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DIE LETZTE SCHLACHT STEHT BEVOR
Der Bodywalker Kamen befreite einst den Gott Apep, der nun die Welt auszulöschen droht. Um seinen Fehler wiedergutzumachen, nimmt Kamen die schier unmögliche Aufgabe an, alle Schattenwandler gegen Apep zu vereinen. Das verhasste Volk der Geister, das mit einer Berührung töten kann, stellt die größte Herausforderung für seine Mission dar. Doch es ist ausgerechnet Geneviève, halb Mensch, halb Geist, die ihm zur Seite steht. Und trotz der Gefahr, die sie für ihn bedeutet, kann sich Kamen der Anziehungskraft der geisterhaften Schönen nicht entziehen.
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Seitenzahl: 504
JACQUELYN FRANK
Kuss der Erlösung
World of Nightwalkers
Roman
Ins Deutsche übertragen von Katrin Kremmler und Lisa Kuppler
Der Körperwandler Kamen hat unsägliche Schuld auf sich geladen, als er beim Versuch, seine geliebte Herrin aus dem Koma zu erwecken, dem grausamen Dämonengott Apep ermöglichte, deren Körper in Besitz zu nehmen. Nur die vereinten Völker der Schattenwandler besitzen die Macht, Apep daran zu hindern, die Welt zu unterjochen. Doch ein Fluch sorgt dafür, dass die eine Hälfte der Schattenwandlernationen die andere weder sieht, hört noch spürt. Erfüllt von Scham und Gewissensqualen, ist Kamen entschlossen, den Dämonengott zu vernichten. Doch dazu muss er das Unmögliche schaffen: Vertreter aller zwölf Nationen zusammenbringen und alte Feinde miteinander versöhnen. Das verhasste Volk der Geister, die mit einer Berührung töten können, stellt die größte Herausforderung für seine Mission dar. Doch es ist ausgerechnet Geneviève, halb Mensch, halb Geist, die ihm zur Seite steht. Die ätherische Schönheit löst in Kamen eine nie gekannte Leidenschaft aus. Durch ihre Küsse, die jederzeit das Versprechen des Todes in sich tragen, fühlt sich Kamen lebendiger als je zuvor. Doch die letzte Schlacht rückt näher, und das Schicksal der Welt hängt an einem seidenen Faden.
Für meine Schwester Laraine.
Ganz gleich, was passiert, Du bist immer für mich da.
Ich bin ein echter Glückspilz, so eine Schwester zu haben.
… und so wird es in künftigen Zeiten geschehen, dass die Nationen der Schattenwandler auseinandergerissen und einander fremd werden. Durch Ungemach und Vorsatz werden diese zwölf Nationen zu unterschiedlichen Zielen kommen und füreinander mit der Zeit in Vergessenheit geraten. In der Zukunft werden diese Nationen Mühen und Kämpfe zu bestehen haben wie noch nie zuvor, und nur indem sie wieder zusammenfinden, können sie darauf hoffen, dem Bösen entgegenzutreten, das sie heimgesucht hatte. Doch sie sind füreinander verloren und werden das auch bleiben, bis ein großer Feind besiegt wird … und ein neuer wiederaufersteht …
Kamenwati rang nach Atem, als er aus dem Schlaf gerissen wurde. Doch er beruhigte sich wieder, als er erkannte, dass es nur ein Traum gewesen war, der ihn aufgeschreckt hatte. Er holte tief Luft, setzte sich auf und knipste das Licht auf dem Nachttisch an. Das Zimmer kam ihm immer noch fremd vor. Wahrscheinlich, weil es nicht wirklich sein Zimmer war und er sich darin nicht wohlfühlen sollte. Es war fast so etwas wie eine Gefängniszelle.
Aber angesichts der unverzeihlichen Verbrechen, die er seinen Körperwirten und der Menschheit insgesamt angetan hatte, hätte er es schlimmer treffen können. Dieses bequeme Bett, ein Zimmer für sich und drei ausgezeichnete Mahlzeiten am Tag hatte er ganz bestimmt nicht verdient. Eigentlich hatte sich an seinem Alltag, seit seiner Ankunft auf dem Anwesen, nicht viel geändert. Er verbrachte die Zeit mit dem Studium alter Texte auf Schriftrollen und brüchigem Papyrus, der bei jeder Berührung mehr zerfledderte und beinahe zu Staub zerfiel. Kamen lernte neue Zaubersprüche und beschäftigte sich mit Magie, er studierte Geschichte und alte Sprachen. Genau wie früher.
Aber früher hatte er sich voller Freude mit diesen Dingen beschäftigt und ihnen fast seine ganze Zeit gewidmet. Doch nun bereitete es ihm kein Vergnügen mehr. Es fühlte sich an, als wäre alles zu Staub zerfallen wie altes Pergamentpapier. Und das geschah ihm auch recht. Denn in einer der alten Schriftrollen war er auf den Fluch gestoßen, mit dem er den tödlichen Dämonengott Apep freigesetzt hatte.
Es war ohne böse Absicht geschehen, dennoch hatte er es getan. Er war dafür verantwortlich. Und deshalb musste auch er selbst herausfinden, wie man den Gott, den er hatte auferstehen lassen, töten konnte. Er war direkt in das Lager seines »Feindes« gegangen, zur Politik-Fraktion der Körperwandler, und hatte sich ihnen ausgeliefert. Dann hatte er sich auf die alten Texte gestürzt, hatte jeden Fetzen Pergament studiert und nach einem Weg gesucht, wie man den Gott vernichten könnte. Es musste doch irgendwie möglich sein. Die Frage war nur, ob sich eine Lösung finden ließ.
Kamen rutschte an die Bettkante und stellte die Füße auf den Boden. Er schlug die Bettdecke zur Seite, und kalte Luft traf seine nackten Beine. Die meisten Innenräume der Festung in New Mexico waren vollständig klimatisiert, aber für seinen Geschmack immer ein wenig zu kühl. Doch da er eher ein Gefangener denn ein willkommener Gast war, konnte er sich wohl kaum beschweren. Unruhe überkam ihn, er wollte sich bewegen und stand rasch auf. In letzter Zeit war er oft ruhelos, aber glücklicherweise waren seine Gefängniswärter inzwischen so nett, ihm zu erlauben, sich freier in der Festung zu bewegen. Er musste nicht mehr in seinem Zimmer bleiben – allerdings hatte von Anfang an keiner diese Auflage seines Aufenthalts in der Festung richtig ernst genommen. Diese Leute hatten ziemliches Glück, dass es ihm wirklich ernst war mit seinem Wunsch, ein anderer zu werden – besser zu werden. Denn wenn er wollte, könnte er ihnen ernsthaft Schaden zufügen. Er kannte etliche Zaubersprüche, mit denen er in der Lage wäre, alles in Schutt und Asche zu legen.
Seit Jahrhunderten schon sammelte er Zaubersprüche wie ein Kind auf einer Wiese wilde Blumen pflückt. Jedes Mal, wenn er in einem neuen Körperwirt wiedergeboren wurde, lernte er mehr, und dieses Wissen begleitete ihn durch seine vielen Leben. Es überdauerte sogar den Äther, jenen körperlosen, einhundert Jahre währenden Zustand, in dem der Geist eines Körperwandlers zwischen jedem neuen Leben ruhte.
Denn Kamen war wirklich ein Körperwandler, eine Seele, die von den längst untergegangenen Dynastien des alten Ägyptens abstammte. Er war geboren worden, er hatte ein ganzes Leben gelebt, und er war gestorben. Wie viele andere Ägypter der Oberschicht hatte er seinen Körper einbalsamieren und sich mitsamt all seiner Besitztümer, die er mit ins Jenseits hatte nehmen wollen, bestatten lassen. Doch der anmaßende Akt, die Mächte über Leben und Tod bezwingen zu wollen, hatte stattdessen ihren Seelen das ewige Leben eingebracht – im Äther. Es gab keine letzte Ruhe, weder Himmel noch Hölle, nichts außer dieser körperlosen Existenz, in der sie nur zusehen konnten, wie die Jahre auf Erden vergingen.
Bis eines Tages einer Seele ein Gedanke kam: Sie fragte eine kurz vor dem Tod stehende, irdische Seele, ob sie ihren Körper mit ihr teilen wolle. Dafür bot sie die volle Wiederherstellung der Gesundheit, Unsterblichkeit und eine außergewöhnliche Fähigkeit zur Selbstheilung. Der lebende Mensch ließ sich darauf ein, und beide Seelen kehrten in seinen Körper ein. Schließlich vereinten sich die Seelen zu einer und bewohnten in Harmonie und Eintracht ihren Körperwirt. Was dieser einen Seele gelungen war, taten ihr die anderen bald nach. Sie alle teilten sich mit irdischen Seelen die Körper von Sterblichen, die ansonsten gestorben wären.
Allerdings wollten ein paar der Körperwandler die volle Kontrolle. Ihnen passte es nicht, dass sie sich mit der ursprünglichen Seele absprechen mussten, und sie vereinigten sich so wenig wie möglich mit ihr. Manche unterdrückten die menschliche Seele, sodass deren Stimme kaum noch hörbar war. So entstanden die Templer – eine Fraktion der Körperwandler. Diese »Diplomaten« unter den Körperwandlern hatten eine ganz andere Einstellung: Sie respektierten die ursprüngliche Seele und teilten gleichberechtigt den Körper mit ihr. Sie hielten sich an die Vereinbarung, die einmal getroffen worden war.
