Wunderjahre - Aufbruch in eine neue Zeit - Birgit Reinshagen - E-Book

Wunderjahre - Aufbruch in eine neue Zeit E-Book

Birgit Reinshagen

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Beschreibung

Aufschwung liegt in der Luft

Wilmersbach in der Vulkaneifel 1952: Zwischen Wäldern, Wiesen und Maaren lebt die junge Ruth Thelen ein idyllisches Leben. Der väterliche Steinbruch scheint durch den Wiederaufbau der Bundesrepublik zu florieren. Und auch die selbstbewusste Ruth reizt das Neue. An Männern, die nur ein Heimchen am Herd suchen, hat sie kein Interesse. Eines Tages beobachtet sie im Steinbruch einen Kletterer, der ihr Herz höherschlagen lässt. Paul ist anders als die anderen Männer in Ruths Leben. Doch dann stirbt plötzlich Ruths Vater und Geheimnisse dringen ans Licht, die den Fortbestand des Unternehmens gefährden. Das kann Ruth nicht davon abhalten, als neue Leiterin des Steinbruchs wieder auf Erfolgskurs zu gehen. Wäre da nur nicht ein unerwarteter Besuch aus ihrer Vergangenheit, der ihr Glück bedroht…

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Zum Buch

Die Eifel Anfang der Fünfziger Jahre: Zwischen Wäldern, Wiesen und Maaren wird auch die junge Ruth Thelen von der Aufbruchsstimmung angesteckt, die das ganze Land erfasst hat. Der Steinbruch ihrer Familie scheint durch den Wiederaufbau der Bundesrepublik zu florieren. Die selbstbewusste Ruth reizt das Neue. Eines Tages beobachtet sie im Steinbruch einen Kletterer, der ihr Herz höherschlagen lässt. Paul ist anders als die anderen Männer in Ruths Leben. Doch dann stirbt plötzlich ihr Vater und Geheimnisse dringen ans Licht, die den Fortbestand des Unternehmens gefährden. Das kann Ruth nicht davon abhalten, als neue Leiterin des Steinbruchs wieder auf Erfolgskurs zu gehen. Wäre da nur nicht ein unerwarteter Besuch aus ihrer Vergangenheit, der ihr Glück bedroht …

Zur Autorin

Birgit Reinshagen wurde 1953 im Bergischen Land geboren und hat Germanistik und Geschichte studiert. Sie arbeitete als Journalistin, bevor sie sich ganz dem Schreiben von Romanen widmete. Sie liebt es, Lebens- und Liebesgeschichten zu erfinden und diese mit historischen Fakten zu verbinden. Mit ihrer Schäferhündin Laska lebt sie in der Eifel und verbringt dort viel Zeit in der Natur. Wunderjahre ist ihr erster Roman bei Heyne.

BIRGIT REINSHAGEN

WUNDER

JAHRE

Aufbruch in eine neue Zeit

Roman

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

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Originalausgabe 05/2021

Copyright © 2021 by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Susann Rehlein

Printed in Germany

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design/Margit Memminger

unter Verwendung von

Shutterstock (Grischa Georgiew, Pandorabox) und AdobeStock (monikahi)

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN: 978-3-641-26754-4V001

www.heyne.de

Für meine Eltern

1

Ruth saß auf ihrem Stein, einem bemoosten Basaltfind ling, den einer der Vulkane vor Millionen von Jahren aus dem Erdmantel an die Oberfläche geschleudert hatte. Er lag auf einer Anhöhe im Schutz des Waldrands, umgeben von Frauenfarn und Buschwindröschen. Sie liebte diesen Ort. Vor ihr breitete sich die Eifellandschaft mit ihren grünen Wiesen, Ginsterbüschen und dunklen Fichtenwäldern aus, zwischen denen das helle Grün der Buchen kleine Lichtoasen bildete. Dahinter flossen bis zum weiten Horizont die Höhenzüge sanft ineinander. Hier konnte man den Kopf frei bekommen und für eine Weile das Leid und die Zerstörung der zurückliegenden Jahre vergessen. Es war Frühling, für Ruth die schönste Jahreszeit – die Zeit des Aufbruchs, des Neubeginns. Sie sog den würzigen Duft des Waldes tief ein, lauschte dem Wind und spürte den warmen Stein unter ihren Händen – ein geradezu sinnliches Gefühl, das sie daran erinnerte, dass ihr Leben ein wenig Freude und Genuss vertragen könnte.

Schluss jetzt, ermahnte sie sich und stand auf. Ein Blick auf die Fliegeruhr an ihrem Handgelenk sagte ihr, dass sie längst hätte zu Hause sein müssen.

»Komm, Arno!« Sie gab ihrem Schäferhund, der sie auf all ihren Streifzügen durch die Natur begleitete, einen liebevollen Klaps auf die Flanke und eilte los. Als sie vom Waldweg zur Straße gelangte, wo sie die Triumph Tiger ihres Vaters geparkt hatte, sprang Arno erwartungsfroh in den Beiwagen. Er genoss die Spritztouren mit dem Motorrad genauso wie Ruth. Das ungewöhnliche Zweiergespann war bei allen in der Umgebung bekannt.

Ruths Elternhaus lag am Fuße eines bewaldeten Hügels. Das zweistöckige Herrenhaus war aus dem robusten Gestein der familieneigenen Steinbrüche gebaut, Fensterstöße und Eingangsportal waren aus hellem Tuffstein, der dem düster anmutenden Basalt Leichtigkeit und Eleganz gab. Wie durch ein Wunder hatte das Haus in seiner exponierten Lage den Krieg unversehrt überstanden.

Ruth fuhr durch das Eisentor in den gepflasterten Hof, wo die Kutsche ihres Großvaters stand. Bei schönem Wetter kam er sonntags immer noch mit Pferd und Wagen zum Essen, bei schlechtem mit seinem Daimler aus den Vorkriegsjahren. Obwohl sie spät dran war, nahm sie sich die Zeit, den alten Haflinger zu streicheln, der sich, ohne sich von seinem Futtertrog ablenken zu lassen, vom schwanzwedelnden Arno beschnüffeln ließ.

Beim Betreten der Eingangshalle schallte ihr Heidis helles Lachen aus dem Esszimmer entgegen. Während Arno schnurstracks in die Küche lief, aus der der köstliche Duft von Rheinischem Sauerbraten strömte, ging sie mit langen Schritten auf die Flügeltür zu, hinter der das Speisezimmer lag. Sie wollte sie schon öffnen, hielt dann jedoch in der Bewegung inne und warf einen Blick in den mannshohen Spiegel. Ihre lange Hose hatte Grasflecken an den Knien, ihre Wanderschuhe waren verstaubt, und ihre Locken hingen ihr wild über die Schultern. Konnte sie sich so überhaupt an den sonntäglichen Mittagstisch setzen? Ihre Mutter legte Wert auf Etikette. Aber zum Umziehen war nun wirklich keine Zeit mehr, entschied sie und betrat entschlossen das Zimmer, das mit seinen wuchtigen Vitrinen, der dunklen Holzverkleidung und dem schweren Silber einem Rittersaal ähnelte. Alle saßen bereits am gedeckten Tisch und sahen ihr erwartungsvoll entgegen. Ihr Vater und Großvater im dunkelgrauen Zweireiher mit Krawatte; ihre Mutter in einem Kleid, dessen schillernde lichtblaue Farbe ihre ätherische Erscheinung noch unterstrich, und Heidi in ihrer neuesten Eigenkreation, mit schmalem Oberteil, Dreiviertelärmeln und weitem Tellerrock mit Blumenmuster.

»Da bin ich!«, verkündete Ruth betont forsch, während sie mit einer raschen Handbewegung ihre Locken über die Schultern warf. »Entschuldigt bitte, dass ich etwas zu spät bin.« Sie lief auf ihren Großvater zu und drückte ihm einen Kuss auf die Wange.

»Juden Meddisch, Kind«, begrüßte er sie im Eifeler Platt, das er in Gegenwart seiner Frankfurter Schwiegertochter nur selten sprach. Dabei tätschelte er ihr liebevoll die Wange.

»Endlich! Ich bin am Verhungern!«, rief Heidi mit gespielt gequälter Miene aus und fügte dann zwinkernd hinzu: »Hast mal wieder ganz schön lange gebraucht, um dich in Schale zu werfen.«

Heidi wusste genauso wie sie, dass ihre Mutter über ihren Aufzug nicht gerade entzückt war.

Liliane Thelen berührte mit der manikürten Hand ihren weißblonden Nackenknoten – eine Geste, die verriet, dass sie überlegte. Schließlich lächelte sie ihre Tochter an. »Magst du dich nicht rasch umziehen, Liebes?«, fragte sie dann erwartungsgemäß mit ihrer melodisch-weichen Stimme.

