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Wortbildung im Deutschen E-Book

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Beschreibung

Dieser Band gibt einen Überblick über den Stand der Forschung zur deutschen Wortbildung und damit über einen Aspekt der deutschen Grammatik, der in letzter Zeit eher wenig Beachtung gefunden hat. Der Blick auf den Gegenstand erfolgt dabei aus unterschiedlichen Perspektiven: Behandelt werden der aktuelle Sprachgebrauch, der historische wie der synchrone Sprachwandel, Sprachkontakt und Sprachvergleich mit indoeuropäischen wie nicht-indoeuropäischen Sprachen, und auch dialektologische Fragestellungen sowie die Rolle der Wortbildung im Bereich der Toponomastik. Die Berücksichtigung dieser höchst unterschiedlichen Gesichtspunkte führt insgesamt zu einem umfassenden Blick auf das Phänomen.

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Wortbildung im Deutschen

Aktuelle Perspektiven

Elke Hentschel

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

 

 

© 2017 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen www.francke.de • [email protected]

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

 

ePub-ISBN 978-3-8233-0008-3

Inhalt

Zu diesem BandA AllgemeinesZwischen Verbalparadigma und Wortbildung1 Fragestellung und Vorgehen2 Infinitivkonversionen: Beobachtungen3 Analyse der Belege4 Infinite Verbalformen im Deutschen5 Sprachvergleich: Konverben6 Abschließende BemerkungenAbkürzungsverzeichnisLiteraturQuellen für Sprachbelege: MonographienQuellen für Sprachbelege: InternetquellenDer Einfluss von Sprachkontakt und Silbenstruktur auf die Wortbildung1 Einleitung2 Neue Suffixe durch Entlehnung3 Entlehnung von Wortbildungsmustern4 Neue Suffixe durch Einfluss auf der Ebene der SilbenstrukturLiteraturAQ + IS1 Einleitung: Vorhaben und Vorgehen2 Akronyme und Kurzwortforschung3 Die Referenzialisierungen terroristischer Gruppen in deutschsprachigen Medien4 Kleiner Exkurs zum sogenannten Islamischen Staat (IS)5 Einige Hypothesen zu OrganisationsakronymenLiteraturIst die Nominalisierung von Partikelverben im Deutschen Argument für deren lexikalische Bildung?1 Einführung2 Verbpartikeln im Deutschen2.1 Das Problem der Kategorisierung2.2 Kopfpositionen im Verbalkomplex2.3 Verbpartikeln als Wortglieder?3 Nominalisierung als Beweis für die lexikalische Bildung von Partikelverben?3.1 Nominalisierung von komm- und ihre Eigenschaften3.2 Nominalisierung vs. Nominalkomposition4 Schluss: Wie werden also Partikelverben nominalisiert?LiteraturB HistorischesWissensvermittlung durch Substantivkomposita im frühmittelalterlichen Kloster1 Einleitung2 Materialgrundlage und Untersuchungsgegenstand2.1 Das Korpus: Notkers althochdeutsches Übersetzungswerk2.2 Untersuchungsgegenstand: Substantivkomposita3 Theoretischer Rahmen: Kulturanalyse3.1 Was ist Kultur? – Begriffsbestimmung3.2 Kulturtansfer und Rekontextualisierung4 Beispielanalysen4.1 Metaphorische Substantivkomposita zur Bezeichnung theologischer Konzepte4.2 Übersetzung lateinischer Fachbegriffe mit Substantivkomposita5 ZusammenfassungLiteraturPrimärliteraturSekundärliteraturWortbildung und Syntax von Abstrakta bei Friedrich Schiller1 Einführung2 Statistische Angaben zu ung-Abstraktum vs. substantiviertem Infinitiv3 Konkurrenz von ung-Abstraktum und substantiviertem Infinitiv4 Komposita mit ung-Abstraktum und substantiviertem Infinitiv im Vorderglied5 Der morphologische Wandel6 FazitLiteraturC ToponomastischesToponymische Komposita in einem schweizerdeutschen Dialekt: vom nichttoponymischen Sprachgebrauch abweichende Wortakzentverhältnisse1 Vorbemerkung2 Zur Fragestellung3 Komposita4 Untersuchungsmaterial5 Erste Auswertung5.1 Erster Erklärungsansatz: Personnennamen im Erstglied5.2 Zweiter Erklärungsansatz: rechts erweiterte/postdeterminierte Namen5.3 Dritter Erklärungsansatz: Übertragung der Finalbetonung auf typisch toponymische Appellative/Topofixe5.4 Vierter Erklärungsansatz: Finalbetonung als verallgemeinerter Marker der Toponymizität?5.5 Zur regionalen Ausbreitung6 FazitLiteraturNeue Wörter als Grundlage für hessische Flurnamen?1 Einleitung und Hintergrund der Abhandlung2 Konzeptionelle außersprachliche und sprachliche Grundlagen3 Ergebnis4 Auswertende Zusammenfassung5 Abschließende KritikLiteraturAnhang: hier behandelte Flurnamen, deren Dorfzugehörigkeiten, Typisierungen, mündliche Nennungsfrequenzen und SachbezeichnungenD DialektologischesVon Blätterchen und Bäumchen: Die Entwicklung der Plural-Diminutive und Diminutiv Plurale im Deutschen und Luxemburgischen1 Einleitung und Zielsetzung2 Der Plural-Diminutiv in den Varietäten2.1 Deutsch2.2 Moselfränkische Dialekte2.3 Luxemburgisch3 Rückgang im Deutschen und Moselfränkischen – Erfolgsmodell im Luxemburgischen4 Synchrone Interpretation der Plural-Diminutive5 FazitLiteraturVon Gäul-s-bauer, April-s-narr und Getreid-s-gabel. Die Verwendung und Verbreitung des Fugen-s im Ostfränkischen1 Einführendes2 Die Kompositionsstammform3 Systematik der Fugenelemente des Deutschen4 Zur Funktionalität der Fugenelemente – Überblick über den aktuellen Forschungsstand4.1 Fugenelemente als Kasus- und Numerusmarker4.2 Phonetisch-phonologische Funktionsweisen der Fugenelemente4.3 Morphologisch-funktionale Aspekte des Fugen-s5 Korpusanalyse: Zur Datengrundlage und Methodik6 Untersuchungsergebnisse6.1 Das Fugen-s nach Simplizia6.2 Verfugung und Kontraktion6.3 Fugen-s nach derivationsmorphologisch komplexen Erstgliedern7 Zusammenfassende Darstellung des Analyseergebnisses und AusblickLiteraturE SprachvergleichendesReduplikationen im Thailändischen und ihre Entsprechungen im Deutschen1 Einleitung2 Reduplikation im Deutschen und im Thailändischen2.1 Reduplikation im Deutschen2.2 Reduplikation im Thailändischen3 Daten und Analysemethode4 Ergebnisse4.1 Übersicht der thailändischen Reduplikationen bei den einzelnen Kurzgeschichten4.2 Funktionen der thailändischen Reduplikationen und ihre Entsprechungen im Deutschen4.3 Deutsche Entsprechungen thailändischer Reduplikationen4.4 Deutsche Wortbildungsmittel als Entsprechungen der thailändischen Reduplikationen5 Schlussbemerkung und AusblickLiteraturKonstruktionsmorphologie – echt top?1 Einführung2 Zur Etymologie von dt. Top(-)/top(-)3 Die Verwendung von dt. Top(-)/top(-)3.1 Lexikographische Daten3.2 Korpusdaten4 Zum kategorialen Status von dt. Top(-)/top(-)5 Der konstruktionsmorphologische Ansatz6 ‚top‘ im Sprachvergleich6.1 Niederländisch6.2 Schwedisch7 SchlussbemerkungenLiteraturDas Vollverb fahren mit seinen möglichen Kombinationen mit trennbaren und untrennbaren Präfixen und die Äquivalente im Albanischen1 Einleitung2 Wortbildung des Verbs kontrastiv: Deutsch – Albanisch3 Derivation3.1 Präfixderivation3.2 Suffixderivation3.3 Zirkumfigierung4 Komposition5 Konversion6 Rückbildung7 fahren als Präfix- und Partikelverb8 Korpusanalyse9 ZusammenfassungLiteraturDeutsche Substantivkomposita und ihre Entsprechungen im Albanischen1 Einleitung2 Substantivkomposita im deutsch-albanischen Vergleich3 Die Entsprechungstypen der deutschen Komposita im Albanischen3.1 Entsprechungstyp I: dt. Substantivkompositum → alb. Wortgruppe im Genitiv3.2 Entsprechungstyp II: dt. Substantivkompositum → alb. Ablativ-Wortgruppe3.3 Entsprechungstyp III: dt. Substantivkompositum → alb. adjektivische Wortgruppe3.4 Entsprechungstyp IV: dt. Substantivkompositum → alb. Simplex oder Derivat3.5 Entsprechungstyp V: dt. Substantivkompositum → alb. Substantivkompositum3.6 Entsprechungstyp VI: dt. Substantivkompositum → alb. präpositionale Wortgruppe4 ZusammenfassungLiteraturVerzeichnis der Autorinnen und AutorenSachregister

Zu diesem Band

Der vorliegende Sammelband möchte einen Überblick über den Stand der Forschung zur deutschen Wortbildung und damit in einem Bereich der deutschen Grammatik geben, der in den letzten Jahren eher wenig Beachtung gefunden hat. Dies erstaunt insofern, als es wohl kaum einen Aspekt der Morphologie des Deutschen gibt, der lebendiger ist und produktiver genutzt wird als die Wortbildung. Umso wichtiger scheint es, die aktuellen Ansätze in diesem Arbeitsgebiet in einem Sammelband zusammenzufassen.