Kamen war der zweitmächtigste Templer gewesen, der Liebling ihrer Anführerin, der mächtigsten aller Templer – Odjit. Kamen hatte Odjit geliebt. Nicht wie ein Mann eine Frau liebt, sondern wie ein treu ergebener Gefolgsmann. Odjit wollte die Feindseligkeit zwischen den oppositionellen Körperwandlern beenden, damit sie eines Tages in Frieden miteinander leben könnten. Zumindest hatte Kamen das gedacht. Er hatte an Odjits Plan geglaubt – an ihren gemeinsamen Plan.
Er war blind gewesen, dachte er, als er in seine Hosen schlüpfte. Er hätte merken müssen, dass es Odjit nur um Macht ging – Macht um jeden Preis. Kamen war ein sehr kluger Mann, aber in Bezug auf Odjit, war er unverzeihlich naiv gewesen. Er hatte viel zu viel Zeit mit seinen Büchern und Zaubersprüchen und zu wenig Zeit in der wirklichen Welt verbracht. Er hatte der Wahrheit nicht ins Auge blicken wollen.
Kamen zog ein Hemd an, aber er knöpfte es nicht zu. Es war nicht nötig, denn außer ihm war so früh noch niemand wach. Er schaute aus dem Fenster. Die Scheiben im Gebäude waren aus intelligentem Glas, das sich bei Sonneneinstrahlung verdunkelte und den Bewohnern als Sonnenschutz diente: Sonnenstrahlen lähmten die Körperwandler. Im Grunde schadete Sonnenlicht allen Schattenwandlern: Dschinn bekamen Blasen und verbrannten, wenn sie nicht ihre Rauchform annahmen; die Haut der Nachtengel verwandelte sich von Tiefschwarz in Albinoweiß, während ihre natürlichen Kräfte geschwächt wurden. Mysticals – so hatte Kamen gelesen – mussten bei Sonnenschein in ihrer mystischen Form verharren und waren nicht mehr in der Lage, menschliche Gestalt anzunehmen. Phönixe gingen in Flammen auf, sobald Sonnenstrahlen sie berührten, und nur Asche blieb zurück, bis sie beim Einbruch der Dunkelheit neugeboren wurden. Geister, die im Dunkeln nur Schemen waren und durch feste Objekte gleiten konnten, nahmen im Sonnenlicht sofort Gestalt an, was ihren Tod bedeuten konnte, wenn sie sich in diesem Moment gerade im Innern von etwas Belebtem oder Unbelebtem befanden.
Von diesen Schwächen der Schattenwandler wusste er aus den Schriften, mit denen er sich ständig beschäftigte. Welche Schwächen die anderen, die neuen Schattenwandler hatten, die Dämonen, Lykanthropen, Mistrale, Vampire, Druiden und Schattenbewohner, das wusste er nicht. Er suchte überall nach Informationen, doch bisher hatte er nichts herausfinden können. Er verstand nichts von dem, was in ihren eigenen Sprachen geschrieben war, und ohne einen menschlichen Übersetzer war es unmöglich, mit ihnen zu sprechen. Es war, als wären sie gar nicht da. Außerdem nahm Kamen an, dass sie Informationen über ihre Schwächen sicher nicht besonders gerne preisgaben und gerade jemandem wie ihm wohl auf keinem Fall offenbaren wollten.
Dennoch hatte sich Kamen stundenlang mit der Druidin Bella unterhalten, deren Gabe es war, Texte in jeder Sprache lesen zu können. Das hieß, jeden Text, der in einer Sprache der sechs ihr bekannten Schattenwandlerspezies oder von Menschen geschrieben war. Die Körperwandler schrieben in Ägyptisch oder in ihrer Muttersprache, dazu in all den Sprachen, die sie in ihren verschiedenen Inkarnationen erlernt hatten. Kamen konnte fast jede Sprache lesen, schreiben und sprechen, die in den Texten auftauchte. Das war kaum zu verhindern angesichts der Tatsache, dass er immer, wenn er einen Körper besaß, seine Nase sofort in ein Buch steckte.
Bella konnte fließend Ägyptisch lesen, doch alles, was sich auf die sechs ihnen unbekannten Spezies bezog, vermochte auch sie trotz ihrer Gabe nicht zu entziffern. Stattdessen füllten die Seiten sich mit ägyptischen Schriftzeichen. Das war ihr früher seltsam vorgekommen, aber dann wiederum nicht seltsam genug, um Fragen zu stellen. Wenn Kamen Bücher in der Sprache der Dämonen aufschlug, sah er auf den Seiten nur sinnlosen Wortsalat, aus dem sich ihm keinerlei Bedeutung erschloss. Und wenn Bella etwas über die anderen Schattenwandler zu Papier brachte, dann sah es einfach nur wie die sinnlose Abfolge von lateinischen Buchstaben aus.
Wer immer die beiden Gruppen von Spezies voneinander fernhalten wollte, tat es so, dass keine Seite den Bruch überhaupt bemerkte. Doch trotz aller irreführenden Informationen und sprachlichen Verschlüsselungen hatte eine Prophezeiung über die zwölf Nationen der Schattenwandler in der Dämonensprache überlebt, die zumindest andeutete, mit was sie es zu tun hatten. Der Sinn der Prophezeiung hatte sich aufgrund des fehlenden Kontexts nicht erschlossen, doch dann war Bella, eine Mischlingsdruidin, buchstäblich mit Kat, einer Mischlingsdschinn, zusammengestoßen. Sie konnten einander nicht sehen und nicht miteinander sprechen. Nur auf schriftlichem Wege waren sie mithilfe von Menschen in der Lage, Nachrichten auszutauschen.
Doch die Kommunikation ging auf diese Weise nur langsam und zäh vonstatten. Es war schon sieben Monate her, seit Bella und Kat sich gefunden hatten, und immer noch suchten sie nach Möglichkeiten, den Informationsaustausch einfacher zu gestalten.
Kamen beherrschte mehr Sprachen als alle anderen, die auf dem Anwesen in Portales, New Mexico, lebten. Er arbeitete schon ewig mit Bella zusammen. Entweder sie beide fanden eine Lösung oder keiner. Sie konnten nur hoffen, dass ihnen bald ein Durchbruch gelang. Die Zeit lief ihnen davon.
Denn bald würde Apep das Kind zur Welt bringen.
Der Dämonengott hatte in seiner jetzigen Inkarnation Odjits Körper übernommen und den Vater aus den Reihen der Schattenwandler gewählt – einen mächtigen Nachtengel namens Dax. Apep hatte Dax vergewaltigt, um schwanger zu werden, und nun war jeden Tag mit der Niederkunft zu rechnen.
Nur einen Gott zu besiegen war fast schon unmöglich. Aber zwei? Zwar hatten sie die Hoffnung noch nicht ganz aufgegeben, doch noch eine Schriftrolle zu finden, in der stand, wie sie Apep loswurden. Aber das Kind des Dämonengottes war etwas völlig anderes – etwas noch nie Dagewesenes. Keiner der alten Texte würde ihnen verraten, wie sie ein solches Wesen wieder aus der Welt schafften.
Während der Schwangerschaft hatte Apep sich bisher ruhig verhalten, doch nach der Geburt würde er bestimmt alles daransetzen, um die Schattenwandler zu töten. Kamen gab sich da keinen falschen Hoffnungen hin. Er vermutete, dass die Schattenwandler der Schlüssel zur Vernichtung Apeps waren und dem Gott dies bewusst war. Deshalb würde er sie ausrotten, sobald er körperlich dazu in der Lage war. Apeps Schwangerschaft machte ihn angreifbar, und wahrscheinlich sollten sie jetzt zuschlagen, solange er noch in anderen Umständen war. Doch es gab zwei Probleme: Sie hatten keine Ahnung, wie man ihn angreifen konnte, und sie wussten nicht mehr, wo er sich befand.
Allerdings … Kamen war sich ziemlich sicher, dass er Apep mit einem Zauberspruch aufspüren konnte, doch das hatte er den anderen noch nicht mitgeteilt. Er hatte das untrügliche Gefühl, dass sie noch nicht in der Lage waren, Apep entgegenzutreten. Sie waren noch nicht so weit. Es fehlte etwas fundamental Wichtiges, um ihn zu besiegen. Bella teilte seine Meinung. Und überhaupt – wenn die beiden Lager der Schattenwandler ihre Angriffe koordinierten, dann würden sie Apep auf jeden Fall niederringen. Doch solange niemand wusste, warum die verschiedenen Spezies sich nicht wahrnahmen, konnten sie wohl kaum einen solch koordinierten Angriff planen.
Es war ein Fluch. Es musste ein Fluch sein.
Kamens Gedanken kreisten immer und immer wieder um diese Fragen. Es war kein Wunder, dass er kaum schlafen konnte und manchmal tagelang nicht zur Ruhe kam. Diese Leute zählten auf ihn, er musste einen Ausweg finden aus der katastrophalen Lage, für die er verantwortlich war. Und wenn er versagte – wenn er keine Lösung fand, dann hatte er jeden Einzelnen, den Apep tötete, auf dem Gewissen. Dann würde er diese Schuld mit sich herumtragen bis ans Ende aller Tage, wenn es keine Menschen mehr gab, mit denen sich seine Seele vereinigen konnte.
