Worte des Herzens - Sterling Rivers - E-Book

Worte des Herzens E-Book

Sterling Rivers

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Beschreibung

Als der Tod seiner Mutter Aiden zurück in seine Heimat führt, entdeckt er auf ihrem Dachboden Liebesbriefe, in denen er zwischen schmerzhaften Erinnerungen und einer Familie, die seine Homosexualität missbilligt, Trost findet. Kurz entschlossen macht er sich auf die Suche nach dem Verfasser dieser Briefe. Dabei begegnet er nicht nur dem liebenswerten Cody, sondern muss auch lernen, seinem Herzen zu folgen…

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Seitenzahl: 336

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Deutsche Erstausgabe (ePub) Februar 2018

Für die Originalausgabe:

© 2016 by Sterling Rivers

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

»Carry Me Home«

Originalverlag:

Published by Arrangement with Dreamspinner Press LLC, 5032 Capital Circle SW, Ste 2, PMB# 279, Tallahassee, FL 32305-7886 USA

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© 2017 by Cursed Verlag

Inh. Julia Schwenk

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,

des öffentlichen Vortrags, sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile,

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit

Genehmigung des Verlages.

Bildrechte Umschlagillustration

vermittelt durch Shutterstock LLC; iStock

Satz & Layout: Cursed Verlag

Covergestaltung: Hannelore Nistor

ISBN-13: 978-3-95823-679-0

Besuchen Sie uns im Internet:

www.cursed-verlag.de

Aus dem Englischen von Nigel Spokes

Liebe Leserin, lieber Leser,

vielen Dank, dass Sie dieses eBook gekauft haben! Damit unterstützen Sie vor allem Sterling Rivers und zeigen Ihre Wertschätzung gegenüber dieser Arbeit. Außerdem schaffen Sie dadurch die Grundlage für viele weitere Romane von Sterling Rivers und aus unserem Verlag, mit denen wir Sie auch in Zukunft erfreuen möchten.

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Klappentext:

Als der Tod seiner Mutter Aiden zurück in seine Heimat führt, entdeckt er auf ihrem Dachboden Liebesbriefe, in denen er zwischen schmerzhaften Erinnerungen und einer Familie, die seine Homosexualität missbilligt, Trost findet. Kurz entschlossen macht er sich auf die Suche nach dem Verfasser dieser Briefe. Dabei begegnet er nicht nur dem liebenswerten Cody, sondern muss auch lernen, seinem Herzen zu folgen…

Kapitel 1

Als ich um die Kurve bog, öffnete sich die Landschaft und gab den Blick auf das Haus frei, in dem ich aufgewachsen war. Ein paar Dinge hatten sich geändert. Am meisten der Mais, der im Sommer reihenweise die Felder bestückte. Ich erinnerte mich daran, wie ich als kleiner Junge darin Verstecken gespielt hatte. Die Maispflanzen waren dreimal so hoch wie ich gewesen. Meine Mutter würde mich suchen und so tun, als könnte sie mich nicht finden. Jetzt waren die Felder großflächig durch riesige Windkrafträder ersetzt worden. Ihre Rotorblätter drehten sich leise im mäßigen Dezemberwind. Auch wenn ich den Mais bevorzugte, konnte ich nicht leugnen, dass die Windkrafträder einen wundersamen Anblick boten. Mom hatte das Angebot eines Energiekonzerns, die Windkrafträder auf ihrem Land bauen zu dürfen, vor ein paar Jahren akzeptiert. Die Bezahlung war angemessen, aber meine Mutter hatte darauf bestanden, dass es ihr nicht um das Geld ging.

Ich bog in die Auffahrt ein und fuhr an der von mir benannten Walbox vorbei. Ein Nachbar, der aus Holzblöcken Kunstwerke schnitzte, hatte sie meinem Vater gegeben. Der eigentliche Briefkasten befand sich im Mund des Wals und der Familienname Price spritzte aus seinem Atemloch. Ich erinnerte mich daran, dass ich als Kind dachte, dass es das Coolste auf der Welt war. Wir haben keine Mailbox, wie haben eine Walbox!

Ich war geneigt anzuhalten und nachzusehen, ob mein Spielzeugauto immer noch dahinter stand, fuhr aber weiter.

Ich fuhr bis zur vorderen Veranda des Farmhauses, schaltete den Motor aus und lehnte meinen Kopf gegen den Sitz. Ich war nicht bereit für das hier und ich wollte es unter keinen Umständen allein durchstehen. Aber meine Schwester war mit ihrem Ehemann und dem neuen Baby beschäftigt und mein Vater würde nicht vor morgen Früh in der Stadt ankommen. Es blieb also an mir hängen. So sehr ich das Ganze auch vermeiden wollte, wusste ich, dass sich ein kleiner Teil von mir nach diesem Moment sehnte.

Nachdem sich mein Vater von meiner Mutter hatte scheiden lassen und Missy zur Uni gegangen war, hatte es nur noch Mom und mich gegeben. Ich wusste, dass meine Schwester über ihren Kleiderschrank herfallen würde, um die besten Kleidungs- und Schmuckstücke herauszusuchen. Mein Vater würde einfach alles entsorgen und unter keinen Umständen würde ich eine professionelle Haushaltsauflösung beauftragen, das Haus meiner Mutter zu entweihen.

Sei ein großer Junge, Aiden.Ich hörte ihre aufmunternden Worte in meinem Kopf, als würde sie direkt neben mir sitzen. Neunundzwanzig Jahre auf dieser Erde hatten mich nicht auf das Unvermeidliche vorbereitet, das ich tun musste. Es war meine Pflicht, es zu tun. Mom konnte sich darauf verlassen, dass ich alles sorgfältig durchging.

Ich stieg aus meinem Hummer aus und schloss die Tür, der Knall laut in meinen Ohren. Mehrere Eichelhäher flogen um das leere Futterhäuschen herum und veranstalteten dabei einen Riesenlärm. Es war schön, die alte Eiche zu sehen, die, so lange ich denken kann, hier gewesen war und an der die alte Reifenschaukel im Wind, der leise durch die Blätter pfiff, hin und her schwang. Ich lauschte auf das Summen der Windräder, hörte aber nichts. Die Rosensträucher, die an der Vorderseite des Hauses standen, waren gewachsen und der Boden der Veranda mit Laub übersät. Für einen kurzen Moment überlegte ich, sie zu fegen... Mom hätte so eine Unordnung nie zugelassen.