»Bloß nicht«, sagte Heidi wie aus der Pistole geschossen. »Dann dauert es mit dem Essen ja noch länger.«

Ruth lachte und knuffte Heidi in die Seite. Sie war wie eine Schwester für sie. Ruths Eltern hatten Heidi bei sich aufgenommen, nachdem ihr Vater im Thelen-Bruch tödlich verunglückt und Heidis Mutter kurze Zeit später an der Schwindsucht gestorben war. Seither war Heidi der Sonnenschein der Familie.

»Liebes, lass Ruth doch«, bat nun auch Friedrich Thelen seine Frau mit dem ihm eigenen Charme, der ihn selbst aus den härtesten Geschäftsverhandlungen erfolgreich hervorgehen ließ. »Die Mädchen haben Hunger und Vater bestimmt auch.«

Josef Thelen nickte. Er hatte bereits seine irdene Mutz, die er ausschließlich mit Wittlicher Strangtabak befüllte, im Aschenbecher abgelegt und sich erwartungsfroh die gestärkte weiße Leinenserviette in den Hemdkragen gesteckt.

Über Lilianes Züge huschte ein Lächeln, bevor sie nach Helma klingelte, die nur wenige Sekunden später die Suppe auftrug – Frühlingssuppe, deren besonderes Rezept Helma streng unter Verschluss hielt. Arno, der der altgedienten Haushälterin ins Esszimmer gefolgt war, ließ sich ganz selbstverständlich zwischen Friedrich und dessen Vater auf den Eichendielen nieder – wohl wissend, dass er, sehr zum Missfallen der Hausherrin, von mindestens einem der beiden etwas von dem saftigen Suppenfleisch abbekommen würde.

Bevor Liliane Arno hinausschicken konnte, erkundigte sich Ruth rasch: »Wie war es denn in der Kirche?«

Längst hatten ihre Eltern akzeptiert, dass sie, anders als Heidi, nur noch hin und wieder den Sonntagsgottesdienst besuchte. In dieser Sache hielt sie es mit ihrem Großvater, der nach dem frühen Tod seiner Frau seine ausgedehnten Wälder zu seinem Gotteshaus erklärt hatte.

Als Heidis himmelblaue Augen verräterisch zu funkeln begannen, ahnte Ruth, dass ihre Freundin sie gleich mit einer ganz besonderen Neuigkeit, frisch vom Kirchplatz, überraschen würde. »Weißt du, wer wieder da ist?«

»Nein, aber du wirst es mir wahrscheinlich gleich sagen. Du platzt ja förmlich vor Ungeduld.«

Heidi lachte, legte den Kopf schief und neckte sie: »Willst du es wirklich wissen?«

Liliane tupfte sich mit der Serviette über die Lippen. Dann sah sie ihre Tochter mit wissendem Lächeln an. »Ich bin sicher, dass du dich freuen wirst, mein Schatz. Wie lange ist das jetzt her?« Fragend blickte sie zu ihrem Mann hinüber. »Neun Jahre?«

Friedrich nickte. »Genau neun Jahre, Liebes. In diesen Jahren ist aus ihm ein richtiger Mann geworden.«

»Klingelt es jetzt bei dir?«, erkundigte sich Heidi mit blitzenden Augen.

O nein! Ruth schluckte. Ein mulmiges Gefühl breitete sich in ihrem Magen aus. »Johannes?«, fragte sie unsicher.

»Ja, ganz genau«, bestätigte ihre Mutter mit einem Strahlen, das sie seit dem Tod ihres Sohnes nur noch selten zustande brachte.

»Johannes hat bei der Bank in Hamburg gekündigt, weil bei unserer eine leitende Stelle frei geworden ist«, erzählte nun ihr Vater – und wenn sich Ruth nicht täuschte, sogar mit einem zufriedenen Unterton in der Stimme, so, als hätte er sich das schon längst gewünscht.

»Dann ist sein Vater ja sein Chef«, staunte Ruth. »Die beiden haben sich doch nie verstanden.«

»Blut ist eben dicker als Wasser«, tat Heidi schulterzuckend ihren Einwand ab.

»Wir wollen Johannes und seine Eltern einladen, uns mal wieder zu besuchen«, sagte ihr Vater, ohne seine Tochter anzusehen.

»Ja, wir möchten den Kontakt wieder ein bisschen vertiefen.« Liliane warf den beiden jungen Frauen einen versonnenen Blick zu. »Ihr drei Kinder seid ja sozusagen zusammen aufgewachsen – so eng wie wir mit den Prümms befreundet waren. Aber nach Erichs Tod …« Sie verstummte und senkte den Kopf.

Sie musste nicht mehr sagen, jeder am Tisch wusste, wie sehr sich das Leben der Familie verändert hatte, nachdem sie die erschütternde Nachricht erhalten hatten, dass Ruths Bruder gefallen war. Seine Fliegeruhr erinnerte Ruth jeden Tag daran, wie sehr sie ihren Bruder vermisste.

»Na ja …«, meldete sich Heidi zu Wort, die sich stets der Wahrheit verpflichtet fühlte und damit schon manchen brüskiert hatte. »Zusammen aufgewachsen? Wir haben als Kinder im Steinbruch Verstecken gespielt, aber als wir älter waren …« Abrupt brach sie ab. Ruth hatte ihr unterm Tisch einen Tritt versetzt. Ruth wollte keinesfalls, dass ihre Eltern erfuhren, was zwischen ihr und Johannes damals vorgefallen war.

»Schön, dass Johannes zurück ist«, rang Ruth sich nun ab, woraufhin sie gleichzeitig den erwartungsvollen Blick ihrer Mutter wie den ihres Vaters auf sich spürte. In diesem Moment war sie Helma dankbar, dass sie den Sauerbraten brachte. Rasch half sie der Haushälterin, die Suppenteller ineinanderzustellen.

»Wie schaut es denn mit deinen Investitionen im Steinbruch aus, Friedrich?«, erkundigte sich Josef Thelen bei seinem Sohn, als sie mit dem Hauptgang begannen.

Friedrich zuckte sichtlich zusammen. Auch Liliane, die gerade die Gabel zum Mund führte, hielt in der Bewegung inne. Ruth blickte erst von ihrem Teller auf, als ihr Vater alle viel zu lange auf seine Antwort warten ließ.

»Ich habe in der Zeitung über die Konkurrenz im Westerwald gelesen. Dort will man modernisieren«, fuhr Josef fort. »Drei große Lkws, die die Steine zur Bahn bringen, und zwei neue Bagger.«

Friedrich zerteilte den Knödel auf seinem Teller mit einem einzigen Schnitt und zerdrückte die eine Hälfte so heftig in der Soße, dass diese über den Tellerrand schwappte. »Oh, Entschuldigung«, murmelte er und rückte dem Fleck auf dem Damasttischtuch mit der Serviette zu Leibe, was ihn nur noch größer machte. Liliane sah ihren Mann erstaunt an. Heidis Augen richteten sich ebenfalls auf ihren Titularonkel. Schließlich hob Friedrich den Kopf. Seine Stirn war gerötet, der Blick aus seinen tiefdunklen Augen noch dunkler. »Es gibt in naher Zukunft keine Investitionen«, verkündete er mit rauer Stimme. »Das ist nun mal so.«

Sein Vater nickte nur und aß ungerührt weiter. Ein Nein war für ihn ein Nein. Liliane tat, als hätte sie die barsche Antwort ihres Mannes gar nicht gehört. Ruth und Heidi jedoch wechselten einen verblüfften Blick. Eine Zeit lang war nur das leise Klirren des Silberbestecks zu hören. In diesen Minuten, die Ruth wie Stunden vorkamen, versuchte sie sich einen Reim auf die Reaktion ihres Vaters zu machen. Er war immer für Neuerungen offen, wollte stets das Beste vom Besten. »Et jet net jefriemelt«, lautete sein Motto. Und jetzt wehrte er sich gegen Investitionen, gegen den technischen Fortschritt in seinem Betrieb?

»Ich habe noch eine Neuigkeit für euch«, brach Heidi nun in ihrer fröhlichen und frischen Art das Schweigen am Tisch.

Ruth wandte sich ihr dankbar zu.

»Meine Chefin kann mir eine Stelle in einer namhaften Schneiderei in Bad Neuenahr vermitteln. Die kommt gleich hinter dem Atelier von Heinz Oestergaard in Düsseldorf. Die Ministergattinnen aus Bonn lassen da schneidern. Meine Chefin meint, dort könnte ich mich besser entfalten als bei ihr. Weil ich ja gerne irgendwann nicht nur nähen, sondern auch Modelle entwerfen möchte. Und da sie viel von mir hält, möchte sie mir diese Chance geben.«

»Tatsächlich?«, fragte Liliane interessiert. Das war schon mehr ihr Thema. Mit Mode beschäftigte sie sich fast genauso gerne wie mit ihrem Klavierspiel.

