn familienzentrierte Pflege seit vielen Jahren intensiv Gegenstand von Forschung bzw. Entwicklung ist, exemplarisch dazu Harvath et al. (2020) oder „International Family Nursing Association“ (2022). Eine Ausnahme gibt es: Wenn Pflegefachpersonen im Beruf engagiert und parallel dazu in einer Doppelrolle selbst pflegende Angehörige sind, sog. „Double-Duty Caregiving“ (Ward-Griffin, 2004) (Kap. 6.2.1). Die Bedeutung von erwerbs|16|tätigen Angehörigen drängt sich allerdings weit über diese professionsinterne Optik hinaus auf, denn so das Bundesamt für Gesundheit: „Angesichts der demografischen Alterung sind die Diskussionen um tragfähige politische Maßnahmen für erwerbstätige, betreuende Angehörige kein gesellschaftspolitischer Luxus, sondern vielmehr eine Notwendigkeit“ (Spycher, 2019, S. 3). Dies wird in diesem Werk kontinuierlich aufgezeigt, in den Zwischenfazits verdichtet und im abschließenden Kapitel 7 in einen Handlungs- und Innovationsbedarf in der Pflegewissenschaft präzisiert. Dabei wird „work & care“ stets mit einem ausgesprochen querschnittigen Blick betrachtet. Eine frühe Darstellung im Diskurs in der Schweiz zeigt die Abbildung 1-1 auf und illustriert gleichzeitig die verschiedenen gewichtigen Einflussfaktoren auf die Schnittmenge „work & care“ (Bischofberger, 2012). Diese Faktoren werden in der Tiefe geschärft und in der Breite weiter ausgelotet.

Abbildung 1-1:  Zentrale Handlungsfelder für die Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Angehörigenpflege (Bischofberger, 2012, S. 6). Nutzung der Graphik mit freundlicher Genehmigung des Bundesamtes für Sozialversicherungen, Herausgeber der Zeitschrift.

Einige Einflussfaktoren – das sei gleich zu Beginn selbstkritisch reflektiert – finden sich in der Abbildung noch nicht, sind aber für die gelingende Vereinbarkeit essenziell wichtig: die sozialen Sicherungssysteme sowohl für die betreuenden und pflegenden Angehörigen wie auch für ihre Nahestehenden (Stutz et al., 2019). Sie bilden einen ganz wesentlichen Rahmen um das Kreismodell herum. Ein anderer Einflussfaktor sind moderne Wohn-Pflege-Konzepte, die erwerbstätigen Angehörigen die Gewissheit vermitteln, dass ihre Nahestehenden wohlauf sind, während sie der Erwerbsarbeit nachgehen (Ministerium für Arbeit, Soziales und Gesundheit des Landes Schleswig-Holstein, 2010). Aus pflegewissenschaftlicher Sicht ist damit angedeutet, dass sowohl die inter- und transdisziplinäre Betrachtungsweise in der Wissenschaft als auch die versorgungspraktische auf Umsetzung ausgerichtete Perspektive unerlässlich sind, um das gesamte Bild von „work & care“ zu überblicken.

|17|1.1  Megatrends zu erwerbstätigen, pflegenden Angehörigen

Die Reihenfolge der hier aufgeschlagenen Megatrends – Arbeitswelt, Gesellschaft und Gesundheits- und Langzeitversorgung – entspringt der historischen Entwicklung des Diskurses, der vor fast 30 Jahren in der Arbeitswelt begann: 1994 wurde eine US-amerikanische Forschungsagenda zu „work and eldercare research“ publiziert (Tennstedt & Gonyea, 1994), wenig später folgte ein europäischer Bericht für Fachpublikum und Regierungen (Phillips, 1996). In beiden Publikationen waren noch kaum Berührungspunkte zur Gesundheitswelt erkennbar. Denn erst auf dem Umweg des gesellschaftlichen Megatrends des langen Lebens und der geographisch immer weiter verstreut lebenden Familien wird deutlich, wie die verästelten Herausforderungen und Betreuungsanforderungen in die Gesundheitswelt hineinreichen – vor allem, wenn die vermeintlich unerschöpflichen Ressourcen der pflegenden Angehörigen knapper werden. Dies gilt noch stärker, wenn die Angehörigen erwerbstätig und somit oft nicht vor Ort bei ihren Nahestehenden anwesend sind bzw. sein können. Dadurch sind sie auch kaum sichtbar, und ihre Position ist im Blickfeld der Professionen und Institutionen kaum konturiert. Dies auszuleuchten und für die Pflegewissenschaft sichtbar zu machen ist ein zentrales Ziel dieses Buches.

Megatrends entstehen einerseits durch ihre außerordentlich große Bedeutung für zumeist mehrere gesellschaftliche Bereiche, andererseits, weil sie oft weltweit bedeutsam sind. Im Folgenden werden sie zwar vorrangig anhand von Schweizer Ausprägungen und Daten erörtert, aber auch um internationale Belege erweitert, um das globale Phänomen zu verdeutlichen. Schon die Eröffnung des Argumentationsbogens dieser Arbeit über sektorenübergreifende Megatrends legt dabei eine Spur, die sich durchziehen wird. Es mutet nur auf den ersten Blick paradox an. Das Interesse an einer Profilierung und Weiterentwicklung der Pflegewissenschaft wird explizit nicht eng mit Bezug auf die eigene Fachcommunity geführt. Stattdessen werden immer wieder multiperspektivisch vielfache Verortungen abgesteckt: mit Blick auf die Gesellschaft intersektoral, mit Blick auf die Professionen interprofessionell und mit Blick auf die wissenschaftlichen Fächer interdisziplinär.

1.1.1  Arbeitswelt: Erwerbspartizipation, Feminisierung, Globalisierung

Die Situation der Erwerbspartizipation und gleichzeitig des Fachkräftemangels ist sowohl international als auch national einer der wichtigsten Bezugspunkte, an denen das steigende Interesse an der Vereinbarkeit von „work & care“ sich festmacht. Der noch junge EU-Prozess zur Erstellung eines „Green Papers on Ageing“ zeigt dies paradigmatisch, indem an zentraler Stelle unter der Überschrift „Bringing more people into the workforce“ die Vereinbarkeitsthematik verortet wird:

„Recent data show that 5,4 % of women (and 2,2 % of men) aged 18–64 have reduced their working time, or have taken employment breaks of more than a month to care for ill and/or older relatives with disabilities. Better availability of quality childcare, formal long-term care and support for informal carers would not only help to meet the increasing needs of older people, but also enable more workers – in particular women – to enter and remain in the labour market“ (European Commission, 2021, S. 6).

Der Fachkräftemangel akzentuiert sich angesichts des demografischen Wandels – insbesondere der Generation der Babyboomer, die in Rente gehen – und auch, weil gleichzeitig die Zahl von Personen mit niedriger oder keiner Erwerbstätigkeit nur wenig sinkt (ältere Mitarbeitende, Frauen, Teilzeitarbeitende) (Avendano & Cylus, 2019; Bundesamt für Statistik, 2019d). Im Kontext von „work & care“ ist die Erwerbspartizipation von jenen Personen besonders re|18|levant, bei denen zwei Merkmale zusammenkommen: altersbezogen die über 50-Jährigen im Erwerbsalter (Kaiser et al., 2020) und die Frauen (Bundesamt für Statistik, 2020g, 2020i; Naldini et al., 2016).