Mir war bewusst, dass ich es hinauszögerte. Mit einem Kloß im Hals stieg ich die Stufen zur Veranda hinauf und steckte den Schlüssel ins Schloss. Meine Hände zitterten und ich brauchte einige Anläufe, aber letztendlich schaffte ich es, die Tür zu öffnen. Der erste Schritt war der schwerste. Im Haus war es ruhig. Nur das rhythmische Ticken der Kuckucksuhr unterbrach die Stille. Das Farmhaus roch noch genauso, wie ich es in Erinnerung hatte... Blumen, Kräuter... Liebe und kalte Nächte, gewärmt durch den Kamin und eine heiße Tasse Schokolade. Aber eine kriechende Kälte lag in der Luft, als würde etwas fehlen.

Als ich mich auf den Weg in die Küche machte, richtete ich meinen Blick starr geradeaus, da ich die handgefertigten Möbel nicht ansehen konnte, die meine Mutter mit Leidenschaft sammelte. Mich an die vielen Male zu erinnern, in denen Mom mich zu den Handwerksausstellungen mitgenommen hatte, war im Moment zu schmerzhaft. Ich war entblößt und verletzlich und hasste es. Ich fühlte mich dadurch eher wie ein Kind als ein erwachsener Mann.

Ich riss die Kühlschranktür auf und verzog das Gesicht, als mir ein Schwall stinkender Luft entgegenkam. Ich fand eine Flasche Wasser und stürzte es hinunter, bis mein Magen fast überschwappte. Die Plastikflasche in meiner Hand zerdrückend warf ich einen verächtlichen Blick auf die gammelnden Früchte und das verdorbene Mittagessen. Meine Kehle zog sich zusammen, als ich mir den halb vollen Mülleimer schnappte und die verdorbenen Lebensmittel darin entsorgte. Der Kühlschrank war so gut wie jeder andere Platz, um mit dem Aufräumen anzufangen, und die Küche würde besser riechen, wenn sie erst einmal sauber war. Nachdem ich das ganze Essen entsorgt hatte, nahm ich die Fächer heraus und legte sie in die Spüle, ehe ich den Kühlschrank gründlich schrubbte. Ich war gerade mit dem Saubermachen fertig, als das Bestattungsunternehmen auf meinem Handy anrief, ließ das Gespräch jedoch auf die Mailbox gehen.

Ich versuchte, das Piepen meines Handys zu ignorieren, aber es funktionierte nicht. Widerwillig hörte ich mir die Nachricht an. Fast erwartete ich, dass sie mir sagen würden, es hätte nur eine Verwechslung gegeben, meiner Mom würde es gut gehen und sie bräuchte eine Mitfahrgelegenheit nach Hause.

»Mr. Price? Hier spricht Thomas Pinski vom Model Bestattungsinstitut. Ich wollte Ihnen nur versichern, dass für morgen alles vorbereitet ist. Sollten Sie noch Fragen oder Bedenken haben, rufen Sie ruhig an. Wir sind für Sie da.«

Ich machte mir nicht die Mühe ihn zurückzurufen und löschte die Aufnahme. Ich brauchte keine weitere Erinnerung daran, dass meine Mutter nicht mehr da war. Selbsttäuschung war schnell mein bester Freund geworden und seltsamerweise hatte es mir dabei geholfen, zurechtzukommen. Die Idee, dass es sich hierbei nur um einen Albtraum handelte und das Krankenhaus einen Fehler gemacht hatte, hielt die Tränen zurück. Ich hatte Mom fürchterlich vermisst, als ich zur Uni gegangen war, und ihre jetzige Abwesenheit brachte das Gefühl zurück. Ich glaubte fast, dass ich sie wiedersehen würde. Ich redete mir selbst ein, dass ich das würde. Ich musste es tun, wenn ich das hier überstehen wollte.

Ich musste die Lüge glauben.

Nachdem ich das Innere des Kühlschranks auf Hochglanz poliert hatte, legte ich die Fächer wieder ein und wandte mich als Nächstes dem Gefrierschrank zu. Ich schmiss alles weg, sogar die Fertiggerichte, die noch immer haltbar waren. Anschließend wischte ich ihn von außen ab und sortierte die Magnete und Schnappschüsse. Ich brachte den Müll raus und spülte den Mülleimer im Garten aus. Als ich fertig war, ging die Sonne bereits unter und erleuchtete die Wolken wie Feuer. Ich nahm mir einen Moment, um tief Luft zu holen. Meine Nase brannte. Nicht durch Allergien, sondern von zurückgehaltenen Tränen.

Es gab keine Zeit zum Trauern. Ich musste mich um das Haus kümmern.

Ich stellte den Mülleimer auf den Kopf, damit das Wasser ablaufen konnte, und ging wieder ins Haus. Nachdem ich meine Hände gewaschen hatte, ging ich wieder in den Vorraum und raufte mir die Haare, unschlüssig, was ich als Nächstes tun sollte. Mom hatte mir Haus und Grundstück hinterlassen und ich wusste, dass ich mich von einigen Sachen trennen musste. Aber mich auch nur von einem Teil zu trennen, zerriss mich innerlich beinahe. Wahrscheinlich könnte ich einen Flohmarkt veranstalten, aber als ich meinen Blick über die Möbel und den Schnickschnack schweifen ließ, weigerte sich mein Herz, irgendetwas herzugeben. Vielleicht konnte ich es einfach in der Garage lagern, bis ich bereit war?

Ich stieg die Treppen hinauf und fand Missys altes Zimmer. Es war leer, bis auf ein frisch gemachtes Bett, das wahrscheinlich nicht mehr benutzt worden war, seit sie zur Uni gegangen war. Abgesehen von einer Kommode und aussortierten Kuscheltieren war der Raum fast steril und ich ging weiter. Ich ging an meinem eigenen Zimmer vorbei und entschied, dass ich mich darum als Letztes kümmern würde. Nach einer kurzen Überprüfung des Badezimmers im ersten Stock stellte ich fest, dass sich nichts geändert hatte. Ich wusste, dass der unförmige Enten-Toilettenhalter bleiben würde. Mein Vater hatte sich beschwert, als wir ihn von einem Handwerksfest mitgebracht hatten, aber Mom hatte ihn geliebt.