Heidi legte das Besteck auf dem Teller zusammen und beugte sich vor. »Die in Bad Neuenahr machen keinen Kleinkram wie wir hier in Wilmersbach. Die ändern nichts um oder bessern aus. Die nähen ausschließlich neue Sachen«, erzählte sie begeistert. »Die Stoffe kaufen sie in Italien ein. Solche Stoffe gibt es hier in Deutschland noch gar nicht. Und die Modelle!« Verzückt verdrehte sie die Augen. »Kleider, wie Balmain sie entwirft. Richtige Roben.« Heidi wandte sich an ihre Tante und versprach ihr: »Wenn alles klappt mit der Anstellung, bekommst du als Erste von mir ein Kleid. Du wirst darin aussehen wie eine Königin.«

Liliane lächelte sie liebevoll an. »Zu welchem Anlass soll ich das denn tragen?«

Nach dem Tod ihres Sohnes hatte sich Liliane Thelen im Haus eingeigelt. Ganz anders als ihr Mann, der sich in das gesellschaftliche Leben gestürzt hatte. Er war Mitglied des Tennisklubs und des Ahr-Automobilclubs im nahe gelegenen Kurbad und fuhr mindestens zweimal die Woche dorthin. Besonders in der letzten Zeit war er häufiger dort.

»Dann fährst du demnächst mit Onkel Friedrich mal nach Bad Neuenahr«, sagte Heidi ganz selbstverständlich, bevor sie erneut Ruths Fuß an ihrem spürte und jäh verstummte.

Liliane drückte ihre Hand. »Ich weiß, Kind, du meinst es gut«, sagte sie leise.

»Wenn du die Stelle dort annimmst, kannst du ja gar nicht mehr bei uns wohnen«, wandte Friedrich ein.

»Das stimmt. Wenn ich daran denke, wird mir ganz anders.« Heidi seufzte. »Ich werde mir ein Zimmer nehmen müssen. Was bei der derzeitigen Wohnungsnot wahrscheinlich gar nicht so einfach sein wird. Und als alleinstehende junge Frau sowieso nicht.«

Ruth hatte bisher geschwiegen. Der Gedanke, ihre Freundin nicht mehr täglich sehen zu können, schnitt ihr ins Herz.

»Wenn du das unbedingt möchtest, könnte ich mit einem Bekannten reden«, bot sich Friedrich an. »Seine Schwester ist verwitwet und hat eine große Villa dort. Soweit ich weiß, vermietet sie unter.«

Ruths Kehle wurde immer enger. »Mensch, Heidi, dann sehen wir uns ja nur noch ganz selten«, sagte sie mit belegter Stimme.

»Ich weiß«, erwiderte Heidi leise, »aber das wäre wirklich eine Chance für mich, mir meinen Traum zu erfüllen. Schau mal, als du in Bonn studiert hast, haben wir uns ja auch nur am Wochenende gesehen und waren uns trotzdem immer nah.«

»Stimmt«, musste Ruth zugeben.

»Du kannst mich doch auch in Bad Neuenahr besuchen, wann immer du willst. Das sind ja nur vierzig Kilometer. Und ich mache dann auch irgendwann den Führerschein und kaufe mir einen kleinen Wagen. Dort verdiene ich ja viel mehr als hier in Wilmersbach.«

Ruth seufzte. Sie musste an die vielen Abende denken, die sie ab jetzt ohne Heidi verbringen würde. Kein Verehrer würde diese Lücke schließen können.

»Schau mal, mein Engel«, hörte sie da ihre Mutter tröstend sagen. »Ich kann verstehen, dass Heidi diese Chance wahrnehmen möchte. Dann unternimmst du einfach unter der Woche mal wieder etwas mit Johannes. Und am Wochenende ist Heidi ja wieder bei uns.«

Ruth lächelte ihre Mutter an und nickte, obwohl sie es besser wusste: Sie würde nichts mit Johannes unternehmen – und Heidi würde bestimmt bald den Verführungen des schicken Kurbads verfallen und die Wochenenden lieber dort verbringen.

Die Familie nahm Kaffee und Cognac auf der großen Steinterrasse ein. Hinter der Tuffsteinbrüstung fiel das Grundstück stetig bis zu dem Flüsschen hin ab, das sich unten im Tal wie ein silbernes Band durch die Wiesen schlängelte. Josef hielt wieder seine Mutz zwischen den Lippen, Friedrich rauchte eine Zigarre, seine Frau und auch Heidi eine Zigarette. Ruth rauchte nur selten, genauso selten, wie sie sich die Nägel rot lackierte. Liliane und Heidi dagegen standen im regen Austausch über die neuesten Nagellacke.

Nachdem sich Josef Thelen verabschiedet hatte, stand Heidi auch auf. »Ich muss noch mal in die Schneiderei, um für morgen was vorzubereiten. Gehen wir heute Abend ins Kino?« Sie sah Ruth fragend an.

Ruth lachte. »Du willst bestimmt in Die Sünderin.«

Heidi blickte verzückt gen Himmel. »Ich liebe die Knef!«

»Sei ehrlich: Du willst nur die Nacktszene sehen, über die sich alle aufregen«, neckte Ruth sie.

»Mich stört Nacktheit nicht«, meinte Heidi gelassen. »Man muss schließlich mit der Zeit gehen. Was sagt ihr dazu?« Sie sah Ruths Eltern an.

»Mich würde sie auch nicht stören«, erwiderte Friedrich schmunzelnd. »Dich, Liebes?«

»In Frankreich würde eine solche Szene kein Aufsehen erregen. Wir Deutschen sind einfach zu prüde.« Lilianes Mutter war Französin und eine bekannte Opernsängerin, von der Liliane die Liebe zur Musik, zur Mode und zu Paris geerbt hatte.

»Ich gehe mit dir raus«, bot sich Ruth an und rief ihren Eltern über die Schulter zu: »Wartet mit dem Kuchen nicht auf mich! Ich mache mit Arno noch einen Spaziergang.«

»Du willst jetzt bestimmt erst einmal allein sein, um alle Neuigkeiten zu verdauen«, sagte Heidi mitfühlend, als die beiden jungen Frauen auf dem Hof standen.

»Stimmt. Das war eine Neuigkeit zu viel«, entgegnete Ruth trocken, während sie sich ihr Fernglas umhängte.

»Johannes oder Bad Neuenahr?«

»Was wohl?«

»Pass auf! Ich habe schon eine Idee, die ich am Tisch nicht erzählen wollte.« Heidis Augen sprühten Blitze. »Was hältst du davon, dich versetzen zu lassen? Schulen gibt es auch in Bad Neuenahr. Und Lehrer werden immer gebraucht, besonders jetzt, bei den vielen Flüchtlingen aus dem Osten. Schau mal …« Heidi strich ihr liebevoll über den Arm. »Hier werden wir doch auf Dauer versauern.« Sie legte den Kopf schief und sah Ruth prüfend an. »Es sei denn, du willst Johannes heiraten. Dann bleib hier und werde Hausfrau.«

Ruth stemmte die Hände in die Hüften. »Ganz bestimmt nicht.«

»Überleg doch mal! In Bad Neuenahr gibt es Tanzbars, das Kasino, eine Eisdiele, Geschäfte. Das ist eine andere Welt. Da geht es vorwärts.«

Mit ernster Miene schüttelte Ruth mehrmals den Kopf. »Du weißt doch: Ich bin kein Stadtmensch. Auch kein Kleinstadtmensch. Ich brauche die Natur, die Ruhe.«

»Aber ich kann in dieser Beschaulichkeit nichts verdienen«, hielt ihre Freundin ihr entgegen. »In dem Schneideratelier in Bad Neuenahr bekomme ich den dreifachen Lohn. Stell dir das vor! Dann können wir endlich auch nach Italien reisen.«

»Mein Vater würde uns das Geld bestimmt schenken«, wandte Ruth ein. »Du weißt doch, wie großzügig er ist. Aber du glaubst doch nicht etwa, dass sie uns tatsächlich allein nach Italien fahren lassen würden!«

Heidi seufzte. »Stimmt. Aber was das Geld angeht … Eben beim Mittagessen hatte ich eher den Eindruck, dass dein Vater zurzeit auf Sparkurs ist.«

Ruth biss sich auf die Lippe. Die merkwürdige Reaktion ihres Vaters war ihr auch aufgefallen.