Der Blick auf den Gegenstand erfolgt dabei aus vier ganz unterschiedlichen Perspektiven, um so in der Summe ein möglichst umfassendes Bild zu ergeben. Vier Beiträge zu eher grundsätzlichen Fragestellungen bilden den unter „Allgemeines“ zusammengefassten ersten Teil des Bandes, in dem es um Grenzen zu Flexionsmorphologie und Syntax (Hentschel), um Sprachkontaktphänomene (Hofer), um Akronyme (Kromminga) und um die Deutung der Nominalisierungsprozesse bei Partikelverben geht (Öhl). Es folgen zwei Beiträge, die sich mit der Geschichte der Wortbildung befassen, indem sie Komposita in den Schriften Notkers III. von St. Gallen (Raag) sowie Abstrakta bei Schiller (Lühr) untersuchen. Auch toponomastischen sowie dialektologischen Aspekten sind je zwei Beiträge gewidmet: Zum einen geht es um spezifische Wortakzentverhältnisse bei Ortsnamen (Fetzer) und um neue Wörter als Grundlage für Flurnamen (Gerhardt), zum anderen um Diminutiva im luxemburgisch-moselfränkischen Übergangsgebiet (Edelhoff) und um das Fugen-s im Ostfränkischen (Nickel). Abgerundet wird die Behandlung des Themas durch vier Beiträge sprachvergleichender Art, in denen das Thailändische (Attaviriyanupap) und das Albanische (Hamiti und Sadiku/Rexhepi), aber auch das Niederländische und Schwedische mit herangezogen werden (Battefeld/Leuschner/Rawoens). Auf diese Weise entsteht ein Panoramabild des Gegenstandes und zugleich ein Einblick in die aktuelle Forschung in diesem Bereich der Morphologie.

 

Bern, im September 2016Elke Hentschel

AAllgemeines

Zwischen Verbalparadigma und WortbildungWortbildung

Elke Hentschel

Abstract

The following paper attempts a systematisation of the extended infinitive constructions in spoken as well as in written German. There seem to be almost no limits to their extension. And while structures like Abendessen or Gefühlsleben can clearly be categorised as word formation, this is not the case with constructions like das Sich-nichts-anmerken-lassen, beim heimlich Pornos gucken or das „nichts gesehen haben wollen“. This type of construction can be found in abundance in internet communication (blogs, bulletins boards etc.), but also in written forms of communication like advice books, which are supposed to be more formal in style. I will propose the hypothesis that the constructions we are dealing with here fulfill the same function as converb constructions in languages like Turkish and can therefore be considered equivalent.

1Fragestellung und Vorgehen

Im folgenden Beitrag soll diskutiert werden, welchen Status InfinitiveInfinitiv in Konstruktionen wie beim heimlich(en) Lauschen oder (Anweisung) zum richtig Sprechen haben. Handelt es sich dabei um ein Phänomen, das im weitesten Sinne der WortbildungWortbildung zuzuordnen ist, also substantivierte Infinitive mit verschiedenen Arten von Attributen, oder muss man die Formen dem Verbalparadigma zuordnen? In letzterem Fall wäre zusätzlich zu fragen, ob die Bildungen dann als gewöhnliche Infinitive zu betrachten wären oder ob man eine davon zu unterschiedene eigene Form ansetzen sollte (und wenn ja: welche).

Zur Diskussion dieser Fragen werden verschiedene, insbesondere aus Internetquellen zusammengestellte Belege für den Konstruktionstyp vorgestellt und im Hinblick auf ihre syntaktische Umgebung analysiert. Ferner werden die Syntagmen vergleichbarer Konstruktionen aus einer agglutinierenden Sprache, hier: dem TürkischenTürkisch, gegenübergestellt.

2Infinitivkonversionen: Beobachtungen

Jeder InfinitivInfinitiv des DeutschenDeutsch lässt sich substantivieren, ohne dabei seine Form zu verändern; er bekommt dann das Genus Neutrum zugewiesen und kann syntaktisch wie jedes andere Substantiv verwendet werden. Darüber, ob bzw. in welchem Ausmaß diese Infinitivkonversion der WortbildungWortbildung zuzurechnen ist, lässt sich allerdings diskutieren: „Die Zahl tatsächlich geläufiger Konversionsprodukte hält sich in Grenzen“, schreiben Fleischer/Barz (2012: 270) und fahren fort: „Die Infinitivkonversion ist weniger ein Mittel zur Bereicherung des Wortschatzes (obwohl auch diese Seite nicht fehlt) als vielmehr ein syntaktisch relevantes Nominalisierungsverfahren.“ (ibd.: 271).

Zweifellos sind zahlreiche substantivierte InfinitiveInfinitiv vollständig lexikalisiert. Sie bezeichnen oft Konkreta und unterscheiden sich dann deutlich von ad-hoc-Konversionen. Diese können aber unabhängig von der lexikalisierten Form stets ebenfalls nach wie vor gebildet werden; cf. etwa Das Essen steht auf dem Tisch vs. Das Essen fiel ihm schwer oder Das Schreiben ist in der Post vs. Das Schreiben ist ihre Berufung. Klar von WortbildungWortbildung kann man nach Fleischer/Barz (ibd.) vor allem dann sprechen, wenn „der bereits substantivierte Infinitiv als Zweitglied auftritt […] (Abend|essen, Gefühls|leben).“ Allerdings sind die Grenzen auch hier nicht ganz so trennscharf, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag, denn es finden sich mit Leichtigkeit Belege wie Lass uns abendessen oder Lass uns abendessen gehen,1 in denen die KompositionKomposition klar als verbaler Infinitiv zu deuten ist. Die Definition von Fleischer/Barz (ibd.) ist aber trotz solcher Überlegungen vom Grundsatz her durchaus überzeugend, und mit ihr lassen sich Fälle wie die folgenden somit klar als Wortbildung kategorisieren:2

beim gemeinsamen Kuchenbacken

die Sache mit dem Frühaufstehen

Genderkritisches Kindererziehen

Tipps fürs Kaffeekochen

Auch wenn man darüber diskutieren könnte, ob hier bereits lexikalisierte Formen vorliegen, ist die Bedingung „bereits substantivierter InfinitivInfinitiv als Zweitglied“ mit das Backen, das Aufstehen, das Erziehen, das Kochen im Grunde durchaus gegeben, und gegen die Interpretation der Formen als Substantive spricht auch im jeweiligen Kontext nichts.

Dass es dennoch nicht ganz so einfach sein kann, zeigt der Blick auf ein Beispiel wie dieses:

beim Pornos gucken aufm Handy

Unabhängig von der Schreibweise – man könnte natürlich auch Pornosgucken schreiben – sträubt man sich hier vermutlich intuitiv, WortbildungWortbildung anzunehmen, und würde in Pornos eher ein Objekt zum InfinitivInfinitivgucken sehen. Und in der Tat. Bei näherem Hinsehen würde sich auch bei den obigen Beispielen bei einer Getrenntschreibung der Bestandteile, wie sie sich durchaus gelegentlich findet (etwa in Belegen wie: Und das Beste am Kuchen backen), eine solche Interpretation anbieten. Dass es in der Tat gute Gründe dafür gibt, keine Wortbildung anzusetzen, zeigen auch Beispiele wie

beim heimlich Lauschen

Anweisung zum richtig Sprechen3

etc., bei denen – anders, als dies etwa bei einer Konstruktion wie beim heimlichen Lauschen der Fall wäre, – eindeutig ein Adverbial vorliegt. Dafür, dass beide Typen auch problemlos kombiniert werden können, lassen sich ebenfalls leicht Beispiele finden, so etwa dieses:

stellt euch einfach schlauer an beim heimlich Pornos gucken

Technik zum heimlich Filme aufnehmen

Diese Art der Kombination von Infinitiven mit allen möglichen für ein VerbVerb (nicht aber für ein Substantiv) typischen Zusätzen kommt, wie man schnell feststellen kann, außerordentlich häufig vor. Sie findet sich vor allem, aber keineswegs nur bei konzeptioneller Mündlichkeit. Aber eine Wendung wie zum Aus-der-Haut-Fahren hat Eingang in den Rechtschreib-Duden gefunden, ohne als umgangssprachlich markiert zu werden, und auch sonst ist der Konstruktionstyp an vielen Stellen bereits in die konzeptionelle Schriftlichkeit eingedrungen, wie das folgende Beispiel exemplarisch belegen mag:

Gemäß einer offiziellen als auch informellen Polizeikultur gelten die Härte-gegen-sich-und-andere, das Zähne-zusammen-beißen, das Sich-nichts-anmerken-lassen als handlungsleitende Wertvorstellungen. (Schlee 2008: 165)

Die Stilebene, die sich hier in der Wortwahl manifestiert, läuft jeglicher Annahme einer konzeptionellen Mündlichkeit deutlich zuwider. Dass die Form dennoch nicht als selbstverständlicher Bestandteil der Schriftsprache angesehen wird, lässt sich allerdings nicht zuletzt aus der Tatsache ableiten, dass die Wahl der korrekten Schreibweise in solchen Fällen Probleme macht. Außer zu Bindestrichen, wie sie auch der Rechtschreib-Duden verwendet, greifen die Schreibenden zu völlig unterschiedlichen Lösungen. Ganz ohne Markierung kommt etwa das folgende Beispiel aus:

[…] denn das tägliche Brote schmieren, Hausaufgaben kontrollieren und Vokabel abfragen wird uns für ein paar Wochen erlassen.

Aber auch die Markierung der gesamten Form als eine Art Zitat findet sich:

[…] obwohl das „sich einfach nicht mehr melden“ nur von ihm ausging.

Ebenso schwanken Groß- und Kleinschreibung in den gesammelten Belegen stark. In der Mehrzahl der Fälle werden die InfinitiveInfinitiv jedoch auch beim Vorhandensein eines Artikels nicht groß geschrieben, was den vorsichtigen Schluss nahe legt, dass sie von den Schreibenden nicht als Substantivierungen, sondern als Verbformen wahrgenommen werden.

Was den Umfang der Erweiterung der InfinitiveInfinitiv betrifft, so scheint es hier keine Beschränkungen zu geben, wie die nachfolgende kleine Beispielsammlung illustriert:

Dass einen in der ÖVPdas „offen seine Meinung“ Sagen schon zur „Kapazität“ macht […]

Und das sich ständig beklagen […], das kann ich nachvollziehen.