In der Schweiz stieg die Erwerbspartizipation der über 50-Jährigen in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich an, was v. a. auf die höhere Zahl von Frauen im Arbeitsmarkt zurückzuführen ist. Bei den Männern ging die Erwerbsquote hingegen leicht zurück. Diese insgesamt steigende Erwerbspartizipation über dem Alter von 50 Jahren dürfte sich laut Prognosen weiter verstärken. Mehr noch: Das Erwerbspotenzial und ein längerer Verbleib im Arbeitsmarkt sollen durch entsprechende Maßnahmen gefördert werden, z. B. die Wiedereingliederung von älteren Arbeitslosen, v. a. ab dem Alter von 60 Jahren. Diese Prognose bestätigt eine frühere Studie zur Arbeitsfähigkeit und Integration älterer Arbeitskräfte: Vorrangig Frauen jeglichen Alters und ältere Männer im Erwerbsalter werden als Reserve des Arbeitsmarktes verstanden (Egger et al., 2008). Spezifisch Frauen wurden vor wenigen Jahren durch eine breite Allianz von Schweizer Arbeitgeberverbänden und Politik zur „Vereinbarkeit von Beruf und Familie“ besonders angesprochen (Schweizerischer Arbeitgeberverband, 2019a). Allerdings und wie längst bekannt: Beide Gruppen sind national und international bereits heute oft in die Sorgearbeit ihrer Nächsten mit Gesundheitsbeeinträchtigungen eingebunden (OECD, 2013; Otto et al., 2019). Deshalb ist die Ausschöpfung nicht auf das bestehende Rentenalter begrenzt, sondern stellt eben dieses in Frage. Angesichts der Tatsache, dass Frauen mit dem Ruhestandsbeginn ihre Care-Aktivitäten signifikant erhöhen (Fischer & Müller, 2019), zeigt sich hier ein gesellschaftlicher Zielkonflikt mit großer Tragweite.

Die Erwerbspartizipation von Frauen in der mittleren und späteren Erwerbsphase steht im „work & care“-Kontext bereits seit Jahrzehnten im Fokus von Studien zur Arbeitsmarktpartizipation (Barnes et al., 1995; Brody & Schoonover, 1986; Dautzenberg et al., 2000; Kohler et al., 2012; Martire & Stephens, 2003). Teils werden auch spezifisch Männer in der Vereinbarkeitsrolle thematisiert (Auth et al., 2016; Lüdecke & Mnich, 2009), v. a. wenn sie ihre Ehefrauen betreuen, alleinstehend sind, oder wenn die Pflege- und Betreuungsarbeiten breit gefasst werden und somit auch Organisations- und Administrationsarbeiten einschließen. Der Blick spezifisch auf die Partizipation von Frauen am Arbeitsmarkt in der Schweiz und vergleichbar auch in Europa (European Commission, 2019a) zeigt, dass der Anstieg zwischen 2010 und 2019 bei drei Gruppen am stärksten war (Bundesamt für Statistik, 2020c, S. 1): Frauen mit höherer Bildung, Frauen zwischen 55 und 64 Jahren sowie Frauen mit dem jüngsten Kind unter sieben Jahren. Just diese drei Gruppen von Frauen sind auch mit besonderen Herausforderungen im „work & care“-Kontext konfrontiert. Sie müssen zum einen Fragen der Opportunitätskosten klären, falls sie die Erwerbstätigkeit mit höherer Bildung und der Unterstützung für ihre Nächsten abwägen bzw. dazu aufgrund des Zeitkonflikts und der nicht gelingenden Vereinbarkeit allenfalls das Erwerbspensum reduzieren und/oder ihre (Führungs-)Funktion einbüßen. Zum anderen ist die Wahrscheinlichkeit mit 59 Jahren am höchsten, dass die Unterstützung von pflegebedürftigen Nahestehenden nötig wird (Otto et al., 2019, S. 20). In diesem Alterssegment wird auch die Sandwich-Position wegen des stetig steigenden Alters bei der Geburt des ersten Kindes immer wahrscheinlicher (Oulevey Bachmann et al., 2013), die Konstellation also, dass Sorgeverpflichtungen sowohl für die eigenen Kinder wie für Personen aus der Elterngeneration zusammenfallen. Im Jahr 2020 betrug in der Schweiz das Durchschnittsalter von Müttern bei der Geburt des ersten Kindes 32,2 Jahre; zum Vergleich im Jahr 1971: 27,7 Jahre (Bundesamt für Statistik, 2020j). Hier wird jedoch das Zusammentreffen von steigender Erwerbspartizipation der älteren Arbeitskräfte und der Frauen im Hinblick auf die Regelaltersgrenze noch weitge|19|hend ausgeblendet (Avendano & Cylus, 2019) und damit verbunden auch die Rolle der pflegenden Angehörigen. Vergessen geht damit, dass die erwerbstätigen Angehörigen just in der Zeit länger im Erwerbsleben sein müssten, in der die vorangehende Generation hochaltrig über 85 Jahre alt wird und somit das Leben mit Gebrechlichkeit und Frailty brüchig werden kann – in einer Gesellschaft mit bereits hoher Lebenserwartung. Die sog. „fernere Lebenserwartung“ im Alter von 65 Jahren beträgt im Jahr 2020 beispielsweise in der Schweiz bei Frauen 22,2 Jahre und bei Männern 19,3 Jahre (Bundesamt für Statistik, 2020k).

In der Arbeitswelt spielt schließlich auch die steigende Globalisierung eine zentrale Rolle für die Vereinbarkeit und damit eine mögliche Entkoppelung von Arbeitsort und Betrieb – verstärkt noch durch die rasch zunehmende Digitalisierung. Die Mobilität von Erwerbstätigen war zwar in der Schweiz bereits früher in der (Industrie-)Geschichte omnipräsent, sowohl von der Schweiz ins Ausland als auch vom Ausland in die Schweiz. Ersteres war z. B. im Textilhandel typisch bei ausgedehnten interkontinentalen Reisen (z. B. nach Asien). Letzteres war besonders geschichtsträchtig beim Gotthard Tunnelbau, als Fachkräfte v. a. aus Deutschland und Italien in der Schweiz arbeiteten. Diese Dynamik nahm nach dem zweiten Weltkrieg im Zuge der Globalisierung von Berufslaufbahnen im Dienstleistungssektor, der Personenfreizügigkeit in Europa, dem Ausbau der Reisemöglichkeiten sowie der gesellschaftlich erwünschten Auslandserfahrung stark zu, sei es für einen dauerhaften Aufenthalt in einem anderen Land oder der vorübergehenden Entsendung innerhalb von Staaten, aber v. a. über Landes- und Kontinentalgrenzen hinweg (Bundesamt für Statistik, 2020b; International Labour Organization, 2019). Die mit dieser Erwerbsmobilität einhergehende geografische Distanz zu kranken, beeinträchtigten oder hochaltrigen Nahestehenden kann die Erwerbstätigkeit erheblich herausfordern und einen Zeit-Ort-Konflikt hervorrufen. Aber: Diese Thematisierung gemäß dem Muster „zunehmende räumliche Distanz führt zur Nicht-Übernahme informeller Unterstützungsrollen und damit allenfalls zugleich zu einem erhöhten Bedarf an (stationärer) Langzeitpflege“ hat sich keinesfalls erledigt. Das „Green Paper on Ageing“-Dokument der Europäischen Kommission bringt es auf den Punkt:

„The number of people potentially in need of long-term care is expected to increase from 19,5 million in 2016 to 23,6 million in 2030 and 30.5 million in 2050 in the EU-27. Relying on informal carers is no more sustainable, as help from family members is increasingly difficult to ensure, with families having fewer children, living further apart, and women participating more in the labour market“ (European Commission, 2021, S. 16).

Daraus sind zwei Phänomene entstanden, zu denen inzwischen im Kontext von „work & care“ ein Diskurs stattfindet:

Distance Caregiving, d. h. Angehörige leisten Sorgearbeit für ihre Nächsten über geografische Distanz mittels digitaler Kommunikationswege und assistiven Technologien, was im deutschsprachigen Raum erst in jüngeren Jahren, im anglophonen Raum aber bereits seit längerem diskutiert wird (Benefield & Beck, 2007; Franke et al., 2019a) (Kap. 6.4).

