Yoko - Bernhard Aichner - E-Book

Yoko E-Book

Bernhard Aichner

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Beschreibung

Die faszinierende Geschichte einer Mörderin – hautnah und schonunglos erzählt Aichner von einer Frau, die selber nicht ahnt, wozu sie fähig ist. Yoko ist wie du und ich. Bis das Glück sie verlässt. Yoko ist Ende zwanzig, als sie die Metzgerei, die sie von ihrem Vater geerbt hat, in eine kleine Manufaktur umwandelt. Mit Hingabe verpackt sie fortan das Glück in Kekse, anstatt Schweinehälften zu zerlegen. Sie ist verliebt, ihr Leben ist erfüllt von Leichtigkeit, doch von einem Moment zum anderen zerbricht alles. Yoko liefert eine Kiste Glückskekse an ein chinesisches Restaurant aus, und als sie versucht, einem kleinen Hund im Hinterhof zu helfen, wird sie für ihre Courage von dessen Peinigern bestraft. Der Hund stirbt. Und Yokos Albtraum beginnt. Noch ahnt sie nicht, mit wem sie es zu tun hat. Wie viel Leid über sie hereinbrechen und mit welch ungeahnter Härte sie sich dafür rächen wird. Ihr wird alles genommen, was ihr lieb ist. Und deshalb schlägt Yoko zurück. Erbarmungslos.

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Seitenzahl: 317

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Bernhard Aichner

Yoko

Thriller

 

 

 

Über dieses Buch

Yoko ist wie du und ich. Bis das Glück sie verlässt.

Yoko ist Ende zwanzig, als sie die von ihrem Vater geerbte Metzgerei in eine kleine Manufaktur umwandelt – liebevoll verpackt sie fortan das Glück in kleine Kekse anstatt Schweinehälften zu zerlegen. Sie ist verliebt, ihr Leben ist das erste Mal erfüllt von Leichtigkeit.

Doch dann ist sie eines Tages zur falschen Zeit am falschen Ort. Sie liefert eine Kiste Glückskekse an ein chinesisches Restaurant aus, und als sie versucht im Hinterhof einem kleinen Hund zu helfen, wird sie für ihre Courage von dessen Peinigern bestraft. Yoko ist das leichte Opfer zweier Männer im Gewaltrausch. Alles zerbricht, ihr Leben liegt von einem Moment zum nächsten in Scherben.

Aber Yoko fasst einen Entschluss: Nicht ihre Verfolger werden entscheiden, wann ihr Leben endet. Nicht das Schicksal wird bestimmen, wie ihre Geschichte verläuft. Sie selbst wird es tun.

Noch ahnt sie nicht, mit wem sie es zu tun hat. Und mit welch ungeahnter Härte sie sich rächen wird. Yoko wird von ihrer Vergangenheit eingeholt. Und kämpft erbarmungslos für ihre Zukunft.

Vita

Bernhard Aichner, geboren 1972, lebt in Innsbruck und im Südburgenland. Nach seinem Germanistikstudium arbeitete er als Fotojournalist und anschließend vierzehn Jahre lang als Werbefotograf. Er schrieb mehrere Hörspiele und Romane, bis er 2014 mit seinem Thriller «Totenfrau» den internationalen Durchbruch als Autor feierte. Seine Bücher wurden in 16 Sprachen übersetzt, die «Totenfrau»-Trilogie von Netflix und dem ORF verfilmt. Die zweite Staffel kommt Ende 2024.

Mit einer Million verkauften Exemplaren zählt Aichner zu den erfolgreichsten deutschsprachigen Krimiautoren. Er hat zahlreiche Preise und Stipendien erhalten, darunter das Österreichische Staatsstipendium für Literatur, den Burgdorfer Krimipreis, den Crime Cologne Award, den Friedrich-Glauser-Preis, zuletzt den Fine Crime Award 2023 und das Wiesbadener Krimistipendium 2024.  Die «Times» beschreibt seine Arbeit als «originell, kraftvoll und fesselnd».

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, September 2024

Copyright © 2024 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Motto S. 7: Aus dem Gedicht «Hol den Apfel aus der Schale» von Christine Lavant, Wallstein Verlag 

Songtext S. 196–197: Here Comes the Sun, Text: George Harrison

Songtext S. 227: Lose Yourself, Text: Marshall B. Mathers, Luis Edgardo Resto, Jeff Bass

Songtext S. 254: Give Peace a Chance, Text: John Winston Lennon, Paul James McCartney

Covergestaltung semper smile, München

Coverabbildung Shutterstock

ISBN 978-3-644-01653-8

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

Hol den Apfel aus der Schale

ohne Messer, ohne Zähne,

hol dein Herz aus dieser Träne,

die ich für den Wahnsinn male

in sein Bilderbuch.

Christine Lavant

Das Ende

Ein paar Minuten später ist der Hund tot.

Yokos Leben wird auseinanderbrechen wie ein Glas voller Erinnerungen, das zu Boden fällt. Sie wird es nicht verhindern können, egal, wie laut sie schreien und wie sehr sie sich wehren wird. Von einem Moment zum anderen wird alles, was schön war, verschwinden.

Doch noch ist sie glücklich.

Liebevoll streichelt sie das abgemagerte Tier. Ein brauner Mischlingshund, angekettet bei den Mülltonnen. Yoko fährt mit ihren Fingern durch sein weiches Fell, spielt kurz mit ihm und freut sich darüber, wie ausgelassen und dankbar der kleine Hund dafür ist, dass sich jemand kurz Zeit für ihn nimmt.

Bin gleich wieder bei dir, Kleiner. Ich bringe nur schnell die Lieferung in den Laden.

Einmal krault sie ihn noch, dann betritt Yoko das chinesische Restaurant über den Hintereingang. Sie geht durch die Küche, die Kartons mit den Keksen auf dem Arm, der Abwäscher und der Koch grüßen sie freundlich.