[…] für mich ist das ständige sich-Beklagen-über-allesDIE typisch deutsche Eigenschaft schlechthin.

Viel Spass schon ma [sic!] beim Geld für Laser sammeln, Herr […]

[…] Musik, die sich perfekt beim Für-die-Party-Zurechtmachen hören lässt, […]

Habe mir heute beim fürs Mittagessen gemüseschneiden so stark in den Daumen geschnitten […]

[…] weil mein auf ihn einreden echt überhaupt nichts bringt.

[…] zunächst, um Jedem beim Sich-Einander-Vorstellen in spaßvoller und interaktiver Weise zu helfen […]

sie macht es wieder, also das alles besser wissen und ständig fragen warum ich […]

Das letzte Beispiel enthält sogar einen Nebensatz, der die Funktion des Objekts zum InfinitivInfinitiv übernimmt.

Daneben lassen sich auch substantivierte Modalverben beobachten, die Vollverben bei sich haben, von denen ihrerseits wieder weitere Elemente abhängig sind:

[…] dass Dir genau dieser Zustand und das Sich-ständig-beklagen-können besonders gefällt […]

Das Sich-Verstecken-Wollen sei ein Merkmal seiner Kunst.

[…] das „nichts gesehen haben wollen“.

[…] eine Verleugnung und Abspaltung der Affekte sowie das ständige Kontrollieren-Müssen von Beziehungen […] (Hirsch 2004: 185)

3Analyse der Belege

Die beobachtbaren Konstruktionen weisen unterschiedliche Eigenschaften auf, die wiederum verschiedene Zuordnungen der jeweils vorliegenden Verbform als VP oder NP nahelegen. So zeigen sich neben dem Artikel oder Possessivum, deren Vorhandensein Bedingung war, damit das Beispiel in die Sammlung der zu untersuchenden Formen aufgenommen wurde, und die natürlich alleine schon ein deutlicher Hinweis auf SubstantivierungSubstantivierung sind, auch kongruierende Adjektivattribute (wie in das ständige sich-Beklagen, das tägliche Brote schmieren). Solche Attribute können, ebenso wie Genitivattribute (wie in das Abwägen aller möglichen Probleme) bei VerbenVerb nicht auftreten und verweisen ganz klar auf das Vorliegen einer NP und damit auf eine Konversion. Allerdings sind trotz des Artikelgebrauchs ebenso sehr häufig Eigenschaften zu finden, die als klar verbal einzustufen sind. Dazu gehört zum einen die Anbindungen von Objekten wie in beim Pornos gucken, zum anderen – und salienter – aber auch die Verwendung von links attribuierten Adverbialen wie in beim heimlich Pornos gucken. Eine solche Linksattribuierung von Adverbien oder von zu Attributen umgewandelten Adverbialen ist bei Substantiven nicht möglich, da nicht-kongruierende Attribute dieses Typs hier stets nachgestellt werden müssen, cf.:

das Haus dort auf dem Hügel

*das dort auf dem Hügel Haus

Das Vorliegen von Linksattributen, die klar die Funktion von Adverbialen übernehmen, lässt nur den Schluss zu, dass die Konstruktion in dieser Verwendung verbal wahrgenommen wird. Linksattribuierungen dieser Art zeigen sich auch in den folgenden Belegen:

beim fürs Mittagessen gemüseschneiden

das sich-ständig-Beklagen

beim Für-die-Party-Zurechtmachen

Dabei scheint hier aber offensichtlich eine Wahlmöglichkeit zwischen NP und VP zu bestehen, denn sowohl kongruierende als auch nicht-kongruierende Konstruktionen (mit entsprechendem Wechsel der Wortstellung) lassen sich selbst bei identischer Wortwahl beobachten, cf.:

das ständige sich-Beklagen-über-alles

vs.

das Sich-ständig-beklagen-können

Während die Kombination von Kongruenz und Rechtsattribuierung im ersten Fall auf eine eindeutig nominale Konstruktion verweist, ist das zweite Syntagma nur möglich, wenn man den InfinitivInfinitiv als verbal auffasst.

Ebenso zeigt sich wahlweise Rechts- und Linksattribuierung bei Präpositionalphrasen, die abermals einmal auf eine Interpretation als NP, einmal auf VP schließen lassen:

Beim Gemüseschneiden für das Abendessen

vs.

beim fürs Mittagessen gemüseschneiden

Modalverben mit abhängigem Vollverb oder auch mit zusätzlichem Auxiliar und Partizip des Vollverbs (oder mit anderen Worten: mit einem InfinitivInfinitiv Perfekt) zeigen die folgenden Beispiele:

das Sich-ständig-beklagen-können

Das ständig kontrollieren müssen

das „nichts gesehen haben wollen“

Diese Konstruktionen kann man trotz des Artikels, der ihnen vorangeht, nur noch mit Schwierigkeit als nominal interpretieren.

Wenn man den Horizont der Betrachtung etwas weiter ausdehnt, kommt man schnell zu der Überlegung, dass Verlaufskonstruktionen wie der Progressiv und möglichweise auch der sog. Absentiv (cf. Vogel 2009) hier mit betrachtet werden sollten. Insbesondere beim Progressiv zeigen sich abermals parallel sowohl substantivische als auch verbale Merkmale. So bemerkt etwa van Pottelberge (2009: 369), dass neben den von ihm angeführten, seltenen Verwendungen eines Objektsgenitivs wie in

Denn während eine Gruppe noch am Entladen des mit verschiedenen Utensilien beladenen Kleinlasters ist (Beispiel nach ibd.)

sowohl in der geschriebenen als auch in der gesprochenen Sprache weit häufiger die von ihm als „substantivierte Infinitivphrasen“ (ibd.) bezeichneten Konstruktionen zu beobachten sind, die verschiedene Objekttypen sowie auch Adverbiale aufweisen:

Am Arbeiten war er und am Olympische-Spiele-Schauen (Beispiel nach ibd.)

Und vielleicht ist er genau nach diesem „guten alten Stück“ seit Jahren am Suchen. (Beispiel nach ibd.: 371)

Tatsächlich zeigt sich hier kein struktureller Unterschied zu den im Vorigen angeführten Beispielen: „Die am-Phrase ist nicht fest mit dem VerbVerbsein verbunden, sondern bildet eine eigenständige morphologische Einheit […]“ (ibd.: 367). Offensichtlich verhält sich der Progressiv incl. seiner Parallelkonstruktionen mit beim oder im (cf. ibd.: 364–366) völlig analog zu den anderen hier behandelten Infinitivkonstruktionen und kann hier mit subsumiert werden.

Absentiv-Konstruktionen weisen im Gegensatz zum Progressiv zwar keinen Artikel auf und stehen in einer Position, die man entweder als prädikativ oder sonst als verbale Konstituente auffassen kann. Dennoch sind auch hier Ähnlichkeiten unverkennbar, cf. etwa die folgenden beiden Belege:

Heute vormittag waren wir auch noch kurz Pilze fürs Mittagessen sammeln und es gab soooo viele :o

vs.

beim Pilzesammeln für den privaten Bedarf

Schließlich könnte man im gegebenen Zusammenhang möglicherweise auch die sog. „Sternchen-Formen“ mit berücksichtigen, wie sie Pankow (2003: 104) beschreibt und wie sie durch die folgenden Belege (Beispiele nach ibd.) illustriert werden:

*mitdenfüßennachderfernbedienungfisch*

*schweißvonderstirnwisch*

Hier findet sich zwar weder ein Artikel noch eine Infinitivendung, aber es zeigen sich linksattribuierte Objekte und Adverbiale in einer trotz mangelnder Finitheit eindeutig verbalen Konstruktion.

Aber abgesehen von solchen zusätzlichen Problemfällen: Was hat es mit den im Vorigen beschriebenen Konstruktionstypen auf sich?

4Infinite Verbalformen im DeutschenDeutsch

Um eine fundiertere Hypothese darüber aufstellen zu können, ob Formen des bisher beschriebenen Konstruktionstyps als infinite Verbformen anzusehen sind oder der WortbildungWortbildung zugeordnet werden müssen, soll zunächst noch einmal kurz der Bestand der infiniten Verbformen im DeutschenDeutsch betrachtet sowie die Definition dessen, was (In)Finitheit ausmacht, ins Gedächtnis gerufen werden.

Grundsätzlich wird eine infinite Verbform normalerweise dadurch definiert, dass sie keine Personalendung aufweist.1Infinitiv Da nicht alle Sprachen über morphologische Markierungen am VerbVerb und damit über Personalendungen verfügen, ist dies natürlich keine völlig befriedigende Definition, denn für isolierenden Sprachen – die Bisang (2001: 1408) eben wegen der fehlenden morphologischen Markierungen am Verb als „non-finite languages“ bezeichnet – ist es kaum möglich, diese Definition anzuwenden. Aber die Unterteilung in finite und infinite Verbformen ist auch bei „finiten“ Sprachen, also flektierenden und agglutinierenden, aus verschiedenen Gründen nicht unproblematisch (cf. hierzu ausführlicher Hentschel 2009). Daher greift man für die Definition meist auf syntaktische Kriterien zurück, wie sie im Grunde dann wiederum auch in isolierenden Sprachen anwendbar wären: Ein Verb wird als finit angesehen, wenn es das Prädikat eines nicht abhängigen Satzes bildet (cf. Koptjevskaja-Tamm 1994: 1245). Damit ist selbstverständlich nicht gesagt, dass Prädikate von Nebensätzen notwendig infinit sind. Ob sie das sind, muss jeweils im Einzelnen anhand von Eigenschaften überprüft werden, die für finite Verben konstituierend sind: dem Vorhandensein von Tempus-, Aspekt- und Modusmarkierungen (TAM), ferner einem Subjekt, das explizit geäußert werden kann, sowie der Kongruenz des Verbs mit diesem Subjekt (cf. z.B. Givón 2001: 25). Verbformen, die wie beispielsweise schnurrt in Die Katze schnurrt all diese Eigenschaften aufweisen, können als prototypische Vertreter der Kategorie „finites Verb“ angesehen werden. Das Gegenstück dazu, die prototypische infinite Verbform, wäre hingegen ein Verb, das keine einzige dieser Eigenschaften mehr aufweist und daher zu einem Mitglied der Wortklasse Substantiv geworden ist. Typischerweise ist das der Fall bei Formen, die durch WortbildungWortbildung aus einem Verb hervorgegangen ist, und ein Beispiel hierfür läge etwa in Untersuchung vor. Das ursprünglich zugrundeliegende Verb untersuchen hat im Ergebnis der Wortbildung sämtliche Merkmale der Finitheit verloren, es ist im Hinblick auf TAM unbestimmt, kann kein Prädikat bilden und auch weder Subjekte noch Objekte an sich binden. Dafür weist die so entstandene neue Form nunmehr nominale Eigenschaften auf und kann z.B. mit Determinatoren wie dem Artikel verwendet werden (cf. hierzu Givon 2001: 353).