Care Migration, d. h. vor Ort im Haushalt der Nahestehenden lebt eine Betreuungsperson, im Schweizer Kontext meistens aus Osteuropa, welche oft im Haushalt wohnt und für anfallende (Betreuungs-)Arbeiten angestellt ist. Diese sog. Pendelmigrantinnen – es sind praktisch ausschließlich Frauen – und Live-Ins ersetzen oder ergänzen die erwerbstätigen, international mobilen Angehörigen. Diese Diskussion wurde in der Schweiz v. a. im Zuge der Personenfreizügigkeit mit der erweiterten Europäischen Union vermehrt sichtbar und diskutiert (van Holten et al., 2013). Auch in den Nachbarländern Deutschland und Österreich sind ähnliche Themenkonjunkturen – bei jeweils unterschiedlichen Maßnahmenausprägun|20|gen – seit mehr als zehn Jahren zu verzeichnen (Gendera & Haidinger, 2007; Metz-Göckel et al., 2010).

Abschließend zur Arbeitswelt und vorwegnehmend zum nächsten Megatrend in der Gesellschaft, u. a. des Alterns, sei hier nochmals die Babyboomer-Generation angesprochen. Bereits vor drei Jahrzehnten wurde ihre Bedeutung zu „work & care“ betont (Friedman & Galinsky, 1992). Sie sind in ihrer fortgeschrittenen Berufslaufbahn vom Unterstützungsbedarf ihrer Nächsten eher betroffen, haben aber wegen ihrer Erwerbsphase auch häufiger eine Führungsposition inne im Vergleich zu Beschäftigten in einer früheren Erwerbsphase mit kleinen Kindern. Deshalb ist es wahrscheinlicher, dass die obere Führungsebene aufmerksamer ist zu „work & care“ – so die Annahme der damaligen Autorinnen. Voraussetzung dafür ist – so die Erkenntnisse in der heutigen Arbeitswelt –, dass in der Betriebskultur eine Auseinandersetzung mit Krankheit oder Beeinträchtigung im Familienleben und damit den Unzulänglichkeiten im Lebensverlauf, stattfinden kann (Kramer et al., 2019; Nobel et al., 2017).

1.1.2  Gesellschaft: Alterung, Digitalisierung, Diversität

Älterwerden heute ist sowohl durch Kontinuitäten als auch durch Veränderungen bzw. neuere Entwicklungen gekennzeichnet. Die Gesellschaft des langen Lebens bedeutet eine doppelte Alterung: Es betrifft immer mehr Menschen, die zugleich immer älter werden. Der demografische Alterungsprozess schreitet von seinem bereits hohen Niveau weiter rasch voran. Waren in der Schweiz im Jahr 2019 noch 61,4 % im Erwerbsalter zwischen 20 und 64 Jahren, so werden es 2040 nur noch rund 55 % sein. Dagegen wird der Anteil der ab 65-jährigen Menschen von 18,7 % auf über 25 % steigen (Statista, 2020). Sowohl das Durchschnittsalter der Bevölkerung als auch die Lebenserwartung und die fernere Lebenserwartung steigen weiter deutlich. Die gesellschaftliche doppelte Alterung wird häufig aufgrund steigender Gesundheitskosten im Alter und der Schere zwischen der Anzahl Menschen im Erwerbs- bzw. Rentenalter vorrangig als mehrfacher Belastungsprozess interpretiert und damit ein problemorientiertes Altersbild kommuniziert. Allerdings wird in wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Debatten diese einseitige Optik immer stärker kritisiert. Denn ein stärker werdender Diskurs weist explizit auf die Produktivität des Alters hin, v. a. auf das hohe gesellschaftliche Engagement der Babyboomer-Generation sowie der „Jungen Alten“, die gerade in punkto Angehörigenbetreuung sehr bedeutsam sind (Pichler, 2020). Gleichzeitig zum schnellen demografischen Wandel schreitet auch der soziale Wandel voran – beide Entwicklungen verstärken sich teilweise gegenseitig in ihren Wirkungen. Dies führt dazu, dass es für größere Gruppen bereits zu entscheidenden Änderungen in der Zyklizität des Lebenslaufs kommt, wenn bspw. aufgrund der Langlebigkeit – illustriert an den „Jahrhundertmenschen“ (Snozzi, 2016) – die Lebenszeit mit Eltern mit Hilfebedarf länger ist als diejenige mit minderjährigen Kindern. Seit langer Zeit vollzieht sich ein nachhaltiger gesellschaftlicher Wandel des Altersbilds und macht neuen Werthaltungen im Kontext des Alterns Platz (Kolland & Meier Schweizer, 2012). Zudem ist steigende Mobilität ebenfalls ein zentrales Merkmal des 21. Jahrhunderts (Zukunftsinstitut GmbH, 2018). Nationale und internationale Wohn- und Arbeitsmobilität nehmen zu und private Beziehungen müssen dann nicht selten auch über geografische Distanzen gepflegt werden (Engstler & Huxhold, 2010) – dies hat die Corona-Pandemie besonders deutlich vor Augen geführt, aber mit weniger und nicht mit mehr physischer Mobilität.

Nicht zuletzt unter dem Eindruck des WHO-Berichts zu Altern und Gesundheit (World Health Organization, 2015b) sowie der UN „Decade for Healthy Ageing“ bildet sich seit ei|21|nigen Jahren in vielen Ländern und auf der transnationalen Bühne ein starker Diskurs zum gesunden Altern heraus (World Health Organization, 2020). Merkmale sind der life-course approach, people-centeredness und eine Schwerpunktsetzung nicht (mehr) vorrangig auf physisch-funktionale Gesundheit, sondern auf Lebensqualität und Wohlbefinden. Eine Initiative der EU im Sinne des oben genannten „Green Papers“ nimmt diese Referenzen umfänglich auf, erweitert sie aber noch und unterstreicht damit nachdrücklich, welches Gewicht sie dem demografischen Wandel zumisst:

„The purpose of this green paper is to launch a broad policy debate on ageing to discuss options on how to anticipate and respond to the challenges and opportunities it brings, notably taking into account the UN 2030 Agenda for Sustainable Development and UN Decade for Healthy Ageing“ (European Commission, 2021, S. 2).

Es gibt andererseits auch eine Reihe eher stabiler Kennzeichen der alternden Gesellschaft, die in diesem Kontext ebenso bedeutsam sind wie die Veränderungen. Eine davon ist die große Bedeutung des eigenen bzw. privaten Wohnraums für Menschen der gesamten Alternsphase, auch wenn damit unter Umständen erhebliche Einschränkungen für die betroffenen Menschen verbunden sind, denen mit Digitalisierungsbestrebungen begegnet wird (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2020). An den deutlich anwachsenden gesellschaftlichen Rändern aber wächst die freiwillige und erzwungene Wohnmobilität und erodieren für größer werdende Bevölkerungsteile die nahräumlichen Verwandtschaftsnetze. Die mit der außerordentlich stabil hohen Wohnzufriedenheit (international) einhergehende Orientierung an Ageing-in-Place hat nicht zuletzt vor diesen Hintergründen starke Auswirkungen auf erwerbstätige Angehörige (Starr & Szebehely, 2017). Zudem bleiben verwandtschaftliche soziale Netzwerke sehr stabil, ebenso wie diejenigen der Ehe- bzw. Partnerbeziehung und ihre Bedeutung für Gesundheit und Wohlbefinden im höheren Alter. Dies gilt trotz hoher Scheidungsraten, denn daraus resultiert eher eine Multiplikation der Stammbäume als eine deutliche Reduktion der Hilfsbereitschaft (Otto et al., 2019; Tennstedt et al., 1993). Allerdings ist dies eine Argumentation, die zwar noch deutliche Mehrheiten betrifft, neben der sich aber immer mehr relevante Minderheiten herauskristallisieren. Für sie zählen diese Kontinuitäten zugleich nicht mehr, denn die vielfältigen Wahlverwandtschaften oder Gemeinschaftslebens- und Wohnformen haben sich (noch) nicht stabil oder tiefenwirksam genug etabliert.

