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»Anke Elisabeth Ballmanns Buch ist ein Weckruf, der uns daran erinnert, dass das, was wir sagen, genauso wichtig ist wie das, was wir tun. Eine Pflichtlektüre für alle, die mit Kindern leben und arbeiten.« Nicola Schmidt
Die Psychologin und Pädagogin Anke Elisabeth Ballmann weiß: zu oft erleben Kinder Gewalt, die sie für ihr ganzes weiteres Leben prägt. In ihrem neuen Buch zeigt die Expertin anhand zahlreicher Beispiele aus der Praxis, welche Folgen die oft unerkannte, emotionale Gewalt für Kinder hat – jene Art von Gewalt, die tagtäglich in vielen Familien stattfindet und sich in Worten, in sogenannten „Grenzen“, durch Liebesentzug, in überhöhten Erwartungen und starren Konventionen ausdrückt. Auch in Kindergärten, Schulen und anderen Institutionen werden Kinder noch immer nicht so behandelt, wie es der aktuelle Wissenstand der Entwicklungspsychologie, Bindungsforschung, Lehr- und Lernforschung und der Hirnforschung erwarten ließe.
Doch der Wunsch nach einer gewaltfreien Kindheit muss keine Utopie sein. Ballmann zeigt auf, wie diese Vision Wirklichkeit werden kann und wie Kinder und ihre Familien von einer neuen Haltung profitieren.
»Emotionale Gewalt hat viele Gesichter. Sie ist ein ernstzunehmender Risikofaktor der kindlichen Entwicklung mit oft erschütternden Folgen unter anderem für Persönlichkeitsbildung, psychische Gesundheit, Motivation und Lernerfolg. Es sollten deshalb alle, die mit Kindern privat oder beruflich zu tun haben, dieses wichtige Buch lesen. Es bereitet kompetent, evidenzbasiert und praxisorientiert ein leider oft vernachlässigtes Thema auf.« Prof. Dr. Dr. Albert Ziegler
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Seitenzahl: 261
Über das Buch
Emotionale Gewalt bleibt oft unerkannt, doch sie findet tagtäglich in vielen Familien, Kitas und Schulen statt. Sie drückt sich in Worten, in sogenannten »Grenzen«, durch Liebesentzug, in überhöhten Erwartungen und starren Konventionen aus. Anhand zahlreicher Beispiele aus der Praxis zeigt die Erziehungswissenschaftlerin Anke Elisabeth Ballmann, welche Folgen das für das weitere Leben der Kinder haben kann. Zu oft werden Kinder nicht so behandelt, wie es der aktuelle Wissensstand der Entwicklungspsychologie, Bindungs-, Lern- und Hirnforschung erwarten ließe. Doch so muss es nicht bleiben. Anke Elisabeth Ballmann zeigt auf, wie die Vision einer gewaltfreien Kindheit Wirklichkeit werden kann und wie Kinder und ihre Familien von einer neuen Haltung profitieren.
Dr. Anke Elisabeth Ballmann ist Pädagogin, Psychologin und Autorin. Sie setzt sich seit über 25 Jahren für kindgerechtes Lernen und gewaltfreie Pädagogik ein. 2007 gründete sie das Institut »Lernmeer« für die Beratung, Fort- und Weiterbildung pädagogischer Fachkräfte und Eltern, 2020 die Stiftung Gewaltfreie Kindheit. Aufrüttelnde Vorträge zu ihren Kernthemen brachten der langjährigen Bildungsreferentin und Universitätsdozentin den Ruf einer innovativen Bildungsexpertin ein.
Anke Elisabeth Ballmann
Worte wie Pfeile
Über emotionale Gewalt an unseren Kindern und wie wir sie verhindern
Kösel
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Copyright © 2022 Kösel-Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Dr. Daniela Gasteiger
Umschlaggestaltung: zero-media.net, München
Umschlagmotiv: FinePic®, München
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-28679-8V001
www.koesel.de
Gewaltfreie Kindheit ist möglich
TEIL I: Kinderseelen in Gefahr
1 Formen der Gewalt – das Zuhause als größte Gefahr?
2 Der Mensch ist doch gut – Ursprünge gewaltvollen Handelns
3 Denn sie wissen nicht, was sie tun – Erziehungsstile und ihre Folgen
Teil II: Wege zur Gewaltfreiheit
4 Kinderrechte als neuer Maßstab – warum ein Umdenken dringend erforderlich ist
5 Bauchschmerzen, Beißen und Wutanfälle – Signale der Kinder erkennen
6 Seelenprügel – Auswirkungen psychischer Gewalt
Teil III: Eine gewaltfreiere Welt für Kinder
7 Neue Eltern – starke Kinder
8 Familie, Kita und Schule – Orte der Geborgenheit und Entfaltung
9 Mission Kinderschutz – weil es uns alle angeht
Jenseits von Bullerbü – wenn das ganze Leben emotionale Gewalt ist
Nachwort
Danke an die Hoffnung und an …
Adressen
Quellen
Anmerkungen
Erwachsene sind zu hundert Prozent für ihren Umgang mit Kindern verantwortlich – Punkt.