Formen wie schnurrt und Untersuchung sind prototypische Vertreter der jeweiligen Kategorie, aber sie bilden nur die beiden Endpunkte einer Skala, und das Spektrum der Möglichkeiten zwischen diesen beiden Extremen ist groß. So ist der Konjunktiv der indirekten Rede zwar eine finite Form, die Subjektkongruenz und TAM aufweist, aber hier überlagert der Modus das Tempus so stark, dass diese ansonsten grundlegende Kategorie des VerbsVerb partiell außer Kraft gesetzt wird und es keinen temporalen Bedeutungsunterschied zwischen Präsens- und Präteriumsformen mehr gibt (cf. Sie sagte, sie habe Hunger vs. Sie sagte, sie hätte Hunger). Man kann darin durchaus so etwas wie einen ersten Schritt in Richtung Infinitheit sehen. Sehr viel näher an diesem Ziel sind aber natürlich Verbformen wie InfinitiveInfinitiv, Partizipien oder der sog. Inflektiv (auch als Lexeminterjektion oder gelegentlich als „Erikativ“2Referenz bezeichnet).

Inflektive wie seufz oder grins stellen im DeutschenDeutsch insofern eine Besonderheit dar, als sie keinerlei morphologische Markierungen tragen: Sie bestehen aus der nackten, endungslosen Verbwurzel. Sie lassen – ebenso wie alle anderen infiniten Verbformen auch – kein explizites Subjekt zu, wohl aber Objekte und Adverbiale, wie für bestimmte Formen von Chat typische sog. Sternchenformen wie *schweißvonderstirnwisch* (Pankow 2003: 104) deutlich machen. Demgegenüber sind InfinitiveInfinitiv und Partizipien, die man wohl als erste Beispiele für infinite Verbformen anführen würde, morphologisch stark markiert, da neben dem für alle diese Formen obligatorischen suffigalen auch einen präfigalen Bestandteil auftreten kann. Letzteres ist bei Partizipien der Fall (cf. z.B. gesprungen), von denen das deutsche zwei Typen kennt, die meist entweder nummeriert oder mit Tempusbezeichnungen als „Partizip Präsens“ und „Partizip Perfekt“ bezeichnet werden. Partizipien können typischerweise keine absoluten, sondern nur relative Tempora ausdrücken, im vorliegenden Fall also einmal Gleichzeitigkeit (Partizip Präsens), einmal Vorzeitigkeit (Partizip Perfekt; cf. hierzu ausführlicher Velupillai/Hentschel 2009). Obgleich sich die beiden Partizipien des Deutschen von Partizipien desselben Typs in anderen indogermanischen Sprachen nicht grundlegend unterscheiden, finden sich große Unterschiede in der Auffassung, wie diese Formen einzuordnen sind: In der deutschen Grammatikschreibung werden die Partizipien des Präsens teilweise nicht als Verbform, sondern als „durch WortbildungWortbildung als VerbenVerb entstandene Adjektive“ (Zifonun et al. 1997: 2205f.) aufgefasst. Allerdings ist die zur Begründung für diese Zuordnung angeführte Tatsache, dass Präsenspartizipien „nie als Teile periphrastischer Verbformen“ (ibd.) Verwendung finden, keine Besonderheit des Deutschen, denn auch das Englische, Französische, Russische oder das Lateinische – um nur einige Beispiele zu nennen – setzen ihre Präsenspartizipien nicht zur Bildung analytischer Verbformen ein.3Gerundium Wenn man diese Einschränkung ernst nimmt, wäre folglich zu überlegen, ob man die Grenze zwischen Verbform und Wortbildung nicht grundsätzlich neu ziehen müsste. Dies führt zu sehr weitreichenden Folgen, denn man müsste dann auch die Infinitive vieler Sprachen sowie auch die zahlreichen KonverbenKonverb, die in agglutinierenden Sprachen zu beobachten sind, neu als Ergebnis von Wortbildungsverfahren ansehen.

Da es InfinitiveInfinitiv sind, die den in diesem Beitrag zu diskutierenden Phänomenen zugrunde liegen, ist die Frage nach ihrer Einordnung hier natürlich von besonderem Interesse. Infinitive werden gemeinhin als Verbalnomina definiert, die dem Substantiv syntaktisch sehr nahe stehen oder auch funktional identisch mit ihm sind – also Formen, die sich relativ nahe am nominalen Ende der Skala befinden. Wendet man die oben zitierte Definition für das Vorliegen einer Verbform an, so können Infinitive im modernen DeutschenDeutsch aber problemlos als eine solche betrachtet werden, denn alle Infinitivvarianten, auch hochkomplexe analytische Formen wie betrogen worden sein, können zusammen mit werden eine analytische Verbform bilden (er wird betrogen worden sein). Aber das gilt natürlich keineswegs für alle indogermanischen Sprachen, und schon gar nicht über die Sprachfamilie hinaus; und auch für frühere Sprachstufen des Deutschen lässt es sich nicht ansetzen. Hat sich der Status der Form im Laufe der Sprachgeschichte geändert?

In diesem Zusammenhang muss als weitere infinite Verbform auch das GerundiumGerundium betrachtet werden, denn auch dieses ist – zumindest in der hier verwendeten Lesart des Begriffs4KonverbGerundium – ein Verbalnomen, das syntaktisch einem Substantiv gleichgestellt ist. Die Grenze zwischen dem so verstandenen Gerundium und einem InfinitivInfinitiv ist fließend, so dass die beiden Formen etwa im Englischen gelegentlich ohne Bedeutungsunterschied gegeneinander austauschbar sind5 oder sich wie im Lateinischen innerhalb eines Paradigmas gegenseitig ergänzen (cf. Rubenbauer/Hofmann 1995: 202). Dennoch kann man auch Unterschiede zwischen diesen beiden Kategorien aufzeigen, so etwa, dass ein Infinitiv stets ein implizites Subjekt aufweisen muss, ein Gerundium hingegen nicht. Verdeutlichen lässt sich dieser Unterschied auch im DeutschenDeutsch, wo in Abhängigkeit von der syntaktischen Umgebung in einem Fall ein implizites Subjekt gegeben ist, im anderen jedoch nicht: Während Infinitive in Infinitivsätzen regelmäßig ein mitverstandenes Subjekt aufweisen und damit noch etwas näher am VerbVerb sind, ist dies etwa bei einem als attributiver Genitiv eingesetzten Infinitiv eindeutig nicht der Fall. Letzterer ist damit bereits ein deutliches Stück näher am Substantiv und kann in diesem Sinne als Gerundium angesehen werden, cf.:

Wir bitten Sie, hier nicht zu rauchen (‚wir bitten Sie, dass Sie hier nicht rauchen‘)

vs.

das Laster des Rauchens (*‚das Laster, dass jemand raucht‘)

Dass es dieser Typ von substantiviertemSubstantivierungInfinitivInfinitiv sein könnte, der den hier zu untersuchenden Konstruktionen zugrunde liegt, wird durch die möglichen Erweiterungen mit einem Objekt als Determinans wie etwa das Laster des Zigarettenrauchens oder das Laster des Opiumrauchens nahegelegt, die auch im Register der konzeptionellen Schriftlichkeit möglich sind. Aber Konstruktionen wie beim fürs Mittagessen Gemüseschneiden oder das offen seine Meinung Sagen gehen hier offensichtlich noch einen beträchtlichen Schritt weiter und bewegen sich damit wieder in Richtung auf eine dem VerbVerb näherstehende Form, wie sie etwa KonverbenKonverb darstellen.

5SprachvergleichSprachvergleich: KonverbenKonverb

Unter einem KonverbKonverb versteht man gemeinhin eine Verbform, die das infinite Prädikat eines adverbialen Nebensatzes bildet. Wenn man einen InfinitivInfinitiv als Verbalsubstantiv und ein Partizip als Verbaladjektiv definiert, dann läge in einem Konverb somit so etwas wie ein Verbaladverb vor (cf. z.B. Haspelmath 1995: 4f.). Entsprechend werden Konverben gelegentlich auch als „Adverbialpartizipien“ bezeichnet, während sich in der Romania die Bezeichnung „GerundivGerundiv“ (cf. z.B. Grevisse 2005: 1340), in der Grammatikschreibung anderer Sprachen auch „Gerund“ (cf. z.B. Lewis 2000: 175) findet. Diese beiden Termini haben jedoch in der traditionellen lateinischen wie auch in der auf das Deutsche bezogenen Grammatikschreibung eine andere Bedeutung, indem sie einmal ein Verbalsubstantiv, einmal ein Partizip Futur Passiv (cf. Feret 2005: 35–27, Hentschel/Weydt 2013: 132) beschreiben, und können daher zu Missverständnissen führen. Aus diesem Grund wird hier der Terminus „Konverb“ gewählt, auch wenn sich zeigen wird, dass er dem zu beschreibenden Gegenstand zumindest mit der hier zugrunde gelegten Definition als Adverbialpartizip (im Unterschied zu Verbalsubstantiv und Verbalnomen) nicht völlig gerecht wird.