Heidi stocherte mit der Spitze ihres roten Schuhs in dem Lavakies zwischen den Pflastersteinen. Man konnte ihr ansehen, dass ihr etwas auf der Seele lag. Schließlich sagte sie mit gesenktem Kopf: »Hast du gemerkt? Vergangene Nacht ist er auch erst in den frühen Morgenstunden nach Hause gekommen.« Sie zögerte einen Augenblick, dann sah sie Ruth in die Augen. »Du weißt ja, was ich schon seit Längerem vermute. Eine Geliebte könnte der Grund für seinen Sparkurs sein. Zwei Frauen sind auf Dauer kostspielig.«

»Heidi, jetzt hör bitte auf!«, rief Ruth aufgebracht aus. »Das glaube ich einfach nicht.«

»Warum geht er dann immer ohne deine Mutter aus? Deine Mutter ist eine so wunderschöne, liebevolle und gebildete Frau. Stattdessen nimmt er sich eine Geliebte, die nur drei Jahre älter ist als wir«, redete sich Heidi in Rage. »Erika ist einunddreißig! Und er stellt ihr sogar ein Auto zur Verfügung, damit sie von Gerolstein bequemer zur Arbeit fahren kann! Ich kann das nicht verstehen. Und schon mal gar nicht, dass Tante Liliane sich das gefallen lässt.«

Ruth hatte plötzlich das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Natürlich wusste sie, dass ihre Eltern Probleme hatten, aber dass sie sich nicht mehr liebten, daran konnte sie nicht glauben. Dafür gingen sie viel zu liebevoll und respektvoll miteinander um. Das konnte doch nicht nur gespielt sein. Andererseits …

»Ich weiß, ich darf nicht zu viel sagen«, ruderte Heidi zurück. »Ich gehöre schließlich nicht richtig zur Familie, aber vergiss bitte nicht, dass ich deinen Vater und Erika vergangenes Jahr in inniger Umarmung gesehen habe. Das muss nichts heißen, aber normal ist das auch nicht zwischen Chef und Sekretärin.«

Ruth seufzte bekümmert und schwieg. Sie wusste ja nur allzu gut, wie recht Heidi hatte.

Ihre Freundin umarmte sie fest. Mit einem aufmunternden Stups in Ruths Seite beendete Heidi schließlich das Thema. »Was sagst du denn zu Johannes’ Rückkehr?«

Da hob Ruth abwehrend die Hände. »Bitte nicht noch Johannes! Jetzt muss ich erst mal ein paar Stunden wandern und meinen Kopf sortieren.«

Ihre Freundin zwinkerte ihr liebevoll zu, bevor sie aufs Rad stieg. »Vergiss dabei nicht, mal über deine Versetzung nachzudenken. Damit hättest du auch das Problem namens Johannes von der Backe.«

Ruth nahm Arno an die Laufleine und marschierte los. Nachdem sie in den Wald eingetaucht war, vermisste sie dessen gewohnte beruhigende Wirkung – das Gefühl von Ursprünglichkeit und Geborgenheit, das sie zwischen den hohen Fichten und mächtigen Buchen sonst immer spürte.

Kommende Woche werde ich Vater im Kontor besuchen, nahm sie sich vor, während sie festen Schrittes über den federnden Waldboden ging. Seit drei Jahren, seit Erika Hammes als Sekretärin im Basaltwerk arbeitete, waren ihre Besuche dort immer seltener geworden. Von Anfang an hatte Erika ihr durch ihr kühles und distanziertes Verhalten vermittelt, sie nicht zu mögen. Doch warum? Ihr Vater ließ nichts auf Erika kommen. Frau Hammes versteht sich auf ihr Fach und ist mir eine große Hilfe. Das ist nun mal so, hatte sein Kommentar gelautet, als Ruth sich bei ihm über Erikas Art beschwert hatte. Seine Reaktion hatte ihr wehgetan und sie sogar ein bisschen eifersüchtig gemacht.

Während Ruth die klare, nach Holz und Moos duftende Luft tief einatmete, wanderten ihre Gedanken zu Johannes. Warum kam er jetzt zurück? Nur wegen der Führungsposition bei der Bank seines Vaters? Vor einem Jahr hatte er seine Verlobung gelöst. Es war seine zweite in den neun Jahren in Hamburg gewesen. Ich kann einfach keine andere Frau lieben als dich, hatte er ihr damals geschrieben, nachdem er sich von seiner ersten Braut getrennt hatte. Seit ein paar Jahren hatten sie keinerlei Kontakt mehr. Ob er sie etwa immer noch liebte? Diese Vorstellung war ihr unangenehm. Und wieder einmal bereute sie zutiefst, dass sie damals nach dem Kirmesbesuch seinen Annäherungsversuchen nachgegeben hatte. Sie waren beide achtzehn gewesen – und sie neugierig auf die Liebe. Johannes hatte mit seinen Erfahrungen auf diesem Gebiet geprahlt, sich dann jedoch als große Enttäuschung herausgestellt. Nach dieser Nacht hatte sie versucht, das Erlebte zu vergessen, wieder an ihre Freundschaft anzuknüpfen, denn sie hatte ihn nicht lieben können. Ganz anders Johannes. Er hatte sie auf Schritt und Tritt verfolgt, um ihre Liebe gebettelt und geweint. Bis dann Georg in ihr Leben getreten war …

Ruth blieb stehen. An Georg wollte sie jetzt nicht auch noch denken. Was war denn heute bloß mit ihr los?

Da zog Arno sie plötzlich in eine Richtung, die sie eigentlich nicht hatte einschlagen wollen – zum alten Steinbruch hin. Wollte er wieder Kaninchen jagen, die sowieso viel zu flink für ihn waren?

Der stillgelegte Steinbruch, die Thelener Ley I, mit der Friedrich Thelen sein Basaltwerk zu Beginn der Zwanzigerjahre gegründet hatte, grenzte direkt an den Wald. Ruth blieb am Rand der etwa dreißig Meter tiefen Abbaugrube stehen, die sich die Natur im Laufe der Jahrzehnte durch Brombeersträucher, magere Birken und krautiges Gras Stück für Stück zurückerobert hatte. Nur ein rostiger Kran, der einsam in den Himmel ragte, zeugte noch davon, dass der Gegend hier einst ihr Schwarzes Gold, wie ihr Vater den Basalt nannte, abgerungen worden war.

Ruths Blick glitt an den Klippen hinab in die Tiefe, wo noch ein Stück verrottetes Grubenbahngleis im Gras verlief. In der warmen Nachmittagsluft mischte sich der Geruch von verrostetem Stahl und Staub mit dem des Waldes – ein ihr von Kindheit an vertrauter Geruch, den sie jetzt tief in sich einsog. Mit ihm kamen auch Erinnerungen zurück. Ganz genau wusste sie noch, wie ihr Vater sie das erste Mal in den Steinbruch mitgenommen hatte. Hand in Hand hatten sie hier oben an der Abbruchkante gestanden, und ihr Vater hatte mit einer weit ausholenden Armbewegung gesagt: »Schau, Liebes, das ist unser Reich.«

»Das sind ja alles Steine!«, hatte sie erstaunt ausgerufen.

Ihr Vater hatte gelacht. »Wie in dem Märchen von der Steinprinzessin.«

Mit ehrfurchtvollem Blick hatte sie zu ihm aufgeschaut. »Dann bist du also auch ein König?«

»Ja, und du meine kleine Steinprinzessin.«

Als sie ihn jedoch nach dem Tod ihres Bruders mehrmals geradezu angefleht hatte, sie als seine Nachfolgerin in diesem Reich zu bestimmen, hatte er ihren Wunsch strikt abgelehnt. Das ist nichts für eine Frau, hatte sein Argument gelautet, und wie immer, wenn er nicht bereit war zu diskutieren, hatte er hinzugefügt: Das ist nun mal so. Aus Respekt und Liebe zu ihm hatte sie sich letztendlich gefügt. Der Steinbruchbetrieb hatte bis heute noch keinen Nachfolger.

Unwillig schüttelte Ruth den Kopf. Wieder solche unangenehmen Gedanken. Und dabei hatte dieser Sonntag doch so schön begonnen!

Arno lag inzwischen hechelnd zu ihren Füßen und ließ sich den lauen Wind um die nasse Nase wehen. Seine Kaninchenjagd war erfolglos gewesen. Ruth beschloss umzukehren. Da hörte sie ein Geräusch, das nicht in die Umgebung gehörte. Ein paar Atemzüge später sah sie, wie ein Motorrad in die stillgelegte Abbaugrube gefahren kam. Eine BMW R25, ein neues Modell. Das erkannte sie auf den ersten Blick. Überrascht und neugierig schaute sie in die Tiefe.