Plötzlich stand ich vor dem Zimmer meiner Mutter. Einst war es das Schlafzimmer meiner Eltern gewesen, aber als mein Vater ausgezogen war, hatte er all seine Sachen mitgenommen. Ich erinnerte mich daran, dass Mom versucht hatte, über die Scheidung hinwegzukommen, indem sie das Zimmer in Pastelltönen gestrichen und mit einem Blumenmuster dekoriert hatte. Ich hatte ihr geholfen und am Ende waren wir beide von Kopf bis Fuß mit Farbe bedeckt. In dem Jahr, nachdem mein Vater ausgezogen war, hatte ich eine Menge Änderungen gesehen. Die einfachen, cremefarbenen Wände im Wohnzimmer wurden lila. Das gute Geschirr verschwand aus den Schränken, die mit Auszeichnungen gefüllt wurden, die Missy und ich in der Schule gewonnen hatten, und mit Kunstwerken, die ich gebastelt hatte. Selbst mit neun Jahren hatte ich irgendwie verstanden, dass Mom versuchte, einfach weiterzumachen, so wie es mein Vater getan hatte, und das Handwerk war ihre Art, mit der Leere, die seine Abwesenheit hinterließ, umzugehen.

Ich starrte gute zehn Minuten auf die schlichte, pfirsichfarbene Tür, unschlüssig, ob ich es mir bis zum Schluss aufheben oder die Emotionen, die sich in dem Raum befanden, direkt angehen sollte. Ich schalt mich selbst dafür, so ein Weichei zu sein. Ich ergriff den kalten Türknauf und versuchte mit aller Kraft, ihn zu drehen, doch meine Muskeln wurden schlaff. Ich zog meine Hand zurück, machte auf dem Absatz kehrt und entschied, dass ich es mir bis zum Schluss aufheben würde. Es war, als wäre mein Gehirn in einem Mixer auf höchster Stufe gelandet. Ich hatte keine Ahnung, wo ich anfangen, was ich behalten oder entsorgen sollte. Ich wollte weinen vor Frust und ich fluchte, als ich durch die Eingangstür stürzte. Sauer und verletzt lief ich einfach weiter, ich brauchte eine Ablenkung... irgendwas.

Als ich bei der Walbox ankam, war ich ruhiger, der Druck hinter meinen Schläfen ließ langsam nach. Ich stieß den Atem aus und zog die Furchen im Holz mit meinen Fingern nach. Kurzentschlossen griff ich nach meinem Handy und wählte Missys Nummer. Die Mailbox ging ran. Nicht überraschend, aber es war schön, ihre Stimme zu hören, egal wie kurz angebunden sie klang. Ich hinterließ keine Nachricht. Ich würde sie morgen sehen und sie bitten, mir nach der Beerdigung mit Moms Zimmer zu helfen. Vermutlich hatte sie mehr Ahnung von Frauen-Fashion als ich. Außerdem würde es mir helfen, das Haus schneller leer zu räumen, wenn sie durch Moms Sachen stöberte, und ich konnte den Ansporn gebrauchen.

Die Aussicht, nach drei Jahren das erste Mal wieder mit Missy zu reden, entlockte mir ein Lachen. Sie war, nachdem sie die Uni abgeschlossen hatte, nicht mit mir in Kontakt geblieben und ich konnte froh sein, wenn ich eine Weihnachtskarte von ihr bekam. Missy war schon immer so gewesen. Mom sagte, sie käme nach unserem Vater... ruhelos, immer auf der Suche nach der nächsten Gelegenheit auf etwas Besseres.

Ich verdrängte die Gedanken, öffnete den Briefkasten und fand einen ganzen Stapel Briefe, die so fest steckten, dass ich sie mit Gewalt herausziehen musste. Während ich an Moms Bettseite gesessen und darauf gewartet hatte, dass sie aufwachte, hatte ich nie daran gedacht, die Post zu holen oder mich um das Haus zu kümmern. Alles hatte einfach irgendwie... angehalten.

Als ich die Post durchging, fand ich die Postkarte, die ich vor ein paar Monaten aus New York geschickt hatte. Sie hatte nie die Gelegenheit, sie zu sehen. Jedes Mal, wenn ich in eine neue Stadt reiste, stellte ich sicher, dass ich ihr ein Souvenir schickte. Sie hatte immer reisen wollen, aber nie die Möglichkeit gehabt und ich dachte, dass ich stattdessen ein kleines Stück Welt zu ihr bringen konnte.

Mit der Post in der Hand ging ich zurück zum Haus. Ich setzte mich auf die Couch und begann, das Durcheinander zu sortieren. Ich machte kurzen Prozess mit der Werbung, indem ich sie einfach in den Müll warf, und als ich damit fertig war, blieb ein großer Haufen Rechnungen zurück. Ich überging die Strom- und Gasrechnung und konzentrierte mich auf die Krankenhausrechnungen. Beim Lesen kniff ich mir in den Nasenrücken. Die meisten waren überfällig, einige drohten mit einem Inkassoverfahren. Ich hängte mich sofort ans Telefon und war überrascht, dass die meisten der Rechnungsabteilungen um diese Uhrzeit noch erreichbar waren.

Ich wusste nicht warum, aber es fühlte sich gut an, ihren Ruf in gewisser Weise wiederherzustellen und als ich mich endlich mit der Abteilung geeinigt hatte, die mit der Rechnung für die Notaufnahme betraut war, war es dunkel draußen und die Grillen zirpten ziemlich laut. Ich vereinbarte eine Ratenzahlung und tätigte eine zweihundert Dollar Überweisung, um meinen guten Willen zu zeigen. Ich hatte keine Ahnung, wie ich das alles bezahlen sollte. Moms Versicherung hatte die meisten Kosten übernommen, aber es waren trotzdem noch mehrere Tausend Dollar übrig. Zum Teil war das meine Schuld. Ich hatte mit Missy darum gekämpft, die lebenserhaltenden Maßnahmen weiterzuführen, obwohl die Ärzte mich gewarnt hatten, dass es keine Hoffnung gab, dass sie wieder aufwachen würde. Letzte Woche war ich überzeugt gewesen, dass Mom die Augen öffnen und es ihr besser gehen würde.