»Stell dich nicht so an!« – »Jetzt komm schon, mach schneller!« – »Sitz gerade und nimm die Ellbogen vom Tisch!« – »Du entschuldigst dich jetzt sofort!« – »Mach endlich Hausaufgaben!« – »Ich drehe noch durch mit dir!« – »Das ist doch nicht schlimm!« – »Mach nicht so ein Theater!« – »Wenn du jetzt nicht sofort dein Zimmer aufräumst, dann nehme ich dir dein Handy weg!« Eventuell kennen Sie den ein oder anderen Satz. Vielleicht aus Ihrer Kindheit, vielleicht haben Sie ihn schon selbst ausgesprochen – vielleicht beides.
Das sind Sätze, die in Kindheiten viel zu oft vorkommen. Sätze, mit denen Kinder noch immer »erzogen« werden. Sätze, durch die Kinder über ihre engsten Bezugspersonen erfahren, wie man verbale und nonverbale Gewalt, beispielsweise durch abschätzende Gesten, abwertende Blicke und desinteressiertes Verhalten, ausübt. Dadurch lernen Kinder gleichzeitig auch, sich selbst nicht zu mögen. Denn Menschen – und Kinder sind bekanntlich Menschen –, die ständig kritisiert und selten gefragt werden, was sie sich wünschen oder gar brauchen, kommen möglicherweise zu der festen Überzeugung, dass sie falsch sind, so wie sie sind, dass sie falsche Gefühle fühlen. Und, Hand aufs Herz – das ist fatal für jegliche zukünftige Entwicklung.
Zum Glück besteht längst Konsens darüber, dass körperliche Gewalt gegenüber Kindern nicht nur strafbar, sondern auch gesellschaftlich geächtet ist. Trotzdem gehört sie für viele Kinder noch immer zum Alltag. Besonders entsetzliche Fälle, vor allem sämtliche Formen sexualisierter Gewalt, beherrschen dann sofort die Medien und sorgen für große Aufregung und Entsetzen. Fast alle Menschen nehmen sexualisierte Gewalt an Kindern als besonders abscheulich wahr und prangern sie an – und das ist auch gut so.
Worüber jedoch immer noch viel zu wenig berichtet und gesprochen wird, sind subtile, teilweise unsichtbare Formen von Gewalt. Sie hinterlassen keine äußeren Spuren, sind in ihren Konsequenzen allerdings ebenso zerstörerisch wie alle anderen Formen von Gewalt. Darum geht es mir in diesem Buch: um die oft unerkannte, die unbewusste, die alltägliche, die unblutige, die versteckte, die psychische, die emotionale Gewalt. Jene Art von Gewalt, die nach meiner persönlichen und professionellen Erfahrung tagtäglich in sehr vielen Familien stattfindet: am Essenstisch, beim Zubettbringen, beim Hausaufgaben machen. Eine Gewalt, die sich in Worten, in Blicken, in Gesten, durch als »Grenzen und Konsequenzen« getarnte Bestrafungen, in Erwartungen, Anforderungen und anderen starren Konventionen ausdrückt. Jene Gewalt, die gegen die Bedürfnisse der Kinder durchgesetzt wird, und zwar durchaus auch von liebevollen Eltern und pädagogischen Fachkräften in Kitas und Schulen, also von Menschen, die für Kinder nur das Beste wollen. Diese Form von Gewalt bedeutet nicht zwangsläufig, dass Eltern sich nicht für ihre Kinder interessieren, sie schlechte Eltern sind oder es grundlegende Probleme in diesen Familien gibt. Sie tritt häufig auf, weil Eltern ihre eigenen hohen Erwartungen und den Druck, der von außen auf sie ausgeübt wird, an ihre Kinder weitergeben. Heutige Eltern wollen es besser machen als ihre eigenen und handeln aus gutem Glauben, aber leider oft noch unreflektiert. Sie kommen nicht so recht aus dem Kreislauf ihrer eigenen Erfahrungen heraus, haben Sorge, Fehler zu machen, sind ratlos und leiden unter Schuldgefühlen. Genau an diesem Punkt setzt dieses Buch an. Es geht nicht um Perfektion – es geht um eine innere Haltung.