An der Bar wartet sie auf Lin, die Kellnerin, die den Empfang bestätigen wird. Keine Sekunde denkt Yoko, dass etwas Schlimmes geschehen könnte. Sie schaut den Fischen im Aquarium zu, hört, wie das Wasser in der Spülmaschine hin und her geschleudert wird, und erinnert sich daran, dass sie nachher noch in den Supermarkt muss. Der Geruch, der von der Küche zu ihr herüberströmt, macht sie hungrig, lässt sie darüber nachdenken, was sie zubereiten könnte. Gemüse, Curry, Reis.

Yoko wird für zwei kochen.

Sie freut sich auf einen schönen Abend.

Lin nickt ihr freundlich zu und gibt ihr zu verstehen, dass es nicht mehr lange dauert, bis sie Zeit hat. Yoko unterhält sich gerne mit ihr über das Land, das Lin schon vor langer Zeit verlassen hat, von dem sie aber bei jeder Gelegenheit mit Leidenschaft schwärmt. Dank Lin ist China zu einem Sehnsuchtsort für Yoko geworden, sie hat sich vorgenommen, irgendwann dorthin zu reisen, sie will die traditionelle chinesische Küche näher kennenlernen, auf der Chinesischen Mauer entlanggehen, die Verbotene Stadt sehen, Shanghai entdecken. Immer, wenn Yoko hierherkommt, nimmt sie sich vor, in ein Flugzeug zu steigen und sich auf dieses Abenteuer einzulassen. Sich der Angst vor dem Fremden zu stellen.

Hast du schon gebucht?, fragt Lin.

Yoko schüttelt den Kopf und lächelt.

Mit einem Schulterzucken deutet sie auf die Kartons mit den Glückskeksen.

Sobald es die Arbeit zulässt, sagt sie.

Lin öffnet eine der Schachteln, schält einen Keks aus der Verpackung und schneidet eine Grimasse.

Gut für mich, dass du so ein Angsthase bist. Kekse sind nämlich seit drei Tagen aus. Das Glück hat uns vorübergehend verlassen.

Sie kichert und zwinkert Yoko zu.

Wie immer verstehen sich die beiden Frauen auf Anhieb gut, Yoko trinkt den Espresso, den Lin ihr über den Tresen schiebt, und plaudert kurz mit ihr. Es ist ihre letzte Kundschaft für heute, das fünfte Restaurant an diesem Tag, das sie beliefert. Yoko verteilt ihre kleinen, liebevoll verpackten Schätze, die nach einem guten Essen Freude bringen. Keine Massenware. Jeder einzelne Keks hat Seele, beharrlich lebt Yoko ihren Traum. Sie produziert Glückskekse für Restaurants, Hochzeiten, Firmenevents und Werbeagenturen. Yokos Manufaktur ist erst zwei Jahre alt, sie hat sich aber bereits einen Namen gemacht.

Du musst mir endlich das Rezept verraten, sagt Lin. Das sind die einzigen Glückskekse, die auch schmecken.

Yoko bedankt sich, lädt Lin zum wiederholten Mal ein, sie in ihrer Manufaktur zu besuchen, ihr die Produktion zu zeigen, mit ihr über die kleinen Geheimnisse zu sprechen, die den Teig zu etwas Besonderem machen.

Bist jederzeit willkommen, sagt Yoko.

Dann verabschiedet sie sich. Geht den Weg zurück durch die Küche. Mehrere Hühner liegen jetzt auf der Anrichte. Flügel und Brüste voneinander getrennt, die Innereien in einer Schüssel daneben. Es riecht nach Oystersauce. Der Tellerwäscher lächelt, der Koch aber flucht, weil er sich geschnitten hat und Blut auf den Haufen mit der Hühnerhaut tropft.

Ich hoffe, es ist nicht allzu schlimm, sagt Yoko.

Der Koch unterdrückt sichtbar den Schmerz und lächelt gequält.

Yoko geht weiter. Der kleine Hund fällt ihr wieder ein. Sie würde ihn am liebsten mit nach Hause nehmen, ihm etwas Gutes tun, weil sein Blick so traurig war. Leer und gedemütigt, gefesselt an einer Kette. Yoko möchte ihn losbinden und sofort mit ihm verschwinden, auf der Stelle in ihr Auto steigen und davonfahren.

Als sie wieder auf den Hof kommt und die beiden Männer sieht, ist ihr sofort klar, dass etwas nicht stimmt. Yoko hat die zwei Chinesen hier noch nie zuvor gesehen. Der Größere grinst und reißt an der Hundekette, der Kleinere hat einen Stock in der Hand. Sie ignorieren das Bellen, fachen es noch weiter an.

Rasend schnell verändert sich alles.

Yoko versucht, es zu begreifen.

Nicht, ruft sie.

Doch da schlägt er bereits zu.

Der kleine Hund jault und winselt.

Die beiden Männer lachen. Aus irgendeinem Grund freuen sie sich darüber, dass der Stock das arme Tier erneut trifft.

Einfach so mit voller Wucht.

Das dürft ihr nicht tun.

Yoko kann nicht fassen, was hier geschieht, hat keine Zeit, Hilfe zu holen. Nach Lin zu rufen. Nach dem Koch, den sie in der Küche wieder fluchen hört. Yoko muss handeln, fassungslos schreit sie die beiden Männer an.

Aufhören, verdammt noch mal. Lasst ihn in Ruhe.

Ihre Stimme überschlägt sich. Weil der Stock ein drittes Mal auf den Körper des jaulenden Hundes trifft. Wieder hört Yoko dieses dumpfe Geräusch, die Glieder der Kette, die aneinanderschlagen.

Er hat euch doch nichts getan, kreischt sie.

Und ohne darüber nachzudenken, was es für Folgen haben könnte, geht sie auf die beiden los. Will sie zur Seite drängen, trommelt mit den Fäusten auf sie ein. Doch es ist nur ein hilfloser Versuch, der sinnlosen Gewalt etwas entgegenzusetzen. Mit Leichtigkeit wehren sie Yokos Angriffe ab, die meisten ihrer Schläge gehen ins Leere. Der Größere hält sie spielend auf Distanz, stößt sie immer wieder von sich weg. Was sie tut und sagt, bleibt wirkungslos.