Zwar kann auch das Deutsche infinite Verbformen, nämlich Partizipien, in der Funktion von Adverbialsätzen verwenden, wie die folgenden Beispiele zeigen:

Vorsichtig spähend schlich sie sich an.

(‚indem/während sie vorsichtig spähte‘)

Über und über mit Schnee bedeckt knickte der Ast ab.

(‚weil er über und über mit Schnee bedeckt war‘)

Die Infinitivkonstruktionen, die im Vorigen angeführt wurden, unterscheiden sich jedoch deutlich von diesem Konstruktionstyp und können zudem unterschiedliche syntaktische Funktionen übernehmen. Sie kommen als Subjekt (Das Sich-Verstecken-Wollen sei …), als Objekt (sie macht es wieder, also das alles besser wissen und ständig fragen) oder als durch Präposition eingeleitetes Adverbial (beim Für-die-Party-Zurechtmachen) wie auch Attribut (Anweisung zum richtig Sprechen) vor. Damit sind sie deutlich flexibler als die Partizipialkonstruktionen – und weisen eine überraschende Ähnlichkeit mit den KonverbenKonverb anderer Sprache, so etwa dem TürkischenTürkisch, auf. Die folgenden vier Beispiele mögen dies illustrieren:

Arkadaşım

benim

baklavayı

çok

sevdiğimi

biliyor.

Freund-mein

mein

Baklava-AKK

sehr

lieb-[DIK]1-mein-AKK

weiß

etwa: ‚Mein Freund kennt mein Baklava-sehr-Gernhaben‘

‚Mein Freund weiß, dass ich sehr gerne Baklava mag.‘

 

Çocukların

istasyona

nasıl

gideceklerini

sanıyorsun?

Kind-PL-GEN

Bahnhof-DAT

wie

geh-[ECEK]-ihr-AKK

denkst

etwa: ‚Wie denkst du dir das zum-Bahnhof-Gehen der Kinder?‘

‚Was denkst du, wie die Kinder zum Bahnhof gelangen?‘

 

Sigarayı

bıraktığımdan

beri

daha

sağlıklıyım.

Zigarette-AKK

lass-[DIK]-mein-ABL

seit

noch

gesund-bin

etwa: ‚Seit meinem Zigaretten-Seinlassen bin ich gesünder.‘

‚Seitdem ich nicht mehr rauche, bin ich gesünder.‘

 

İlacı

aldıktan

sonra

iyileşmeye

başladı.

Medizin-AKK

nehm-[DIK]-ABL

nach

heilen-INF-DAT

begann.

etwa: ‚Nach dem Medizin-genommen-Haben begann es ihm/ihr besser zu gehen.‘

‚Nachdem er/sie die Medizin genommen hatte, begann es ihm/ihr besser zu gehen.‘

 

Auch KonverbenKonverb erlauben, wie sich an den Beispielen zeigt, substantivtypische Markierungen wie Kasusendungen (hier: Ablativ, Dativ), Possessivendungen (sevdiğimi, bıraktığımdan), den Zusatz eines Possessivums (benim) oder eines attributiven Genitivs (çocukların), während sie zugleich typisch verbale Eigenschaften wie die Bindung eines direkten Objektes (baklavayı, sigarayı, ilacı) oder eines adverbialen Dativs zur Richtungsangabe (istasyona) aufweisen. Das sind dieselben Eigenschaften, die zuvor für die deutschen Infinitivkonstruktionen konstatiert werden konnten. Zudem zeigt sich auch, dass die Verbformen keineswegs darauf beschränkt sind, einen adverbialen Nebensatz zu ersetzen; sie übernehmen vielmehr in den ersten beiden Beispielen die Funktion des direkten Objekts und können auch in anderen syntaktischen Funktionen gebraucht werden, ganz wie dies auch auf die deutschen Infinitivkonstruktionen zutrifft. Frappierend ist zudem die Tatsache, dass sich die türkischen Konverben in den obigen Beispielen völlig problemlos mit Infinitivkonstruktionen ins Deutsche übersetzen lassen – zumindest wenn man in Kauf nimmt, dafür ein umgangssprachliches Register, also konzeptionelle Mündlichkeit, zu wählen. Dies ist natürlich nicht notwendig immer der Fall und soll keineswegs für alle Konverb-Konstruktionen des TürkischenTürkisch postuliert werden; dennoch ist die Tatsache, dass es in vielen Fällen möglich ist, bemerkenswert.

Damit gelangt man aber naturgemäß zu der Frage, was – außer der Morphologie – die türkischen KonverbKonverb-Konstruktionen von deutschen Infinitivkonstruktionen des hier besprochenen Typs eigentlich grundsätzlich unterscheidet. Auch an anderen Stellen verwendet das Deutsche schließlich den InfinitivInfinitiv in Funktionen, die nicht einfach nur seiner Funktion als Verbalsubstantiv entsprechen. Brugmann (1904: 605) beschreibt in seiner vergleichenden Grammatik der indogermanischen Sprachen den prädikativ gebrauchten Infinitiv, also Kombinationen von sein und Infinitiv wie in Diese Aufgabe ist nicht zu lösen, als eine in vielen Sprachen zu beobachtende Bildungsweise, durch die „eine Art von indeklinablen Adj. (Gerundivum) entstand […]. Solche Infinitive wurden dann zumteil in deklinable Adjektive verwandelt“. Letzteres wäre der Fall, wenn die Form attributiv gebraucht wird (die leicht zu lösende Aufgabe), während die „Art von indeklinablem Adjektiv“ in der prädikativen Funktion nach wie vor erhalten ist. Infinitive sind, so kann man hieraus schließen, polyfunktional einsetzbare Verbformen, die keineswegs darauf beschränkt sind, als einfache Verbalsubstantive zu dienen.

Angesichts des unterschiedlichen syntaktischen Verhaltens der hier untersuchten InfinitiveInfinitiv kann man insgesamt von einem Kontinuum mit fließenden Übergängen ausgehen, das von einer klaren SubstantivierungSubstantivierung wie in das Backen des Kuchens (Lehmann 2013: 38) am einen Ende bis hin zu einer eindeutig verbalen Konstruktion in Progressiven wie vielleicht ist er genau nach diesem „guten alten Stück“ seit Jahren am Suchen am anderen Ende der Skala reichen. Zwischen diesen beiden Polen sind Übergänge möglich, die dann zum Nebeneinander von verbalen und nominalen syntaktischen Strukturen führen können. Ein solches Nebeneinander liegt etwa in das ständige sich-Beklagen-über-alles vor, wo die Kongruenz in ständige nur beim Vorliegen eines Substantivs möglich ist, während sich das Vorliegen eines VerbsVerb voraussetzt.

Während sich im Fall eines rein substantivischen Gebrauchs der traditionelle Terminus „substantivierter InfinitivInfinitiv“ gut für die Beschreibung eignet, ist für den Fall einer Konstruktion am verbalen Ende der Skala bisher keine Bezeichnung vorgesehen. Auch wenn der Begriff nicht unproblematisch ist, wird hier in Anlehnung an die Befunde in Turksprachen, wo KonverbenKonverb, wie die obigen Beispiele zeigen, auch nicht ausschließlich adverbiale Funktionen haben, vorgeschlagen, hier den Begriff „Konverb-Konstruktion“ oder zumindest „konverbähnliche Konstruktion“ anzuwenden.

6Abschließende Bemerkungen

Im DeutschenDeutsch hat sich insbesondere im Register der konzeptionellen Mündlichkeit, aber keineswegs ausschließlich dort, eine Tendenz entwickelt, InfinitiveInfinitiv in substantivierter Form – also beim Gebrauch mit einem determinierenden Element, meist einem Artikel – in einer Weise zu erweitern, wie dies sonst nur bei VerbenVerb möglich ist. Dazu gehört nicht nur die Ergänzung mit einem Objekt wie in beim Pornos gucken, die man möglicherweise noch als Determinans eines gedachten KompositumsZusammensetzung (siehe auch Kompositum)KompositumPornosgucken aus Porno und Gucken mit einem FugenelementFugenelements deuten könnte, sondern vor allem die Linksattribuierung eines Adverbials wie in beim heimlich Pornos gucken oder beim fürs Mittagessen gemüseschneiden. Dieser Stellungstyp ist bei Substantiven grundsätzlich ausgeschlossen (cf. *das auf dem Hügel Haus), die in solchen Fällen nur Rechtsattribuierungen zulassen (das Haus auf dem Hügel).

Die Beobachtung des regelmäßigen Auftretens solcher Konstruktionen lässt sich nicht mit der Interpretation vereinbaren, dass es sich bei den betroffenen Infinitiven um Konversionen handelt. Dies gilt unabhängig davon, ob man einen Prozess auf lexikalischer Ebene ansetzt oder nur von einer ad-hoc-Konversion zur Anpassung an den syntaktischen Kontext ausgeht, wie dies etwa Fleischer/Barz (2012: 271) tun. Denn das Ergebnis erfüllt die syntaktischen Bedingungen nicht, die für ein Substantiv gelten. Er unterscheidet sich aber zugleich von einer normalen Verbform dadurch, dass es den Gebrauch des Artikels oder anderer Determinierer wie in mein auf ihn einreden zulässt. Die Konstruktion stellt so gesehen eine Art Hybrid zwischen den beiden Wortarten dar, zeigt aber insbesondere im Hinblick auf die umfangreichen Erweiterungsmöglichkeiten, die sie zulässt (cf. Beispiele wie das Sich-ständig-beklagen-können oder das „nichts gesehen haben wollen“) eine etwas größere Nähe zum VerbVerb als zum Substantiv.