Ganz egal, wohin wir blicken, wir entdecken fast überall Erwachsene, die unter dem, was sie selbst als Kinder erlebt haben, leiden. Es sind Menschen, die aus ganz »normalen« Familien stammen, in denen die oft »üblichen« Erziehungsmethoden angewendet wurden – unerbittlicher Leistungsdruck, starre Regeln, Beschämung, Eindringen in die Privatsphäre, Gewalt durch Worte, Entzug von Privilegien, beispielsweise durch Hausarrest oder Fernsehverbot. Hinzu kommt in vielen Familien chronischer Streit zwischen den Eltern oder Bloßstellungen der Kinder vor anderen Kindern, Nachbarn oder Verwandten. Diese Gewalt betrifft jeden von uns. Wir alle kennen Worte, die sich in der Kindheit wie Pfeile in uns gebohrt und bis heute Narben hinterlassen haben. Wenn wir mutig auf unser Leben schauen und es wagen, einen Blick in den einen oder anderen Abgrund zu werfen, werden wir vermutlich Verletzungen erkennen und fühlen, auf die wir gerne verzichtet hätten. Mancher wird in seinem Herzen Erinnerungen aus längst vergangenen Tagen finden, die auch nach all den Jahren, in ganz bestimmten Situationen, immer noch und immer wieder seelische Schmerzen verursachen. Das sind die sogenannten Triggerpunkte.1 Wir alle haben sie, und es ist notwendig, sie zu kennen, damit man lernt, mit ihnen umzugehen. Danach sind sie weniger schmerzhaft, wenn wieder jemand den sprichwörtlichen Finger in die Wunde legt. Man kann diese »wunden Punkte« als stressverstärkende Denkmuster2 bezeichnen, die folgende Kernthemen fokussieren:
Ich muss perfekt sein.Ich muss beliebt sein.Ich muss die Kontrolle behalten.Wenn ich in meinem Institut für kindgerechte Pädagogik Eltern und Fachkräfte berate, kommt das Thema »Triggerpunkte« früher oder später immer zur Sprache. Ich erkläre gerne an folgendem Beispiel, wie das sich im Alltag darstellen kann: Stellen Sie sich vor, Sie sollen für das Sommerfest im Kindergarten eine große Schüssel Kartoffelsalat machen. Sie wollen allen zeigen, was für eine gute Köchin Sie sind, und suchen stundenlang nach dem perfekten Rezept. Sie kaufen die besten Kartoffeln und alle anderen Zutaten natürlich im Bioladen. Am Abend vor dem Fest, nachdem Sie Ihre Kinder ins Bett gebracht haben, schälen und schnibbeln Sie noch eine ganze Weile. Sie geben sich viel Mühe, einen schmackhaften Kartoffelsalat zu kreieren, und verzieren ihn mit Petersilie und Radieschenröschen. All das kostet Sie Zeit, die Sie eigentlich nicht haben, doch Sie wollten die Bitte nicht ablehnen, weil sich alle am Sommerfest beteiligen und Sie nicht die Ausnahme sein wollten. Das Sommerfest ist ein voller Erfolg, die Sonne scheint, die Menschen amüsieren sich, sie essen und trinken, nur Ihr Kartoffelsalat steht unangetastet auf dem Buffet. Wie geht es Ihnen jetzt, was macht das mit Ihnen? Fühlen Sie sich abgelehnt, sind Sie enttäuscht, wütend, verletzt? Warum isst niemand von Ihrem Salat, was vermuten Sie?
Der Punkt ist: Sie beziehen Ihre Vermutungen teilweise auf sich selbst, auf Ihr Können und womöglich auf Ihre Beliebtheit, Sie wissen aber nicht, warum die Schüsseln mit dem Gurkensalat und dem Nudelsalat leer sind und Ihre Schüssel noch voll ist. Solange Sie das nicht herausgefunden haben, zeigen Ihre Vermutungen Ihnen Ihre wunden Punkte – Ihre Trigger. Und so kann es sein, dass Sie sich in einem ewigen Kampf mit sich selbst befinden und Ihre negativen Vermutungen über sich selbst zu Ihren Lebensfeinden werden.3
Warum der Blick auf sich selbst und die Meinungen, die wir von uns haben, so wichtig sind, erfahren Sie im zweiten Teil dieses Buches. Dort geht es darum, wie wir es schaffen können, mehr Bewusstsein für emotionale Gewalt zu erreichen und das Leben der Kinder freier und kindgerechter zu gestalten.
Fakt ist: Eigene Erziehungserfahrungen fordern ihren Tribut. Sie zeigen sich oft in Glaubenssätzen, verinnerlichten Normen und Werten oder Ängsten und Erwartungen. Wenn zum Beispiel eine Frau in einer Familie aufgewachsen ist, in der Gefühle nicht ausgedrückt worden sind oder in der es ständig Angst davor gab, was die Nachbarn möglicherweise denken, dann können diese Strukturen sie so nachhaltig geprägt haben, dass sie als Mutter dieselben Muster unbewusst auf ihre Kinder überträgt. Das kann sich auch in bestimmten Ritualen, Erziehungspraktiken oder überzogenen Erwartungen zeigen.
Viele Eltern sind heute stolz darauf, dass sie nicht mehr den Erziehungsstil ihrer eigenen Elterngeneration pflegen und ihre Kinder nicht anschreien, strafen und schlagen – sie setzen stattdessen auf bedürfnisorientierte Begleitung. Wer einen Blick in die sozialen Medien, Elternmagazine, Blogs und auf die Bestsellerlisten wirft, erkennt schnell: Erziehung ist out, Beziehung ist in – und das ist gut so. Endlich haben die grundlegenden Ergebnisse der Bindungsforschung, dass Kinder Nähe brauchen und sich am besten über sichere Beziehungen entwickeln, Einzug in die Familien, Kitas und Schulen gefunden, und endlich trauen sich immer mehr Menschen, Kinder liebevoll zu begleiten, anstatt sie gewaltvoll zu erziehen.4 Allerdings ist meine berufliche Erfahrung, dass es sich bei diesen, ich nenne sie gerne »neue« Eltern, nach wie vor um eine Minderheit handelt und die breite Masse der Eltern und Pädagogen und Pädagoginnen noch immer althergebrachte Erziehungsmethoden anwendet – weit weg von Bedürfnisorientierung. Das geht heute, wenigstens offiziell, ganz und gar nicht mehr. Inoffiziell wird aber weiterhin oft Erziehung im konservativen Sinn gepflegt, bei der Kindern in Familien, Kitas und Schulen permanent feste Regeln und Ansprüche übergestülpt werden und sie weder in Entscheidungen miteinbezogen noch als Persönlichkeiten gewürdigt werden. Kinder werden oft subtil vernachlässigt, verglichen, ignoriert, gedemütigt, erpresst und beschimpft – um nur ein paar Beispiele zu nennen. All das ist jedoch Gewalt. Solche frühen Erfahrungen müssen nicht unbedingt zu schwerwiegenden Traumata führen, doch sie hinterlassen Spuren auf der Seele – Spuren, die im schlimmsten Fall ein Leben lang negativ beeinflussen.