Ihr verdammten Schweine.

Ihr bringt ihn noch um.

Aufhören.

Doch sie machen weiter.

Treten jetzt auf den Hund ein.

Mit den Füßen gegen seinen Kopf.

Er wimmert nur noch leise. Niemand kommt, um zu helfen. Nur Yoko ist da, um sie davon abzuhalten, das unschuldige Geschöpf weiter zu peinigen. Doch alles, was sie tut, macht es nur noch schlimmer. Je lauter und energischer sie protestiert, desto grausamer wird die Qual. Noch mehr Stockschläge und Tritte. Was vor zehn Minuten für Yoko noch unvorstellbar schien, wird jetzt Realität. Das Glück, das Yokos Leben ausfüllte, weicht einer Ohnmacht, die sie so noch nie empfunden hat.

Sie kann nur noch dabei zusehen, wie der kleine Hund am ganzen Körper zittert. Noch ein letztes Mal ein- und ausatmet. Und dann reglos liegen bleibt.

Yoko kniet sich hin.

Berührt das blutige Fell.

Ein paar Sekunden lang steht alles still. Da ist kein Leben mehr. Die traurigen Hundeaugen sind für immer leer. Nichts mehr, was sie tut, kann ihn zurückbringen. Nur noch dieses teuflische Grinsen über ihr bleibt, die Blicke der Peiniger, die noch mehr Unheil ankündigen.

Jetzt bist du an der Reihe, hört sie den einen sagen.

Yoko weiß, dass ihr keine Zeit mehr bleibt. Panisch dreht sie ihren Kopf in alle Richtungen und schaut sich nach einem Fluchtweg um, sie sucht nach einer Möglichkeit, sich zu wehren, sie muss zuschlagen und rennen, solange sie es noch kann. Blitzschnell beugt sich Yoko nach vorne und greift nach der Eisenstange, die halb verdeckt unter einem Müllsack liegt.

Dafür werdet ihr bezahlen, sagt sie.

Doch sie ist zu langsam. Ihr Versuch zu entkommen lächerlich. Noch bevor sie zum Schlag ausholen kann, tritt einer der beiden Männer auf ihre Hand. Der andere reißt sie an ihren Haaren nach hinten.

Nicht wir werden bezahlen, sagt er. Sondern du.

Und woran sie dann denkt

Ihr Vater fällt ihr ein.

Er hat Yoko immer getröstet, wenn ihr etwas zugestoßen ist. Wenn sie sich verletzt hat oder aus einem anderen Grund verzweifelt war. Sie erinnert sich daran, wie leicht es ihm gelang, ihre Tränen verschwinden zu lassen und einen Schleier des Vergessens über alles Dunkle zu legen.

Vertrau mir, meine Kleine. Ich gebe auf dich acht, Yoko.

All die Bilder sind plötzlich wieder da.

Dinge, an die Yoko schon ewig nicht mehr gedacht hat.

Das gemeinsame Schwimmen im Weiher, die Wanderungen durch die umliegenden Wälder, die unfassbar großen Eisbecher, die sie wie Touristen in der Altstadt verschlungen haben.

Yoko hört seine Stimme, als sie wieder zu sich kommt. Gegenwart und Vergangenheit verschwimmen, kurz weiß sie nicht mehr, was wirklich ist und was nicht. Die hämmernden Kopfschmerzen verhindern, dass sich der Nebel lichtet, Yoko spürt nur die Fesseln an ihren Händen und Beinen, ein Knebel steckt in ihrem Mund. Ein stinkendes Stück Stoff, das ihr beinahe den Atem nimmt.

Bitte nicht, sagt sie. Papa, was geschieht mit mir?

Yoko fleht ihn in Gedanken an, sie wünscht sich, dass er ihr sagt, dass alles in Ordnung ist. Er soll diesen Albtraum sofort beenden, flüsternd seinen Zeigefinger auf ihre Lippen legen und ihr die Angst nehmen.

Dir wird nichts passieren, Yoko.

Es ist alles in bester Ordnung.

Und Yoko will ihm glauben.

So wie sie es immer getan hat.

Yoko und Franz. Mit Geduld und Gelassenheit hat er sie großgezogen, nachdem ihre Mutter bei der Geburt gestorben war. Er war ihr Schutzengel, ließ sie darauf vertrauen, dass alles immer so bleiben und nichts ihr Leben aus den Angeln heben würde. Bis zu seinem Tod waren sie aneinander gebunden. Alltag ohne den anderen gab es nicht, bei ihm zu bleiben, war die einzige Option.

Deshalb hat sie auch den Betrieb übernommen.

Lange vor den Glückskeksen wurde Yoko Metzgerin.

Sie war noch keine zwanzig, als sie in die Fußstapfen ihres Vaters trat. Franz war bereits siebzig, aufgrund der harten Arbeit gebrechlich und krank. Krebs, hieß es irgendwann. Ein Abschied auf Raten. Franz wurde immer schwächer, verlor an Gewicht, war nicht mehr in der Lage, das Geschäft alleine weiterzuführen. Yoko kümmerte sich. Seit sie denken kann, war es ein vertrauter Ort, an dem sie sich wohlfühlte. Ihr Spielplatz als Kind waren die Produktionshalle und der Schlachtraum. Die Metzgerei am Rande der Altstadt, das alte Fachwerkhaus, der gepflasterte Vorplatz mit den Tischchen, Stühlen und Sonnenschirmen, der charmante Verkaufsladen mit den beliebten Imbissen und der Innenhof mit direkter Zufahrt für die Anlieferung der Tiere. Yoko war mit alldem verbunden, seit sie laufen konnte, die Fleischerei war ihr Zuhause, diesem Leben den Rücken zuzukehren, kam nicht infrage.

Obwohl sie während der Schulzeit immer wieder über ein Germanistikstudium nachgedacht und manchmal im Internet in den Vorlesungsverzeichnissen gestöbert hatte, entschied sie sich nach dem Abitur für die Metzgerlehre. Zum einen wollte sie ihren Vater nicht im Stich lassen, zum anderen sah sie es als Chance, zu perfektionieren, was sie von klein auf gelernt hatte.