Wenn er doch einmal einschlief, quälten ihn furchtbare Albträume, Albträume von dem Gott, den er auf die Erde losgelassen hatte. Falls Apep nicht nur die Schattenwandler, sondern die gesamte Menschheit auslöschte, dann war es seine Schuld. Er allein trüge die Verantwortung dafür. Bisher hatten sie anhand der wenigen Schriften über Apep nur eins herausgefunden, das ihnen etwas nutzen könnte: Er brauchte die Anbetung durch seine Anhänger. Der Dämonengott würde sich eher alle Welt zum Sklaven machen als allesamt zu töten.
Der Gedanke war nicht gerade tröstlich.
Kamen ging ins Badezimmer und wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser. Dann machte er in seinem Zimmer das Licht an und nahm sich einen der alten Wälzer vor, den er in der Hoffnung durchforstete, darin eine Lösung für wenigstens eines seiner schwierigen Probleme zu finden. Meistens war ziemlich schnell klar, dass er nichts finden würde. Dann durchsuchte er ihn nach Zaubersprüchen für Angriffs- und Verteidigungszauber. Alles war nützlich, was den Schattenwandlern helfen würde, wenn Apep seinen nächsten Angriff startete.
Er hatte schon einige Stunden gelesen, als sein Blick auf eine Stelle einer Papyrusrolle fiel – Hieroglyphen, die einen Gott beschrieben, welcher mithilfe seiner besonderen Macht zwölf Wesen in zwei feindliche Lager spaltete.
Dass es sich bei diesem Gott um Apep handeln musste, war Kamen sofort klar. Offenbar hatte Apep seine Macht eingesetzt, um die Nation der Schattenwandler zu entzweien. Weiter unten im Text hieß es, der Gott wäre an den Folgen eines Fluches gestorben. Das war eine neue Information. Kamen spürte, wie er von Aufregung erfasst wurde. Es war ein seltenes Gefühl für einen Mann wie ihn, der schon lange jede Hoffnung aufgegeben hatte. Wenn der Gott einem Fluch erlegen war, dann bedeutete dies, dass er wirklich sterben konnte. Sein Leib war also doch verletzlich, man konnte ihn doch töten. Die Frage war nur wie. Wie sollten sie Apeps fleischliche Hülle vernichten, wenn sie ihm bis jetzt kaum einen Kratzer hatten zufügen können, obwohl sie es mit aller Macht und all den von Menschen entwickelten Waffen versucht hatten? Jemand hatte ihm mitten ins Herz geschossen, und Apep hatte nicht einmal mit der Wimper gezuckt. Wenn eine Kugel ihm nichts anhaben konnte, was dann?
Doch die nächsten Hieroglyphen waren noch aufschlussreicher. Sie zeigten, wie der Gott wieder auferstand, wie er Menschen versklavte und mit seinen Kräften tötete – und dann stand da geschrieben, wie die zwölf Wesen sich verbündeten und gemeinsam gegen den Gott kämpften. Und ihn am Ende töteten.
Bedeuteten diese Hieroglyphen wirklich das, was er dachte? Dass alle zwölf Nationen der Schattenwandler erst zusammenfinden mussten, um diesen Gott zu besiegen? Wenn das stimmte, dann standen sie vor einer unlösbaren Aufgabe. Die beiden Gruppierungen konnten einander nicht sehen. Viel problematischer war jedoch, dass die zwölfte Nation, die Geister, mit allen anderen Schattenwandlern verfeindet war. Zwar hatte in den letzten Jahrzehnten eine Art stillschweigender Waffenstillstand geherrscht, der aber eher darin bestand, dass keiner gegen den anderen vorging. Doch jeder Schattenwandler, der ihrer Fraktion angehörte – der Fraktion, die inzwischen die Zweite Fraktion genannt wurde –, wusste genau, wie grausam die Geister waren. Es war den Geistern egal, ob sie jemanden berührten, obwohl ihre Berührung für alle anderen den sofortigen Tod bedeutete. Die Erste Fraktion konnte von Glück sagen, dass sie nichts von den Geistern wusste. Den anderen ließen sie das Blut in den Adern gefrieren.
Aber, wenn sie es nun doch schafften, die Geister mit an den Verhandlungstisch zu holen? Vielleicht konnte man ihnen verständlich machen, dass es für alle das Beste wäre, wenn sie zusammen gegen den Gott Apep kämpften. Sicher hatten auch die Geister etwas zu verlieren.
Aber in den Hieroglyphen stand nichts darüber, wie die Zwölf einen Angriff gegen den Gott koordinieren sollten. Ägyptische Schriftzeichen waren immer vieldeutig. Sachverhalte ließen sich nur in groben Zügen darstellen. Große philosophische Debatten konnte man aus ihnen nicht ableiten.
Vorsichtig strich Kamen über den alten Papyrus. Auch wenn die wenigen, prägnanten Bilder einfach waren, enthielten sie doch immerhin eine Art von Geschichte, eine Erklärung, eine Vorstellung davon, wie man alles zu einem guten Ende bringen könnte. Er markierte die Seite mit einem Lesezeichen und suchte weiter in den Schriftrollen. Doch er fand keine weiteren Hinweise.
Zwölf Nationen, die gemeinsam handelten.
Einen Versuch war es wert. Doch ihm stand es nicht zu, einem solchen Plan zuzustimmen oder ihn abzulehnen. Seine Rolle war nur die eines Berichterstatters.
Wenn der Morgen graute, würde er den anderen mitteilen, was er aus den Schriften erfahren hatte.
Isabella Russ, die für die meisten einfach nur Bella oder Bella die Vollstreckerin war, hatte fast die ganzen letzten sieben Monate in New Mexico verbracht. Sie musste vor Ort sein, denn nur hier konnte sie eng mit Kamenwati, dem gelehrtesten Mann unter den Körperwandlern, zusammenarbeiten. Nur deshalb war sie, wenn auch sehr widerwillig, nach New Mexico gezogen und hatte ihre Kinder mit auf das Anwesen gebracht. Der Gott Apep wusste, wo sich das Anwesen befand und hatte es schon einmal angegriffen. Hier war es also gefährlich für die Kinder.
Aber allein schon der Gedanke, tagelang von ihnen getrennt zu sein, war inakzeptabel. Sie wollte kein Geist im Leben ihrer Kinder sein, vor allem jetzt nicht, während der wichtigsten Jahre ihrer Entwicklung. Leah war schon zehn, und es machte ihr nichts aus, wenn sie für kürzere Zeit von ihrer Mutter getrennt war. Aber für Bellas Sohn galt dies nicht. Er war noch zu klein und hatte erst vor Kurzem die Meilensteine im Leben eines gerade vierjährigen Kindes wie Laufen zu lernen und selbstständig aufs Klo zu gehen hinter sich gebracht.
Trotzdem quälte Bella sich ständig mit der Vorstellung, dass die beiden möglicherweise in die Schusslinie gerieten. Zum Glück war auch ihr Vater hier, und er hatte sie immer beschützen können. Auch einige ihrer Freunde unter den anderen Schattenwandlern aus der Ersten Fraktion lebten auf dem Anwesen. Sagan und Valera waren hier – der ehemalige Priester der Schattenbewohner und seine Frau, die Hexe. Und Jasmine und Adam – die engste Vertraute des Vampirprinzen und ihr dämonischer Ehemann. Und dann noch Windsong, eine Anführerin der Mistrale, und Jinaeri, ein lykanthropischer Gelehrter.
Gemeinsam repräsentierten sie die gesamte Erste Fraktion, wobei jede Spezies durch ein Mitglied vertreten war. Was die Zweite Fraktion betraf, lebten hier etliche Körperwandler – ein Nachtengel namens Faith und Leo, ihr menschlicher Ehemann, der oft als Übersetzer auftrat und im Gebrauch von Waffen einiges an praktischer Erfahrung aufzuweisen hatte. Dann war da noch die Dschinn namens Kat und ihr Ehemann, ein Wasserspeier oder besser Gargoyle. Allerdings gehörten die Gargoyles streng genommen nicht zur Zweiten Fraktion, weil sie die Nachkommen der Körperwandler waren. Bella hatte erfahren, dass die Gargoyles von Templern erschaffen worden waren, die sie als Sklaven hatten einsetzen wollen. Repräsentanten der Mysticals, Phönixe oder Geister lebten nicht auf dem Anwesen – und wie es die Zweite Fraktion darstellte, war das auch gut so.
Doch Bella wurde den Gedanken nicht los, dass sie die Phönixe und Mysticals hier noch brauchen würden. Als sie sich für den Abend umzog, dachte sie immer noch darüber nach. Um irgendwie lebendig aus diesem Riesenschlamassel herauszukommen, brauchten sie jede Unterstützung, die sie kriegen konnten.
Sie lag ganz richtig mit ihren Überlegungen, wie sich schon eine Stunde später bei ihrem Treffen mit Kamen zeigte. Er erzählte ihr, mithilfe von Leo, der für sie beide übersetzte, von seiner Entdeckung.
»Aber, wenn stimmt, was du sagst, dann müssen wir die Phönixe und die Mysticals mit ins Boot holen. Und die Geister auch.«
»Das hier müssen wir ohne die Geister schaffen. Glaub mir, wir dürfen uns nicht auf sie einlassen. Sie sind zu gefährlich.«
»Na ja, nach dieser Prophezeiung brauchen wir aber zumindest einen Geist auf unserer Seite. Nur eine Gruppe aus zwölf Mitgliedern wird Apep niederschlagen können. So habe ich die Prophezeiung verstanden«, sagte Bella.