Der Fahrer schaltete seine Maschine aus, nahm die Lederkappe ab und blickte sich um. Als er abstieg, sah sie, dass er sehr groß und schlank war. Unwillkürlich wich sie mit Arno ein paar Schritte zurück. Sie zögerte. Einerseits wäre es ihr peinlich gewesen, von dem Fremden auf ihrem Beobachtungsposten entdeckt zu werden; andererseits jedoch war sie gespannt darauf, was der Mann dort unten vorhatte. Schließlich gab sie der Neugier nach, ging hinter einem der struppigen Besenginsterbüsche in Deckung und lugte über den Abhang hinweg.

Der Motorradfahrer hatte sich inzwischen seiner Lederjacke, Schuhe und Socken entledigt. Barfuß stand er da und war gerade dabei, sich die Hosenbeine hochzukrempeln. Ruth fielen fast die Augen aus dem Kopf. Was hatte der denn vor? Mit angehaltenem Atem und einem seltsamen Kribbeln im Bauch beobachtete sie, wie der Mann auf die Steinbruchwand, die ihrem Versteck gegenüberlag, zuging und sie eingehend betrachtete. Ruths Herzschlag beschleunigte sich. Plötzlich ahnte sie, was er vorhatte. Tatsächlich! In Stoffhose, Hosenträgern, weißem Hemd mit aufgekrempelten Ärmeln und Krawatte begann er, an einer der Basaltsäulen hochzuklettern. Seine Hände tasteten nach einer Kante, nach einer Ritze, seine Zehen scharrten an der lotrechten Wand suchend nach Halt. Dann spannte sich sein Körper nach oben, im Kampf gegen die Schwerkraft. Kraftvoll und sicher – ja, geradezu elegant – arbeitete er sich Meter um Meter höher. War der Kerl verrückt? Wenn er den Halt verlor! Ein Fall aus dieser Höhe würde ihm das Rückgrat brechen. Was sollte sie tun? Ihm zurufen, er solle sofort herunterkommen? Das würde ihn womöglich erschrecken, und er würde erst recht abstürzen. In den Steinbruch laufen und ihn, falls er den Abstieg unbeschadet überstand, zur Rede stellen? Ihn darauf hinweisen, dass das Betreten des Geländes verboten war? Mit zittrigen Händen griff sie nach ihrem Fernglas. Sie konnte einfach nicht widerstehen. Was sie dann sah, gefiel ihr. Es gefiel ihr sogar außerordentlich. Schwarzes, glänzendes Haar, eine rebellische Strähne, die ihm in die schweißnasse Stirn fiel, klares Profil, kräftige, gebräunte Hände mit schlanken Fingern, muskulöse Arme und Beine, etwa um die dreißig musste er sein.

Sie ließ das Fernglas sinken, konnte jedoch den Blick nicht von ihm wenden. Je länger sie ihm bei seiner Akrobatik zusah, desto sicherer wurde sie, dass dieser Mann genau wusste, was er tat. Fast oben an der Spitze der Basaltsäule angekommen, hielt er inne, sah hinab in die Tiefe – und machte sich auf den Rückweg, genauso sicher und flink, wie er die Wand erklommen hatte. Als er wieder Boden unter den Füßen hatte, schlug er ein paarmal die Handflächen gegeneinander, klopfte sich den Staub von Hose und Hemd und zog sich wieder an. Dann gönnte er der Steilwand einen langen Blick, als wolle er sich von ihr verabschieden, und fuhr davon.

Das Motorgeräusch des BMW-Motorrads war schon lange verklungen – und Ruth hockte immer noch hinter dem Ginsterbusch, voller Unglauben darüber, was sie gerade gesehen hatte. Welch ein Mann! Einer mit Mut und Abenteuerlust. Ein Himmelsstürmer. Anders als ihre Verehrer, die den ganzen Tag in irgendeiner Behörde saßen und darauf achteten, die Bügelfalten ihrer Hosen nicht zu zerknittern. So einer würde mir gefallen, ging ihr durch den Kopf, als sie mit Arno langsam zurückschlenderte. Zu dumm, dass sie nicht auf sein Nummernschild geachtet hatte.

2

Als nach den Osterferien die Schule wieder begann, musste Ruth selbst während des Unterrichts noch an ihren Himmelsstürmer denken. Und wenn sie sich abends im Bett vorstellte, mit ihm zu den Caprifischern zu tanzen oder gar in diesen braun gebrannten, muskulösen Männerarmen zu liegen, durchfuhr sie jedes Mal ein wohliger Schauer. Heidi hatte sie bisher noch nichts von ihrem Erlebnis erzählt. Sie wollte ihren attraktiven Himmelsstürmer mit niemandem teilen. Auch jetzt, als sie an diesem Sonntagvormittag zwischen ihr und ihrer Mutter in der Kirchenbank saß und der Pfarrer seine Schäfchen gerade ermahnte, stets ehrlich und gut zu sein, sah sie ihn wieder vor sich. Um sich abzulenken ließ sie ihren Blick schweifen.

Die Kirche war bis auf den letzten Platz besetzt. Die erste Reihe beanspruchte der Bürgermeister mit seiner Familie für sich. Dahinter saßen die Honoratioren von Wilmersbach. Unter den Kirchenbesuchern waren viele Kriegsversehrte und Frauen, die Schwarz trugen. Überhaupt waren die Frauen deutlich in der Überzahl.

Ruth begann unter ihrer Kostümjacke zu schwitzen. Der schmale Bleistiftrock, den sie angezogen hatte, um ihrer Mutter einen Gefallen zu tun, engte sie zunehmend ein. Immer wieder schlug sie die Beine übereinander, mal das rechte über das linke, mal andersherum. Die harte Bank verbot jede bequeme Sitzposition. Erst als sie Heidis Ellbogen in der Seite spürte, wurde ihr bewusst, wie unruhig sie war.

»Guck mal, da vorne sitzt Johannes mit seinen Eltern«, raunte ihre Freundin ihr zu.

Ruths Blick folgte Heidis Kopfbewegung und fand ihren Jugendfreund. Oje! Dabei hatte sie so sehr gehofft, dieser Kelch würde an ihr vorübergehen.

Als hätte Johannes ihren Blick gespürt, drehte er sich plötzlich halb zu ihr um. Zwei, drei Sekunden lang sahen sie sich in die Augen. Ja, Johannes war in den vergangenen Jahren ein richtiger Mann geworden, wie ihr Vater gesagt hatte. Ein Mann mit blasser Haut, Tränensäcken unter den hellbraunen Augen und einigen Wirtschaftswunderpfunden zu viel unter dem braunen Anzug. Während sie dies alles innerhalb eines Sekundenbruchteils registrierte, zeigte sich auf Johannes’ Gesicht ein freudiges Lächeln. Es erinnerte sie an den Jungen, den sie einst gemocht hatte. Da konnte sie nicht anders: Sie lächelte zurück. Plötzlich freute sie sich sogar, ihn zu sehen. Wie vertraut sie miteinander gewesen waren! Johannes war wie eine Freundin gewesen. Wäre diese eine Nacht nicht gewesen, in der sie ein oder vielleicht auch zwei Eierlikör zu viel getrunken hatte, und sein aufdringliches Verhalten danach, wären sie heute bestimmt immer noch gute Freunde. Vielleicht war Johannes ja inzwischen vernünftig geworden, und es würde zwischen ihnen zukünftig wieder so sein wie früher. An ihr sollte es nicht scheitern.

Bevor die Männer nach dem Kirchgang zum Frühschoppen in die Eifelstubegingen, die dem Gotteshaus praktischerweise direkt gegenüberlag, und die Frauen nach Hause, um das Essen vorzubereiten, versammelte man sich wie immer zu einem Schwätzchen auf dem kleinen Kirchplatz.

Plötzlich spürte Ruth auf ihrem Arm die schmale Hand ihrer Mutter, die sie zielsicher auf Familie Prümm zu dirigierte. Man begrüßte sich gegenseitig herzlich. Ruth blieb vor Johannes stehen, der seinen Hut lüftete und dadurch seine bereits lichte Stirn freilegte. Ohne Hut wirkte er noch älter als ohnehin schon. Dabei waren sie doch der gleiche Jahrgang! Er sah aus, als hätten ihn die neun Jahre in Hamburg nicht geschont. Als Kind und Jugendlicher hatte er jeden Raum mit seinen Scherzen und seinem Charme zum Strahlen gebracht. Jetzt wirkte er ernst und gesetzt. Prüfend lag sein Blick auf ihrem Gesicht, als wolle er abschätzen, wie sie derzeit auf ihn zu sprechen war. »Guten Tag, Ruth.«

»Hallo, Johannes.« Aus einem Impuls heraus umarmte sie ihn. Johannes erwiderte ihre Umarmung, ließ sie dann jedoch sofort wieder los, als hätte er sich an ihr verbrannt. Wahrscheinlich wollte er nicht aufdringlich wirken.