– Ich werde bleiben, auch wenn du versuchst, es mir auszureden. Ob du willst oder nicht, ich werde den Betrieb übernehmen. Und glaub mir, ich mache das gerne.

– Du hast das alles doch schon lange genug mitgemacht. Während andere Mädchen mit Puppen gespielt haben, hast du Würste gestopft, Kaninchen das Fell über die Ohren gezogen und Tiere zerlegt. Ich würde sagen, damit ist jetzt Schluss. Sollte es gesundheitlich mit mir komplett den Bach runtergehen, werde ich den Laden einfach schließen.

– Wirst du nicht. Und weißt du auch, warum? Weil ich mich mit dem Messer in der Hand tatsächlich immer wohler gefühlt habe als mit irgendwelchen Spielsachen. Ist also in Ordnung für mich, dass ich diesen Weg einschlage. Du kannst aufhören, dich zu winden.

– Du willst einen alten Mann pflegen, anstatt in irgendeiner schönen Stadt zur Uni zu gehen?

– Wenn du irgendwann tot bist, kann ich das ja immer noch machen. Solange du aber noch die Kraft hast, mir auf die Nerven zu gehen, werde ich da sein und mich um alles kümmern.

– Kann noch eine Zeit lang dauern, bis ich sterbe.

– Egal, wie lange es dauert.

Sie hatte sich entschieden.

Lehre statt Studium, Bleiben statt Gehen.

Und so hat Yoko die Einbahnstraße, auf der sie sich befand, ein ganzes Leben lang nicht verlassen, hat nie überlegt, eine Abzweigung zu nehmen, hat keinen Tag daran gezweifelt, dass dieser Weg der richtige war. Sie hat sich an den Geruch von Blut, der sich überall im Haus ausbreitete, gewöhnt. Was sie selbst gar nicht mehr wahrnahm, brachte andere oft fast zum Erbrechen. Der leicht süßliche Duft setzte sich in Teppichen und Vorhängen fest, schlich sich in jeden Winkel.

Das Sterben der Tiere gehörte zu Yokos Leben dazu.

Genauso wie das Sterben ihres Vaters.

Sechs Jahre lang hat es gedauert, bis es vorbei war.

Yoko sah zu, wie er verfiel, und führte den Betrieb. In der Arbeit fand sie Erfüllung, bei allem, was sie tat, strebte sie nach Perfektion. Schlachten, Wurst machen, Personalführung, Buchhaltung, Vertrieb. Je schwächer Franz wurde, desto mehr Verantwortung übernahm sie. Yoko verhandelte mit den Bauern aus der Umgebung, stand hinter dem Verkaufstresen, diskutierte mit Franz über Rezepte und Produkterweiterungen. Neue Köstlichkeiten, die Yoko mit ihren Mitarbeitern produzierte, verlangten ihm Respekt ab. Auch noch, als er nur noch dreiundvierzig Kilo wog und kaum mehr etwas essen konnte.

Yoko imponierte ihm bis zum Ende. Ihre Gabe, mit Messern und Zahlen umzugehen, beeindruckte ihn genauso wie die aufopfernde Art, mit der sie sich um ihn kümmerte. Yoko war ununterbrochen für ihren Vater da. Sie funktionierte. Bis zu dem Nachmittag vor zwei Jahren, an dem sie ihn zum letzten Mal umarmte, tat sie, was er von ihr insgeheim erwartete.

– Musst nicht traurig sein, Yoko.

– Bin ich nicht.

– Mein großes, starkes Mädchen.

– Nicht reden. Das strengt dich zu sehr an.

– Vielleicht kannst du mir ja irgendwann verzeihen.

– Ich weiß nicht, was du meinst, Papa. Es gibt nichts zu verzeihen.

Yoko hat nur den Kopf geschüttelt.

Und ihm Morphium verabreicht.

Die Worte verschwanden langsam aus seinem Mund.

Trotzdem hat sie ihn immer noch gehört.

Musst keine Angst haben, Yoko.

 

Gefesselt und geknebelt auf der Ladefläche ihres Lieferwagens, sieht sie ihren Vater wieder vor sich. Hört seine Stimme.

Dieses Flüstern.

Leise die vertrauten Sätze.

Du bist meine kleine Prinzessin.

Und Prinzessinnen weinen nicht.

Was sie fühlt

Tränen rinnen aus ihren Augen.

Yoko kann sich nicht mehr dagegen wehren, nicht abwenden, was kommt. Die Gewissheit, dass sie das Schlimmste noch vor sich hat, verdrängt alles andere.

Die kleine Prinzessin hat jetzt panische Angst.

Man hat sie bewusstlos geschlagen, ihre Hände und Füße zusammengebunden und auf die Ladefläche geworfen. Verzweifelt wirft sich Yoko hin und her, doch sie kann nichts ausrichten, die Fesseln nicht lösen, sie ist wehrlos. Die Eisenstange, mit der sie zuschlagen wollte, haben sie ihr aus der Hand gerissen. Der kleine Funken Hoffnung, dass sie noch davonkommen könnte, ist ausgelöscht, ihre Wut erstickt, der Versuch, den Ungeheuern zu entkommen, gescheitert.

Du warst zur falschen Zeit am falschen Ort, Yoko.

Wäre sie zehn Minuten früher zum Restaurant gekommen, wäre sie jetzt auf dem Weg zu Maren und würde gleich in den Arm genommen werden. Sie hätte das Jaulen des Hundes nicht gehört, niemand hätte sie an den Haaren gezogen und ihren Kopf mit Wucht auf den Boden geschlagen.

Taub und kalt fühlt sich alles an.

In ihrem Schädel pocht es. Mit jedem Meter, den sie als Gefangene in ihrem eigenen Wagen zurücklegt, wird die Gewissheit größer, dass dieser Abend kein gutes Ende nehmen wird. Es wird kein Abendessen mit Maren geben, keine unbeschwerte Unterhaltung. Wenn sich Yoko vorstellt, was gleich passieren wird, bekommt sie kaum noch Luft.