Vor kurzem beobachtete ich zwei Paare in einem italienischen Restaurant bei der Bestellung des Abendessens. Die etwa achtjährige Tochter eines der Paare saß ebenfalls mit am Tisch. In dem sehr kleinen Lokal gibt es keine Speisekarte. Die Chefin des Hauses kommt mit einer Schiefertafel, auf der die Tagesgerichte stehen, an jeden Tisch und liest das Angebot zusätzlich vor. Die vier Erwachsenen wussten schnell, was sie essen wollten, und gaben ihre Bestellung auf. Danach richteten sich alle Augen auf das Mädchen, das sich sichtlich unwohl fühlte, weil es sich nicht so schnell entscheiden konnte. Sofort wurde sein Vater ungeduldig: »Jetzt entscheide dich endlich! Du musst doch wissen, was du willst! Los jetzt, mach schon, oder glaubst du, die Dame möchte ewig hier stehen und warten, bis das Fräulein ausgewählt hat? Wenn du nicht weißt, was du willst, dann hast du auch keinen Hunger!« Ich sah, wie das Kind immer mehr in sich zusammensank und seine Augen sich mit Tränen füllten. Die Tochter lehnte sich an ihre Mutter, die sogleich Pasta mit Tomatensoße für sie bestellte. Der wütende Patriarch reagierte daraufhin noch erzürnter und schrie seine Frau im voll besetzten Restaurant laut an: »Erziehe dein Kind endlich mal richtig, ich habe keine Lust mehr, mich ständig mit ihr zu blamieren!« Die derart harsch angesprochene Partnerin kämpfte jetzt ebenfalls mit den Tränen, nahm sich aber zusammen und schloss sich der gepflegten Konversation der übrigen Erwachsenen an. Das kleine Mädchen saß, sich weiterhin klein machend, auf seinem Stuhl und starrte unglücklich und apathisch vor sich hin. In dieser Familie scheint das der übliche Umgangston zu sein, dachte ich entsetzt und wollte mir die Auswirkungen auf das Kind gar nicht näher ausmalen.
Ich möchte Eltern, aber auch Pädagogen in Institutionen wie Kitas und Schulen aufrufen, ihren Umgang mit Kindern zu hinterfragen und antiquierte Erziehungsgedanken hinter sich zu lassen. Den Beobachtungen nach, die ich im Rahmen meiner Berufstätigkeit als Coach und Dozentin in den vergangenen Jahren in über 500 Kitas gemacht habe, zählt dort zu oft nicht das Kind, nicht das Menschsein, sondern nur die Effizienz der Institution. Betreuung und Bildung heißt leider in vielen Bereichen noch immer, Kinder vor allem zu verwalten und nicht, Kinder im Leben zu begleiten. Das hat viele Ursachen: von Sparzwängen über wirtschaftliche Gründe bis hin zur mangelnden Wertschätzung von Kindern und Familien. In unserer globalisierten Welt werden Kinder oft als Humankapital gesehen, als Arbeitnehmer und Unternehmer der Zukunft, die sich in weltweiter Konkurrenz bewähren müssen. Diese imaginären Erwartungen machen vielen Eltern Angst. Die Ansprüche, die heute an Kinder und ihre Familien gestellt werden, sind hoch. Viele Erwachsene und Institutionen erwarten bereits von Kindergartenkindern Leistung und Anpassung, daher versuchen Eltern krampfhaft, nur ja alles richtig zu machen, und greifen unter Stress zu den falschen Mitteln. Ihnen ist dies meist nicht bewusst, weil sie doch »ganz normal« mit ihren Kindern umgehen. Doch diese »Normalität« bedeutet oft, Kindern emotionale Gewalt anzutun. Und genau die gerade beschriebene unreflektierte Art des Umgangs mit Kindern, die unseres Schutzes, unserer Fürsorge und unserer vollen Aufmerksamkeit bedürfen, um zu starken, gesunden und glücklichen Erwachsenen heranzuwachsen, bedarf dringend eines Umdenkens. Wie notwendig ein Diskurs über emotionale Gewalt ist, sehe ich auch in meinen Elternberatungen immer wieder. Die Kluft zwischen angestrebter Bedürfnisorientierung in der Erziehung und gelebtem Alltag ist oft groß.