»Wie geht es dir?«, begann sie die Unterhaltung in munterem Ton, um die Hürde des jahrelangen Schweigens zwischen ihnen zu nehmen.

Johannes hob die Schultern. »Ich bin wieder hier, wie du siehst. Zurückgekehrt in die Heimat«, fügte er mit schiefem Lächeln hinzu.

»Das ist doch schön«, erwiderte sie.

Johannes straffte sich. »Wie du vielleicht schon weißt, bin ich jetzt Leiter der Kreditabteilung. Falls du mal Geld brauchst …« Er zwinkerte ihr zu.

»Gut zu wissen«, ging sie auf seinen Scherz ein.

»Nächste Woche werde ich dem Junggesellenverein beitreten«, erzählte er ein wenig atemlos weiter. »Du weißt ja, wie das geht …« Wieder ein Zwinkern. »Drei Schnäpse und reichlich Bier sind die Eintrittskarte, und das« – er verzog das ehemals so hübsche Gesicht – »obwohl ich eigentlich keinen Alkohol trinke.« Ruth lachte. »Dann muss dir der Beitritt aber sehr wichtig sein.«

»Auf die Weise gehöre ich wieder dazu, und ich habe in der Freizeit was zu tun. Feste, Junggesellentouren, Tanzveranstaltungen …«

»Vielleicht wird sich deine Einstellung zum Alkohol noch ändern«, scherzte sie.

Er lachte. »Mal sehen.« Dann wurde sein Blick wieder ernst. »Und du? Was macht die Schule?«

»Alles bestens«, antwortete sie.

»Ich habe gehört, dass du eine sehr beliebte Lehrerin bist. Bei Schülern und Eltern.«

»Ich bemühe mich«, erwiderte sie steif.

Johannes wusste, dass sie diesen Beruf nicht aus Leidenschaft gewählt hatte. Wie viel lieber hätte sie an der Seite ihres Vaters das Basaltwerk geführt.

Neben ihnen plauderten ihre Eltern lebhaft mit den Prümms und taten so, als würden sie sich für sie und Johannes nicht interessieren. Doch Ruth wusste es besser. Längst ahnte sie, worauf ihre Eltern spekulierten: Thelen-Basalt brauchte einen Nachfolger. Doch dieses Mal würde sie dem Wunsch ihres Vaters, zu heiraten, nicht entsprechen. Urplötzlich wurde der schlimmste Tag in ihrem Leben wieder vor ihrem inneren Auge lebendig. Binnen Sekundenbruchteilen sah sie sich am Arm von Georg aus der Kirche treten. Die Mitglieder der Freiwilligen Feuerwehr hatten Spalier gestanden, die Blaskapelle des Schützenvereins hatte den Hochzeitsmarsch gespielt. Über einhundert Gäste waren geladen gewesen, und ihr Vater hatte eine Rede gehalten, in der er die Zukunft der Frischvermählten blumig ausgemalt und seinen Schwiegersohn als seinen Nachfolger im Steinbruchbetrieb gepriesen hatte. Dieser Rede hatte der Einmarsch eines Oberstleutnants mit seinem Gefolge ein jähes Ende bereitet. Georg war eingezogen – und sie dadurch vor der Hochzeitsnacht bewahrt worden.

Ruth schüttelte den Kopf, wie um sich von diesen Bildern zu befreien. Ihr Blick kehrte zu Johannes zurück. Sie lächelten sich an. Was sollte sie sagen? Auch Johannes schwieg. Sie spürte die Spannung zwischen ihnen, eine unangenehme Spannung. Selbst Johannes, der früher nie um einen lockeren Spruch verlegen gewesen war, schien nicht mehr zu wissen, was er sagen sollte.

»Na, Johannes, hast du dich inzwischen eingelebt?«, hörte sie da Heidi fragen, die als blonder, rettender Engel aus dem Nichts auftauchte. Nun überließ Ruth es ihrer Freundin, die Unterhaltung mit Johannes weiterzuführen. Nach einer Weile löste sich die Kirchengemeinschaft auf.

»Besuch uns doch mal«, forderte Friedrich Thelen Johannes mit einem jovialen Schulterschlag auf. »Dann erzählst du uns von deiner Zeit in Hamburg. Eine schöne Stadt. Als ich 1908 als junger Bursche nach Amerika aufgebrochen bin, bin ich von Hamburg aus in See gestochen. Inzwischen wird sich dort bestimmt viel verändert haben.«

Ihr Vater, ein leidenschaftlicher Geschichtenerzähler, hätte noch weitergeplaudert, wenn ihre Mutter sich nicht bei ihm untergehakt und ihn sanft weggezogen hätte.

»Na prima«, meinte Heidi trocken. »Warst du nicht ein bisschen zu herzlich?«

»Quatsch«, verteidigte sich Ruth. »Irgendwie tut er mir leid. Außerdem glaube ich nicht, dass er noch an mir interessiert ist.«

»Genauso Quatsch«, konterte ihre Freundin. »Glaubst du wirklich, dass er dich vergessen hat? Niemals!.«

»Er tritt jetzt in den Junggesellenverein ein. Das würde er wohl kaum machen, wenn er vorhätte, mich zu heiraten.«

»Dann kann er ja wieder austreten«, konterte Heidi.

Nach dem Mittagessen brach Ruth zu ihrem Sonntagsspaziergang auf. Dieses Mal war es nicht Arno, der sie in Richtung Thelener Ley I zog, sondern die Hoffnung, vielleicht den Himmelsstürmer wiederzusehen.

Auch an diesem Nachmittag schien die Sonne. Wieder war es frühlingshaft warm. Ruth setzte sich ins Gras oberhalb der Abbruchkante des alten Steinbruchs, zog die Beine an und wartete. Und wieder überfielen sie die Erinnerungen. Wie oft hatte sie mit Heidi und Johannes sonntags hier oben gesessen. Manchmal war auch ihr Bruder dabei gewesen. Beim Anblick der Basaltsäulen hatten sie ihre Fantasie spielen lassen. Erich hatte sich immer am einfallsreichsten gezeigt. »Schaut mal, die Säule dort drüben sieht wie ein Löwenkopf aus! Und die daneben wie eine Seejungfrau«, hatte er ausgerufen.

In Erinnerung an ihren Bruder zog sich Ruths Herz zusammen. Sie hätte nicht sagen können, wie lange sie dort gesessen hatte – in der Hoffnung, den Motor der BMW zu hören. Irgendwann warf die untergehende Sonne ihr goldenes Licht auf die Eifelhügel. Es wurde kühler, der Wind frischte auf. Längst wusste Ruth, dass ihr Himmelsstürmer nicht mehr kommen würde. Es wäre ja auch einem Wunder gleichgekommen, wenn es ihn am selben Tag, zur selben Stunde an denselben Ort wie sie gezogen hätte.

3

Die beiden nächsten Wochen verliefen für Ruth im gewohnten Gleichmaß. Ihren Himmelsstürmer traf sie nicht wieder. Johannes ließ sich auch nicht blicken, und ihr spontaner Besuch im Basaltwerk brachte keine Klarheit: Sie traf weder ihren Vater noch seine Sekretärin an.

Inzwischen war das Wetter umgeschlagen. Der Frühling hatte eine Pause eingelegt. Tagelang regnete es in Strömen. Ein heftiger Wind jagte Wolken über die Eifelhügel, die Ruth mit ahnungsvoller Beklommenheit erfüllten.

Die kalten Temperaturen taten Heidis Freude darüber, nach Bad Neuenahr umzuziehen, keinen Abbruch. Ruth war traurig zumute. Dennoch war sie neugierig, als sie Heidi in ihrem neuen Zuhause das erste Mal besuchte. Die möblierte Wohnung lag in einer weißen, vom Krieg unversehrten Villa in der Nähe des Ahrufers, bestand aber nur aus einem Zimmer und einer winzigen Kochecke. Bad und Toilette waren zwei Stockwerke tiefer und mussten mit den anderen Bewohnern geteilt werden. Da das Zimmer schräge Wände hatte, bot es neben Bett und Schrank keinen Platz für weitere Möbelstücke. Es war jedoch sauber, mit Kreuz und Marienbild an der Wand, die seiner Bewohnerin wohl an tristen, einsamen Abenden Trost spenden sollten.

»Und? Was sagst du?« Heidi sah sie erwartungsvoll an.

Ruth hob die Schultern und schwieg.