Die Gesellschaft wird aber keineswegs nur immer grauer, sondern zugleich immer bunter: Es ist eine zunehmend diverse Gesellschaft, in der bspw. in der Schweiz 25 % der ständigen Wohnbevölkerung eine ausländische Nationalität hat (Bundesamt für Statistik, 2020e, S. 18). Die Familienstrukturen haben bei In- und Ausländern häufiger den Typus der Bohnenstangenfamilie, in der der Anteil und die Vielfalt der Patchwork-Familien ebenso zunimmt wie die Zerstreuung der Familien über den Erdball (Schweizerischer Bundesrat, 2017). Erhöhte Diversität kommt dabei zusammen mit sich weiter verstärkenden Individualisierungsprozessen. Eine Ausprägung davon ist die zwar stabile, aber doch beachtliche Rate der Einpersonenhaushalte. Zum Beispiel lebten im Jahr 2020 in der Schweiz in den rund 3.9 Privathaushalten in 36,4 % eine Person (Bundesamt für Statistik, 2020l). All diese Phänomene bedeuten verstärktes Aushandeln und aufgrund der veränderten sozialen Nahbeziehungen auch neue Netzwerkbildung für die vor Ort nötigen Arbeiten bei den pflegebedürftigen Nächsten. Und sie werfen teilweise die Frage auf, ob verlässliche und auch langandauernde Unterstützungs- und Betreuungsverhältnisse auf der Grundlage dieser Beziehungsmuster künftig ausreichend zustande kommen.

Diedigitale Transformation verändert schon heute – und künftig immer stärker – die meisten der in diesem Buch thematisierten Daseinsbereiche: Älterwerden, Gesundheitsaspekte, Un|22|terstützung, Betreuung und Pflege oder Wohnverhältnisse. Digitalisierung bezieht sich immer auf die doppelte Perspektive einer technisch-assistiven sowie einer gesellschaftlich-sozialen Seite. Die zentrale Frage ist, wie die digitalen Techniken und Anwendungen im alltäglichen Leben integriert, angeeignet und angewendet werden – und damit transformieren. Ein Blick zurück zeigt: Zum demografischen Wandel und der darin besonders bedeutsamen Zielgruppe der älteren Menschen liefen die Diskurse rund um Technik, besonders der informationsbezogenen Technik, eher unter den Begrifflichkeiten Ambient Assisted Living oder Gerotechnologie bzw. Gerontec (Otto et al., 2015b). Die heute allgemein vorherrschende Rede von Digitalisierung war hier zumindest bisher nicht der Leitbegriff, auch wenn die meisten Entwicklungen, Anwendungen und Lösungswege auf digitalen Technologien aufbauten. Das Spektrum reicht von ferngesteuerten Gadgets im Haushalt über die bereits vor geraumer Zeit gestarteten Diskussionen zur Robotik bis hin zur virtuellen Unterstützung.

Die Digitalisierung betrifft auch diejenigen, die nicht „online“ sind, durch eine Reihe von Struktureffekten in besonderer Weise – und sei es dadurch, dass digitaler Zugang in immer mehr Lebensbereichen zur Referenz erklärt wird und sich damit für jene, die nicht „online“ sind, Teilhabemöglichkeiten stark einschränken. Angesprochen ist also die seit langer Zeit diskutierte Thematik der mehrfach verursachten sozialen Ungleichheit mit Blick auf die digitale Kluft in der Gesellschaft. Zur Ungleichheit mit Bezug auf technischen Zugang zu und faktischen Nutzung von digitalen Anwendungen liegen mittlerweile umfangreiche empirische Daten vor. Sie zeigen einerseits ein rasches Aufholen bei den älteren Menschen, andererseits eine weiterhin große Gruppe von „Offlinern“ (Seifert et al., 2020). Das oben genannte „Aufholen“ der älteren Menschen bezüglich der Nutzung digitaler Technologien ist keineswegs eine Einbahnstraße. Neuere Forschungen auf der Basis der repräsentativen internationalen SHARE (Survey of Health, Aging and Retirement in Europe)-Längsschnittdaten zeigen, dass es eine durchaus beträchtliche Zahl von älteren Menschen gibt, die aus verschiedenen Gründen auch wieder „Offliner“ werden (König & Seifert, 2020). Diese Befunde bedeuten, dass es keine sinnvolle Option sein kann, lediglich auf das vollständige „Aufholen“ der älteren Bevölkerungsgruppen zu setzen resp. dies zu beschleunigen. Eine aktuell zentrale Frage über diese digitale Kluft hinaus richtet sich darauf, inwieweit die technologisch bestehenden und am Markt verfügbaren digitalen Möglichkeiten „bei den Menschen ankommen“, v. a. auch bei den älteren und den hochaltrigen Menschen. Denn es ist eine „irritierende Ungleichzeitigkeit“ erkennbar zwischen weit fortgeschrittenen technologischen Produkten und Visionen und eklatanten Lücken bei der digitalen Basisinfrastruktur für ältere Menschen (z. B. Internetzugang in Pflegeheimen) (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 2020, S. 38).

Bezogen auf ältere Menschen wird bei diesen Trends deutlich, dass sie letztlich alle auch für betreuende Angehörige relevante Lebensbereiche substanziell tangieren: Wohnen, Mobilität, soziale Integration, resp. Einsamkeit, Gesundheitsversorgung, digitale Unterstützung für die Pflege sowie die Quartiers- und Sozialraumentwicklung (Kessl & Reutlinger, 2007). In Bezug auf soziale Integration sind z. B. soziale Bezugspersonen – und hier bei älteren Menschen insbesondere auch jüngere Netzwerkpartner – entscheidende Impulsgeber und Wegbereiter für alle Phasen: den Einstieg, die erfolgreiche Nutzung sowie das Dabeibleiben bei digitalen Nutzungen. Entsprechende Bezugspersonen können ebenso (ehemalige) Berufskolleg:innen oder Freund:innen, arrangierte oder moderierte Gruppen oder Selbsthilfegruppen sein, sehr häufig aber sind es eben auch Familienangehörige, teilweise aus der Kinder- oder Enkelgeneration (Seifert et al., 2020).

Angesichts dieser dynamischen gesellschaftlichen Transformationen wird das Leben mit |23|chronischer Krankheit in einem stabilisierenden Umfeld umso bedeutsamer – so das nächste Kapitel.

1.1.3  Gesundheitsversorgung: Chronifizierung, Medikalisierung, Ambulantisierung

Die Chronifizierung von Krankheiten und damit auch die Verlängerung der Zeit der rasant ansteigenden Zahl dieser Krankheiten bemisst sich daran, dass sie nach drei Monaten Verlauf potenziell dauerhaft werden oder zumindest eine längere Therapie- und allfällige Genesungsdauer nach sich ziehen (typisch bspw. muskuloskelettale Erkrankungen) (Bernell & Howard, 2016). Nach der OECD (2017) werden z. B. gemäß neueren Angaben demenzielle Erkrankungen in der Gesellschaft des hohen Alters zukünftig noch zunehmen, und die Prävalenz wird sich in den am schnellsten alternden Gesellschaftsschichten verdoppeln. Die längere Lebensdauer – auch mit dauerhaften Gesundheitsproblemen – ist eine Errungenschaft moderner Gesellschaften, und sie beschränkt sich nicht auf das hohe Lebensalter, denn auch Kinder mit chronischen Gesundheitsbeeinträchtigungen leben heute deutlich länger – durchaus bei guter Lebensqualität (z. B. Diabetes oder Asthma). Aber dies vermindert die Anstrengungen der Eltern nicht bei der Suche nach einem möglichst stabilen Alltag, denn die diagnostischen und therapeutischen Regimes ändern sich teils rasch und bedingen Anpassungsleistungen in Familie, Beruf, Schule und Freizeit. Die Chronifizierung ruft oft bereits im frühen Stadium Unterstützungsbedarfe hervor, bspw. für Edukation und Anleitung. Im fortgeschrittenen Stadium sind Supervisionsarbeit und Handreichungen bei besonders hohen Betreuungsbedarfen vorrangig, z. B. bei Menschen mit Demenz, mit kardiovaskulären Folgeschäden (z. B. Schlaganfall) oder mit progredienten Bewegungseinschränkungen. Mit diesem Fortschreiten steigt auch die Wahrscheinlichkeit von Multimorbidität und Fragilität (Moreau-Gruet, 2013) sowie das Risiko einer Hospitalisierung im hohen Alter (Füglister-Dousse & Pellegrini, 2021).