Wenn wir irgendwann in einer friedlichen Welt leben wollen, dann müssen wir Kindern die Möglichkeit geben, zu erfahren, was Frieden bedeutet, wie man Konflikte löst, ohne andere Menschen zu verletzen. Kinder können lernen, Bedürfnisse auszutarieren, damit alle Platz haben und es keine Verlierer gibt. Wir alle vergessen noch viel zu oft, dass Kinder unserer Macht als Erwachsene, als Vorbilder und als Autoritätspersonen hilflos ausgeliefert sind. Und wir vergessen, dass wir heute den Samen säen für die Menschen, die morgen erblühen.
Ich bin mir ziemlich sicher, dass Ihnen beim Lesen dieser Zeilen bereits mehr als eine Situation vor Augen stand, in der die Worte oder Handlungen eines Elternteils, Großelternteils, Erziehers oder Lehrers Sie als Kind bis ins Mark getroffen haben, so sehr, dass Sie die Situation und den seelischen Schmerz bis heute nicht vergessen konnten. Und damit sind wir beim wichtigsten Punkt: Erziehung, so wie sie bisher verstanden wurde und teilweise noch wird, schafft verletzte Menschen. Nicht länger auf der körperlichen Ebene, wie es bis vor kurzer Zeit noch oft der Fall war – doch auf der seelischen.
Seelisch versehrte Menschen entwickeln so etwas wie Ablenkungsmanöver rund um ihre Verletzungen.5 Manchen von ihnen gelingt es hervorragend, trotz aller Wunden und Narben zu »funktionieren« und sehr erfolgreich zu sein, anderen wieder gar nicht. Einige werden für sich selbst zur Last, andere für den Rest der Gesellschaft. Vermutlich ist es für traumatisierte Menschen immer etwas schwieriger, mit sich selbst und dem Leben zufrieden und glücklich zu sein. Im Idealfall meistern sie ein Erwerbsleben, ohne psychisch zu erkranken. Die steigenden Zahlen seelischer Erkrankungen, die Kranken- und Rentenversicherungen jedes Jahr veröffentlichen, sprechen allerdings eine deutliche Sprache.6 Und keine Depression, keine Angststörung und auch keine Suchterkrankung fällt einfach so vom Himmel – die Ursachen dafür liegen häufig schon in der Kindheit.
Untersuchungen belegen zudem eindeutig:7 Wer Gewalt als Form des normalen Umgangs in einer Familie erfahren hat, wird diese mit höherer Wahrscheinlichkeit auch in seinen zukünftigen Beziehungen leben. Das gilt für physische Gewalt8 und ist bei psychischer Gewalt nicht anders. So entsteht im großen Maßstab ein gesamtgesellschaftliches Klima, in dem es um oben und unten, um Macht und Ohnmacht geht und darum, sich den anderen nutzbar zu machen, einfach deshalb, weil man es kann. Kinder lernen unter Umständen, dass sie als Objekte behandelt werden, und behandeln andere als Objekte, sobald sie an der Macht sind.9 Allein der Missbrauch von Macht ist Gewalt, und das hat natürlich Auswirkungen auf unseren Umgang miteinander – im Beruf, in Partnerschaften, im Dialog mit Kindern, in sozialen Netzwerken, in der Gesellschaft.
Der Druck, der heute auf Familien und allen voran Müttern lastet, ist enorm. Nicht nur die Erwachsenen haben darunter zu leiden, sondern auch besonders ihre Kinder. Sie sind es, die am wenigsten Einfluss auf die Bedingungen haben, unter denen sie aufwachsen. Durch äußeren Druck und zu hohe Erwartungen entsteht in vielen Eltern innerer Druck, der sich in Wut und Aggression äußern kann, was eine Gefahr für die Kinder darstellt. Dieser Druck innerhalb der Familiendynamik wurde in der Corona-Pandemie noch erhöht,10 was zu einer nachweislichen Verschärfung zwischenmenschlicher Gewalt geführt hat. Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation zufolge haben zunehmende Angst, wachsende Sorgen, gestiegene finanzielle Belastungen und auch vermehrter Alkoholkonsum dazu beigetragen, dass in sämtlichen Ländern der europäischen Region jedes dritte Kind eine Form von zwischenmenschlicher Gewalt durch wütende, angstvolle und überforderte Eltern, Betreuungspersonen, gleichaltrige oder andere Familienmitglieder erlebt hat.
Wut, Angst und andere häufig als negativ geächtete Gefühle gehören zu unserem menschlichen Gefühlsspektrum und haben ihren Sinn und ihre Daseinsberechtigung. Wir können und sollten aber lernen, mit diesen Emotionen umzugehen, denn Kinder lernen wiederum von uns und an unserem Beispiel. Deshalb ist es so wichtig, dass wir als Gesellschaft Familien stärken, dass wir die Umgangsweise mit den uns anvertrauten Kindern ins Zentrum stellen und besser auf ihre Bedürfnisse eingehen.