Schon eigenartig, wie schnell sich Sachen ändern können. Allerdings glaubte ich immer noch, dass sie nach Hause kommen würde.

Ich legte ein paar Zeitschriften zur Seite. Ich würde morgen anrufen und die Abos kündigen. Die meisten wichtigen Sachen wie Gas oder Strom waren für Monate im Voraus bezahlt, von daher legte ich sie auf Eis. Als ich einen leeren Karton fand, wühlte ich mich durch die Magazine und Bücher und füllte sie mit Women's Health und Ähnlichem. Ich fand noch mehr Kartons und beschriftete sie mit Flohmarkt, Müll und Lager. Als ich mit dem Wohnzimmer fertig war, hatte ich drei Kartons fürs Lager mit Schnickschnack gefüllt. Die anderen beiden waren so gut wie leer. Ich kniff vor Frust die Augen zusammen. Ich fühlte mich wie ein Messie, der nicht loslassen konnte. Selbst die Zeitschriften sahen mich an, als hätte ich sie verlassen.

Ich seufzte. Das würde eine lange Nacht werden.

Kapitel 2

In dieser Nacht fand ich ungefähr zwei Stunden Schlaf. Im Moment kamen meine Gedanken einfach nicht zur Ruhe und alles, woran ich denken konnte, war, wie ich die Organisation des Hauses in Angriff nehmen sollte. Nachdem der Versuch, Ordnung in das Durcheinander zu bringen, gescheitert war, war ich in die Garage gegangen, wo ich etwas mehr Erfolg hatte. Etwas von dem Müll gehörte meinem Vater... Werkzeuge und solche Sachen... also hatte ich die letzten Beweise, dass er mal hier gewohnt hatte, zusammengepackt und Raum für die Lagerung geschaffen. Ich hatte mich gefragt, ob Mom die Werkzeuge aus praktischen Gründen behalten hatte oder ob es ihr unmöglich gewesen war, ihr altes Leben komplett aufzugeben. Ich brachte ein paar der Lagerkartons ins Haus und fand noch ein paar andere Kisten, die ich nutzen konnte. Nachdem ich versucht hatte, ein paar von Moms Sachen auszusortieren, wobei das meiste wieder in den Lagerkartons gelandet war, hatte ich aufgegeben und war auf meinem alten Bett zusammengebrochen. Ich brauchte lange um einzuschlafen und als ich wieder aufwachte, war es erst drei Uhr morgens.

Ich entschied aufzubleiben und setzte Kaffee auf. Ich sah der aufgehenden Sonne zu, wie sie langsam den Himmel und den Raum erhellte, und lauschte, als die ersten Vögel wach wurden. Es sah aus wie der Beginn eines schönen Tages, also öffnete ich ein paar Fenster und ließ die frische Morgenluft hinein. Es tat gut und das erste Mal seit Monaten überkam mich ein Gefühl des Friedens. Ich liebte es hier. Es gab hier eine Art unberührte Schönheit, die ich in der Stadt nicht gefunden hatte, und an Morgen wie diesen wünschte ich mir, dass ich nie gegangen wäre. Ich hätte öfter vorbeikommen sollen, sagte ich mir selbst. Vielleicht hätte ich Mom mit zu mir nach New York nehmen können. Sie hätte das gemocht.

Leider war der Frieden nur von kurzer Dauer, zerstört durch die Erinnerung daran, was der Tag heute bringen würde.

Als die Kuckucksuhr sechs Uhr schlug, ging ich nach oben, um zu duschen. Ich war verstaubt und verschwitzt und wollte so gut wie möglich aussehen. Das Wasser war kochend heiß, aber so mochte ich das. Als ich fertig war, rieb ich das Dunstwasser vom Spiegel und betrachtete mein Spiegelbild. Jesus, ich war ein Wrack. Der Schlafmangel hatte mir wirklich zugesetzt.

Ich seufzte schwer. Meine Augen waren denen meiner Mutter so ähnlich, dass es fast schmerzte, sie anzusehen. So tief wie der Ozean, hatte sie gesagt. So grün wie Smaragde. Ich hatte auch ihr rotblondes Haar, was mich zum Ziel der Blondinenwitze meines Exfreundes gemacht hatte. Mich hatte es nicht gestört, zumal einige von ihnen lustig gewesen waren. Brian. Ich hatte vergessen, ihm von Mom zu erzählen. Wir hatten uns vor Jahren getrennt, von daher nahm ich nicht an, dass es ihn interessierte, aber Mom war immer nett zu ihm gewesen. Wir waren in Kontakt geblieben. Natürlich war sie der Ansicht gewesen, dass wir nur Kommilitonen waren. Aber er war mit seinem eigenen Leben, Meilen entfernt von Texas, beschäftigt. Außerdem hatte er, nach dem, was ich gehört hatte, einen neuen Freund und ich bezweifelte, dass er Zeit für meine Probleme hätte.

Nachdem ich im Bad fertig war, ging ich nur mit einem Handtuch bekleidet ins Erdgeschoss. Ich hatte letzte Nacht vergessen, meinen Koffer mit hineinzunehmen. Innerlich entschuldigte ich mich bei meiner Mutter dafür, dass ich draußen halb nackt rumlief, und holte meinen Koffer aus dem Auto. Ich stellte mir vor, wie sie mich deswegen zurechtweisen würde, indem sie, mit vor der Brust verschränkten Armen, meinen vollen Namen nutzte. Es brachte mich zum Grinsen. Als ich sechs gewesen war, hatte ich mich so sehr gegen ein Bad gewehrt, dass ich komplett nackt geflohen war. Sie hatte mich die Auffahrt hinunter gejagt und zurückgeschleppt. Mein Vater hielt das für wahnsinnig lustig.

Es war nicht immer schlecht zwischen meinen Eltern gewesen. Meine ersten Erinnerungen hatte ich daran, wie sie zusammen in der warmen Frühlingsbrise tanzten, während ich auf der Picknickdecke saß und den Apfelkuchen zerstörte. Ich dachte daran zurück, wann sich die Situation geändert hatte, aber es schien eher ein gradueller Verlauf gewesen zu sein als ein plötzlicher Bruch... kleine Sachen hier und da und dann war er einfach... weg.