Dies führt zunehmend zur Frage nicht nur der direkten, sondern auch der indirekten Kosten, zu der auch unbezahlte Pflege von Nahestehenden bei chronischen Erkrankungen eingerechnet wurden. Diese Kosten sind hoch und wurden für die Schweiz spezifisch für die fünf wichtigsten nicht übertragbaren Krankheiten aufgeschlüsselt (Asthma, Krebs, Herzkreislaufkrankheiten, Demenz, psychische Krankheiten) und mit CHF 10 Mrd. für das Jahr 2011 beziffert (Wieser et al., 2014, S. 74). Dies bedeutet für Einzelne, Familien und auch die Gesellschaft gewaltige Herausforderungen zur Bewältigung des Privat- und Erwerbslebens sowie der Bereitstellung ausreichender, bezahlbarer Betreuungs- und Pflegekapazitäten. Dies verdeutlichte auch der erstmalig auf chronische Krankheiten fokussierende nationale Gesundheitsbericht (Schweizerisches Gesundheitsobservatorium et al., 2015). Zugleich verändern sich bei lang dauernden Krankheitsverläufen die Konstellationen und damit auch die Unterstützungsbedürfnisse teils mehrerer Generationen, die im Zuhause ihrer Nächsten und mit vielerlei Behandlungsanforderungen engagiert sind – dies auch immer wieder bei Behandlungsspitzen in der Akutversorgung und in Einrichtungen vor- und nachgelagerter stationärer Leistungserbringer. Vor allem beim Prozess der starken Zunahme der Hochaltrigen ist bedeutsam, dass in dieser Phase die Vulnerabilität, die Multimorbidität und die Gebrechlichkeit der Menschen (frailty) stark zunehmen, und zwar sowohl bei den zu betreuenden Personen als auch als Phänomen bei den pflegenden Angehörigen (Greenwood & Smith, 2016).

Allerdings relativiert bzw. differenziert u. a. die interdisziplinäre Gerontologie eine ausschließlich belastungsorientierte Sichtweise auf diese Phänomene mit Blick auf das heute umfangreiche Wissen, wie ihnen aktiv begegnet werden kann – teils durch präventive, teils durch |24|kurative, teils durch unterstützende Maßnahmen bzw. Interventionen und solche, die das Konzept der Lebensqualität ins Zentrum stellen. All dies bedingt für einen stabilen Verlauf ein ständiges Anpassen von Lebens-, Berufs- und Behandlungsroutinen, die entlang von Verlaufstrajekten kontinuierlich nötig sind. Als „Weiterleben lernen“ haben Corbin und Strauss (2004) in ihrem Buchtitel diese Alltagsbewältigung bei chronischer Krankheit treffend und prominent bezeichnet. Im „work & care“-Kontext bedeutet dies keinesfalls eine Reduktion auf „elder care“, sondern ist eine Herausforderung bzw. Realität in vielen Familien über die Lebensspanne hinweg. Das Lebensspannenkonzept auf erwerbstätige, pflegende Angehörige bezogen unterscheidet sich auch maßgeblich von der Vereinbarkeit mit kleinen gesunden Kindern (Kahana et al., 1994a) (Kap. 7.1). Denn pflegende Angehörige sind sowohl in inter- als auch intragenerationelle Beziehungen eingespannt. So können im Kontext der Langlebigkeit auch erwachsene, erwerbstätige Großkinder eine relevante Aufgabe im Helfernetz ihrer Großeltern übernehmen, u. a. bei der Hilfe aus geographischer Distanz, d. h. beim „Distance Caregiving“ (Kap. 6.4). Pflegenden Angehörigen entlang der Lebensspanne ist gemeinsam, dass sie in der inhaltlichen Breite und zeitlichen Länge immer wieder Beeinträchtigungen bei ihren Nahestehenden begegnen, die unvorhersehbar und damit kaum unplanbar sind.

In westlichen Ländern ist in den letzten zwei Jahrhunderten eine kontinuierliche Zunahme der Medikalisierungzu beobachten. Ihr Ursprung liegt im 18. Jahrhundert bei der Ausformierung der professionellen Medizin und deren Definitions- und Behandlungsanspruch. Dem wurde allerdings u. a. auch anhand von körperlichen Umbruchphasen im Leben von Frauen mit dem Titel „Weiblichkeit ist keine Krankheit“ entgegen gehalten (Kolip, 2000). Im Kontext von chronischen Krankheiten bedeutet die Medikalisierung – heute mehr denn je – den exponentiell wachsenden Einsatz von diagnostischen und therapeutischen Interventionen. Dabei gilt es jedoch zu differenzieren, wie die folgende Aussage vor Augen führt, die im noch relativ jungen Zeitalter von HIV/Aids entstand, und die angesichts der Corona-Pandemie nichts an Aktualität eingebüßt hat: „Die medizinische Profession blüht diagnostisch auf und glüht therapeutisch aus“ (Schaeffer, 1990, S. 185; Gross et al., 1989). Für die Situation von erwerbstätigen pflegenden Angehörigen bedeutet dies, dass sie neben den Sorgeaufgaben zuhause immer wieder oder je nach Krankheit und Beeinträchtigung immer häufiger an das Medizinalsystem angebunden sind. Dies sind im Wesentlichen ärztliche, aber auch andere therapeutische Leistungen mit damit einhergehenden Sprechstunden in der (Arzt-)Praxis, aber in fragmentierten Versorgungssystemen auch separaten Terminen an einem anderen Ort (bspw. für Röntgen- oder Laboruntersuchungen) oder gar in Krankenhäusern für Spezialuntersuchungen. Anknüpfend an die kritische Analyse zum Wandel der Diagnostik- und Therapiekompetenz (Gross et al., 1989) wurde später das „choosing wisely“-Konzept entwickelt, das selbstorganisiert durch medizinische Fachgesellschaften die Überversorgung – zugespitzt formuliert auch eine überflüssige Versorgung – vermeiden (Grote Westrick et al., 2019) und soll unnötige medizinische Behandlungen reduzieren (American Board of Internal Medicine, 2011). Deshalb ist eine Gesundheitsversorgung gefragt, die von Nachhaltigkeit geprägt ist und nicht von Fehlanreizen der Medikalisierung (Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften, 2019).

Die Medikalisierung und der medizinische Fortschritt sind mit den pharmazeutischen und technischen Errungenschaften zwar ein typisches Zeichen einer prosperierenden Gesellschaft, bedeuten aber auch eine längere und intensivere Anbindung an das Medizinalsystem mit all seinen Professionen und Institutionen. Dies geschieht bereits in sehr jungen und immer jüngeren Jahren oder sogar noch im Mutterleib, bspw. dank pränataler Chirurgie (swiss fetus, 2020). Als Folge davon können noch ganz |25|junge Menschen vermehrt am Leben erhalten werden und leben länger. Dieser lange und oft auch langsame Prozess des Lebens mit chronischen Krankheiten oder Beeinträchtigungen bringt jedoch nicht dieselben oft schnellen und spektakulären Erfolge hervor wie gewisse chirurgische, technische oder pharmazeutische Interventionen. Im Gegenteil: Die oft mühselige Alltagsbewältigung der betroffenen Menschen und ihres privaten Umfeldes beim Diagnostik- und Therapiemanagement – die trotz großer Anstrengungen den Verlauf oft nicht stoppen können – sowie die kleinteilige und bürokratische Organisation und Koordination der Leistungen im Medizinalsystem hält nicht in gleichem Maße Schritt mit den Erfolgen. Entsprechend stehen für Patient:innen und deren Angehörigen sowie Gesundheitsfachpersonen in der häuslichen und stationären Langzeitpflege meistens unspektakuläre und gesellschaftlich oft unsichtbare Leistungen im Zentrum. Dies gilt in Fachkreisen – leider – oft auch als uninteressant (Bischofberger, 2018).