»Du meinst doch nicht im Ernst, dass wir einfach zwölf Leute gegen einen Gott antreten lassen sollen?« Kamen war entsetzt.
»Natürlich nicht. Aber wir brauchen mindestens zwölf. Einen von jeder Nation. Und das bedeutet, dass wir uns mit mindestens einem Geist gut stellen müssen.«
Kamen dachte einen Moment lang über ihre Worte nach. »Dann ist offenkundig, was getan werden muss. Wir müssen mit jeder der zwölf Nationen Kontakt aufnehmen und ihre Repräsentanten hierher einladen.«
»Aber wie willst du Gesandte finden, die den Kontakt aufnehmen?«, fragte Leo. »Bei unserem letzten Treffen mit den Geistern hätten sie Faith und mich fast getötet.«
»Ich weiß es nicht, aber jemand muss es versuchen«, sagte Kamen.
»Wir sollten uns zuerst an die Phönixe und die Mysticals wenden. Lass uns mit den einfachen anfangen«, sagte Bella.
»Den einfachen?«, fragte Kamen. »Wir versuchen seit Monaten, sie zu kontaktieren und zur Zusammenarbeit mit uns zu bewegen. Viel Interesse haben sie nicht gezeigt.«
»Na gut, dann müssen wir eben jemanden schicken, der unseren Vorschlag für sie interessant macht«, sagte Bella.
Kamen schwieg einen Moment, dann sagte er: »Ich sollte gehen.«
»Du? Warum denn du? Dich brauchen wir doch hier, damit du erforschst, wie wir diesen Fluch brechen.«
»Ich muss es tun«, sagte Kamen mit fester Stimme. »Ich muss etwas anderes tun, als nur Bücher zu wälzen. Beim jetzigen Stand der Dinge bist du ebenso geeignet, weitere Nachforschungen zu betreiben. Lass mich solange den Höfen der anderen drei Schattenwandler einen Besuch abstatten.«
»Dann willst du also wirklich versuchen, mit den Geistern Kontakt aufzunehmen?«
»Wir müssen zumindest den Versuch wagen und auf sie zugehen. Vielleicht überraschen sie uns ja.«
»Oder sie bringen dich um. Das kann ich nicht zulassen. Auf keinen Fall gehst du alleine. Du solltest zumindest Leo mitnehmen. Er ist ein Mensch und immun gegen ihre tödliche Berührung.«
»Das glauben wir nur«, erwiderte Kamen. »Bewiesen ist es noch lange nicht.«
»Du kannst nicht alleine gehen. Das wäre glatter Selbstmord.«
»Es ist quasi Mord, wenn wir mehr als ein Leben aufs Spiel setzen – und es wirkt weniger bedrohlich, wenn nur ein einzelner Gesandter auftaucht und nicht gleich ein ganzer Trupp von Schattenwandlern vor ihrer Haustür steht.«
»Er hat recht«, mischte Leo sich ein. »Ein durchtrainierter Mann kann viel leichter irgendwo hineinkommen als sechs. Nur würde ich Kamen nicht gerade als durchtrainiert bezeichnen.«
»Ich kann gut auf mich selbst aufpassen«, sagte Kamen brüsk. »Was meine Kraft betrifft, war mir bei den Templern nur Odjit überlegen. Ich kann mir die Geister solange vom Leib halten, bis ich sie zum Reden gebracht habe, und ich kann schneller fliehen als irgendjemand sonst. Es ist allerdings einfacher, wenn ich mir dabei nicht auch noch um einen Begleiter Sorgen machen muss.«
»Mich hast du überzeugt«, sagte Leo. »Ich bezweifle aber, dass du Jackson überzeugen wirst.«
»Wenn du den Anführer der Fraktion der Körperwandler dazu bewegen möchtest, dass er dir diesen Alleingang erlaubt«, sagte Bella, »dann triffst du dich lieber unter vier Augen mit ihm. Es gibt hier zu viele Leute, die dir absolut das Schlimmste zutrauen und dich niederschießen, bevor du auch nur Buh sagen kannst.«
»Das ist mir bewusst«, erwiderte Kamen grimmig. »Aber ich weiß nicht, wie ich es schaffen soll, mich mit Jackson alleine zu treffen.«
»Aber ich«, sagte Leo. »Er ist immerhin mein bester Freund. Wenn ich ihn bitte, sich mit mir unter vier Augen zu treffen, dann kommt er sicher alleine. Bella, du kannst hierbleiben und weiterforschen.« Er deutete auf die Berge von Büchern, die in die Bücherei getragen worden waren, damit Bella und Kamen sie durchforsten konnten.
Sie nickte und sah den beiden nach, als sie gingen. Dabei kreuzte sie die Finger. Zu viele Variablen waren im Spiel – das ganze Unterfangen war eine bescheuerte Idee. Doch Bella hatte das Gefühl, dass Kamen Jackson überzeugen würde – und wenn er sich dafür umbringen musste.
Leo hatte ihn gebeten, alleine zu kommen, und Jackson war außerordentlich neugierig, als er Leos Gemächer betrat. Es überraschte ihn, als er sah, dass auch Kamen anwesend war. Kamen und Leo legten ihm ihren Plan und die Beweggründe dar, und Jackson sah nichts, was dagegen sprach.
»Du hältst das also für eine gute Idee«, stellte Leo fest, der anscheinend geschockt war, dass Jackson sich hatte so leicht überzeugen lassen. Er wunderte sich, dass Jackson Kamenwati offensichtlich vertraute – seit er zu ihnen übergelaufen war, hatte man den Mann kaum vom Grundstück gelassen.
»Ich halte es für eine großartige Idee – wir haben lange genug auf eine gute Idee gewartet. Wir merken doch alle, dass uns die Zeit davonläuft. Wir müssen den anderen Schattenwandlern klarmachen, dass es in ihrem eigenen Interesse ist, wenn sie sich uns anschließen. Und wer kann diese Überzeugungsarbeit besser leisten, als der Mann, der das Problem verursachte und es besser versteht als wir alle anderen?«
»Na ja, so kann man es auch sehen«, sagte Kamen trocken.
»Es ist die Wahrheit. Oder etwa nicht?«
»Doch, die volle Wahrheit«, gab Kamen unumwunden zu. »Ich weiß, dass ich in der Verantwortung stehe – das wusste ich schon von Anfang an. Deshalb bin ich ja hierhergekommen. Mir ist bewusst, dass ich für vieles Buße tun muss – und nicht nur für dieses Verbrechen. Erlaube mir, dass ich meine Schuld abtrage.«
»In Ordnung. Machen wir es so. Aber nimm eines der Haus-Handys mit und melde dich pünktlich alle paar Stunden. Auf die Weise erfahren wir am schnellstens, ob die Geister dich umgelegt haben, und können uns sofort einen Plan B überlegen. Wir sollten eh sofort einen Alternativplan vorbereiten, für den Fall, dass du an irgendeinem Punkt scheiterst.«
Kamen nickte zustimmend.
Jackson redete weiter. »Dann haben wir also alles geregelt? Fang mit den Geistern an. Sie sind der härteste Brocken und am gefährlichsten. Danach gehst du am besten nach Brasilien und kümmerst dich um die Phönixe. Sie leben am weitesten entfernt. Während du damit beschäftigt bist, nehmen wir Kontakt zu Grey auf. Als ich das letzte Mal dort war, hatte er eine geflügelte Stute in seinem Stall. Vielleicht kann sie uns sagen, wo wir den Anführer ihrer Leute finden.«
»Soweit ich das verstanden habe, ist sie die Herrscherin der Mysticals«, sagte Leo. »Zumindest hat Grey das behauptet, meine ich. Auf jeden Fall hat er Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um das geflügelte Pferd aus der Hand der Geister zu befreien. Sie muss wichtig sein. Allerdings nur, wenn sie sich aus ihrer mystischen Gestalt zurück in ihre Menschengestalt verwandelt und wieder sprechen kann. Ich weiß, dass Grey sie genau dazu bringen möchte, aber nach dem letzten Stand der Dinge hatte er damit wohl noch kein Glück. Offenbar ist sie außerordentlich misstrauisch. Verständlicherweise, wenn man bedenkt, dass die Geister sie gefangen gehalten hatten. Grey behandelt sie seit ihrer Befreiung wie eine Prinzessin. Das bringt hoffentlich etwas.«
»Hoffentlich«, sagte Jackson und wandte sich wieder an Kamen. »Weißt du, wie du die Phönixe findest?«
»Ihre Hauptkolonie ist in Brasilien, wie du schon sagtest. Wo genau, scheint allerdings niemand zu wissen«, erwiderte Kamen. »Aber ich kenne einen Findezauber, mit dem ich direkt zu ihnen gelange – oder zumindest ziemlich in ihre Nähe. Der Zauber bringt mich an einen Ort mit hohem Kraftaufkommen. So haben wir oft die Häuser eurer Fraktion ausfindig gemacht.«
»Nicht schlecht«, sagte Jackson. »Ich habe mich immer gefragt, wie ihr das geschafft habt. Egal, wo wir hingezogen waren, habt ihr uns immer wieder aufgestöbert.«
»Es funktioniert nur mit Orten, an denen magische Kräfte konzentriert auftreten. Die Phönixe haben sehr starke Kräfte. Wenn ich ihre Kolonie entdecke, finde ich hoffentlich auch den oder die Anführer.«
»Das könnte klappen. Bisher hatten wir noch kein Glück damit. Du hast ganz schön viel vor.«
»Das macht mir nichts aus.«
»Aber du solltest die Geister ernster nehmen – sie sind gefährlich. Sie können in dich eindringen. Dann legen sie eine Hand um dein Herz und nehmen feste Gestalt an, sodass sie dich von innen anfassen. Doch das müssen sie nicht – es genügt eine leichte Berührung der Haut, und man ist tot. Die Todeshand der Geister – dagegen kannst du nichts tun.«
»Ich bin mir der Gefahren bewusst, Leo. Aber danke für die Warnung.«
Leo runzelte die Stirn. »Sichere dich immer auch nach hinten ab. Ehrlich gesagt kann ich mir nicht vorstellen, dass du Erfolg hast. Ich habe eher das Gefühl, du suchst den Tod. Aber, he, du musst tun, was du nicht lassen kannst. Ich halte dich nicht zurück. Immerhin könnte diese verrückte Idee ja tatsächlich funktionieren. Falls es wirklich zu einer Schlacht kommen sollte, wird meine Frau ganz vorne an der Front stehen. Ihre Abwehr- und Schutzkräfte sind so stark, dass es ihr einmal gelungen ist, Apep Schaden zuzufügen, indem sie seine eigene Kraft auf ihn zurücklenkte. Aber mehr haben wir bisher nicht gegen ihn einsetzen können. Ich kenne keinen, der es mit den Kräften eines Gottes aufnehmen könnte, deshalb brauchen wir einen Schlachtplan, und zwar dringend.«
»Das hier ist der Schlachtplan. Wenn alle anderen Fraktionen mit an Bord sind, gehen wir die nächste Phase an. Bis dahin exerziere ich mit unseren Leuten weiterhin wie schon die letzten sieben Monate. Ich möchte, dass alle kampfbereit und voll einsatzfähig sind«, sagte Jackson.