Kinder sind keine kleinen Erwachsenen, sie sind nicht hier, um den Großen zu gehorchen und sich anzupassen. Sie sind Kinder und müssen als solche wahrgenommen, wertgeschätzt, geliebt und beschützt werden! Kinder brauchen sichere Räume, um zu wachsen und sich gesund zu entwickeln – zu Hause, im Kindergarten, in der Schule, im öffentlichen Raum, wie beispielsweise in Vereinen, Parkanlagen und Spielplätzen.
Wir Menschen sind handelnde Subjekte. Wir können die Werte, nach denen wir agieren, jederzeit hinterfragen. Uns ist gegeben, die Welt zu verändern, das haben wir bereits mehrfach getan. Vor allem im Umgang mit unseren Kindern müssen wir nicht im ewigen Einheitsbrei bisheriger Erziehungsmethoden verharren – wir können es auch anders machen.
Ich schreibe dieses Buch aus der Expertinnenperspektive einer Erziehungswissenschaftlerin und als empathischer, engagierter Mensch, der an das Gute im Menschen und an nachhaltiges Lernen in jedem Alter glaubt. In über 25 Berufsjahren habe ich in circa 35.000 Stunden Eltern und Pädagoginnen gecoacht und beraten. In allen diesen Stunden ging es und geht es nach wie vor um Kinder. Darum, was Kinder brauchen, damit sie ein kindgerechtes Leben haben, sich gesund entwickeln und möglichst gerne lernen. Um das Lernen geht es auch in diesem Buch, denn wir können lernen, unsere Beziehung mit uns selbst und dadurch auch mit unseren Kindern zu verändern.
Ich möchte dieses Buch als Plädoyer für einen würdevollen Umgang mit Kindern verstanden wissen. Schenken wir ihnen eine gewaltfreie(re) Kindheit und damit uns allen eine friedliche(re) Welt. Gemeinsam können wir diese wichtige individuelle und gesellschaftliche Veränderung in Richtung einer gewaltfreien Kindheit für alle schaffen – davon bin ich überzeugt. Wollen wir uns auf den Weg machen und sofort beginnen?
Dr. Anke Elisabeth Ballmann
Dort, wo Kinder in Sicherheit sein sollten, werden ihnen oft die größten Verletzungen zugefügt.
Kinder sind uns Erwachsenen hilflos ausgeliefert, das muss uns im Umgang mit Kindern immer klar sein. Die meiste Gewalt erfahren Kinder dort, wo die größte Sicherheit sein sollte – in ihrem Zuhause, bei ihren Eltern, Geschwistern und Großeltern. Und nein, das ist keine Übertreibung, sondern die nackte und oft grausame Wahrheit.
Als vor einigen Jahren die Rechtsmediziner Michael Tsokos und Saskia Guddat das Buch Deutschland misshandelt seine Kinder veröffentlichten,11 waren viele Menschen entsetzt über das Ausmaß der alltäglichen körperlichen Gewalt gegen Kinder, die sie zumeist in ihrem eigenen Zuhause ertragen mussten. Der Schock saß tief, denn vor dieser Lektüre war kaum jemandem klar, wie viele Eltern existieren, die ihre Kinder beißen, sie mit Bügeleisen und Zigaretten verbrennen, fesseln, einsperren und blutig prügeln. Daran hat sich bis heute wenig geändert. Misshandlung, Vernachlässigung und sexualisierte Gewalt gegen Kinder sind nach wie vor Alltag in viel zu vielen Familien und Institutionen. Das bedarf unser aller Aufmerksamkeit, wir alle müssen hinsehen, hinhören und vor allem agieren. All dieses Leid passiert gleich nebenan, nicht irgendwo und weit weg. Ich finde es schier unerträglich, das zu wissen, und noch unerträglicher, wenn jemand etwas vermutet, sich aber lieber nicht einmischt. Weil vielleicht nichts ist, und man will auch nicht gleich eingreifen, und es geht einen auch nichts an, und es sind ja sonst so nette Nachbarn, und das kann eigentlich nicht sein, man will auch keinen Ärger. Was für Ausreden zur Gewissensberuhigung!
Physische Gewalt gegen Kinder ist furchtbar und ein Problem, bei dem wir als Gesellschaft nicht wegsehen dürfen. Doch sie ist auch ein Thema, das hier nur gestreift werden kann. Ich schreibe in diesem Buch von jenen Formen der Gewalt, die subtiler, normaler, alltäglicher sind und genauso tiefe Spuren hinterlassen können, wenn diese auch nicht in Form von verbrannter Haut, Narben und blauen Flecken sichtbar sind. Es sind Spuren auf der Seele, die oft erst nach vielen Jahren, in der Pubertät oder im Erwachsenenleben, deutlich an die Oberfläche treten und zu Belastungen werden. Diese unsichtbaren Narben können starke Auswirkungen auf jedes einzelne Kind haben und damit auf die gesamte Gesellschaft.