Hier schließt der Megatrend der Ambulantisierung an. Er ist dadurch gekennzeichnet, dass zunehmend Behandlungen in den ambulanten Raum verlagert werden (Roth & Pellegrini, 2019). Daher hat die Ambulantisierung maßgebliche Konsequenzen für die Pflege zuhause (Schaeffer & Ewers, 2001). In einem gesundheitsökonomisch engen Verständnis – zentriert auf den Bereich medizinischer Behandlungen – meint Ambulantisierung zunächst v. a. Operationen, die nicht (mehr) stationär, sondern mittels Tageschirurgie vorgenommen werden, z. B. Krampfaderoperationen (vgl. gesetzliche Vorgaben in der Schweiz) (Bundesamt für Gesundheit, 2018). Dabei handelt es sich insgesamt eher um eine Erweiterung des Versorgungsangebots als um eine Verlagerung vom stationären in den ambulanten Bereich und kann damit eine der Ursachen für mehr Personalbedarf sein (Merçay et al., 2016). Andere Autor:innen bezeichnen unter dem Begriff De-Institutionalisierung letztlich ein ganz ähnliches Phänomen (Widmer & Schaffhuser, 2018).

Darüber hinaus ist der Privathaushalt auch ohne vorgängige Leistungen im Akutkrankenhaus ein Ort, an dem vermehrt diagnostische und therapeutische Verfahren stattfinden und auch mit komplexerem Hilfebedarf durchgeführt werden (Trageser et al., 2018a), bspw. große Wundverbände oder parenteral verabreichte Medikamente. Mit vorgängigem Spitalaufenthalt, einschließlich technisch-, material- und supervisionsintensiver Behandlungen, gehören z. B. die langdauernde Beatmung oder umfangreiche Infusionstherapien als „Intensivstation zuhause“, wie ein Buchtitel treffend lautet (Lademann, 2007) verstanden. So entwickelt sich der „Gesundheitsstandort Privathaushalt“ auch in technischer Hinsicht laufend rasch weiter (Fachinger & Henke, 2010). Je nach Gesundheitszustand der beeinträchtigten Person braucht es zudem entsprechende Materialien (z. B. bei Inkontinenz) oder Apparaturen (z. B. Rollator, Sauerstoff). Viele noch nicht integrierte Hilfsmittel und Technologien könnten bzw. werden künftig noch hinzukommen. In seinen komplexeren Formen gehen im Privathaushalt zahlreiche Akteure ein und aus, sie kommen vermehrt auch mittels Telekommunikationstechnik herein, und erweitern und vergrößern so den Kreis der Handelnden. Dabei übernehmen die Privathaushalte bzw. die Angehörigen – das wird von den Gesundheitsfachleuten oft verkannt – zahlreiche Gesundheitsaufgaben, ohne dass die Professionellen anwesend oder involviert sind (Huisinhet Veld et al., 2015). Angehörige entwickeln dabei sowohl Kenntnisse für ein Fallmanagement als auch ein Selbstmanagement bei dauerhaften krankheits- oder unfallbedingten Gesundheitsbeeinträchtigungen ihrer Nächsten (Lude et al., 2014). So entwickelt sich ein breites Spektrum an Ausprägungen mit unterschiedlicher technischer Durchdringung, organisatorischer Überformung und rollenbezogener Arbeitsteilung – in der Fachdebatte teilweise mit den Begriffen High-Tech Home Care (HTHC) (Kaye & Davitt, 1999) umschrieben. Diejenigen, die langdauernde Therapien fördern sollten oder spezifisch auf die Verlagerung |26|von Krankenhausprozedere nach Hause und damit auf Kosteneinsparung zielten, wurden entsprechend auch als „Hospital at Home“ (Cryer et al., 2012, S. 1237) gekennzeichnet.

Ein weiterer bedeutsamer Bereich der Ambulantisierung bezieht sich gerade mit Blick auf die Langzeitversorgung auf eine andere hybride Form zwischen angestammter Häuslichkeit und stationärer – heimartiger – Versorgung: sog. ambulant betreute Wohngemeinschaften (Rothgang et al., 2018). Meist werden damit neue dezentrale Wohnformen gewissermaßen zwischen Heim und Daheim angesprochen. Dem Typus nach sind es kleine Wohnpflegeformen zumeist zwischen sechs und zwölf Personen, die sich an Menschen mit erheblichem Betreuungs- und Pflegebedarf richten (Klie et al., 2017), so der Entwicklungsstand in Deutschland. In ähnlicher Form gibt es solche auch in der Schweiz (Jann, 2015) oder Österreich (Merzeder et al., 2013). Dabei spielen Pflegefachpersonen nicht zwingend die tragende Rolle, sondern soziale Netzwerke mit Alltagshelfenden organisieren sich und beanspruchen Fachpflege punktuell entlang von Hilfebedarfen. Wichtig wird dabei, wie diese informellen Netzwerke professionell unterstützt werden, damit sie nachhaltig ihre tragende Rolle wahrnehmen können.

Ein kurzer genderorientierter Einschub: Die hier verwendete geschlechtsneutrale Formulierung soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass mit dieser wichtigen Regime-Umakzentuierung nicht mehr die Pflege ausschließlich Regie führt, sondern Fachpersonen für Alltagsgestaltung. Dies verstärkt eine geschlechter- und professionsbezogen ambivalente Entwicklung: In Deutschland bspw. sind die Alltagsbegleiterinnen praktisch zu 100 % Frauen – ihre Ausbildung ist eine kurz angelegte Helferinnenausbildung – das Entlohnungsniveau orientiert sich damit zugleich an den niedrigsten Lohnklassen, noch deutlich unter der in Deutschland ebenfalls tief entlohnten professionellen Pflege.

Es gibt heute eine ganze Reihe von Aspekten zum gesamthaft stark wachsenden Ambulantisierungstrend. Dabei sind die Erfahrungen aus der Corona-Pandemie noch nicht verarbeitet, die von einigen Fachexpert:innen als weiterer Treiber einer notwendigen Ambulantisierung bzw. Reformierung der stationären Langzeiteinrichtungen betrachtet werden, exemplarisch bei Jones und Bowles (2020). Dieser Trend trifft in der Schweiz auf ein Langzeitpflegesystem, das noch wenig auf umfassende häusliche Pflegeleistungen und Alltagsunterstützung ausgerichtet ist, ganz besonders nicht mit hoher und sehr hoher Bedarfslage. Dies hat die Evaluation der Neuordnung der Pflegefinanzierung deutlich gemacht und wird in dieser Schrift weiter Thema sein (Trageser et al., 2018b) (Kap. 6.1.2 und 6.1.4). Neue Phänomene wie Uberisierung der Betreuung (Hegedüs et al., 2021; Nonnenmacher et al., 2020) sind deshalb Indikatoren für Suchbewegungen, wie Betreuung und Pflege im Zuhause, anders bzw. stärker und nachhaltiger ausgestaltet werden können.

Bei all den genannten Aspekten der Chronifizierung, Ambulantisierung und Medikalisierung und auch der bisherigen Ausführungen darf ein oft ausgeblendeter Aspekt nicht vergessen werden. Der Privathaushalt bleibt trotz seiner noch wachsenden Bedeutung als Gesundheitsstandort eben auch ein Standort der hauswirtschaftlichen Versorgung. Auch diese wird tangiert durch Möglichkeiten der Externalisierung von Arbeiten (Reinigung von Kleidung oder Essenszulieferung), der Technisierung (Haushaltsgeräte bis hin zu intelligenten autonomen Technologien, die sich im oder kurz vor dem Markteintritt resp. stärkerer Marktdurchdringung befinden) oder der Vergabe an Dienstleistende (Wächter et al., 2015). Aber der Löwenanteil wird eben weiterhin durch die Haushaltsangehörigen erledigt – insbesondere bei schwererer Hilfebedürftigkeit durch die betreuenden Angehörigen. Indem auch diese im Umfang große Aufgabe vorrangig oder ausschließlich in die Verantwortung der Privathaushalte gestellt wird, heißt dies faktisch in der weit überwiegenden Anzahl der Haushalte, |27|dass die Frauen diese Aufgabe noch zusätzlich übernehmen. Und die Unterstützung durch hauswirtschaftliche Dienste (und entsprechende sozialstaatliche Kostenübernahmen) ist in der Schweiz ausgesprochen gering ausgebaut (Wächter et al., 2015).