»Dass ich ja keinen Herrenbesuch hier sehe«, ahmte Heidi ihre Vermieterin mit verstellter Stimme und strenger Miene nach. Als Ruth immer noch schweigend ihren Blick durchs Zimmer gleiten ließ, seufzte sie. »Ich weiß, was du denkst. Natürlich ist es hier nicht so schön wie bei euch. Dennoch bin ich deinem Vater sehr dankbar, dass er sich für mich eingesetzt und mir das Zimmer besorgt hat.« Sie hakte sich bei Ruth ein und schmiegte sich an sie. »Hier habe ich die Möglichkeit, irgendwann einmal die deutsche Coco Chanel zu werden.«

Da musste Ruth lachen. »Zurzeit siehst du eher wie Marilyn Monroe aus.«

Die amerikanische Schauspielerin war neuerdings das große Idol vieler deutscher Frauen. Ruth musste zugeben, dass Heidi die wasserstoffblonden Haare mit dem Kurzhaarschnitt – ihre neue Frisur fürs Kurbad – fabelhaft standen.

»Marilyn kommt bei den Männern besser an als die flachbrüstige Coco«, erwiderte Heidi mit wissender Miene. »Vielleicht wohnen hier im Haus ja zwei nette Herren, mit denen wir mal ausgehen können.«

Ruth verdrehte die Augen. »Ich dachte, du willst unabhängig sein und eine berühmte Modeschöpferin werden.«

Heidi stieß sie freundschaftlich in die Seite. »Ich will doch nicht heiraten! Nur ein Fisternöllchen – eine Liebelei«, fügte sie mit einem schelmischen Lächeln hinzu.

Ruth umarmte sie. »Du wirst mir fehlen.«

»Du mir auch«, entgegnete ihre Freundin nun ernst. »Aber denk an Hermann Hesse.«

Ruth sah sie fragend an. »Was ist mit ihm?«

Heidi hob den Zeigefinger und begann mit getragener Stimme zu rezitieren: »Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.«

»Dieses Gedicht habe ich vor vielen Jahren mal für dich abgeschrieben und dir geschenkt, weil ich es so schön fand«, erinnerte sich Ruth erstaunt. »Dass du es behalten hast …«

Heidi strahlte übers ganze Gesicht. »Klar! Sonst wäre ich wohl eine schlechte Schülerin, oder?«

Bei Regenwetter fuhr Ruth statt mit ihrem Motorrad mit dem Volkswagen ihrer Mutter zur Schule. Als sie nach dem Unterricht auf das eiserne Tor der Villa zufuhr, stand es offen – was nur selten vorkam. Sie parkte den VW zwischen der schwarzen Mercedes-Limousine ihres Vaters und einem grünen Opel Olympia mit Bonner Kennzeichen, den sie vorher noch nie gesehen hatte. Während sie über den Hof auf das Eingangsportal zuging, wurde die schwere, geschnitzte Eichentür gerade geöffnet, und zwei Männer traten auf den Treppenabsatz. Der größere von ihnen trug einen langen schwarzen Mantel und einen Borsalino, der kleinere nur Anzug und Krawatte. Der im Anzug stürmte an ihr vorbei, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Der andere, älter und eleganter gekleidet, blieb vor ihr stehen. Jetzt bemerkte sie, dass sein Gesicht grob und gewöhnlich aussah, was weder sein flirtender Blick noch sein charmantes Lächeln vertuschen konnte. Mit einer ausholenden Geste lüftete er seinen Hut und verbeugte sich vor ihr in übertriebener Form. »Ich wünsche noch einen schönen Tag, Fräulein Thelen«, grüßte er sie, bevor er rasch die Treppen hinabging.

Täuschte sie sich, oder hatten seine Worte tatsächlich eher frech als höflich geklungen? Verwundert blieb sie stehen, bis der Opel den Hof verlassen hatte.

Als Ruth die Eingangshalle betrat, drang aus dem Musikzimmer Klaviermusik. Ihre Mutter spielte Funérailles von Franz Liszt und war gerade bei dem düsteren f-Moll-Trauermarsch angelangt, der dem Zuhörer ein dunkles, trostloses Gefühl vermittelte. Ruth blieb stehen. Wo war Arno? Normalerweise begrüßte er sie auf dem Hof oder in der Halle. Sie öffnete die Tür zur Küche, wo er freudig an ihr hochsprang.

»Ist ja gut«, beruhigte sie ihn.

»Da bist du ja«, sagte Helma. »Wir können gleich essen.«

»Warum hast du Arno eingesperrt?«

»Dein Vater wollte es so. Er hat die beiden Männer angeknurrt.«

»Wer waren die?«

Helma hob die Schultern. »Ich habe sie noch nie zuvor gesehen.«

Nachdem Ruth ihren vierbeinigen Freund nochmals gestreichelt hatte, ging sie entschlossen durch die Eingangshalle zur Bibliothek, deren mit Leder gepolsterte Tür verschlossen war. Sie klopfte. Auf das Herein ihres Vaters hin betrat sie den Raum.

Friedrich Thelen stand mit dem Rücken zu seiner Tochter vor der doppelflügeligen Terrassentür und rauchte.

»Guten Tag, Vater.«

»Aus der Schule wieder zurück?«, fragte er, ohne sich umzudrehen.

Sie lächelte. »Ja. Wer waren denn die Männer, denen ich gerade auf dem Hof begegnet bin?«

»Das waren Geschäftspartner«, klärte ihr Vater sie mit belegter Stimme auf. Dann erst drehte er sich um, und Ruth erschrak. Sein Gesicht war leichenblass. Die tiefdunklen Augen, in denen stets ein Feuer brannte, wirkten leer.

»Helma sagte, Arno hätte sie angeknurrt.«

»Ich konnte ihn nicht beruhigen, deshalb musste ich ihn in die Küche bringen.« Er brachte ein dünnes Lächeln zustande und fügte mit erhobenem Zeigefinger hinzu: »Du solltest ihn besser erziehen, mein Steinprinzesschen.« Dieser liebevollen Maßregelung folgte ein tiefer Seufzer, und dann ließ er seinen Lieblingssatz folgen: »Das ist nun mal so.«

Arno wird schon einen Grund gehabt haben, wollte Ruth schon antworten, doch sie schluckte die Entgegnung hinunter. Für ihren Vater war das Thema bereits beendet.

»Dann bis gleich, zum Essen«, verabschiedete sie sich leise.

An diesem Mittag aß Ruth mit Helma und Arno allein in der Küche. Der Besuch der Geschäftspartner hatte ihren Eltern anscheinend den Appetit genommen.

Nach dem Mittagessen ging sie in ihr Arbeitszimmer, das neben Heidis Räumen im zweiten Stock lag. Die beiden gleich großen Wohnbereiche waren durch ein riesiges Badezimmer, das sie sich teilten, getrennt. Ruth setzte sich an den Schreibtisch und korrigierte Biologiearbeiten. Bald jedoch gestand sie sich ein, dass es ihr an der nötigen Konzentration mangelte. Sie stand auf. »Komm, Arno, wir gehen ein Stück.« Sie schlüpfte in Kleppermantel und Gummistiefel und verließ das Haus, ohne jemandem zu begegnen. In der Villa herrschte eine ungewohnte Stille.

Anders als noch am Vormittag versank die Landschaft inzwischen in einem Nebelmeer. Graue Schleier verwoben sich mit der tief hängenden Wolkendecke. Ein feiner Nieselregen schluckte das spärliche Tageslicht und ließ die Welt trist erscheinen. Fest entschlossen, sich von dem Wetter nicht bremsen zu lassen, marschierte Ruth los. Der vom Regen durchtränkte Waldboden schmatzte unter ihren Schritten. In dem undurchdringlichen Dickicht rechts von ihr stapelten sich vermooste Basaltsteine; linker Hand ragten umgestürzte, wettergebleichte Fichten wie Skelette in den verhangenen Himmel. In der Ferne kreischte eine Säge. Der Regen und das trübe Licht trugen nicht gerade dazu bei, dass sich Ruths Stimmung hob. Warum nur war ihr plötzlich wieder wie damals im Krieg zumute: so als wäre das Leben ihrer Familie und ihr eigenes in Gefahr?

Da der Wald sie an diesem Tag nicht aufmuntern konnte, bog sie an der nächsten Wegquerung in Richtung der Wiesen und Felder ab, die zum Besitz ihres Großvaters gehörten.

Das Haus ihres Großvaters war ein über einhundert Jahre altes behäbiges Steingebäude mit einem gepflasterten Innenhof. Drinnen war es verwinkelt und gemütlich. Mit seinen zweiundachtzig Jahren versorgte sich Josef Thelen noch weitgehend selbst. Dreimal in der Woche kam eine Frau aus dem Nachbardorf und kümmerte sich um den Haushalt.