Yoko weiß, dass sie mittlerweile den Wald erreicht haben, sie kennt die Wege in ihrer Stadt, die Entfernungen. Blind könnte sie von einem Ende zum anderen laufen, von der Unter- in die Oberstadt, den Fluss entlang, der so selbstverständlich und vertraut alles miteinander verbindet. Die Altstadt im Zentrum, die Industrieviertel an den Rändern.

Yoko ist hier aufgewachsen, sie weiß, wo die Chinesen mit ihr hinwollen. Bald wird der Wagen, den die beiden Chinesen zuerst aus der Stadt hinaus und dann ein kurzes Stück über die Landstraße gelenkt haben, anhalten. Sie kann hören, wie die Reifen über den Schotter rollen, spürt die Schlaglöcher, der Lieferwagen wackelt hin und her, beinahe im Schritttempo wird Yoko zu ihrer eigenen Hinrichtung gefahren. An einen Platz, an den an Wochentagen zu dieser Uhrzeit selten jemand hinkommt. Keine wandernden Touristen, keine Familien auf der Suche nach Pilzen, keine Jäger und Waldarbeiter. Am Ende dieser Wege ist nur noch Stille. Eine idyllische Lichtung, an der Yokos Leben enden wird. Zumindest das Leben, wie sie es kannte.

Die zwei Männer haben, ohne zu zögern, einen Hund getötet, Yoko bewusstlos geschlagen, sie entführt und ihr Auto gestohlen. Sie haben mit spielerischer Leichtigkeit Grenzen überschritten und Yoko noch im Hof unmissverständlich wissen lassen, was sie mit ihr vorhaben. Bevor sie hinter dem Chinarestaurant ihr Bewusstsein verloren hat, haben sich die beiden gegenseitig angestachelt und über die flachbrüstige Tierschützerin lustig gemacht, sich an dem Mädchen ergötzt, das eigentlich hätte ein Junge sein können. Keine Titten, zu wenig Arsch, Kurzhaarfrisur.

Geilheit und Gier waren in ihren Augen.

Einem Gewaltrausch gaben sie sich hin.

Wir werden dich ficken, Mädchen.

In perfektem Deutsch haben sie es gesagt. Langsam, klar und deutlich. Sie wollten sichergehen, dass Yoko jedes Wort versteht. Haben ihr klargemacht, dass sie nicht ungestraft davonkommen wird. Dass es klüger gewesen wäre, sich nicht einzumischen. Yoko war naiv und dumm, sie ist geblieben, anstatt davonzulaufen, unbedarft hat sie einen Fehler gemacht, für den sie jetzt teuer bezahlen wird.

Du hättest einfach in dein Auto steigen sollen, sagt sie sich. Dann wärst du jetzt in Sicherheit. Müsstest keine Angst haben. Nicht mit dem Schlimmsten rechnen. Du hast es versaut, Yoko.

Sie weiß, dass niemand die Uhr zurückdrehen kann. Verhindern, was kommen wird. Auch wenn Yoko in diesem Moment alles dafür geben würde, es gibt keine Erlösung, es bleibt nur der verzweifelte Wunsch, noch einmal zu dem Augenblick zurückzukehren, in dem sie das chinesische Restaurant verlassen hat. Mit gesenktem Blick würde sie an den beiden Männern vorübergehen, ohne in den Rückspiegel zu schauen, davonfahren. Das blutige Fell des Hundes hätte sie nie berührt.

Warum nur hast du dich eingemischt, Yoko?

Jedes Wort, das sie zu den beiden gesagt hat, war Auslöser für einen Tritt, einen Hieb. Jeder Faustschlag von ihr, der an ihnen abprallte, hatte die beiden Chinesen angetrieben weiterzumachen. Sie dazu gebracht, Yoko über den Boden zu schleifen und mit ihr an einen Ort zu fahren, an dem niemand sie schreien hören wird.

Keiner wird kommen.

Um ihr zu helfen.

Das Glück von früher

Die Beerdigung war wunderschön.

Diese Traurigkeit, die sich über den Friedhof legte. Mehrere Hundert Menschen standen an seinem Grab. Yoko hatte das Gefühl, dass die halbe Stadt ihm die Ehre erwies. Jahrzehntelang hatte er sie mit Bierhaxen und Bratwürsten versorgt, am Ende zeigten sie sich dankbar. All seine Freunde und viele seiner Kunden waren da, um Lebewohl zu sagen, überall lagen Blumen. Auf den Schleifen stand sein Name.

Unser geschätzter Franz.

Liebender Vater.

Für immer in unserem Herzen.

Seine Lieblingsmusik wurde gespielt.

John Lennon.

Imagine.

Yoko erinnert sich daran, wie er es ihr damals erklärt hat.

Mit fünfzehn Jahren, als sie nicht nur seinen Musikgeschmack infrage stellte, sondern auch sich und den Rest der Welt. Sie versuchte, gegen die Entscheidungen, die ihr Vater für sie treffen wollte, zu rebellieren, immer wieder legte sie sich mit ihm an, wollte ihm zeigen, was sie fühlte und beschäftigte. Yoko war zur Frau geworden und überfordert damit. An manchen Tagen war sie freundlich und wütend zugleich.

– Ich weiß, wie sehr du diesen Spinner mit der Nickelbrille verehrst, aber ich kann diese schmalzigen Songs nicht mehr hören. Das ist Gehirnwäsche, was du mit mir machst.

– Lennon hat deiner Mutter und mir sehr viel Freude bereitet. Wir waren verrückt nach seiner Musik. Wir haben manchmal die ganze Nacht lang dazu getanzt.

– Ihr wolltet also lieber einen Jungen?

– Was meinst du damit?

– Dass ich ein Mädchen geworden bin, hat dummerweise eure Pläne durchkreuzt.

– Wie kommst du darauf?

– John hat gesungen, nicht Yoko.

– Aber John hat Yoko geliebt.