»Kampfbereit sind wir jetzt schon«, erwiderte Leo. »Das Problem ist, wie wir unsere Angriffe mit denen anderer Gruppierungen koordinieren sollen, wenn wir unsere Mitkämpfer nicht mal sehen.«
»Also müssen Menschen die Nachrichten zwischen beiden Seiten übermitteln. Offen gesagt, wäre es mir aber lieber, wenn sich keine völlig wehrlosen Menschen in der Nähe befänden, wenn der Kampf beginnt.«
»He!« Leo konnte die Worte seines besten Freundes nicht einfach so auf sich sitzen lassen.
»Du bist ein Söldner, Leo, und du bist gut im Einsatz gegen menschliche Gegner. Sogar sehr gut – einer der Besten. Aber Apep ist kein Mensch. Und wenn du denkst, er kommt alleine, dann täuschst du dich gewaltig. Diesen Fehler begeht er sicher nicht noch einmal. Er wird seine Gefolgsleute mit in den Kampf schicken, und das sind nicht wenige.«
»In dem Falle brauchen wir mehr Schattenwandler«, erwiderte Leo. »Und das Haupthaus ist schon so voll, da können wir niemanden mehr unterbringen.«
»Wir haben noch die beiden anderen Häuser auf dem Anwesen. Sie sind zwar viel kleiner, aber ein paar Leute können dort wohnen. Leo, rede mit der Ersten Fraktion. Wir müssen wissen, wen sie noch für unsere Sache gewinnen können. Wir belegen eines der Häuser mit der Ersten Fraktion, das andere mit der Zweiten. Und dann können wir nur hoffen, dass dabei nicht das totale Chaos ausbricht.«
»Wir haben drei Übersetzer, die immer einsatzfähig sind: Max, der menschliche Assistent von Jackson, ich und Angelina, die Menschenschwester von Marissa. Ich finde heraus, ob die Erste Fraktion noch irgendwelche Menschen kennt, die uns helfen könnten. Menschen, denen sie vertrauen.«
»Gut«, brummte Jackson. »Jeder weiß, was er zu tun hat? Dann machen wir uns an die Arbeit.«
Kamen verließ die Zusammenkunft mit einem guten Gefühl. Die Entscheidungen, die er getroffen hatte, waren richtig. War es ein selbstmörderischer Plan? Ja. War es Selbstmord, wenn er nicht loszog? Ganz bestimmt. Aber so hatten sie zumindest eine Chance, auch wenn sie noch so klein war. Doch wenn er nichts unternahm, würden sie auf jeden Fall verlieren. Wenigstens konnte er jetzt endlich etwas tun. Als er durch die Tür in seine Gemächer trat, runzelte er die Stirn. Viel zu viel Zeit hatte er in diesen Räumen verbracht, seit er vor fast einem Jahr auf das Anwesen gekommen war. Er konnte sie nicht mehr sehen und war froh, dass er hier endlich wegkam, auch wenn er dabei sein Leben aufs Spiel setzte. Aber er war schon früher gestorben, und er würde immer wieder sterben. Er hatte keine Angst vor dem Tod. Seine Seele würde einfach für hundert Jahre im Äther verbleiben, ehe er wiedergeboren wurde. Angst hatte Kamen nur davor, dass er sterben könnte, ehe diese katastrophale Situation geregelt war. Dann hätte er Tausende von Leben auf dem Gewissen. Er machte sich nichts vor: Tausende, wenn nicht Hunderttausende von Leben würden diesem Gott geopfert werden, wenn sie ihm nicht Einhalt geboten.
Vielleicht sogar noch mehr. Vielleicht sogar fast die gesamte Menschheit.
Noch etwas anderes stand auf dem Spiel. Im Moment lebten die Spezies der Schattenwandler noch im Verborgenen. Sehr wenige Menschen wussten überhaupt von der Existenz von Dämonen oder Körperwandlern, und noch weniger Menschen war klar, dass es tatsächlich Vampire gab. Er selbst hatte, ehrlich gesagt, auch lange nicht geglaubt, dass Vampire, Lykanthropen und Dämonen wirklich existierten, und dabei war er ein Schattenwandler. Aber wenn die Menschen herausfanden, dass es diese Wesen wirklich gab – na ja, was dann passierte, konnte sich jeder leicht ausmalen. Wenn Menschen Angst vor etwas hatten, wurden sie aggressiv und vernichteten es, ohne auch nur den Versuch zu unternehmen, es verstehen zu wollen. Kamen brauchte sich nur in einen Menschen hineinzuversetzen, der erfuhr, dass es Vampire tatsächlich gab. Angesichts der Horrorliteratur, die über Vampire verfasst worden war, würde er die Gefahr, die von ihnen ausging, wahrscheinlich auch eliminieren wollen.
Allerdings – vielleicht würde er auch anders reagieren. Zuerst hatte ihn die Tatsache, dass Vampire wirklich existierten, auch verängstigt, aber das war nur seiner Unwissenheit zuzuschreiben. Es war ihm nicht leichtgefallen, diesen neuen Schattenwandlern zu vertrauen – Schattenwandlern, die man weder spürte, noch berühren oder einschätzen konnte. Es gab keine Gesichter, in deren Mienenspiel man hätte lesen können, wenn sie sprachen; es gab keine Körpersprache, die einem Signale gab, ob sie logen oder die Wahrheit sagten. Man musste ihnen, im wahrsten Sinne des Wortes, blindes Vertrauen entgegenbringen.
Aber mit all seinen anderen Sinnen hatte Kamen gespürt, dass diese Spezies sein Vertrauen verdiente. Als der Dämonenkönig Noah gestanden hatte, dass kriminelle Vampire umgingen, die Schattenwandler töteten, um ihnen ihre Kräfte zu stehlen, war das eine Art Vertrauensbeweis gewesen. Dass auch in ihren Kreisen nicht alle perfekt waren, hatte sie für Kamen realer gemacht – weniger erhaben, aber vertrauenswürdiger.
Es faszinierte ihn, dass niemand aus der Ersten Fraktion der Schattenwandler Magie anwenden konnte, ohne davon »verdorben« zu werden. Magie verdüsterte ihre Seelen und vergiftete ihre Gedanken – genau wie bei Menschen, die versuchten, Magie für ihre Zwecke einzusetzen. Früher hatte er angenommen, dass jede Spezies der Schattenwandler stark genug war, um magische Kräfte zu beherrschen und zu lenken. Doch anscheinend hatte er sich geirrt. Die einzigen Spezies auf ihrer Seite, die Magie unbeschadet anwenden konnten, waren die Körperwandler und die Dschinn. Die magischen Kräfte der Nachtengel kamen eher aus ihrem Inneren, und sie unterschieden sich von Engel zu Engel. Die Geister schienen alle die gleichen Fähigkeiten zu besitzen, und sie waren angeboren, also nicht magisch. Phönixe und Mysticals – nun, sie wussten so wenig über diese beiden Spezies, weshalb er nicht einmal spekulieren wollte.
Aber das alles spielte im Moment keine Rolle. Er musste sich auf wichtigere Dinge konzentrieren. Kamen fragte sich, warum er so darauf bestanden hatte, alleine zu gehen. Ein weiterer Fremder hätte auf Schattenwandler sicherlich nicht besonders bedrohlich gewirkt. Aber Kamen wollte nicht noch ein Leben aufs Spiel setzen. Schlimm genug, dass seinetwegen schon andere umgekommen oder ihr Leben zerstört worden war. Wenn irgend möglich, wollte er nicht noch mehr Leben auf dem Gewissen haben.