In den meisten erziehenden Köpfen herrscht auch heute noch die Überzeugung vor: Man muss Kindern Grenzen setzen! An diesem Credo hat bis auf einige kleine experimentierfreudige Gruppen in den 1970er und 1980er Jahren bislang noch keine Generation wirklich gerüttelt. Allerdings regt sich seit mittlerweile zehn Jahren Widerstand, der zunehmend auch von der Forschung12 unterstützt wird. Die stetig steigende Anzahl beziehungsorientierter Mütter und Väter zeigt, dass ein Leben mit Kindern gewaltfrei oder zumindest gewaltbewusst hervorragend funktionieren kann. Diese neuen Eltern nehmen ihre Kinder ernst, sie interessieren sich für sie, sie beziehen sie in Entscheidungen mit ein, sie sehen die Bedürfnisse der Kinder – nicht immer, aber überwiegend. Das bedeutet nicht, dass Kindern jeder Wunsch erfüllt wird, aber ihre Bedürfnisse werden respektiert. Keine Sorge, das bedeutet auch nicht, dass es keine Grenzen gibt, doch sind es keine willkürlichen Grenzen, sondern durchdachte – ich nenne sie Schutzgrenzen und Empathiegrenzen, denn Kinder sind keine Inseln und ihre Grenzen sind dort, wo sie Schutz brauchen oder an die Grenzen anderer Lebewesen kommen.
Doch abgesehen von diesen – noch – relativen Einzelmeinungen einiger schon sehr reflektierter Eltern, deren Bücherregale vermutlich gut gefüllt sind mit den Werken von Nicola Schmidt, Nora Imlau, Herbert Renz-Polster und Jesper Juul, gilt nach meiner beruflichen Erfahrung nach wie vor das Motto: Kinder brauchen Erziehung und damit auch eine gewisse Form von Strenge. Durchgesetzt wird diese Erziehung heute zunehmend nicht mehr durch Schläge, aber in Form von Demütigung, von Beschämung, Ausgrenzung und Herabsetzung. Vielen ist gar nicht bewusst, dass sie damit schon auf der Klaviatur emotionaler und psychischer Gewalt spielen.
Häufig wird diese Art von Gewalt damit gerechtfertigt, dass sie zum Besten der Kinder sei. Die, so glauben viele Menschen nach wie vor, nicht verwöhnt werden dürfen,13 damit sie nicht zu kleinen oder großen Tyrannen heranwachsen. Und sie sollen hart genug werden, um da draußen in der Welt bestehen zu können. Ich weiß nicht mehr, wie oft ich in meinen Coachings sowohl von Eltern als auch von Erzieherinnen schon gehört habe, dass man Kinder abhärten muss, weil sie sonst weder in der Schule noch im Leben zurechtkämen. Ich frage dann immer, ob sie auch für eine etwaige Hungersnot vorbereitet würden, indem man ihnen mal ein paar Tage jegliche Nahrung verwehrt. Die Angst vor der »Verweichlichung« von Kindern ist alt, aber nicht unauslöschlich.
Im Laufe des Buches werde ich noch darauf eingehen, was es mit diesem vermeintlichen Verwöhnen auf sich hat. Doch zunächst möchte ich auf die Formen alltäglicher Gewalt hinweisen, die oft gar nicht wie Gewalt erscheinen, sondern Teil einer Erziehung sind, von der Eltern denken, dass sie von der Gesellschaft erwartet wird.
Die helfende Hand – aus meinem Beratungsalltag
Ich bin keine Psychotherapeutin, sondern Erziehungswissenschaftlerin mit fast dreißig Jahren Berufserfahrung. Ich therapiere keine Störungen, ich berate Erwachsene und Kinder, wenn es um alltägliche Herausforderungen in Kita und Schule geht. Meine größte Leidenschaft ist das Lernen, und ich weiß, lernen kann man in jedem Alter – es kommt nur auf die innere und äußere Umgebung an. Vor allem bin ich ein zugewandter, pragmatischer Mensch mit großen Erwartungen und noch größerem Verständnis für wiederholtes Scheitern. Wenn man sich selbst erst einmal damit arrangiert hat, dass das Streben nach Perfektion zu täglichem Scheitern führt, gesteht man Erwachsenen und noch viel mehr Kindern Freude am Fehlermachen zu, denn genau durch diese Fehler lernen wir. Je nach Typ und Tempo unterschiedlich viel und schnell. Ich wage es nicht, nicht einmal in meinem Institut, Menschen zu beraten, die nicht explizit einen Rat wünschen. Das empfinde ich als übergriffig. Stattdessen biete ich gerne eine helfende Hand in Form von Reflexionsfragen, Provokationen, humorvollen Anmerkungen und manchmal auch durch Geschichten aus meinem Beratungsalltag an.
In diesem Buch finden Sie meine helfende Hand in jedem Kapitel. Ich lade Sie herzlich dazu ein, sie zu ergreifen – denn bei einem so ernsten und wichtigen Thema können wir alle helfende Hände gebrauchen, weil wir nur gemeinsam große Veränderungen schaffen können.