1.2  Zwischenfazit – „work & care“ in der Gesundheitswelt verorten

In diesen drei Megatrends wurde der Bezug zur Gesundheitswelt bereits mehrfach angesprochen. Gemeint ist nicht nur die Gesundheitsversorgung, sondern angesprochen sind auch die vielen Bezüge zu angrenzenden Politik- und Fachbereichen, allen voran die sozialen (Ver-)Sicherungssysteme, aber darüber hinaus auch die Gesundheitswelt fernab jeglicher professioneller Angebote – in Familien, privaten Helfernetzen und moderneren Formen von Sorgegemeinschaften (Müller et al., 2019). Dieses gesamte professionelle und private Care Arrangement ist für erwerbstätige pflegende Angehörige unerhört wichtig für die Vereinbarkeit. Es ist geradezu entscheidend dafür, dass sie ihre Erwerbstätigkeit oder -wünsche mit der Sorge für ihre Nächsten kombinieren können. Die spezialisierte und fragmentierte Dienstleistungslandschaft in der Gesundheits- und noch mehr in der Langzeitversorgung wie auch im angrenzenden Sozialwesen sind für erwerbstätige pflegende Angehörige aber eine Herausforderung – auch weil die Akutversorgung in Bezug auf ihre räumlich, finanziell und strukturell überragende Potenz die stationäre, aber noch mehr die häusliche Langzeitpflege buchstäblich in den Schatten stellt.

Ein aktueller WHO-Länderbericht für Deutschland verweist auf diese Herausforderungen in der Langzeitversorgung und die enge Verwobenheit von gesundheitlichen und sozialen Systemen:

„Long-term care covers a wide range of health and social services that can be delivered in different settings, including the beneficiary’s home, hospice and day-care facilities. Fragmentation of services is not limited to the delivery of services; it also can be seen during needs assessment, when accessing benefits and packages, in data collection and in the diversity of quality improvement efforts. Fragmentation of services has been linked to dual administrative procedures, hindrances in access to care and longer waiting times and has been identified as a barrier to reducing hospitalization for ambulatory care sensitive conditions“ (World Health Organization Regional Office for Europe, 2020, S. 1). Vor diesem Hintergrund kann mittlerweile weltweit die intensivierte Suche einer Überwindung dieser problematischen Fragmentierung ebenfalls als Megatrend verstanden werden.

Diese integrative Sichtweise ist umso wichtiger, weil sich bei langdauernden Krankheitsverläufen die Konstellationen und damit auch die Unterstützungsbedürfnisse teils mehrerer Generationen, die im Zuhause ihrer Nächsten mit vielerlei Behandlungsanforderungen engagiert sind, laufend verändern können. Dazu ist auch die Organisation und Finanzierung der Langzeitpflege in der Schweiz konzeptionell noch stark ausbaufähig. Allerdings mangelt es an einem Mix an flexibel nutzbaren Dienstleistungen und übergeordnet an einer erkennbaren und nachhaltigen gesundheits- und sozialpolitischen Strategie der Langzeitpflege, die zwar vor einigen Jahren als Bestandesaufnahme mit Perspektiven und Optionen von Kosten- und Finanzverschiebungen zwischen Bund und Kantonen konzipiert wurde, aber noch wenig greifbare Verbesserungen hervorbrachte (Schweizerische Eidgenossenschaft, 2016). Umso wichtiger ist die offensichtliche Positionierung der Langzeitpflege in der bundesrätlichen Gesundheitsstrategie 2030, denn der Schweizer Bundesrat konturierte in seinen gesundheitspolitischen Prioritäten 2020 bis 2030 die Bedeutung der Langzeitpflege stärker und versah sie mit zwei spezifischen Zielen (Schweizerischer Bundesrat, 2019), was im Vergleich zur Vorgängerversi|28|on mit den Prioritäten bis 2020 eine Verbesserung darstellt (Schweizerischer Bundesrat, 2013). In der Umsetzung kann die Langzeitpflege in der Bedeutungshierarchie deshalb zukünftig noch weiter steigen.

Die in der Schweiz mehrfach vorgelegten Reformvorschläge mit Lösungsansätzen – um nur einige zu nennen – zur Personalentwicklung in der Pflege (Zúñiga et al., 2010), zur Pflegefinanzierung (Trageser et al., 2018b), zum Wohnen im Alter (Höpflinger et al., 2019) oder zur vernetzten Grundversorgung (fmc Schweizer Forum für Integrierte Versorgung, 2020) sowie internationale Meilensteinberichte der integrierten Langzeitversorgung für ältere Menschen (World Health Organization, 2019b) bieten einen reichhaltigen Fundus, um die Strategie zu befüllen. Vor diesem Hintergrund und auch angesichts der skizzierten Megatrends ist die Verortung von „work & care“ in der Gesundheitswelt hochaktuell.

Als Zwischenfazit zeigt sich wohl die größte Herausforderung bei folgenden Interferenzen:

Erwerbstätige in der Schweiz, und damit auch erwerbstätige pflegende Angehörige, sollten – so die volkswirtschaftliche Sichtweise – möglichst vollzeitnah am Arbeitsmarkt partizipieren. Dies ist angesichts des demografischen Trends der Hochaltrigkeit bzw. der sich durchsetzenden „Gesellschaft des langen Lebens“ (Stöckl et al., 2016) – so der eingängige Buchtitel – zentral, um die Systeme der sozialen Sicherung finanzieren zu können. Das ließ sich bereits in den vor zehn Jahren veröffentlichten Perspektiven 2025 der Bundespolitik unter der Finanzierbarkeit der Staatstätigkeit erkennen, in der die am stärksten betroffenen Bereiche der Altersversicherung, Gesundheit und Langzeitpflege explizit genannt sind (Schweizerische Bundeskanzlei, 2012, S. 49). Deshalb laufen die volkswirtschaftlichen Ziele auf einen Zeitkonflikt zwischen vollzeitiger Erwerbstätigkeit und privater Sorgearbeit hinaus, denn die vollstationäre Langzeitpflege in der Schweiz – sie ist (international gesehen) bereits auf hohem Zahlenniveau – müsste deutlich ausgebaut werden. Dies wäre aber für die Kommunen kaum zu finanzieren und entspricht auch nicht dem Wunsch der Menschen in der Schweiz für die Phase der Pflegebedürftigkeit oder am Lebensende. Die häusliche Gesundheitsversorgung und mit ihr auch die Anbieter im Sozialwesen sind bis dato weder strukturell noch finanziell und personell auf eine deutliche Leistungsausweitung eingerichtet (Reck, 2015; Trein, 2018). In einer differenzierteren Analyse der volkswirtschaftlich motivierten Debattenbeiträge wäre die Argumentation noch zu differenzieren – hier nur mit zwei knapp gehaltenen Hinweisen: (a) Für die Versorgung von Menschen mit komplexen Bedarfslagen und/oder höherem Pflegebedarf wird häufig das Pflegeheim als die billigere Versorgungsalternative betrachtet. (b) Makroökonomisch besonders problematisch seien in der Schweiz die – wenngleich abnehmenden und je nach Kanton stark unterschiedlichen – noch immer hohen Anteile von Personen in Pflegeheimen mit tiefer Pflegeeinstufung (Pflegestufen 1–3 von 8) (Cosandey & Kienast, 2016, S. 27).