Und natürlich ließen die anderen ihn alleine auf diese Todesmission gehen, weil sie es für seine gerechte Strafe hielten, da er ihnen die Situation überhaupt erst eingebrockt hatte.
Kamen packte Kleider zum Wechseln in einen Rucksack, dazu ein paar lebenswichtige Dinge: sein Notizbuch mit den Zaubersprüchen, einige Kräuter und andere Zutaten für kompliziertere Zauber. Und etwas zum Lesen und Studieren, falls er Warte- oder Ruhezeiten zu überbrücken hatte. Das Notizbuch müsste er nicht unbedingt mitnehmen, denn er hatte alles, was er wissen musste, sorgsam auswendig gelernt. Doch vielleicht fand er in dem Buch, das er zum Lesen mitnahm, ein paar neue Zauberformeln, und er notierte sie gerne alle an einem Ort, vor allem, wenn er sich etwas Neues beibrachte.
Kamen nahm den Rucksack und wandte sich der Tür zu, um das Gemach zu verlassen. Links von der Tür hing ein Spiegel, und als er daran vorbeiging, sah er aus dem Augenwinkel sein Spiegelbild. Er hielt inne und betrachtete sich kritisch. Wäre er der Herrscher einer fremden Kultur, wie würde er den Mann, der ihm da entgegenblickte, einschätzen?
Kamen konnte nur hoffen, dass die fremden Herrscher die Wahrheit nicht erahnten.
Es war viel leichter als erwartet, die nächstgelegene Festung der Geister zu finden. Kamen hatte angenommen, dass sie zumindest ansatzweise Vorkehrungen ergriffen hätten, um sich gegen eine Entdeckung durch Feinde abzusichern.
Aber es gab keinerlei Sicherheitsmaßnahmen. Er hatte Glück. Lieber wäre er gleich direkt zu dem Ort gegangen, wo sich das Oberhaupt der politischen Struktur der Geister aufhielt, falls sie überhaupt so etwas wie ein Oberhaupt – oder eine politische Struktur – hatten. Aber er wusste nicht, wie er diesen Ort hätte ausmachen sollen, deshalb begann er mit dem, was am Nächsten lag.
Kamen konnte mithilfe von Magie in einem Strahl von Ort zu Ort »fliegen« – eine irrwitzig schnelle Form des Reisens. Er kombinierte einen Findezauber und den Blitzflugzauber, und das brachte ihn fast direkt auf die Türschwelle einer Geister-Behausung. Es war natürlich Nacht, denn das Sonnenlicht würde ihn erstarren lassen. Er stand vor einem Haus und erkannte sofort, dass die Dunkelheit dem, was immer sich im Innern des Hauses befand, einen Vorteil verschaffte. Nur eine einzige Berührung, und er wäre tot. Allerdings kannte er einen Schutzzauber, der eine Art Blase um ihn bildete, von der alles abprallte, das mit ihr in Kontakt kam. Der Zauber brauchte viel Energie und eine hohe Konzentration, aber solange Kamen ruhig blieb, sollte es eigentlich klappen. Er sah sich um, während er den Zauber heraufbeschwor. Das Haus stand mitten in einer abgeschiedenen Gegend, die wie normales Ackerland aussah. Weite Felder erstreckten sich in alle Richtungen. Ein kurzer Zauber, und Kamen wusste, dass er sich mitten im Staate Iowa befand. Corn Country – Maispflanzen, so weit das Auge blickte.
Das Gebäude selbst war ein verwunschener kleiner Bauernhof. Er war alt – Generationen waren unter seinem Dach geboren und gestorben –, doch er wirkte gepflegt. Der hübsche Vorgarten war sorgsam angelegt. Offensichtlich verbrachte hier jemand viel Zeit mit Gartenarbeit.
Diese Gedanken gingen Kamen noch durch den Kopf, als eine Frau um die Hausecke kam. Ihre Hände steckten in Gartenhandschuhen, und sie trug eine Anzuchtschale mit Setzlingen.
Es war Kamen sofort klar, dass sie ein Geist sein musste. Sie war bleich – geisterhaft bleich –, und ihre langen Haare, die zu einem kessen Pferdeschwanz zusammengebunden waren, wiesen eine stahlgraue Farbe auf. Aber sie sah überhaupt nicht aus wie die Geister, denen Kamen früher begegnet war. Eigentlich war sie sogar ziemlich hübsch, überhaupt nicht ausgemergelt, und auch ihre Knochen standen nicht hervor. Sie hatte hohe Wangenknochen, aber ansonsten war ihr Gesicht weich und rund.
Kaum hatte sie Kamen erblickt, erstarrte sie mitten in der Bewegung. Beinahe wäre ihr die Anzuchtschale entglitten, doch sie fing sich gerade noch rechtzeitig und zog die Setzlinge an sich, als böten sie ihr Schutz vor ihm.
»Wa-was wollen Sie hier?«, stieß sie hervor. »Das ist P-Privatbesitz.« Sie schaute sich schnell um und warf dabei einen sehnsüchtigen Blick auf die Eingangstür des Hauses. Offensichtlich schätzte sie ab, ob sie an ihm vorbei ins Innere flüchten könnte, ehe er sie packte.
»Ich habe schon einige Geister gesehen, aber Sie sehen gar nicht wie einer aus«, sagte Kamen.
Wäre ihre Hautfarbe nicht schon weiß gewesen, dann wäre sie jetzt erbleicht. »S-Sie wissen, wer wir sind?« Sie klang ungläubig. Dann bekam sie es mit der Angst zu tun. »Was bist du? Mach, dass du wegkommst! Sonst schreie ich!«
»Ich will Ihnen nichts tun. Ich will nur reden – Kontakt herstellen zwischen Körperwandlern und Geistern, um vielleicht eine Art Waffenstillstand …«
Sie unterbrach ihn mit einem kurzen harten Lachen. »Du bist ein Körperwandler? Die Körperwandler würden uns doch am liebsten tot sehen, so wie alle Schattenwandler.«
»Das stimmt nicht«, sagte er. »Ja, es gab früher Feindseligkeiten, aber die derzeitige Führung der auf Diplomatie bedachten Fraktion der Körperwandler hat Interesse an einem friedlichen Abkommen. Gibt es einen Anführer der Geister? Irgendjemanden, mit dem ich das alles besprechen kann?«
»Wenn du an die Tür klopfst« – sie nickte in Richtung der Tür – »dann ist dir die Aufmerksamkeit aller Geister im Haus gewiss. Aber sie brauchen gar nicht erst herauszukommen, weil ich dich nur berühren muss, und dann bist du tot.«
Kamen dachte einen Moment lang über ihre Drohung nach. »Warum hast du dann solche Angst vor mir?«
Ihre Hände, die immer noch die Anzuchtschale umklammerten, verkrampften sich.
»Ich habe keine Angst vor dir. Aber du musst ein sehr mächtiger Schattenwandler sein, wenn man dich ganz alleine zu den Geistern schickt.«
Sie war nicht auf den Kopf gefallen, das musste er zugeben.
»Ja, ich bin ein mächtiger Schattenwandler. Aber ich werde meine Kräfte nur einsetzen, wenn man mir keine andere Wahl lässt. Ich hätte dich schon längst überwältigen können, aber ich habe es nicht getan. Stattdessen reden wir miteinander, und das ist alles, was ich vorerst möchte. Ich will nur mit den Geistern reden und ihnen erklären, warum ich hier bin und worum es geht.«
»Warum?«, fragte sie. »Warum wollt ihr Frieden mit den Geistern schließen?«
Kamen war sich nicht sicher, ob er gleich Einzelheiten preisgeben sollte, aber dann tat er es doch.
»Weil eine gefährliche Situation entstanden ist, die alle Spezies der Schattenwandler betrifft und die droht, jeden Moment zu eskalieren. Die Körperwandler werden als Erstes dran sein, aber irgendwann wird es auch die Geister treffen. Es ist nur eine Frage der Zeit.« Er musterte sie von Kopf bis Fuß. Sie war kleiner als er – viel kleiner. Eine zierliche Frau, aber vollbusig, soweit er das angesichts des Tanktops erkennen konnte, das sie zu einer verwaschenen Jeans trug, die an den Knien frische Flecken von feuchter Erde aufwies. Der schön angelegte Vorgarten war offensichtlich ihr Werk. Die Vorstellung, dass ein Geist solche normalen Dinge tat, verwirrte Kamen. Geister, die Setzlinge zogen und denen offensichtlich etwas daran lag, dass der Hof einen guten Eindruck machte? Es kam ihm so – menschlich vor.
»Sie werden dir nicht glauben«, sagte sie und reckte das Kinn etwas. »Und man kann keine ganze Spezies einschüchtern, die einen mit einer einzigen Berührung zu töten vermag.«
»Ich habe keine Zeit, dir das alles genau zu erklären. Ich muss mit eurem Anführer sprechen, mit demjenigen, der bei euch das Sagen hat. Am liebsten wäre mir eine Person, auf die alle Geister hören, aber ich kann auch weiter unten in der Hierarchie anfangen und mich hocharbeiten. Doch ich bin nicht bereit, dir alles zu erzählen, wenn ich es danach noch einmal ausbreiten muss. Wie wär’s, wenn du ins Haus gehst und denjenigen herausholst, der hier das Sagen hat?«
»Jemand, auf den alle Geister hören?« Sie sah ihn mit offenem Mund an. »Du möchtest mit dem Doyen sprechen?«
»Ist das der Titel eures Anführers?«
Sie nickte.