Missy war kurz darauf zur Universität gegangen und dann waren es nur noch Mom und ich gewesen. Dann war es für mich an der Zeit gewesen, mein eigenes Leben zu beginnen... und Mom war allein. Ich fragte mich, ob die Tränen am Flughafen eher ihrer Einsamkeit geschuldet waren als meinem Erwachsenwerden und dem Auszug.

Ich wühlte durch meinen Koffer, bis ich meine Stoffhose und ein Anzughemd fand. Nichts Ausgefallenes, nur traditionelle Beerdigungskleidung, schwarze Anzughose und schwarzes Hemd. Es waren die besten Kleidungsstücke, die ich besaß... sogar Valentino... und sie hatten mich ein Wochengehalt gekostet. Ich brauchte dreißig Minuten, um mich fertig zu machen, und als ich aus der Tür ging, sah ich wie der Geschäftsmann aus, der ich war. Gar nicht mal so übel, eigentlich. Moms irische Abstammung kombiniert mit der kräftigen Knochenstruktur meines Vaters standen mir gut.

Ich versicherte mich, dass alles abgeschlossen war, ehe ich in meinem Hummer die Straße hinunterfuhr. Ich rief Missy an, aber sie nahm nicht ab. Wahrscheinlich war sie schon auf dem Weg. Ich verzichtete darauf, meinen Vater anzurufen, weil ich ihn ohnehin gleich sehen würde. Wir hatten uns entzweit, nachdem sich meine Eltern hatten scheiden lassen, und er kontaktierte mich noch seltener als meine Schwester. Ich verstand ihre Abwesenheit, aber ich nahm ihm übel, dass er nicht mit mir in Kontakt geblieben war. Nur weil er Mom nicht mehr liebte, hieß das nicht, dass ich nicht mehr sein Sohn war.

Als ich beim Bestattungsunternehmen ankam, war es Viertel nach sieben. Die Trauerfeier fing erst um acht Uhr an, aber es standen bereits ein paar vertraute Gesichter in der Haupthalle. Moms Freunde und meine Cousine Allie mit ihrem sechs Jahre alten Sohn Justin. Der Leiter kam sofort auf mich zu und ich schüttelte seine Hand. Seine Stimme war voller Mitgefühl, als er mich willkommen hieß und mir sagte, dass ich nicht davor zurückschrecken sollte zu fragen, sollte ich etwas brauchen.

Ich dankte ihm einfach nur.

»Aiden«, sagte Allie flüsternd, als sie mich in den Arm nahm. Ich werde nie verstehen, warum Menschen glaubten, bei Beerdigungen leise sein zu müssen, so als hätten sie Angst, dass sie die Toten aufwecken könnten. Nach der Stille letzte Nacht hätte ich ein wenig Lärm vertragen können und Mom vermutlich auch.

Ich erwiderte die Umarmung meiner Cousine, fühlte mich bei der Aufmerksamkeit aber nicht ganz wohl.

»Es tut mir so leid«, sagte sie an meinem Hals.

»Danke.« Ich gab mir wirklich Mühe, freundlich zu sein, aber ich wollte meine Privatsphäre. Sie gab sie mir nicht und hielt mich fest, als brauchte sie die Unterstützung mehr als ich. Allie war immer ein Teil meines Lebens gewesen und hatte Mom in den letzten Jahren wahrscheinlich öfter gesehen als meine Schwester. Sie war auch oft am Krankenbett gewesen und hatte mir hin und wieder einen Kaffee angeboten, während ich darauf wartete, dass meine Mutter aufwachte, aber sie hatte zurück nach Oklahoma gehen müssen, um sich um ihr eigenes Leben zu kümmern.

»Ich kann einfach nicht glauben, dass das passiert.« Allie schniefte und ließ mich los. »Ich meine, sie war so jung. Gesund...«

Ich hatte das alles vorher schon gehört und hatte es satt. Als hätte das Alter meiner Mutter etwas mit den Fahrkünsten einer anderen Person zu tun. Als hätte sich die Frau entschieden, nicht völlig besoffen ins Auto zu steigen, nur weil meine Mutter gesund war. Ich wusste, dass ich ein Arsch war, aber ich konnte nicht anders, also ließ ich Allie trauern und nickte zustimmend. Schließlich war ich eher ein guter Zuhörer als Redner.

Sie zog sich zurück. »Justin, komm her und sag Hallo zu Onkel Aiden.«

Der kleine Junge hatte still bei der Treppe gesessen, doch nun kam Leben in ihn und er rannte in mich hinein, um mich zu umarmen. Ich erwiderte die Geste und fuhr ihm durchs Haar. Seit er ein Kleinkind gewesen war, hatte ich ihn nicht mehr gesehen und war überrascht, wie groß er geworden war.

»Mom, ich muss Pipi«, sagte er tanzend.

Allie trocknete sich die Tränen und umarmte mich noch einmal, ehe sie Justin mitnahm und nach den Toiletten sah. Als ich allein war, wandte ich mich zur Eingangstür und wartete. Ich hielt den Blick nach vorne gerichtet, unfähig in den hergerichteten Salon zu sehen, in dem Mom lag. Ich konnte die weißen Klappstühle und die Sockel mit den ausgefallenen Blumengestecken aus dem Augenwinkel sehen. Das war eine Sache gewesen, auf die ich bestanden hatte. Mom hatte das Gärtnern geliebt und ich hatte mich bei den Blumen nicht zurückgehalten. Ich konnte den roten Teppich sehen, der zu ihrem Sarg führte. Er war offen und ich war mir sicher, dass ich ihren Umriss erkennen konnte. Ich hielt meinen Blick starr nach vorn gerichtet. Wenn ich so tat, als wäre das nicht Mom, dann passierte das hier nicht wirklich.

»Aiden?«

Es dauerte einen Moment, bis ich bemerkte, dass jemand versuchte, meine Aufmerksamkeit zu erregen, und streckte mechanisch meine Hand aus. Ein hochgewachsener Afroamerikaner, den ich nicht kannte, schüttelte sie und begrüßte mich mit einem sanften Lächeln im Gesicht, aber sein Blick war gequält, als hätte er Tage nicht geschlafen. Er war ungefähr so alt wie meine Mutter und trug eine nette Anzughose und ein gutes Hemd. Er kam mir vage bekannt vor, aber ich wusste nicht woher.