Wenn Eltern oder Fachkräfte bei mir im Institut sind, kommen sie mit ganz bestimmten Vorstellungen, wie sie mit Kindern umgehen möchten. Sie berichten mir, dass sie in den Herausforderungen des Alltags nicht einmal in die Nähe ihrer Träume von Geduld, Verständnis und Frieden kommen und ständig unzufrieden mit sich sind. Sie suchen Tipps und Tricks, Ratschläge, lesen sich durch Blogs, Instagram und Ratgeber, lesen mehr und mehr und merken letztendlich: Der Schlüssel zu friedvoller Erziehung (Sie können es auch gerne Begleitung nennen) liegt in ihrem Umgang mit sich selbst. Ich frage in diesen Gesprächen gerne: Wie ist das bei Ihnen, wo beginnt Gewalt für Sie? Wann haben Sie zuletzt mit einem Kind geschimpft? Haben Sie heute schon Worte ausgesprochen wie »Du bist unmöglich!« oder »Wenn du nicht x machst, dann passiert y!«? Haben Sie heute schon Zwang und Drohungen angewendet, um bei einem Kind ein gewünschtes Verhalten zu erreichen? Ja? Wunderbar, dann haben auch Sie heute schon Fehler gemacht, denn dass es falsch ist, das wissen Sie. Und Sie werden diese Fehler immer wieder machen. Nun können Sie sich den Rest des Tages selbst zerfleischen oder Sie könnten den Blick darauf werfen, was Ihnen heute schon alles gelungen ist, sich darüber freuen und sich überlegen, wie Sie dem Kind, das Sie angemotzt haben, zeigen können, wie sehr Sie es wertschätzen und lieb haben – auch heute, auch nach Ihrem Streit.
Kinder sind verletzlich – nicht nur körperlich, sondern gerade auch auf der emotionalen Ebene. Welche Worte, welches Verhalten und welche Blicke Kinder in welchem Ausmaß verletzen und was die Auswirkungen dieser schmerzvollen Erlebnisse auf ihr weiteres Leben sind, hängt von den äußeren Umständen und der individuellen Entwicklung in den verschiedenen Lebensphasen ab. Wichtige Entwicklungsphasen sind beispielsweise das erste Lebensjahr, die Autonomiephase etwa um das dritte Jahr herum, die Wackelzahnpubertät,14 die Kinder zwischen dem fünften und siebten Lebensjahr besonders sensibel macht, weil sich sowohl körperlich als auch geistig unglaublich viel verändert, und die hormonell gesteuerte Pubertät. In dieser Phase reagieren Kinder und Jugendliche besonders vulnerabel auf Erfahrungen emotionaler Vernachlässigung, Kränkung oder Ablehnung,weil sie sich auf der Reise ins Erwachsenenleben neu finden und erfinden.
Bei emotionalen Verletzungen handelt es sich nicht immer um tiefgreifende Schocktraumata wie beim Erleben einer Naturkatastrophe oder eines schweren Unfalls, tatsächlich reichen schon chronische Konflikte in den Beziehungen zu wichtigen Bindungspersonen oder das Miterleben chronischer Konflikte, um traumatisches Erleben auszulösen. In solchen Fällen spricht man von Bindungs- oder Entwicklungstraumata.15 Wenn man diese breite Definition von Trauma betrachtet, wird deutlich, dass jeder von uns mehr oder weniger Traumata aus der eigenen Kindheit mit sich herumträgt. Ich wage zu behaupten, dass jeder Erwachsene in seiner Kindheit – absichtlich oder unabsichtlich – auf irgendeine Weise seelisch verletzt wurde.
Verbale Gewalt kann sich in unsere Psyche regelrecht eingraben und dort eine verheerende Wirkung entfalten.16 Wer von uns hat nicht selbst in der Kindheit und Jugend Sätze gehört wie »Aus dir wird nichts« – »Du taugst nichts« – »Das schaffst du nicht« – »Du bist dumm« – »Du bist dick« – »Das habe ich dir doch gleich gesagt«? In diesem Buch geht es daher nicht nur darum, für diese Formen der Gewalt zu sensibilisieren, sondern auch Wege aufzuzeigen, wie wir Kinder liebevoll begleiten und zu gesunden und starken Erwachsenen werden lassen.
Es ist möglich, dass einiges, was Sie in diesem und in den nachfolgenden Kapiteln lesen, in Ihnen Gefühle von Schuld und Scham auslöst. Ich lade Sie ein, diese Gefühle als Teil eines wichtigen Prozesses zu betrachten, an dessen Ende Sie sich selbst und Ihre Kinder besser verstehen und zu einem anderen, respektvolleren und achtsamen Umgang mit sich selbst und Ihrer Familie gelangen können. Denn das Zuhause sollte immer ein sicherer und liebevoller Ort für Kinder sein und kein gefährliches Minenfeld, in dem ein Satz oder auch nur ein falscher Blick Explosionen unterschiedlicher Natur auslösen kann.
Eine Studie des Erziehungswissenschaftlers Holger Ziegler aus dem Jahr 2013 zeigt, dass von 900 befragten Kindern und Jugendlichen im Alter zwischen sechs und 16 Jahren 25,1 Prozent schon einmal von einem Erwachsenen als »dumm« oder »faul« beschimpft worden waren. Ein Fünftel erklärte, dass Erwachsene ihnen das Gefühl gegeben hätten, weniger wert zu sein als andere junge Menschen (21 Prozent).17 Was glauben Sie, macht es mit Kindern, wenn Erwachsene, von deren Liebe, Anerkennung und Zuwendung sie abhängig sind, so zu ihnen sprechen?