»Dann ja. Ich möchte mit eurem Doyen sprechen. Mit wem soll ich denn sonst ein Friedensabkommen schließen?«
»Ich dachte, du möchtest nur hier mit dieser Zelle reden. Ich wusste nicht, dass du im Ernst glaubst, du könntest so etwas ganz alleine durchziehen.« Sie musterte ihn aus schmalen Augen. »Warum bist du ganz alleine hier? Sollte ein Abgesandter der Körperwandler nicht Begleiter haben? Um ihn bei den Friedensverhandlungen zu unterstützen oder so.«
»Wir dachten, es wirkt weniger bedrohlich, wenn ich alleine komme.«
Sie verlagerte ihr Gewicht von einem Fuß auf den anderen. Dann kaute sie an ihrer Unterlippe.
»Ich muss jeden töten, der in die Nähe des Hofes kommt. Das gilt für uns alle. Ich hätte dich schon längst umbringen sollen.«
»Aber du hast es nicht getan«, stellte er fest.
»Ich möchte die Pflanzen nicht fallen lassen.«
»Ich warte, bis du sie abgestellt hast«, erklärte er höflich.
»H-hast du gar keine Angst? Ich muss dich wirklich nur berühren.« Sie ging langsam in die Knie und stellte die Anzuchtschale mit den Setzlingen sanft im Gras ab. Als sie sich wieder aufrichtete, kaute sie noch immer an ihrer Lippe herum. Eine bezaubernd süße Erscheinung, die ganz und gar nicht bedrohlich wirkte.
»Dann berühr mich«, forderte Kamen sie leise auf.
Sie zog die Gartenhandschuhe aus, ließ sie neben den Setzlingen zu Boden fallen und rieb die schmalen, schlanken Hände aneinander.
»Wenn ich dich nicht töte, bekomme ich wahrscheinlich Riesenärger«, sagte sie. Es klang wie eine Entschuldigung.
»Ich verstehe. Dann lass es uns hinter uns bringen. Los, berühr mich.«
Sie ging zwei Schritte auf ihn zu und blieb dann stehen.
»Du musst schon näher kommen.«
»Bist du eigentlich total bescheuert?«, schrie sie ihn da an. »Warum machst du das?«
»Warum machst du nichts?«, entgegnete er.
»W-weil … weil …« Sie suchte offensichtlich nach einer Ausrede, weil sie ihm den wirklichen Grund nicht verraten wollte.
»Weil du noch nie jemanden getötet hast?«, schlug Kamen hilfsbereit als Erklärung vor.
Sie sah ihn völlig verblüfft an. »Woher weißt du das?«
»Intuition. Na gut, du wirst mich also nicht töten und ich dich auch nicht. Das ist doch zumindest mal ein Anfang. Wie wär’s, wenn wir als Nächstes ins Haus gehen?«
Sie riss die Augen weit auf. »Glaub mir – das willst du nicht. Die da drin haben schon Leute getötet, und auch bei dir werden sie nicht zögern, wenn du in ihr Territorium eindringst. Außerdem hast du keine Ahnung, in welche Bredouille du mich bringst, wenn ich dich durch die Tür lasse.«
»Dann sollen wir uns also hier draußen die Beine in den Bauch stehen und die ganze Zeit anstarren?«, fragte er.
Wieder kaute sie an ihrer Lippe herum, und er kam nicht darüber hinweg, wie naiv und offenherzig die Geste wirkte. Sie sah so unschuldig und wehrlos aus. Es war ein Glück, dass er mit den besten Absichten hier war, anderenfalls wäre sie jetzt schon tot. Bei dem Gedanken runzelte Kamen die Stirn.
»Ich könnte – ich könnte dich woanders hinbringen. Wo sie mich nicht kennen. Ah, jetzt weiß ich! Ich bringe dich direkt zum Amtssitz des Doyen! Da willst du doch eh hin, nicht wahr?«
Interessant, dachte Kamen bei sich. Lieber führte sie ihn direkt ins Herz der Welt der Geister, als dass sie ihn ins Haus ließ. Er fragte sich, was das wohl zu bedeuten hatte.
»Also gut. Wenn dir das möglich ist, dann gerne. Und ja, am liebsten wäre es mir, wenn ich gleich direkt mit euerm Doyen sprechen könnte.«
»Ich – ich muss mir erst noch schnell die Hände waschen und mich umziehen. Können wir uns in zwanzig Minuten vorne an der Zufahrt treffen?«
Kamen sah sie misstrauisch an. »Willst du die anderen holen, damit ihr mich hinterrücks überfallen könnt? Es wäre ziemlich idiotisch von mir, wenn ich dich ins Haus lassen würde.«
»Bitte – ich verspreche dir, dass nur ich komme.«
Aus irgendeinem Grund glaubte Kamen ihr. Er nickte und ging die Zufahrt runter. Die schmale Straße war ziemlich lang, und eine Kurve führte durch ein kleines Feld, auf dem Mais wuchs. Es handelte sich um einen von Hand bepflanzten Nutzgarten, mit dem wohl die Küche versorgt wurde. Trotzdem war der Mais so hoch, dass er sich darin verstecken konnte, sodass niemand ihn vom Hof aus sehen konnte – er das Haus allerdings auch nicht mehr im Blick hatte.
Zur Sicherheit hielt Kamen den Schutzzauber aufrecht. Er hatte keine Ahnung, wie er sich wehren sollte, falls gleich eine ganze Schar von Geistern über ihn herfiel, aber er plante zumindest einen Fluchtweg. Im Notfall würde er im Strahl nach New Mexico zurückkehren und musste dann eben noch einmal von vorn anfangen.
Es dauerte dreißig Minuten, bis sie um die Kurve der Straße auf ihn zukam. Aber das Warten hatte sich gelohnt, fand Kamen. Sie trug das Haar jetzt offen, und es wurde nur von einem juwelenbesetzten Stirnband zusammengehalten, das fast wie ein Diadem aussah. Das Haar fiel ihr in weichen Wellen über Schultern und Rücken. Kamen erschien es viel länger als vorher ihr Pferdeschwanz. Ihm fiel auch auf, dass es nicht einheitlich stahlgrau war. Er entdeckte alle möglichen Schattierungen von schiefer- bis aschgrau und viele Abstufungen dazwischen.
Ihre Haut sah weich aus und wie weiß gepudert. Sie hatte Lidschatten in sanften Pastelltönen aufgelegt, ihre Augen mit einem blauen Lidstrich versehen und die grauen Wimpern mit Mascara geschwärzt. Ihre Lippen waren in einem zarten Rosaton geschminkt. Sie sah ganz und gar wie ein Mensch aus, wenn auch etwas blass.
Die Jeans hatte sie gegen ein langes Kleid eingetauscht, dessen Empiretaille ihren vollen Busen betonte und sie größer wirken ließ, als sie in Wirklichkeit war. Das Kleid war rosa – offenbar eine Lieblingsfarbe von ihr. Es war aus einem weichen Stoff gefertigt, bei dem es sich wohl um Baumwolle handelte, wie Kamen annahm. Der Schnitt verbarg ihre Rundungen, doch das elegante Kleid ließ keinen Zweifel an ihrer Weiblichkeit aufkommen.
Sie hatte sich schick gemacht. Kamen war verwirrt. Tat sie das immer, wenn sie ausging? Oder hatte sie sich so vornehm gekleidet, weil sie ihn zu der ranghöchsten Person in ihrer Gesellschaft führen wollte? Er nahm Letzteres an, aber wenn beide Annahmen stimmten, hätte ihn das auch nicht überrascht. Ohne ihre Arbeitshosen strahlte sie eine gewisse stilvolle Eleganz aus. Ein Auftreten, dem eine vornehme Anmut anhaftete.
Sie war anders als all die Geister, die er bisher kennengelernt hatte. Allerdings war es mindestens hundert Jahre her, seit er das letzte Mal Kontakt zu einem Geist gehabt hatte. In einem Jahrhundert konnte sich sehr viel verändern.
Er wusste das selbst am besten. In seinem vorigen Leben um 1900 herum hatten die Frauen noch kein Wahlrecht besessen und lange Röcke und Korsetts getragen.
»So siehst du richtig gut aus«, sagte er ehrlich, wenn auch nicht besonders taktvoll. Kamen neigte nicht dazu, die Dinge zu beschönigen, und ob er damit andere beleidigte, kümmerte ihn herzlich wenig. Er war rücksichtslos ehrlich. Was er sagte, meinte er auch. Zumindest auf seine Offenheit konnte man sich hundertprozentig verlassen.
»Danke – heißt es dann wohl«, sagte sie.
Vielleicht lag es an dem Rouge, das sie aufgelegt hatte, aber Kamen hatte den Eindruck, dass sie bei seinem Kompliment rot wurde. Offensichtlich war sie es nicht gewohnt, im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen.
»Es ist eine weite Reise nach Nevada. Wo steht dein Wagen?«
»Ich reise nicht mit einem Fahrzeug«, erwiderte er. »Wohin in Nevada?«
»Wenn du kein Fahrzeug hast, wie sollen wir dann dorthin kommen?«, fragte sie hörbar enttäuscht.