– Und? Nur weil zwei Promis in den Siebzigerjahren Sex hatten, heiße ich jetzt wie eine japanische Reissuppe?

– Ach, Yoko.

– Ich meine das ernst. Yoko hat die Beatles gesprengt, wegen ihr haben sich Millionen Menschen die Augen ausgeheult.

– Deine Mutter hat sich diesen Namen für dich gewünscht. Wenn du ein Junge geworden wärst, hättest du John geheißen. Doch dann ist ihr Traum wahr geworden.

– Ihr Traum?

– Sie wollte unbedingt ein Mädchen. Immer schon. Sie hat gesagt, dass du das Beste bist, das ihr jemals passiert ist. Schon in der Schwangerschaft. Sie war so glücklich. Und am Ende hat sich ihr Wunsch erfüllt.

– Sie hat sich also gewünscht, dass sie bei der Geburt stirbt? Es war ihr Plan, mich mit dir allein zu lassen? War es wirklich das, was sie wollte?

– Was redest du denn da?

– Sie hätte verdammt noch mal nicht sterben dürfen.

Er hat geweint damals.

Hat seine geliebte Frau vermisst und sie zu einer Ikone gemacht, deren Bilder an der Wand in seinem Schlafzimmer hingen. Fotografien, mit denen Yoko aufgewachsen ist. Mutter in der weißen Schürze hinter dem Verkaufstresen, Mutter im Sommerkleid im Biergarten am Fluss, Mutter schwanger mit einem Besen in der Hand vor der Metzgerei. Franz hatte eine verklärte Vorstellung von ihr. Und ließ sie nicht los.

Selbst mit einem Baby im Bauch war sie noch stark.

Bis zum Tag der Geburt stand sie im Laden.

Sie war nicht nur hübsch, sondern auch fleißig.

Wenn er von ihr erzählte, hat er gestrahlt. Die Erinnerungen an sie wurden mit den Jahren immer schöner. Ein Leben lang stand Yokos Mutter auf einem unsichtbaren Altar, an dem Franz bei jeder Gelegenheit kniete. Er lebte mehr in der Vergangenheit als in der Gegenwart, gab Yoko das Gefühl, dass die Mutter, die sie nie hatte, das Wichtigste in seinem Leben war.

Du erinnerst mich so an sie, hat er immer gesagt. Siehst aus wie sie. Bewegst dich wie sie. Ich liebe dich, Yoko.

So oft hat er das zu ihr gesagt. Und irgendwann beschlich Yoko das Gefühl, dass er ihre Mutter meinte und nicht sie. Je älter sie wurde, desto ähnlicher sah sie ihr. Wenn Yoko ihre Sommerkleider trug, die Franz für sie all die Jahre aufbewahrt hatte, glich sie der Frau auf den Fotos wie eine Sonnenblume der anderen. Auch ihre tiefe Stimme, ihre Mimik erinnerte an sie, die große Liebe ihres Vaters lebte weiter.

Auf gewisse Weise hat Yoko ihre Mutter ersetzt. War ihrem Vater wie eine Gefährtin. Seit Yoko denken kann, waren sie nie getrennt gewesen, Franz war wie eine Haut, die sie einhüllte, die sie nie abstreifen konnte, egal, wie sehr sie es auch versuchte. Ihn zu hassen oder zu verachten, gelang ihr nicht. Sich von ihm zu lösen. Egal, was er tat und sagte, Yoko blieb bei ihm. Andere in ihrem Alter zogen in neue Städte, in fremde Länder, aber sie wollte nicht fort. Sie waren immer zu zweit, Yoko konnte es sich nicht anders vorstellen, als dass es so blieb.

Im ersten Stock über der Metzgerei hatten sie sich nebeneinander eingerichtet, er in seiner Wohnung, sie in ihrer. Yoko hatte auf ihre eigenen vier Wände bestanden, als sie achtzehn geworden war, doch alles floss ineinander. Arbeit, Wohnen, Freizeit, Pflege, die sich aufopfernde Tochter war immer für den Vater da, sie wusch und kochte für ihn, versorgte am Ende seinen wund gelegenen Körper, las ihm vor, dosierte seine Medikamente.

Was sie tat, musste sie tun.

Auch wenn sie manchmal davonlaufen wollte, klammerte sie sich all die vielen Jahre an das Bild der schönen Familie, sie kratzte nicht daran, wollte um keinen Preis sehen, was unter der Oberfläche lag. Yoko sang immer dieselben Lieder, folgte ihren Routinen, es war so, als hätte sie jahrelang die Luft angehalten und gelächelt, obwohl ihr nicht danach war.

Erst als Franz unter der Erde lag, war es vorbei. Sie atmete sie zum ersten Mal aus. Wollte mutig sein, ohne ihn neu anfangen, die gewohnten Pfade verlassen. So gerne sie ihre Arbeit in der Metzgerei auch machte, es war endlich Zeit für Veränderung.

In den Wochen nach dem traurigen Abschied hat sie nicht nur aus einem Impuls heraus aufgehört, Fleisch zu essen, sondern auch überlegt, was der nächste Schritt in ihrem Leben sein könnte. Sie haderte mit sich, ob sie aus der vertrauten Sicherheit ausbrechen und endlich etwas tun sollte, das nur ihr allein wichtig war. Schließlich folgte sie ihrem Bauchgefühl und verabschiedete sich von ihren Angestellten.

Sie hatten es ohnehin kommen sehen, dass ihre Arbeitsverhältnisse enden würden, wenn Franz nicht mehr da war. Die meisten unterschrieben bei anderen Betrieben, Yoko tat alles dafür, jeden Einzelnen dabei zu unterstützen und dafür zu sorgen, dass die Kündigungen keine Dramen verursachten. Sie zahlte großzügige Abfindungen und richtete ein Abschiedsfest aus. Im liebevoll mit Wimpelketten und Lampions geschmückten Innenhof ließen sie Franz an einem schönen Herbstabend unter dem großen Nussbaum noch einmal gemeinsam hochleben, in Erinnerung an ihn erzählten die Älteren Geschichten aus der Anfangszeit des Betriebes. Ein sehr emotionaler Abend war es, viele Tränen flossen. Nicht nur die Verkäuferinnen aus dem Laden zeigten ihre Gefühle, sondern auch die gestandenen Metzger.