Dieser hybride Befund lässt sich gut mit den Eigenschaften von KonverbenKonverb in Sprachen wie dem TürkischenTürkisch vergleichen, die ebenfalls Eigenschaften beider Wortarten aufweisen – und die genau wie die hier behandelten InfinitiveInfinitiv des DeutschenDeutsch die Funktion verschiedener Satzteile, also keineswegs nur die eines Adverbials, übernehmen können. Dass diese Formen nicht auf die syntaktische Funktion des Adverbials beschränkt ist, sondern auch andere Satzteilfunktionen übernehmen kann, widerspricht dabei der üblichen Definition eines Konverbs, wie man sie etwa bei Haspelmath (1995: 4f.) findet. Dies ist vermutlich der Grund, warum Lewis (2000: 175) in seiner türkischen Grammatik den Begriff gerund wählt, dessen Anwendung auf das Deutsche aber wiederum insofern nicht sehr sinnvoll ist, als er in der traditionellen Grammatikschreibung bereits anders belegt ist. Aber wie immer man die Formen nennt: Funktional entsprechen die deutschen Infinitivkonstruktionen recht genau dem, was wir im Türkischen vorfinden, und sollten daher als eigenständige Verbfunktion behandelt werden. Insofern wird trotz der damit verbundenen Probleme vorgeschlagen, bei der Beschreibung des hier diskutierten Phänomens von Konverb- oder konverbähnlichen Konstruktionen des Deutschen zu sprechen.

Abkürzungsverzeichnis

ABL

Ablativ

AKK

Akkusativ

DAT

Dativ

[DIK]

türkisches Morphem zur Bildung von Verbformen

[ECEK]

türkisches Morphem zur Bildung von Verbformen

GEN

Genitiv

NEG

Negation

PL

Plural

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Quellen für Sprachbelege: Internetquellen

(in der Reihenfolge des Vorkommens im Text; zuletzt aufgerufen 30.03.2015):

beim gemeinsamen Kuchenbacken: www.altefeuerwache-wuppertal.de/loeschblatt_1/foerderverein.html

die Sache mit dem Frühaufstehen: http://lumma.de/2014/04/18/die-sache-mit-dem-fruehaufstehen/

Genderkritisches Kindererziehen: andersdeutsch.blogger.de/stories/2078592/

Tipps fürs Kaffeekochen: www.vox.de/cms/themen/kochen/ernaehrung/tipps-fuers-kaffeekochen.html

beim Pornos gucken aufm Handy: twitter.com/LarsChaos/status/160006466491793408

beim heimlich Lauschen:http://blog.fabylon-verlag.de/2007/10/

stellt euch einfach schlauer an beim heimlich Pornos gucken: www.lovetalk.de/kummer-und-sorgen/98306-vater-lebt-hinter-dem-mond-d.html

Technik zum heimlich Filme aufnehmen: www.android-hilfe.de/7475413-post10.html

das tägliche Brote schmieren, Hausaufgaben kontrollieren und Vokabel abfragen wird uns für ein paar Wochen erlassen:www.yumpu.com/de/document/view/1971820/aus-der-asendung-mit-der-mausa-elternzeitung-luftballon

[…] obwohl das „sich einfach nicht mehr melden“ nur von ihm ausging:www.elitepartner.de/forum/kinder-die-ohne-vater-aufwachsen-welche-folgen-fuer-die-kinder-45101-2.html

Dass einen in der ÖVP das „offen seine Meinung“ Sagen schon zur „Kapazität“ macht […]: http://derstandard.at/3115490 (Kommentare)

Und das sich ständig beklagen […], das kann ich nachvollziehen:http://www.kambodscha.don-kong.com/2011/10/06/nachtrag-zum-letzten-bar-girl-fall.html

für mich ist das ständige sich-Beklagen-über-alles DIE typisch deutsche Eigenschaft schlechthin: http://frauansku.wordpress.com/page/64/

Viel Spass schon ma beim Geld für Laser sammeln, Herr […]: www.facebook.com/Sillaofficial/photos/a.407905225894426.100927.129741027044182/518566734828274/?type=1

[…] Musik, die sich perfekt beim Für-die-Party-Zurechtmachen hören lässt, […]: www.madonnahiphopmassaker.de/info/

Habe mir heute beim fürs Mittagessen gemüseschneiden so stark in den Daumen geschnitten […]: http://forum.nfsplanet.com/showthread.php?p=330713

weil mein auf ihn einreden echt überhaupt nichts bringt:www.dogforum.de/index.php/Thread/185340-Hund-greift-meinen-immer-an/

[…] zunächst, um Jedem beim Sich-Einander-Vorstellen in spaßvoller und interaktiver Weise zu helfen […]www.gmg-materialien.de/?q=Bulletin-0238

dass Dir genau dieser Zustand und das Sich-ständig-beklagen-können besonders gefällt: http://forum.giga.de/politik-kultur-und-wirtschaft/3419-sinn-des-lebens-35.html

Das Sich-Verstecken-Wollen sei ein Merkmal seiner Kunst: Fuldaer Zeitung vom 30. April 2014, zitiert nach www.kleinsassen.de/gal-2014/frmey02.php

[…] das „nichts gesehen haben wollen“: www.rennrad-news.de/forum/threads/vorfall-mit-polizeiruf.89562/

Heute vormittag waren wir auch noch kurz Pilze fürs Mittagessen sammeln und es gab soooo viele :o: www.erziehung-online.de/forum/monats-threads/__-februar-mamis-2006-__/1825/

beim Pilzesammeln für den privaten Bedarf: www.italienforum.de/cgi-bin/yabb2/YaBB.pl?action=print;num=1227956508

Der Einfluss von SprachkontaktSprachkontakt und SilbenstrukturSilbenstruktur auf die WortbildungWortbildung

Roland Hofer

Abstract

The following paper deals with the influence of language contact and syllable structure on word formation. It focuses on the different influences on word formation in language contact, as shown by suffix formation in Swiss German.

The best known interference in language contact is that on the lexical level: Loanwords. Besides this, suffixes and word formation patterns can also be borrowed: For example the collective suffix -ere in Swiss German, a loan suffix from the Latin suffix -āria.

Finally, borrowings are also possible on the phonetic-phonological level: Language contact can have effects on the syllable structure of languages: The large amount of different diminutive suffixes in Swiss German can be explained in this way.

1Einleitung

Thema des vorliegenden Aufsatzes sind die verschiedenen Einflüsse auf die WortbildungWortbildung in Sprachkontaktsituation, dargestellt anhand der SuffixbildungSuffixbildung im SchweizerdeutschenSchweizerdeutsch.

Treffen zwei verschiedene Sprachen aufeinander, werden diese gewissen Interferenzen ausgesetzt. Am bekanntesten sind solche gegenseitigen Einwirkungen wohl auf lexikaler Ebene (Stichwort LehnwortLehnwort), daneben sind aber auch solche auf morphologischer (Stichworte LehnsuffixLehnsuffix, Lehn-WortbildungsmusterWortbildungsmuster) und auf phonetisch-phonologischer Ebene zu verzeichnen: Treffen nämlich verschiedene Sprachtypen mit unterschiedlicher SilbenstrukturSilbenstruktur zusammen (z.B. eine Wortsprache auf eine Silbensprache oder die Silbensprache X auf die Silbensprache Y), so kann auch die Silbenstruktur (der einen Sprache) Einfluss auf die WortbildungWortbildung (der anderen Sprache) haben.

Die Interferenzen auf den letzten zwei Ebenen sollen im Folgenden anhand von ein paar verschiedenen schweizerdeutschen Suffixen dargelegt werden.

2Neue Suffixe durch EntlehnungEntlehnung

Exemplarisch soll hier das LehnsuffixLehnsuffix schwzd. -ere < mhd. -erra, -er(r)e < ahd. -arra < lat./roman. -āria vorstellt werden (vgl. Hofer 2012: 92; Sonderegger 1958: 471f.; Szadrowsky 1938: 31; Bach 1952–1956, II/1: 198). Das Suffix schwzd. -ere hat, entsprechend seinem lateinisch/romanischen Vorbild, kollektive Funktion und die Bildungen damit sind ausschliesslich desubstantiv, d.h. ihre Basis ist eine Sache. Das Suffix verbindet sich in der Regel mit Pflanzenbezeichnungen, Tierbezeichnungen, Bezeichnungen für Mineralien oder für sonstiges Erdmaterial (Hofer 2012: 92; vgl. Beispiele unten).

Das Suffix -ere ist in der schweizerdeutschen, insbesondere in der westschweizerdeutschen Toponymie weit verbreitet: Damit gebildete FlurnamenFlurname sind vor allem sogenannte Standortkollektiva, d.h. sie zeigen den räumlichen Bereich an, wo die in der Derivationsbasis genannte Sache von Natur aus in großer Menge vorhanden ist, angepflanzt oder abgebaut wird (Hofer 2012: 92, 208; Sonderegger 1958: 471; Bach II/1, 198). Beispiele dafür aus dem bernischen Namengut sind Nesslere ‚Stelle, wo viele Nesseln wachsen‘, Dinklere ‚Stelle, wo Dinkel angebaut wird‘, Fröschere ‚Ort, wo viele Frösche sind‘, Dräckere ‚Stelle, wo viel Dreck, Morast ist‘, Chalchere ‚Ort, wo viel Kalk vorhanden ist/gebrannt wird‘, Leimere ‚Stelle, wo viel Lehm ist, Lehmgrube‘ (Hofer 2012: 97, 100f., 103, 105–108).

Mit den lateinischen Suffixen -ārius m., -āria f. und -ārium n. wurden ursprünglich Zugehörigkeitsadjektive von Sachbezeichnungen gebildet (z.B. ferrārius ‚zum Eisen gehörig‘). Schon im Lateinischen entstanden durch Ellipse von Bezugswörtern wie z.B. faber ‚Verfertiger‘ zahlreiche Substantivierungen: faber ferrārius ‚Schmied‘ > ferrārius ‚Schmied‘ (vgl. Lühr 2008: 44f., 120).