Ruth war auf der Buchenallee, die das Bauernhaus mit der Landstraße verband, da kündigten die Gänse ihres Großvaters ihr Kommen bereits an. Wahrscheinlich wollten sie beweisen, dass sie genauso wachsam waren wie einst ihre Artgenossen auf dem römischen Kapitol. Arno seinerseits antwortete ihnen nicht weniger laut. Kein Wunder also, dass Josef Thelen schon auf dem Hof stand, als Ruth gerade aufs Haus zuging. Sein wettergegerbtes Gesicht strahlte vor Freude über ihren Besuch. Bevor sie ihn umarmte, nahm er seine Mutz aus dem Mund, nur um gleich danach weiterzupaffen.

Immer wenn Ruth das Bauernhaus mit seinen Holzbalken, niedrigen Decken, dem riesigen Kamin und dem Geruch von warmer Milch und Kuhmist betrat, fühlte sie sich geborgen. Es war ihre zweite Heimat. Sie liebte ihren Großvater von ganzem Herzen. Sie liebte seine Lebensklugheit und Gelassenheit. Das Leben hatte ihn nicht geschont. Er hatte nicht nur nach fünf Ehejahren seine Frau verloren, sondern im Krieg auch seine beiden älteren Söhne. Niemals jedoch war ein Klagelaut über seine Lippen gekommen. Menschen, die fest eingebunden sind in den natürlichen Ablauf der Natur, mit ihrem Werden und Vergehen, sehen den Tod als Teil eines jeglichen Lebens, hatte er einmal zu ihr gesagt.

»Möchtest du eine Tasse Kaffee? Ich habe eben erst welchen aufgebrüht«, sagte Josef.

»Gerne. Ich hole mir welchen.« Ruth ging in die Küche, in die das deutsche Wirtschaftswunder noch keinen Einzug gehalten hatte. Keine Spur von Nirostaspüle, Elektroherd oder Kühlschrank. Das gesamte Inventar stammte noch aus dem letzten Jahrhundert.

»Du kannst dir auch was von dem Marmorkuchen abschneiden. Den hat Erika mir gestern gebracht«, rief ihr Großvater.

Ruth wäre fast die Tasse aus der Hand gefallen. »Welche Erika?«, fragte sie, obwohl sie die Antwort bereits wusste.

»Die Sekretärin deines Vaters. Sie hat ihn selbst gebacken. Er ist sehr lecker.«

Als Ruth sich Kaffee einschenkte, zitterte ihre Hand, was sie ärgerte.

»Wie kommt Erika denn dazu, dir Kuchen zu bringen?«, fragte sie, als sie sich neben ihren Großvater in den Sessel setzte.

Mit unschuldiger Miene zuckte Josef mit den Schultern, die sich spitz unter der dicken Strickjacke abzeichneten. Er war, anders als die meisten Männer in diesen Zeiten, noch genauso hager wie eh und je. »Sie bringt mir öfter mal was vorbei«, antwortete er dann. »Wahrscheinlich auf Bitte deines Vaters hin, weil der ein schlechtes Gewissen hat, dass er sich so selten hier blicken lässt.« Josef schenkte seiner Enkelin ein offenes Lächeln. »Eine gute Sekretärin muss eben mehr können als nur Schreibmaschine schreiben.«

Ruth schluckte. Erika schien tatsächlich wesentlich mehr Qualitäten zu haben, als ihr Beruf voraussetzte.

»Sag mal, weißt du eigentlich, warum sie mich nicht leiden kann?«, fragte sie in schärferem Ton, als sie eigentlich wollte.

Ihr Großvater hob die weißen Brauen. »Nicht leiden? Hast du den Eindruck?«

»Ja, den habe ich.« Sie nickte. »Sie verhält sich mir gegenüber kühl und abweisend. Von Anfang an, obwohl ich ihr nie einen Anlass dafür gegeben habe.« Während sie sich hinterrücks in meine Familie einschleicht, hätte sie am liebsten hinzugefügt.

»Ich weiß es nicht«, antwortete Josef und bedachte sie mit einem bedrückten Blick, der so gar nicht zu ihm passte und den sie nicht deuten konnte. »Erika Hammes ist ein liebes Mädchen. Sie wäre bestimmt eine gute Hausfrau und Mutter. Aber bis jetzt hat sie den Richtigen ja noch nicht gefunden.«

Ruth schwieg. Irgendwie missfiel es ihr, dass ihr Großvater so freundlich, fast liebevoll, über Erika sprach. Wusste ihr Großvater womöglich von ihrem Vater und Erika und hieß diese Liebesbeziehung sogar gut? Eigentlich unmöglich! Obwohl … Ihre Mutter und ihr Großvater hatten nicht gerade das innigste Verhältnis. Mit den beiden trafen zwei Welten aufeinander: die Pianistin aus dem Frankfurter Großbürgertum und der Eifeler Bauer.

»Erika hat es in ihrer Kindheit nicht leicht gehabt«, fuhr Josef mit verlorenem Blick auf das Foto an der Wand fort. Es zeigte seinen jüngsten Sohn Friedrich vor dem Firmenschild Thelener Ley I – sehr gut aussehend, in hellem Sommeranzug lässig an den Holzpfosten gelehnt, den weißen Panamahut verwegen in die Stirn gezogen. Das Bild eines Lebemannes.

»Was hat Erika denn Schlimmes erlebt, außer dem Krieg, den wir alle erlebt haben?«, erkundigte sich Ruth und biss sich gleich darauf auf die Lippe. Es war so viel Schreckliches geschehen, und viele Menschen sprachen nicht über ihre Erlebnisse. Sie konnte nicht wissen, ob Erika nicht tatsächlich etwas Fürchterliches widerfahren war.

Endlich löste sich Josefs Blick von der Fotografie. »Jeder hat eben sein Päckchen zu tragen«, antwortete er ausweichend, bevor er einen Schluck Kaffee trank. Als er die Tasse absetzte, sah er Ruth auffordernd an: »Jetzt erzähl mal, wie war es denn heute in der Schule?«

Da wusste Ruth, dass sie von ihrem Großvater nichts mehr über Erika Hammes erfahren würde.

4

Ruth war maßlos enttäuscht, als Heidi ihr am Telefon sagte, dass sie über Pfingsten in Bad Neuenahr bleiben wolle. Auf ihre Frage nach dem Warum rückte Heidi mit der Sprache nicht so recht heraus – was Ruth von ihr nicht kannte. Hatte ihre Freundin vielleicht einen Mann kennengelernt, von dem sie noch nicht erzählen wollte? »Nächstes Wochenende besuchst du mich«, sagte Heidi mit Nachdruck in der Stimme. »Dann gehen wir beide hier ganz schick aus. Und zwar ins Kasino.«

Ruth wusste nicht, ob sie sich darauf freuen sollte. Vielleicht bin ich einfach eine Langweilerin, überlegte sie an diesem Sonntagnachmittag, als sie sich für ihre Wanderung mit Arno anzog. In der Eingangshalle traf sie auf Helma, die sich in hellem Mantel, mit Hut und Handtasche gerade anschickte, das Haus zu verlassen. Helma war zum Sonntagnachmittagskaffee bei ihrer Schwester im Nachbarort eingeladen.

»Was willst du denn mit dem Wäschekorb?«, fragte Ruth erstaunt.

Helma setzte den Korb mit einem Ächzen auf den Marmorboden. »Den bringe ich auf dem Weg noch bei Karl vorbei. Das ist seine frische Wäsche für die kommende Woche. Er hat gestern vergessen, sie mitzunehmen.« Karl Engels war nur wenige Jahre jünger als ihr Vater, war dessen Vorarbeiter und rechte Hand. Niemand kannte den Steinbruchbetrieb und dessen Abläufe besser als er.

»Der ist doch viel zu schwer.« Energisch schüttelte Ruth den Kopf. »Ich fahre schnell zur Hütte und bringe ihn hin.«

Helma freute sich sichtlich. »Das willst du wirklich für mich machen?«

»Klar. Bei dem schönen Wetter nehme ich das Motorrad. Dann wird es auch mal wieder bewegt.«

»Zieh aber bitte den Motorradanzug an«, bat Helma. »Du weißt, dass deine Mutter immer Angst hat, wenn du in normaler Kleidung fährst. Falls du mal stürzen solltest …«

Ruth lachte. »Ich stürze aber nicht. Erstens fahre ich vorsichtig, und zweitens hält mich der Beiwagen im Gleichgewicht.«

Ein paar Minuten später verließ Ruth mit dem Wäschekorb im Beiwagen den Hof – zur großen Enttäuschung Arnos, der sich schon auf einen Spaziergang gefreut hatte. In der schwarzen Motorradkluft ihres Vaters, die Heidi in Schwerstarbeit auf Ruths Figur angepasst hatte, hätte kaum jemand eine Frau auf der schweren Maschine vermutet.