Es war ein Neubeginn für alle.

Die Gerätschaften wurden ein letztes Mal gereinigt und stillgelegt, wie im Winterschlaf warteten sie darauf, dass Yoko sie vielleicht irgendwann verkaufte. Noch aber brachte sie das nicht übers Herz. Blitzsauber standen die Maschinen herum und wurden zu stummen Zeugen der Zukunft. Die Schlachthalle sollte von nun an eine andere Bestimmung bekommen. Welche, das blieb noch ein paar Wochen lang offen. Am Ende entschied der Zufall.

Der Geruch von Blut wich dem von Mürbteig.

Yoko hatte dieses Inserat im Internet gesehen.

Glückskeksfabrik zu verkaufen.

Gerätschaften zur Herstellung des beliebten Gebäcks.

Backofen, Rühr- und Verpackungsmaschinen.

Ein Pensionist hatte die Geräte bei Gericht ersteigert und wollte sie weiterverkaufen. Yoko fuhr vierhundert Kilometer, um sich anzusehen, worauf sie ihre Zukunft bauen wollte. Auf der Autofahrt malte sie sich aus, wen sie alles beliefern und welche Teige sie zubereiten könnte, und sie träumte davon, ihre geheime Leidenschaft auf gewisse Weise zum Beruf zu machen. Das Schreiben.

Yoko wollte etwas schaffen, kreativ sein, liebevoll und behutsam mit Worten umgehen. Das Studium, das sie sich Jahre zuvor erträumt hatte, war zwar kurz wieder in ihren Fokus gerückt, doch sie hatte sich erneut dagegen entschieden. Sie fühlte sich zu alt dafür, wollte nicht mit um Jahre Jüngeren in Hörsälen sitzen und am Hungertuch nagen. Dennoch sehnte sich Yoko danach, mit Texten zu arbeiten.

Dichten statt Schlachten.

Aus der Metzgerei sollte eine Glückskeksmanufaktur werden. Wo früher die Schweinehälften hingen, sollten in Zukunft Eier, Milch und Butter lagern. Yoko wollte Freude in die Gesichter derjenigen zaubern, die ihre Kekse auseinanderbrachen. Sie wollte Texte verfassen, die nachdenklich und fröhlich zugleich stimmten. Keine vorgefertigten Sprüche sollten es sein, sondern literarische Miniaturen, die eine Maschine präzise in die Schlitze der frisch gebackenen Glücksmuscheln schob. Kleine Kunstwerke, die Yoko auf bunte Papierchen drucken, zusammenfalten und in die Welt hinausschicken wollte.

Sie spürte, dass es das Richtige sein würde, hatte aber gleichzeitig Angst davor, eine falsche Entscheidung zu treffen. Sie war hin- und hergerissen und ließ den Zufall entscheiden. Eine Euromünze aus Finnland, Yoko warf sie hoch und fing sie in ihrer Handfläche wieder auf. Sie hatte sich für die Seite mit den Vögeln entschieden, Schwäne, die über eine Seenlandschaft fliegen, alles roch nach Freiheit und Neubeginn in diesem Moment.

Yoko bezahlte in bar. Lud die Geräte in ihren Lieferwagen und fuhr zurück in ihre Stadt. In dem denkmalgeschützten Fachwerkhaus, das nun ihres war, schlug Yoko ein neues Kapitel auf.

Zwei Jahre lang meinte es das Leben gut mit ihr.

Etwas Schönes begann.

Jetzt endet es.

Wie es zerbricht

Der Knebel in ihrem Mund nimmt ihr jede Hoffnung.

Da ist kein Satz mehr, der es besser macht. Nichts mehr, das die Angst vertreibt. Nur die Furcht vor den Männern vorne im Fahrerraum. Yoko hört sie lachen. Ausgelassen amüsieren sie sich, so als würden sie einen Ausflug machen, fahren sie immer noch unbeschwert durch den Wald. Voller Vorfreude auf das, was Yoko bevorsteht. Die Frau auf der Ladefläche, die sich nach wie vor hin und her wirft und verzweifelt versucht, ihre Fesseln zu lösen.

Niemand, der den Wagen über die Forststraße holpern sieht, ahnt, dass etwas Furchtbares passieren wird. Sollte tatsächlich noch jemand da draußen in der Dämmerung unterwegs sein, würde er es einfach nur mit einem Schmunzeln zur Kenntnis nehmen, dass Glückskekse durch den Wald gefahren werden. Das Firmenlogo prangt in Schönschrift am Wagen, man würde den beiden Männern im Fahrerraum lediglich im Vorüberfahren freundlich zuwinken.

Egal, wie oft Yoko es durchspielt, was in den nächsten Minuten passieren könnte, es endet immer in einer Katastrophe. Sie kann die Lawine, die auf sie zurollt, nicht stoppen, ihre Tritte gegen die Laderaumtür zeigen keine Wirkung. Nur ein letztes sinnloses Aufbäumen ist es. Yoko bleibt nur noch, auf ein Wunder zu hoffen. Dafür zu beten, dass die Männer im letzten Moment doch noch zur Vernunft kommen. Sie redet sich ein, dass sie ihr nur Angst machen wollen, dass sie auf keinen Fall weiter gehen werden, als sie es schon getan haben.

Die einzige Möglichkeit, nicht durchzudrehen, ist, an Rettung zu glauben. Ein Förster wird vielleicht das Motorengeräusch hören, er wird an der Stelle vorbeikommen, an der die beiden Peiniger den Wagen anhalten. Pflichtbewusst wird er nach einer Fahrgenehmigung fragen, hören, wie Yoko gegen das Blech trommelt, und sie befreien. Ihr die Fesseln abnehmen und sie nach Hause bringen. Die Peiniger werden bestraft, und Yoko wird mit einem blauen Auge davonkommen.