Substantivierte Bildungen im Femininum und Neutrum dienten dann im späteren Lateinischen bzw. im Romanischen v.a. als Bezeichnungen für Örtlichkeiten, wo z.B. ein Gegenstand vorkommt, hergestellt, verkauft wird, Orte für Tieraufzucht usw., z.B. arēnāria ‚Sandgrube‘, calcāria ‚Kalksteinbruch, Kalkofen‘, ficćria ‚Feigenpflanzung‘ oder oviāria ‚Schafzuchtbetrieb‘ (Lühr 2008: 52f.; Meyer-Lübke 1894: 509–512). Überaus produktiv wird das Suffix -āria im Romanischen, insbesondere in Verbindung mit Pflanzenbezeichnungen (Meyer-Lübke 1894: 511f.).

Zum Entlehnungsprozess (Hubschmied 1940: 29f.; Szadrowsky 1938: 37–41): Das lateinish-romanische Suffix -āria wurde von den Alemannen nicht als isoliertes Suffix übernommen, sondern in Verbindung mit verschiedenen Wörtern. Vorbilder von auf -ere ausgehenden schweizerdeutschen FlurnamenFlurname sind lateinische/romanische Bildungen wie z.B. lat. calcāria ‚Kalksteinbruch, Kalkofen‘ bzw. darauf basierende romanische Flurnamen. Die Alemannen übernahmen so auch die Funktion des Suffixes und wandten es nach dem romanischen Muster auch an eigenem Wortgut an. Schweizerdeutsche Flurnamen wie Chalchere können also entweder direkt auf eine rein romanische Bildung calcāria zurückgehen (roman. calcāria > schwzd. Chalchere mit Reduktion von roman. -āria zu schwzd. -ere aufgrund des deutschen Initialakzents und durchgeführter zweiter Lautverschiebung von roman. c > schwzd. ch), oder können, was in den meisten Fällen wahrscheinlicher ist, auch jüngere, rein schweizerdeutsche Bildungen sein: Calch + -ere > Chalchere (Hofer 2012: 94).

3EntlehnungEntlehnung von WortbildungsmusternEntlehnung von Wortbildungsmustern

Durch SprachkontaktSprachkontakt können wie eingangs angetönt neben Wörtern und Suffixen auch WortbildungsmusterWortbildungsmuster entlehnt werden. Konkret geht es hier um das in der schweizerdeutschen Toponymie weit verbreitete Wortbildungsmuster, mittels Movierung den Besitz oder Wohnsitz einer Person/Familie (auch einer Gemeinschaft oder Institution) anzuzeigen, z.B. Müllere f. ‚Besitz (Wiese, Hof usw.) der Familie Müller‘. Die Basis bildet hierbei meist ein Familienname, der auf -er ausgeht (Hofer 2012: 119).

Movierung mittels Suffixableitung wird im appellativen Bereich bekannterweise dafür verwendet, um aus persönlichen maskulinen Bildungen feminine Bildungen zu machen (Bußmann 2008: 458). Im SchweizerdeutschenSchweizerdeutsch wird neben dem (mit nhd. -in identischen) Suffix -i(n), z.B. Lehreri(n) f., auch mit dem Suffix -(er)e moviert, z.B. Lehrer m. – Lehrere f., FNKopp m. – Koppere f. ‚Frau (des Herrn) Kopp‘ (Hofer 2012: 119; SDSIII, 159f.).

Es ist nun nichts Außergewöhnliches, dass Bildungen in der Toponymie neue oder andere Funktionen erhalten können, die sie im normalen Sprachgebrauch nicht haben. Beispielsweise werden Diminutivbildungen in der SchweizerdeutschenSchweizerdeutsch Toponymie oft nicht dafür benutzt, um die Kleinheit einer Flur hervorzuheben, sondern um damit die geographische Lage bzw. Zugehörigkeit zu einer anderen Flur anzuzeigen, z.B. in Langnau im Emmental Büelti neben Büel, in Brienzwiler Schlusselti neben Schlussel usw., wobei das Grundstück mit dem DiminutivsuffixDiminutivsuffix im Namen flächenmäßig nicht unbedingt kleiner sein muss als das andere (Hofer 2012: 31, 55; cf. auch Odermatt 1903: 59). Weiter können auch unveränderte und unflektierte Personennamen bzw. Familiennamen als besitzanzeigende oder wohnsitzanzeigende FlurnamenFlurname stehen, v.a. bekannt im Berner Oberland: Flurname Wäfler (4 Häuser in Frutigen; zum Familiennamen Wäfler), Flurname Schuler (Heimwesen in Adelboden; zum Familiennamen Schuler) oder Flurname Balsiger (Weide in Reichenbach; zum Familiennamen Balsiger) (Hofer 2012: 120; Hubschmied 1940: 49f.).

Eine neue Funktion hat nun auch die Movierung in der schweizerdeutschen Toponymie angenommen, nämlich die Funktion der Besitzanzeige. Solche movierte feminine Bildungen sind v.a. im Westschweizerdeutschen, insbesondere in den Kantonen Bern und Freiburg, also in Sprachgrenzregionen, sehr häufig (Szadrowsky 1938: 35; Hofer 2012: 119–167). Vorlage für solche schweizerdeutschen FlurnamenFlurname sind die im Romanischen, im Französischen und in der Romandie (der französischsprachigen Schweiz) häufigen besitzanzeigenden femininen Toponyme, gebildet mit unterschiedlichen Suffixen: Richardière ‚Besitz, Wohnsitz eines Richard m.‘, La Perretta f. ‚Gut, Alp eines Perret m.‘, La Philipona f. ‚Gut, Alp eines Philipon m.‘ (Hubschmied 1938: 722; Hubschmied 1940: 51; Vincent 1937: 274f.; Muret 1930: 89f.; Hofer 2012: 209f.).

In diesem Fall wurde von den Alemannen also nicht ein Suffix entlehnt, sondern das Muster. D.h. die Motionsbildung wurde mit Mitteln aus der eigenen Sprache dem romanischen Muster lediglich nachempfunden (Hofer 2012: 210); konkret mit eigenem Suffix schwzd. -e < ahd. -(i)a < germ. *-(j)ōn (cf. Henzen 1965: 134, 163), das an mask. Bildungen mit -er-Auslaut angehängt wurde.

Dadurch, dass der Ausgang dieser movierten femininen Bildungen die gleiche Lautgestalt hat wie bei den Kollektivbildungen auf -ere, entsteht die Schwierigkeit, die Bildungen auseinanderzuhalten: Der bernische FlurnameFlurnameHaslere kann demnach als ‚Stelle, wo viele Haselstauden wachsen‘ oder ‚Besitz der Familie Hasler‘ gedeutet werden (Hofer 2012: 183). Abhilfe schaffen kann in solchen Fällen die Realprobe oder die Familiennamenforschung.

4Neue Suffixe durch Einfluss auf der Ebene der SilbenstrukturSilbenstruktur

Die Schweiz beherbergt wohl die größte Suffixvielfalt des ganzen deutschen Sprachraumes. Dies wird im Bereich der Diminution besonders deutlich. Während beispielsweise im StandarddeutschenStandarddeutsch Verkleinerungsformen mit -chen und -lein gebildet werden, verfügt das Schweizerdeutsche über eine ungleich größere Palette, Diminutiva abzuleiten (Hofer 2012: 12). So gibt es neben dem üblichen und am weitesten verbreiteten DiminutivsuffixDiminutivsuffix -(e)li (Mätteli ‚kleine Matte‘, Hüsli ‚Häuschen‘) auch noch die vor allem im Berner Oberland, im Wallis, in der Zentralschweiz und in Graubünden vorkommenden Verkleinerungssuffixe -i (Öpfi ‚Äpfelchen‘), -ti (Tälti ‚Tälchen‘), -elti (Brüggelti ‚Brücklein‘), -etli (Alpetli ‚kleine Alp‘) und die typisch walliserischen bzw. walserischen Suffixe -ji (Lammji ‚Lämmchen‘), -si (Mundsi ‚Küsschen‘), -schi (Hundschi ‚Hündchen‘), -tsi (Manntsi ‚Männchen‘) und -tschi (Hüentschi ‚Hühnchen‘).

Wie erklärt sich nun diese Suffixvielfalt? Voraussetzung dafür ist der SprachkontaktSprachkontakt von Alemannen und Romanen, genauer frankoprovenzalisch sprechenden Menschen. Schauen wir uns die Entstehung dieser Suffixe genauer an (cf. Abb. 1): Ausgangssuffix all dieser DiminutivsuffixeDiminutivsuffix ist ahd. -ī(n). Verbindet sich dieses mit einem Wort mit ahd. -il-Auslaut, entsteht die Lautverbindung ahd. -ilīn (z.B. ahd. leffil ‚Löffel‘ - leffilīn ‚Löffelchen‘), die sich dann selbständig machen kann und als eigenständiges Suffix produktiv wird: Suffix ahd. -ilīn (z.B. in ahd. kindilīn).

Abb. 1

Suffixstammbaum (aus: Hofer 2012: 86)

Folgendes (vereinfachtes) Szenario der Entwicklung der walserischen DiminutivsuffixeDiminutivsuffix ist nun denkbar: Als die Alemannen vor dem Jahr 1000, aus dem Berner Oberland kommend, ins das romanisch sprechende bzw. von Romanen besiedelte Wallis (heutiges Deutschwallis) vorstießen (cf. Abb. 2), brachten sie auch ihr Suffix ahd. -ilīn dorthin. Das langjährige Neben- und Miteinander von Alemannen und Romanen im Wallis führte naturgemäss zu Interferenzen. Das Suffix ahd. -ilīn wurde im romanischen Mund zu altwalliserdeutsch *-(i)jī(n) und schließlich zu walliserdeutsch -ji gewandelt (Hofer 2012: 63): Der deutsch lernende Romane (wir befinden uns ja im späteren Deutschwallis) sprach das von den Alemannen mitgebrachte ahd. *huntilīn also als *hundijīn aus. Fällt das -i- später aus, ergibt sich heutiges walliserdeutsch Hundji ‚Hündchen‘.