»Lass das meine Sorge sein. Hast du eine Adresse?«
»Da gibt es keine richtige Adresse. Es liegt mitten in der Wüste.«
»Ein Haus? Mitten in der Wüste?«
»Also, so was wie ein Haus. Mehr eine Art Bunker. Ein sehr wohnlicher Bunker.«
»Stell dir den Ort in Gedanken vor«, sagte er. Zögernd fuhr er fort: »Damit das funktioniert, muss ich dich berühren.«
»Du kannst mich anfassen. Ich habe meine Gabe unter Kontrolle. Eine Berührung schadet dir nur, wenn ich dir auch Schaden zufügen möchte.«
Dass die tödlichen Berührungen willentlich von den Geistern gesteuert werden konnten, war eine neue Information, von der Kamen noch nie zuvor gehört hatte. Gut zu wissen. Immer noch etwas beunruhigt streckte er die Hand aus und berührte ihre Stirn. Ihre Haut war weich und glatt wie die eines Babys – und warm. Aus irgendeinem Grund hatte er gedacht, sie würde sich kalt anfühlen. Kalt wie der Tod. Doch das rührte nur von seiner Angst her, weil er wusste, dass sie ihn mit einer einzigen Berührung ihrer Finger töten konnte. Sie könnte ihn sogar in diesem Moment töten. Aber wenn er sie richtig einschätzte, dann war sie nicht in der Lage zu töten. Etwas in ihr sträubte sich dagegen. Kamen nahm an, das sich das änderte, wenn sie sich ernsthaft bedroht sah, doch im Moment …
Er schloss die Augen und konzentrierte sich auf ihren Geist und das Bild, das sie vor ihrem inneren Auge heraufbeschwor. Er glitt mit ihr zusammen in den Strahl, und sie legten die Entfernung in wenigen Augenblicken zurück. Im nächsten Moment tauchten sie vor einem eingezäunten Grundstück auf. Der Geist – ihren Namen hatte sie ihm noch nicht verraten – krümmte sich vor Schmerz, kaum hatten sie den Strahl verlassen. Sie hielt sich an seinem Arm fest und würgte, als müsse sie sich gleich übergeben. Unerfahrene Reisende reagierten oft so auf den Strahl. Ihnen wurde furchtbar schlecht.
Kamen war beeindruckt, als sie tief einatmete und den Würgereiz unterdrückte. Sie richtete sich auf und tat einen taumelnden Schritt nach vorn, wobei sie sich nach allen Seiten umsah. Sie befanden sich innerhalb eines ziemlich vernachlässigten Grundstücks, das von einem Stacheldrahtzaun umgeben war. Es stand nur ein einziges Gebäude darauf – eine Art kleine Baracke. Vor dem Eingang der Baracke waren Wachen postiert, ebenso an einem Tor im Zaun. An denen waren sie vorbeigekommen, doch wenn sie in die Baracke wollten, mussten sie die Wachen dort passieren. Einfach würde das nicht werden.
»Wie heißt du eigentlich?«, fragte er, als er sie ansprechen wollte und merkte, dass er ihren Namen nicht kannte.
»Geneviève. Aber die meisten Leute sagen Viève zu mir.«
»Viève. Na gut, Viève, irgendwelche Vorschläge, wie wir jetzt weiter vorgehen sollen?«
»Das ist deine Aufgabe«, erwiderte Viève. »Wenn ich alleine hier wäre, würde ich einfach durch den Boden hindurch in den Bunker gehen. Aber wenn ich dich mitnehme und dann plötzlich …«
»Sekunde – du kannst mich durch Wände mitnehmen?«
»Hm – ja. Ich muss dich dabei nur berühren.«
»Du kannst sehr viel mit diesen Händen tun«, stellte Kamen fest. Er war vom Ausmaß ihrer Fähigkeiten ziemlich beeindruckt.
»Die meisten können noch viel mehr machen«, murmelte sie vage.
»Was soll das heißen?«
»Nichts«, erwiderte Viève schnell. »Möchtest du jetzt mit mir zusammen in den Bunker oder nicht? Es kann gefährlich werden für uns, weil wir ohne Anmeldung auftauchen.«
»Soweit ich sehe, bleibt uns nichts anderes übrig. Diese Wachen werden mir sicher den Eintritt verwehren.« Ein grimmiger Ausdruck legte sich um Kamens Mund. »Bring uns rein. Aber du musst uns direkt zum Doyen führen. Es ist unsere einzige Chance.«
»Sie werden uns sehen, wenn wir an ihnen vorbeikommen«, sagte sie. »Ich kann zwar durch Wände gehen, aber unsichtbar bin ich nicht. Allerdings kann dich in dieser Phase niemand berühren, und vielleicht gewinnst du dadurch die Zeit, die du brauchst.« Sie kaute einen Moment auf ihrer Lippe. »Ich möchte später nicht bedauern, dass ich dir geholfen habe«, sagte sie mit einem bittenden Ausdruck in den Augen. »Wenn du irgendwelche Mätzchen machst, bekommst du sofort meine tödliche Berührung zu spüren.«
»Das glaube ich dir keine Sekunde lang«, gab Kamen zurück. »Aber mach dir keine Sorgen. Ich werde dir keinen Grund geben, mich in dieser Weise zu berühren.«
Sie streckte die Hand aus und legte sie um seinen Oberarm. Ihre Berührung war sanft, fast so, als streichele sie ihn. Etwas in Kamen rührte sich interessiert und spannte sich an. Das überraschte ihn. So etwas wie erotische Gefühle kannte er einfach nicht mehr. Doch ihre Berührung hatte eindeutig etwas hochgradig Sinnliches an sich. Er wusste nicht weshalb, aber es war so.
Plötzlich zog sie ihn mit sich nach unten, und er spürte, wie sein Körper durch Sand und Erde glitt. Dann drang er durch kaltes Metall, und im nächsten Moment fielen sie in einen großen, elegant eingerichteten Raum. Dicke Perserteppiche lagen auf dem Boden aus tiefdunklem brasilianischem Kirschholz. An den terrakottafarbenen Wänden hingen Kunstwerke, die offensichtlich teuer waren. Die schimmernden Möbel waren passend zum Parkett ebenfalls aus Kirschholz.
»Ich weiß nicht, in welchem Raum er sich gerade aufhält. Aber wir stoßen sicher gleich auf jemanden …«
Ihre Worte waren nur geflüstert, doch nicht, weil sie wirklich flüsterte, sondern weil ihre Stimme in ihrem körperlosen Zustand kaum Substanz hatte. Sie hatte gerade zu Ende gesprochen, als jemand den eleganten Raum betrat.
Das war jetzt endlich jemand, der aussah wie die Geister, die Kamen schon kennengelernt hatte: ausgemergelt und bleich, bar aller Farbe und – scheinbar – leblos. Seine Augen waren in tiefen Höhlen eingesunken, der Blick leer. Er war dünn und drahtig. Über einem Paar schwarzer Hosen und einem schwarzen Hemd – beides von einem sehr teuren Designer – trug er eine bodenlange Robe.
Kaum hatte er sie aus dem Augenwinkel erspäht, blieb er stehen. Er schloss die Tür hinter sich und sah sie dann direkt an. Alarm schlug er nicht. Er musterte sie nur einen Moment lang sehr genau.
»Was kann ich für dich tun, Mischling?«, fragte er sanft. Seine Stimme war voller, als Kamen erwartet hatte.
Mischling? Aha, dachte Kamen. Das erklärte, warum Viève so anders aussah als der Geist, der vor ihm stand. Sie war nur ein halber Geist.
»Wir sind hier, um mit dem Doyen zu sprechen«, sagte sie mit zitternder Stimme.
»Und warum sollte der Doyen seine Zeit mit einem kleinen Mischlingsmädchen verschwenden und – was immer du da mitgebracht hast.« Er deutete mit einer Kinnbewegung auf Kamen.
»Er ist ein Körperwandler«, sagte sie kleinlaut. »Er möchte mit den Geistern in Friedensverhandlungen treten.«
Der Geist lachte so laut, dass es im ganzen Raum widerhallte. »Andere Schattenwandler haben kein Interesse daran, Frieden mit den Geistern zu schließen. Wir werden von allen gehasst, und dieser Hass wird von uns erwidert. Wenn du kein Mischling wärst, wüsstest du das wahrscheinlich. Ihr verschwindet lieber, ehe euch jemand mit seiner Todeshand berührt.«
Doch zu Kamens Überraschung schaltete Viève auf stur. »Nein. Er möchte Frieden schließen, und ich – ich glaube ihm. Ist ein Friedensangebot dem Doyen nicht wenigstens ein paar Momente seiner kostbaren Zeit wert? Wenn der Körperwandler nun die Wahrheit sagt? Wenn er wirklich hier ist, um Friedensgespräche zu führen?«
»Und wenn er sich nur eines kleinen dummen Mädchens bedient, um nahe genug an den Doyen heranzukommen, damit er ihn ermorden kann?«, gab der Mann zurück.
»Ich bin zwar ein Mischling, aber ich bin keine Verräterin. Wenn er auch nur daran denkt, den Doyen zu töten, werde ich ihn sofort meine tödliche Berührung spüren lassen.«
Sie hob entschlossen das Kinn, und fast glaubte Kamen ihr, dass sie es tatsächlich tun könnte.
Aber nur fast.
Der Geist glaubte ihr auch nicht. Er lachte.
»Also gut, überzeuge mich. Er soll selbst sprechen, ehe ich ihn zu einer Audienz beim Doyen vorlasse.«
Kamen trat von Viève weg, sodass sie ihn loslassen musste. Sofort nahm er wieder feste Gestalt an. Er hielt den Schutzzauber aufrecht, als er sich dem anderen Geist näherte.