Kurzum: In diesem Seilziehen verschiedener Systeme geraten die Ressourcen der erwerbstätigen pflegenden Angehörigen in eine ambivalente Position. Entsprechend breit ist der Handlungs- und Innovationsbedarf in der Gesundheits-, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik. Und entsprechend dringlich ist die Frage, wie ein integriertes Netz im Gesundheits- und Sozialbereich mit stabilen, intermediären, quartierbezogenen Strukturen zugunsten von gesundheitsbeeinträchtigten Personen entwickelt und bespielt werden kann, damit deren pflegenden Angehörige neben den privaten Sorgeaufgaben konzentriert und mit Blick auf eine intakte Erwerbskontinuität berufstätig sein können.

|29|2  Terminologische und konzeptionelle Annäherung

|31|„Angehörige sind nicht nur unterstützungsbedürftig. Sie sind nicht nur ‚Mängelwesen‘, wie ich dies oft wahrnehme. Angehörige haben auch Substanzielles zu bieten. Sie haben eine Expertise auf ihrem Gebiet, sind oft auch kreativ beim Suchen von Lösungen. Deshalb finde ich wichtig, sie an den Strategien und Prozessen zur Verbesserung ihrer Situation aktiv zu beteiligen.“ (Jähnke & Bischofberger, 2015, S. 20)

Im folgenden Kapitel werden ausgewählte zentrale Begriffe und Konzepte im Kontext von „work & care“ untersucht. Um das Feld abzustecken, werden zugleich wesentliche konzeptionelle und beschreibende Aspekte bearbeitet. Dies bildet die Grundlage für den Diskurs zu „work & care“ im Kapitel 3 sowie dafür, wie sich die Daten- und Erkenntnislage bis dato präsentiert und in welchen Kontexten das Thema eingebettet ist (Kap. 4 bis 6).

2.1  Familie im historischen Rückblick

Das Konzept der Familie war sozialgeschichtlich im Mittelalter und bis ins späte 18. Jahrhundert eine Gemeinschaft, die vorwiegend in einem Haus mit vielfältigen Personen der Kernfamilie aber auch weiterer Verwandter und Arbeitskräfte lebte und deshalb auch als das „ganze Haus“ verstanden wurde (Sieder, 1987, S. 282). Dies umfasste aber nicht nur Großfamilien im Sinne des Zusammenlebens mehrerer Generationen unter einem Dach (Großeltern, Eltern und Kinder). Vorrangig war die Produktion, das Familienleben war weitgehend eine Einheit. Verwandtschaftliche, gefühlte oder geschlechtliche Beziehungen waren nachrangig. Damit hatte die Sorge- und Erziehungsarbeit mit Blick auf die Kinder im Zusammenleben mit den Generationen eine völlig andere Bedeutung als heute. Ebenso unterschiedlich war die demografische Situation hinsichtlich der Großelterngeneration, denn die Zeit, die mehrere Generationen miteinander verbrachten, war wegen der deutlich niedrigeren Lebenserwartung auch entsprechend kürzer. Im 18. Jahrhundert lag die Lebenserwartung denn auch nur zwischen 35 und 40 Jahren, d. h. damals hatten Personen bereits im Alter von knapp 30 Jahren, also meist kurz nach der eigenen Heirat, beide Eltern verloren (Maihofer et al., 2001, S. 13). All dies steht im Gegensatz zum Bild der fürsorgenden Großfamilie, die erst später im 19. und frühen 20. Jahrhundert in den Vordergrund rückte.

Vor allem mit der Industrialisierung wurden die Wohn- und Arbeitsstätten zu unterschiedlichen Orten. Dies wurde im wohlhabenden Bürgertum durch eine Abtrennung des „ganzen Hauses“ in einen Ort der Arbeit bzw. der Produktionsstätte, und einen Ort des Lebens bzw. der Herrschaftshäuser sichtbar. Gleichzeitig privatisierte sich das Familienleben, und Geschlechtermerkmale traten zunehmend hervor (Maihofer et al., 2001). Die Männer nahmen (zumindest in Paar- bzw. Familienkonstellationen) die Rolle des Ernährers ein, und Frauen verantworteten die Haushaltsführung und Kindererziehung. Eng mit diesem Hintergrund verwoben bildete sich allmählich die moderne Kleinfamilie heraus, die aus Liebe gegründet, und als „ideelle Einheit zwischen Ehe, Hausgemeinschaft, Elternschaft und Verwandtschaft“ (Maihofer et al., 2001, S. 13) verstanden wurde. Dabei separierte sich Erwerbsarbeit und Reproduktion. Allerdings wird die Trennung dieser zwei Lebensbereiche suggeriert (Becker-Schmidt, 1980), denn ihr Verhältnis zueinander lässt sich am Beispiel der Mütter und Fabrikarbeiterinnen nicht scharf trennen und ist ambi|32|valent. So ist die Kindererziehung in der Kleinfamilie hauptsächlich Sache der Frauen und Mütter und bleibt im privaten Rahmen. Bereits in der vorindustriellen Zeit wurde oft verkannt, dass die Hausarbeit für Frauen – v. a. in ärmeren Bevölkerungskreisen – im Falle von Krankheit und Gebrechlichkeit deutlich anspruchsvoller und anstrengender war, auch unabhängig von der Erwerbsarbeit (Abel, 1995). Und wenn die Männer erkrankten, übernahmen Frauen oft auch die Einkommensarbeit neben dem Haushalt und der privaten Sorgearbeit, was bereits damals auf das Risiko des Ernährereinkommens verweist. Oder die Angehörigen ließen ihre Nächsten allein zuhause, was mit erheblichem Leid verbunden sein konnte (Wundliegen, Flüssigkeitsmangel etc.). Wenn also Krankheit oder Beeinträchtigung in Familien eintrat, sprengte dies oft den zeitlichen Rahmen der Aufmerksamkeit für die gesunden Familienangehörigen.

Deshalb wird gemäß Becker-Schmidt die angestrebte Überbrückung der (vermeintlichen) Dichotomie von Beruf und gesunden Familienmitgliedern bzw. den diesbezüglichen Vereinbarkeitsbestrebungen, wie sie seit den 1970er Jahren postuliert werden, nur wenig gerecht. Viel eher zeigen sich unter den Vorzeichen der Moderne je nach Dynamik von Gesundheit und Krankheit in Familien und je nach Familienressourcen zur Bewältigung sehr unterschiedliche Care Arrangements, die gelingen, ins Schlingern geraten oder gänzlich scheitern können. In dieser Problematik ist die sozialstaatliche Verantwortung für das gesundheitliche Wohlergehen kranker Menschen angesprochen sowie die Verfügbarkeit von bezahlten oder unbezahlten Personen angesichts von Gesundheitseinschränkungen – also den pflegenden Angehörigen und weiteren privat zu organisierenden personalen Ressourcen.

Zur Pluralisierung dieser Ressourcen wird postuliert, dass in der Moderne die Zuschreibung der Zuständigkeit für private Sorgearbeit zwar immer noch stark auf Blutsbande rekurriert, allerdings lockert sich das Primat der Blutsverwandtschaft seit dem letzten Viertel des 20. Jahrhunderts immer öfter. Vor allem seit den 1960er Jahren ist vermehrt die Rede von Wahlverwandtschaften und anderen Gemeinschaftsformen im Lebensalltag, die insbesondere bei Gesundheitsbeeinträchtigung mit einem Mix von unbezahlter und bezahlter Unterstützung das Leben zuhause ermöglichen (Blinkert & Klie, 2001).

An dieser Stelle greifen drei Entwicklungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ineinander, die sich weiter ins 21. Jahrhundert hinziehen:

a)

die Pluralisierung der Familienformen

b)

die langsame Lockerung der Verantwortung für das alleinige Haushaltseinkommen durch den Mann bzw. des Ernährer-Modells und gleichzeitig der Teilhabe der Frauen am Erwerbsleben, durchaus auch angestoßen durch den Erwerbsarbeitsmarkt, und

c)

die Frage nach der primären Verantwortung von Pflege- und Behandlungsverläufen der Nahestehenden.