Diese sog. -l-Palatalisierung betraf nun nicht nur das althochdeutsche Suffix. -ilīn, sondern allgemein die althochdeutsche Phonemfolge -il + Vokal (Haas 1983: 1112). Somit waren auch andere Suffixe davon betroffen, z.B. ahd. -ila, cf. ahd. distila f. ‚Distel‘ > walliserdeutsch Distja (cf. Moulton 1941: 41). Wieso nun diese Palatalisierung? Sie ist ein Resultat des Einflusses der romanischen Substratsprache, genauer des Frankoprovenzalischen (Moulton 1941: 32f. u. 41f.). Die Lautfolge -ilīn scheint nicht in die romanische SilbenstrukturSilbenstruktur zu passen. D.h. der deutsch lernende Romane passte diese Lautverbindung -ilīn der eigenen Silbenstruktur an, indem er das -l- vokalisierte. -l-Vokalisierung ist typisch für die romanischen Sprachen, man vgl. dazu postkonsonantisch in den Lautverbindungen cl, gl, pl, bl, fl, z.B. lat. flamma > ital. fiamma, und intervokalisch, z.B. lat. filia > frz. fille[fij] (cf. Meyer-Lübke 1890: 345–351, 435–439; Rheinfelder 1976: 200).

Abb. 2

Besiedlung der Schweiz (aus: Zinsli 1971: 49)

Das neue durch -l-Palatalisierung entstandene Suffix -ji ist wiederum Grundlage der meisten anderen Suffixe (cf. Abb. 1). Je nach Lautumgebung entwickeln sich daraus die typisch walliserischen bzw. walserischen Suffixe -si, -schi oder -ti (Letzteres nach -l-Auslaut, Genaueres dazu und zu den Suffixen, die hier nicht behandelt werden, siehe Hofer 2012: 45–82), je nach Region oder Intensität des Sprachkontaktes kann das Suffix -ji aber auch unverändert bleiben (Hofer 2012: 78). Daher finden sich auf engem Raum im Wallis mehrere Formen noch heute nebeneinander, z.B. Hundji neben Hundsi und Hundschi (cf. SDSIII, 156).

Tritt das Suffix -ji an einen d-Auslaut an, ergibt sich die Lautfolge -dji-. Diese ist im Romanischen phonotaktisch nicht zulässig und führt zudem zu einem „schlechten“ SilbenkontaktSilbenkontakt (s. dazu weiter unten) und damit zu einer „schlechten“ SilbenstrukturSilbenstruktur. Phonotaktik ist der Bereich der Phonologie, der sich mit möglichen und unmöglichen Kombinationen von Segmenten in einer Sprache befasst: /pft/ z.B. ist im DeutschenDeutsch nur im Silbenauslaut (er hüpft), nicht aber im Silbenanlaut zulässig (Hall 2000: 60; Bussmann 2008: 528).

Die Romanen passen nun auch diese Lautfolge an die romanische SilbenstrukturSilbenstruktur an, indem sie den „schlechten“ SilbenkontaktSilbenkontakt und die phonotaktische Hürde beseitigen, und zwar mittels Assibilierung (auch Assibilation, zu lat. ad ‚hinzu‘ und sībilāre ‚zischen‘), einer Zischlautentwicklung u.a. zwischen Dental und -i/-j (Bussmann 2008: 64f.; Knobloch 1986: 182f.; Abraham 1988: 64). Dies führt dann nach Ausfall des -j- zu den neuen Suffixen schwzd. -si und -schi: Hund-ji > Hund-s(j)i > Hund-si bzw. Hund-ji > Hund-sch(j)i > Hundschi (Hofer 2012: 76, 79f.).

Man vgl. dazu ähnliche Assibilierungsfälle: lat. generatio > nhd. Generation[-tsion] bzw. frz. génération[-siõ]; oder die bernischen FlurnamenFlurnameBütschel < altfrankoprovenzalisch *pudzyol, assibiliert aus lat./roman. *podiolum ‚kleine Anhöhe‘, DiminutivDiminutiv von lat. podium ‚Erhöhung‘ (cf. BENB I/4, 767f.).

Die Suffixe -si, -schi und auch -ji sind also als romanisch-alemannische Interferenzerscheinungen zu werten, sie sind lautbestimmte Suffixe, die aus der Anpassung von für den Romanen fremden Lautverbindungen an die romanische SilbenstrukturSilbenstruktur resultieren (Hofer 2012: 79f., 83).

Solche eben beschriebenen Vorgänge (Verbesserung des Silbenkontakts, phonotaktische Vereinfachung) sind typisch für Silbensprachen. Sie tendieren dazu, die Silbe bzw. die SilbenstrukturSilbenstruktur zu optimieren. Als Silbensprachen gelten insbesondere die romanischen Sprachen, aber auch das Schweizerdeutsche (insbesondere das Walliserdeutsche) und das Althochdeutsche. Im Gegensatz dazu gilt das Neuhochdeutsche als Wortsprache (Nübling/Schrambke 2004: 281–286, 293–299; Nübling 2008: 17, 22–24; Szczepaniak 2007: 317–325). Es ist hier noch anzumerken, dass nicht jede Silbensprache alle möglichen Merkmale einer Silbensprache besitzen muss; auch kann eine bestimmte Silbensprache ein typisches silbensprachliches Merkmal aufweisen, welches aber andere Silbensprachen nicht notwendigerweise auch enthalten müssen (cf. Nübling/Schrambke 2004: 285).

Zur Analyse des „schlechten“ Silbenkontakts /d.j/ werden hier zunächst ein paar silbenstrukturelle Ausführungen benötigt. Eine optimale Silbe besteht aus einem starken Konsonanten (C) im Silbenonset (cf. Abb. 3), einem Vokal (V) im Silbennukleus (Silbenkern) und einer leeren Silbenkoda (Silbenauslaut, Silbenendrand). Dies führt also zu sog. CV-Silben wie z.B. [ta], die am leichtesten aussprechbar sind (Vennemann 1986: 33; Nübling 2008: 17).

Abb. 3

Sonoritäts- bzw. Stärkeskala (vereinfachte Abb. nach Nübling 2008: 15 u. Vennemann 1986: 36)

Vokale haben naturgemäß die größte Sonorität (auch Schallfülle: relative Lautheit eines phonologischen Segments, cf. Restle/Vennemann 2001: 1310; Bussmann 2008: 633). Je weniger sonor ein Konsonant ist, desto höher ist seine konsonantische Stärke.

Wenn man die Stärkeskala mit numerischen Werten versieht, kann man den SilbenkontaktSilbenkontakt /k1.k2/ berechnen (cf. Abb. 4).

Abb. 4

Stärkeskala mit numerischen Werten (nach Restle/Vennemann 2001: 1318)

Je größer die Differenz in der konsonantischen Stärke zwischen k2 und k1 ist, desto besser ist der SilbenkontaktSilbenkontakt (Vennemann 1986: 39–42; Hall 2000: 227; Restle/Vennemann 2001: 1317). Das heisst also, je grösser also k2 – k1 ist, desto besser ist der Silbenkontakt. Bspw. hat nhd. /hal.ten/ einen sehr guten Silbenkontakt: Das /t/ ist mit dem numerischen Wert 6 ist k2, das /l/ mit dem numerischen Wert 3 ist k1 (k2 – k1 = 3). Aneinandergereihte CV.CV-Silben wie */ta.ta/ haben den besten Silbenkontakt (6–0 = 6; unter Ergänzung des Werts Null für den Vokal /a/ in der Abb. 4).

Schauen wir uns das jetzt exemplarisch am schweizerdeutschen Suffix -schi an: /Hund.ji/ (-4 = sehr schlechter SilbenkontaktSilbenkontakt) > /Hun.dschi/ (1 = guter Silbenkontakt) > /Hun.tschi/ (2 = guter Silbenkontakt). Durch Assibilierung hat sich also der Silbenkontakt enorm verbessert (Hofer 2012: 80). Zudem wird dadurch die Silbengrenze zu Ungunsten der Morphemgrenze verschoben, was ein typisches Merkmal von Silbensprachen ist (Nübling/Schrambke 2004: 281f.). Es ist hier die romanische Segmentierung angegeben, da es eine romanische Entwicklung ist und /tsch/ im Romanischen als Silbenonset phonotaktisch zulässig ist. Im DeutschenDeutsch hingegen scheint dies nicht der Fall zu sein, cf. nhd. rutschen oder Bratsche, die als /rut.schen/, /Brat.sche/, nicht als /ru.tschen/, /Bra.tsche/ silbifiziert werden; die Lautfolge /tsch/ ist im Deutschen sekundär entstanden, cf. nhd. rutschen < spätmhd. *ruckezen, Intensivbildung zu nhd. rucken (Lexer II, 559; DWBVIII, 1568f.; Id. VI, 1856–1859), durch Vokalausfall, cf. ahd. diutisc > nhd. deutsch (Kluge 2002: 193f.; Starck/Wells, 1971–1990, 103), oder aus Fremdwörtern, cf. nhd. Bratsche < ital. viola da braccio, zu lat. brac(c)hium ‚Arm‘ (Kluge 2002: 146).

Durch die Verbesserung des Silbenkontakts und die Verschiebung der Silbengrenze sind die Voraussetzungen gegeben, erneut ein neues Suffix zu generieren, nämlich schwzd. -tschi, und zwar durch Verschmelzung von -d-/-t-Auslaut mit dem neuen Suffix -schi und anschliessender morphologisch falscher Ablösung (Hofer 2012: 75, 80): Hund-schi > Hun-dschi bzw. fortisiert Hun-tschi. Das Suffix kann sich dann verselbständigen und produktiv werden, z.B. Schaf – Schaf-tschi ‚Schäfchen‘.

Dieser eben beschriebene Vorgang (Verschmelzung und falsche Ablösung) ist in der Bildung von Diminutivsuffixen häufig (Hofer 2012: 60, 62, 236), cf. die Entstehung der Suffixe schwzd. -li (ahd. leffil-īn > leff-ilīn