»Ich bin Darnell, ein Freund deiner Mutter«, sagte er. »Ich erkenne dich von den Fotos.«

»Oh«, murmelte ich.

Über sein Gesicht huschte beklommene Enttäuschung und ich wusste, dass er einen völlig falschen Eindruck von meiner Reaktion bekam... oder der fehlenden Reaktion. Ich hatte nicht die Energie, seine Annahme zu korrigieren, auch wenn ich es nachvollziehen konnte. Während ich aufwuchs, war mir einiges über meinen Vater klar geworden, mit dem ich nicht einverstanden war. Erst in der Highschool war mir bewusst geworden, dass er Schwarze nicht mochte, und das war noch nett ausgedrückt. Ich war mir sicher, dass Darnell sich fehl am Platz vorkam und komischerweise war er mir gerade deshalb sympathisch, auch wenn ich keine Ahnung hatte, wer er war.

Darnell schien der Ansicht, dass es einer Erklärung bedurfte. »Ich arbeite für West-Prairie Energy und hab geholfen, den Vertrag mit deiner Mutter aufzusetzen.«

Ich nickte zustimmend, da seine Worte Sinn ergaben. Ich erwiderte roboterhaft: »Freut mich, dich kennenzulernen.«

»Mich auch. Sie war eine bemerkenswerte Frau.« Er musste gespürt haben, dass ich kein Interesse an einer Unterhaltung hatte, denn er ging ohne ein weiteres Wort weiter in den Salon.

Noch mehr Menschen kamen, deren Beileidsbekundungen ich akzeptierte und mich zwangen, höflich zu sein. All die So-eine-Schande-Bemerkungen regten mich auf... als müsste ich daran erinnert werden, wie meine Mutter gestorben war. Um zehn vor acht sah ich auf meine Uhr und fragte mich, wo Missy und mein Vater blieben. Ich vermutete, dass sie im Verkehr feststeckten oder so. Um zwei Minuten vor acht kam endlich meine Schwester und sah in dem schwarzen Kleid fantastisch aus, das sie schlank wirken ließ. Ihr Anwalt-Ehemann war direkt hinter ihr und trug die Babyschale mit meinem neuen Neffen.

»Schwesterherz«, sagte ich milde.

Sie nahm mich kurz in den Arm und sah sich um, ohne Zweifel auf der Suche nach etwas, über das sie sich beschweren konnte. Wir waren ein paar Mal bei der Beerdigungsplanung aneinandergeraten. Sie hatte an nichts sparen wollen, aber ich war da eher zurückhaltender. Ja, ich wollte meiner Mutter einen würdevollen Abschied ermöglichen, aber ich wusste, dass sie mich ausgeschimpft hätte, Geld auszugeben, das ich nicht hatte. Auch wenn ich einen gut bezahlten Job hatte, musste ich immer noch einen Großteil meines Studienkredits abbezahlen. Nachdem wir uns gestritten hatten, waren Missy und ich uns endlich einig geworden. Ich ließ sie das Essen planen, solange sie sich an einen finanziellen Rahmen hielt. Wenn ich mir jedoch ihren glänzenden Diamantring ansah, hätte ich sie machen lassen sollen.

»Der Verkehr war katastrophal. Wie geht es dir?«

»Okay«, log ich und wandte mich an ihren Ehemann. »Scott, schön, dich wiederzusehen.«

»Freut mich auch.« Er nickte mir zu. Ich wusste nicht wirklich viel über Missys Mann, außer dass er doppelt so alt war wie sie und eine Art Strafverteidiger aus Los Angeles. Anscheinend hatten sie sich während einer Exkursion in ihrem Abschlussjahr an der Uni getroffen und sich ineinander verliebt.

Ein Gesicht ziehend, das selbst Milch hätte sauer werden lassen, fragte Missy: »Sind das Klappstühle?«

Scott seufzte. »Fang nicht damit an, Melissa.«

Sie beachtete ihn nicht und ging stattdessen in den Salon, um wahrscheinlich alles unter die Lupe zu nehmen. Ich tat so, als ginge es mich nichts an, als Scott mit den Augen rollte und ihr folgte. Es war nicht einfach, mit meiner Schwester auszukommen und ich konnte nicht verhindern, mich zu fragen, wie lange es wohl dauern würde, bis sie mich weinend anrief, um mir mitzuteilen, dass Scott sie verlassen hatte. Ich wusste, dass es nicht nett war, so über meine Schwester zu denken, aber meine Emotionen lagen blank und die Wut ließ mich etwas besser fühlen. Es war einfacher, sich mit den Fehlern anderer zu beschäftigen, als mit meinen eigenen.

Ich hätte Mom öfter besuchen sollen.

Fünf Minuten später kam endlich mein Vater. Er sah gepflegt, aber älter aus, als ich ihn in Erinnerung hatte. Er hatte schon immer diese Ausstrahlung gehabt. Mein Großvater väterlicherseits hatte gesagt, dass mein Vater unter seinem Niveau geheiratet hatte. Ich hatte den alten Mann nie gemocht, aber ich wollte glauben, dass mein Vater mit meiner Mutter aufgestiegen war.

»Aiden«, sagte er und wir reichten uns die Hände.

Es war seltsam. Ich wollte nicht noch mehr Aufmerksamkeit und Beileidsbekundungen, aber ich sehnte mich plötzlich nach einer Umarmung von meinem Vater. Bedauerlicherweise schien er zufrieden mit dem Handschlag.

»Du hast mich stehen lassen, David«, sagte eine Frau im Flüsterton, als sie heraneilte und sich zu meinem Vater gesellte.

Er lachte leise. »Willst du mir sagen, dass du die Eingangstür nicht finden konntest?«

Ich hatte sie zunächst nicht erkannt. Meine Aufmerksamkeit galt meinem Vater, aber sobald sie mit meinem Vater über sein fehlendes Einfühlungsvermögen sprach, wusste ich, wer sie war. Das war Carol, seine neue Frau. Während sie sich leise zankten, löste sich etwas in mir. Ich konnte nicht glauben, dass er sie mitgebracht hatte. Warum hätte sie überhaupt kommen wollen? Ich wusste, dass mein Vater alles vor langer Zeit hinter sich gelassen hatte, aber...