Es ist das schöne Ende eines grausamen Märchens.

Yoko schreibt es in Gedanken um, kurz bevor der Lieferwagen zum Stehen kommt. Sie presst ihre Augenlider aufeinander und fleht, dass sie aus diesem Albtraum erwacht. Dass jemand anderes die Tür zum Laderaum öffnen wird. Nur noch langsam drehen sich die Räder, immer unwegsamer wird das Gelände, die Fahrt wird in den nächsten Sekunden enden.

Yoko betet.

Obwohl sie nie gläubig war, bittet sie jetzt Gott um Hilfe, sie wimmert und winselt wie der kleine Hund, kurz bevor er erschlagen wurde. Alles würde Yoko in diesem Moment dafür geben, um zu entkommen. Das Haus, jeden Cent auf ihrem Konto, die Goldmünzen ihres Vaters. Für ein rettendes Lächeln würde sie auf tausend andere Dinge verzichten, für eine Umarmung und ein bisschen Trost.

In der Sekunde, in der der Motor verstummt, wünscht sich Yoko nichts mehr, als mit Maren Hand in Hand durch den Schlosspark zu spazieren, mit ihr am Brunnenrand neben den wasserspeienden Löwen zu sitzen und die Füße ins Wasser hängen zu lassen. Dort haben sie sich zum ersten Mal geküsst. Ihre Lippen haben sich berührt, sie hat Maren geschmeckt und gerochen, Yoko wollte, dass dieser Moment nie endet. Dass diese Nähe nie aufhört. Marens Lächeln. Das Herzklopfen und diese Blicke, die sie sich schenkten. Yoko holt die Bilder von diesem Nachmittag in ihren Kopf zurück, die Erinnerung daran soll sie betäuben und den Schmerz lindern.

Yoko verschwindet einfach.

Ihr Körper ist noch da.

Aber ihr Geist ist bereits fort.

Beinahe ist es so, als würde sie alles aus der Ferne beobachten, als hätte es nichts mehr mit ihr zu tun, was geschieht.

Yoko kann es nur noch hinnehmen.

Sie hört Vögel zwitschern.

Und wie die Chinesen aus dem Wagen steigen.

Mit einem Ruck öffnen sie die Heckklappen.

Zerren Yoko mit Gewalt nach draußen.

Und reißen ihr die Kleider vom Leib.

Und ihre Haut schreit

Drei Jahre zuvor stand Yoko vor dem Spiegel.

Sie atmete zufrieden ein und aus und betrachtete zum allerersten Mal in Ruhe das Kunstwerk auf ihrem Körper. Azad hat ein Gemälde gemalt, unzählige Stunden hat er Nadeln in ihre Haut gestochen. Die Schmerzen waren beinahe unerträglich gewesen, mehrmals wollte Yoko abbrechen, doch sie hat durchgehalten. Sich von Stunde zu Stunde mehr mit den Blumen auf ihrem Körper angefreundet.

Grüne Blätter.

Blüten in Rot und Orange.

Japanische Pfingstrosen auf ihren Hüften, ihrem Brustkorb, ihrem Arm. Rosen ohne Dornen. Yoko hatte sich dafür entschieden, weil sie ein Blumenmeer in ihrem Spiegelbild sehen wollte. Ein Motiv aus dem Land, aus dem ihr Name kommt. Nichts Bedrohliches, bunt sollte es sein und fröhlich. Als ihr Vater bettlägerig wurde und sein Gesundheitszustand keine Hoffnung mehr zuließ, entschied sie sich für Veränderung, sie wollte die Stimmung des Sterbens im Haus zurückdrängen und das Leben auf ihrer Haut spüren.

Yoko begann zu leuchten.

Modetrends sind ihr nie wichtig gewesen, bis auf ihre Lederjacken gibt es nichts in ihrem Kleiderschrank, an dem Yoko hängt. Yoko trägt nie etwas Extravagantes, immer nur Jeans und T-Shirts, keine Ohrringe, keine Halsketten und Armbänder, keine Handtaschen, nie Kleider. Plötzlich aber schmückte sie sich.

Sie mochte, was sie im Spiegel sah. War stolz auf das, was Azad mit bunter Tinte gezaubert hatte. Drei Tage lang gab er sich die größte Mühe, um Yoko glücklich zu machen. Monatelang hatte er seine Fähigkeiten perfektioniert, das Tätowieren mit Hingabe geübt, Yoko hatte ihm regelmäßig zugesehen und Vertrauen gefasst. Obwohl Azad noch nicht einmal sechzehn war, als er Yoko tätowiert hat, war sein künstlerisches Talent schon beeindruckend.

Vor etwa dreieinhalb Jahren, als die Metzgerei noch voll in Betrieb war, ist Azad irgendwann bei ihr aufgetaucht. Ein gelassener, leicht übergewichtiger Teenager, der sich um einen Job bewarb. Er war mit seiner Mutter in die unmittelbare Nachbarschaft gezogen, nur ein paar Häuser weiter wohnten sie in einer kleinen Zweizimmerwohnung mit Blick auf die Straße und die Metzgerei.

Warum in einer Metzgerei?, hat Yoko gefragt.

Warum nicht?, hat er geantwortet und gestrahlt.

Dass er die Schule abgebrochen hatte, verheimlichte er zunächst.

Dass es ihm in erster Linie um die Schweinehaut ging, die er zum Üben brauchte, ebenso.

Er zeigte sich einfach nur dankbar dafür, dass Yoko ihn eingestellt und vom ersten Moment an ins Herz geschlossen hat. Azad tat alles, um im Schlachtraum eine gute Figur zu machen, er hatte keine Berührungsängste, ekelte sich nicht vor den Gerüchen, dem Blut, den Innereien, die er bereits nach kurzer Zeit aus den Leibern der toten Tiere holen musste. Der Alltag im Schlachtraum gefiel ihm, er assistierte überall, wo Not am Mann war, für keine Arbeit war er sich zu schade. Er war fleißig und froh darüber, wenn er Überstunden machen konnte. Erst nach ein paar Wochen verstand Yoko, warum.