Mom und Dad waren jahrelang verheiratet gewesen und hatten zwei Kinder zusammen. Sicherlich hatte er noch Gefühle für sie? Warum würde er sich ihr gegenüber so respektlos verhalten? Es war, als würde er Mom absichtlich seine junge, schöne Frau unter die Nase reiben.

Ich öffnete meinen Mund, um etwas zu sagen, aber sie lachte hinter vorgehaltener Hand, was meine Entschlossenheit ins Wanken brachte. Ich wollte nichts sagen oder tun, das ich später bereuen würde, egal wie zufrieden er mit ihrer Neckerei war. Sie hakte sich bei ihm unter und gemeinsam gingen sie in den Salon, in dem Mom lag, ohne noch ein weiteres Wort mit mir zu wechseln. Das ist, verdammt noch mal, die Beerdigung meiner Mutter! Ich musste es in meinem Kopf schreien. Ich war Carol noch nie zuvor begegnet, aber ich konnte sie auf der Stelle nicht leiden. Nicht wegen ihres Alters – ich nahm an, dass sie halb so alt war wie mein Vater –, sondern wegen ihrer herzlosen Missachtung der Situation.

»Ich kann nicht glauben, dass er sie mitgebracht hat.« Missy tauchte neben mir auf, aber sie schien eher amüsiert als verärgert. Als ich nichts erwiderte, sagte sie nur: »Der Pastor fängt gleich an.«

Ich nickte und sie ging. Ich brauchte ein paar Minuten, um mich zu beruhigen. Ich wollte meinem Vater meine Meinung sagen, verbat mir allerdings, ihm auf der Beerdigung meiner Mutter eine Szene zu machen. Ich bebte innerlich und war mir nicht sicher, ob ich vor Trauer oder Frustration Tränen in den Augen hatte. Die Wut wich sehr schnell der Angst. Ich konnte mich nicht länger verstecken. Ich musste hineingehen und zusehen, wie der Pastor über Mom sprach, und zuhören, wie die Gäste versuchten, ihr Schluchzen zu unterdrücken. Ich musste Mom dort liegen sehen, ihr Körper steif, ihre Haut blass und geschminkt, damit es so aussah, als würde sie schlafen.

Dies könnte das letzte Mal sein, dass ich sie sah.

Könnte sein? Es war das letzte Mal, dass ich sie je sehen würde. Langsam ging ich auf den Salon zu und die kalte Realität ließ meine Illusion wie Glas zersplittern. Mom ist nicht mehr da. Ihr Gehirn war durch den Autounfall so beschädigt, dass die Maschinen das Einzige waren, was sie am Leben gehalten hatte. Und nach fünf Wochen des Wartens und Betens zu einem Gott, an den ich nie geglaubt hatte, hatte ich endlich die Courage, den Stecker zu ziehen. Die Frau, die immer für mich da gewesen war, war weg... Sie würde nie zurückkommen.

Mom ist tot.

Meine Kehle wurde eng, als ich den Raum betrat. Ich schaffte es, die letzte Stuhlreihe zu erreichen, bevor meine Beine nachgaben und ich auf den Stuhl sank. Es fühlte sich an, als würde mein Schädel explodieren und mein Magen schmerzte, obwohl ich seit einem Tag nichts gegessen hatte. Ich schaltete ab, als Leute vortraten, um etwas über Mom zu erzählen. Ich hörte sie reden, aber ich hatte keine Ahnung, was sie sagten. Alles, was ich sehen konnte, war ihr Sarg, umgeben von schönen Blumen, über die ich mir Gedanken gemacht hatte, und ihren stillen, bewegungslosen Körper.

Als sich die Anwesenden nach mir umdrehten, blinzelte ich und wunderte mich, warum mich alle ansahen. Hatte ich ein unpassendes Geräusch gemacht?

»Aiden?«, fragte der Pastor sanft. »Möchtest du vortreten und etwas sagen?«

Ich biss mir auf die Lippe und stand mit wackeligen Beinen auf. Meine Füße fühlten sich taub an, als ich mich auf den Weg zum Podium machte. Am liebsten wollte ich mich dahinter verstecken nichtsdestotrotz gelang es mir, das Stück Papier herauszuholen, auf das ich etwas geschrieben hatte. Ich war überrascht, als ich herausfand, dass das Papier leer war, und runzelte verwirrt die Stirn. Ich hatte mich neulich hingesetzt, um eine Grabrede zu schreiben... vielleicht hatte ich den falschen Zettel dabei?

»Mom...« Mein Gehirn war nicht in der Lage, einen zusammenhängenden Satz zu formulieren, aber was konnte ich sagen, was nicht schon längst gesagt wurde? Jeder hier wusste, dass sie eine fantastische Frau gewesen war, gütig und fröhlich, also was könnte ich noch sagen? Ich versuchte zu sprechen, aber nichts kam heraus. Ich konnte die Blicke der Menschen auf mir spüren, wartend und sich umsehend, auf der Suche nach einer Erklärung.

Reiß dich endlich am Riemen, mahnte ich mich.

Ich räusperte mich und zerknüllte das leere Blatt Papier in meiner Hand, dann trat ich zurück.

Leises Flüstern begleitete mich, als ich zurück zu meinem Platz ging, aber ich hatte mich offiziell ausgeklinkt. Mein Körper wurde leicht und meine Gedanken schweiften in eine Welt, wo nichts von dem hier real war.

Hätte ich Mom mit nach New York genommen, dann wäre sie heute noch am Leben.

Kapitel 3

Als ich am nächsten Tag aufwachte, war es zehn Uhr morgens. Ich brauchte einen Moment, um zu realisieren, dass ich fast zwölf Stunden geschlafen hatte, aber ich fühlte mich immer noch erschöpft. Ich wollte mich umdrehen und weiterschlafen, aber das war nicht sehr produktiv, also zwang ich mich, aufzustehen und nach unten zu gehen.

Ich setzte Kaffee auf, da ich ihn mit hoher Wahrscheinlichkeit brauchen würde. Als ich meinen Kaffee am Fenster trank, fühlte ich mich, als hätte jemand die Zeit zurückgedreht. Gestern war nicht wirklich passiert und Mom schlief immer noch im Krankenhaus. Das Abendessen gestern war eine verschwommene Erinnerung. Ich konnte mich kaum daran erinnern, was passiert war oder was ich gegessen hatte. Es hatte sich eher wie ein Gesellschaftsausflug angefühlt als eine Beerdigung, aber so war halt Missy.

Ich sah den Wolken dabei zu, wie sie über den Himmel zogen, als würden sie die Antwort darauf kennen, was ich eigentlich wissen sollte. Die letzten paar Tage war ich damit beschäftigt gewesen, die Beerdigung zu planen und durch Moms Haus zu gehen, aber das eine war erledigt und das andere schien schier unmöglich. Ich war nicht sicher, wie lange ich da stand und in die Welt starrte, als wäre sie ein zweidimensionaler Fernseher und kein echtes, atmendes Ding. Der Gesang von Dutzenden von Vögeln holte mich letztendlich aus meiner Trance und ich sah ihnen dabei zu, wie sie um das Futterhäuschen herumflogen.

Etwas hatte meinem System neuen Antrieb gegeben, denn ich fand den Willen, etwas anderes zu tun, als nur in die Luft zu starren. Ich verließ das Haus und ging direkt zum Schuppen, in dem Mom ihre Gartenutensilien aufbewahrte, und fand, wonach ich suchte. Ich füllte das Vogelhäuschen bis zum Rand mit frischen Körnern und ging dann zur Veranda auf der Vorderseite. Die Vögel kamen sofort angeflogen, schnappten sich die Körner und zwitscherten vor Freude.

Ein Erfolgsgefühl durchflutete mich. Mom hatte Tiere geliebt, besonders Vögel, und ich konnte mich an keinen Tag erinnern, an dem das Futterhaus leer war. Ich entschuldigte mich schweigend bei ihr, dass ich gestern versäumt hatte, es aufzufüllen. Ein Eichhörnchen saß in der Eiche, beobachtete mich und zuckte mit dem Schwanz, so als wollte es auch etwas abhaben. Ich machte mir eine gedankliche Notiz, im Geschäft ein paar Erdnüsse zu besorgen. Ich musste sowieso einkaufen gehen, da der Kühlschrank ein leeres Gerippe war.

Ich holte den Besen und kehrte die Veranda, wobei ich Dreck und Schmutz beseitigte, der sich wochenlang angesammelt hatte. Als das erledigt war, kehrte ich die Blätter zu einen Haufen zusammen und schaufelte sie in einen Sack.

Die Glühbirne auf der Veranda musste ebenfalls ausgewechselt werden. Ich verbrachte eine gute Stunde damit, eine neue Glühbirne zu suchen und landete letztendlich auf dem Dachboden. Mom hatte mich früher immer bestraft, wenn ich als Kind hier raufgeklettert war, sodass ich ihn vollkommen vergessen hatte. Sie hatte gesagt, es wäre staubig und kalt und kein Ort für einen kleinen Jungen. Ich konnte mich allerdings nicht erinnern, dass hier so viele Sachen rumgestanden hatten. Zum Teil Möbel, die sie vom Kunsthandwerkermarkt mitgebracht hatte, aber der Rest sah antik aus. Ich biss mir auf die Lippe, als ich das Laken von einem großen Schreibtisch zog, das Handwerk erste Klasse. Vielleicht war das der Grund, warum sie nicht wollte, dass ich hier oben spielte. Ich konnte nicht verhindern, mich zu fragen, ob es irgendeinen Wert hatte.

Ich durchsuchte die Schubladen, fand aber nichts Interessantes. Stattdessen fand ich eine Truhe voller Männerkleidung... gute Anzüge und polierte Lederschuhe. Einiges davon war tatsächlich schön, klassisch, aber elegant. Ich fand noch mehr Truhen, einige mit Frauenkleidung, andere gefüllt mit feinem, in Papier gewickeltem Porzellan. Auch wenn es aufregend war, all diesen alten Plunder zu finden, bedeutete es nur noch mehr Arbeit für mich.

Ich fuhr mir mit der Hand durchs Haar und versuchte herauszufinden, was ich tun sollte. All die Möbel und Kleidungsstücke mussten meinen Großeltern mütterlicherseits gehört haben. Überbleibsel der Vergangenheit, an denen meine Mutter festgehalten hatte. Oma war gestorben, als ich zwei Jahre alt war, Opa schon mehrere Jahre davor. Ich konnte mich nicht an sie erinnern, aber Mom hatte Fotos, auf denen sie mich im Arm hielt, als ich noch ein Baby war. Wenn Mom all die Zeit Erinnerungsstücke aufbewahrt hatte, dann hatten sie einen sentimentalen Wert für sie, was bedeutete, dass ich mich niemals von ihnen trennen konnte. Frustriert seufzte ich. Ich wusste, ich brauchte Hilfe.

Zuerst rief ich Missy an und hinterließ eine Sprachnachricht, in der ich sie wissen ließ, dass ich einige teuer aussehende Kleidungsstücke gefunden hatte. Wenn ich sie hierher bekommen könnte, dann könnte ich versuchen, sie moralisch dazu zu verpflichten, mir beim Ausmisten des Hauses zu helfen. Als Nächstes rief ich meinen Vater an und hinterließ auch ihm eine Nachricht. Ich war zum Teil froh, dass er nicht ranging. Ich war immer noch sauer auf ihn.

Da ich kein Glück hatte, meine Familie zu erreichen, ließ ich mich auf eine der Truhen fallen und blieb sitzen. Das war schwerer, als ich es je für möglich gehalten hatte. Es ist nur verdammter Kram, sagte ich zu mir selbst. Ich konnte meine Mutter beerdigen, ohne dabei eine Träne zu vergießen, also warum fiel es mir so schwer, mich von ihren Sachen zu trennen? Ich rief Missy noch mal an. Als die Mailbox ansprang, machte ich mir nicht die Mühe, eine Nachricht zu hinterlassen.

Ich war mir nicht sicher, wie lange ich aufgebracht auf dem Dachboden saß, aber als die Sonne plötzlich im Westen stand, traf mich das blendende Licht direkt in die Augen. Es war, als würde Mom mich anschreien und mir sagen, dass ich aufstehen und endlich anfangen sollte. Ich wusste, dass ich mich auf dünnem Eis bewegte, aber ich wählte Brians Nummer.