Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Youma ist jung, schön und stolz, nur frei ist sie nicht. Ihre Mutter ist eine »da«, die Amme in einem Haus reicher weißer Kreolen auf Martinique. Sie genießt Respekt und Privilegien, aber auch wenn sie und Youma zur Familie gehören, sind sie Sklavinnen.Als die Tochter des Hauses kurz nach der Hochzeit und der Geburt eines Mädchens stirbt, wird Youma zur »da« der kleinen Halbwaise. Wie eine Mutter zieht sie Mayotte auf, tröstet sie mit den fabelhaften Geschichten kreolischer Volksmärchen, wird ihr zur Lebensretterin. Als in dem Dorf und auf der Plantage inmitten tropischer Vegetation ein Sturm des Aufruhrs über die Gesellschaft aus Freien und Unfreien hereinbricht, ist Youma gezwungen, eine folgenreiche Entscheidung zu treffen.»Youma« ist Lafcadio Hearns zweiter Roman, ein weiteres vergessenes Meisterwerk der amerikanischen Literatur. Und zugleich ein Klassiker der französisch-kreolischen Literatur, geschrieben von einem Mann, dessen Lebensweg von Griechenland über die Karibik bis nach Japan reicht und der mit jedem seiner Bücher den Begriff »Weltliteratur« neu erfunden zu haben scheint.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 151
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Youma
Die Originalausgabe mit dem Titel »Youma. The Story of a West-Indian Slave« erschien 1890 bei Harper & Brothers, New York Umschlagbild: Marie-Guillemine Benoist, Portrait d’une négresse © 2016 Jung und Jung, Salzburg und Wien Alle Rechte vorbehalten ISBN 978-3-99027-079-0
LAFCADIO HEARN
Die Geschichte einer westindischen Sklavin
aus dem Englischen übersetzt und herausgegeben von Alexander Pechmann
Für meinen FreundJoseph S. Tunison1
Die da hatte einst, in der Kolonialzeit, in den reichen Familien auf Martinique einen hohen Rang. Die da war für gewöhnlich eine kreolische Negerin, hatte jedenfalls öfters eine dunklere als eine hellere Haut, war eher eine capresse 2 als eine mestive3, doch in ihrem besonderen Fall galten die Vorurteile der Hautfarbe nicht. Die da war eine Sklavin, doch keine Freie, wie schön oder kultiviert sie auch sein mochte, genoss gesellschaftliche Privilegien, die jenen gewisser das gleichkamen. Die da wurde als Mutter respektiert und geliebt; sie war zugleich Ziehmutter und Amme. Denn das kreolische Kind hatte zwei Mütter: die aristokratische weiße Mutter, die es geboren hatte; die dunkelhäutige Sklavenmutter, die es versorgte – die es fütterte, die es badete, die es die sanfte und melodische Sprache der Sklaven lehrte, die es auf den Armen trug, um ihm die schöne Welt der Tropen zu zeigen, die ihm abends wundervolle Märchen erzählte, die es in den Schlaf wiegte, die sich Tag und Nacht um jedes seiner Bedürfnisse kümmerte. Es verwundert nicht, dass die da in der Kindheit mehr geliebt wurde als die weiße Mutter: Wenn irgendwelche Vorlieben erkennbar waren, so fielen sie fast immer zugunsten der da aus. Das Kind war viel öfter bei ihr als bei seiner richtigen Mutter: Nur sie befriedigte all seine kleinen Wünsche; es fand sie nachsichtiger, geduldiger, vielleicht sogar zärtlicher als die andere. Die da war im Herzen selbst ein Kind, sprach eine Kindersprache, hatte Freude an kindlichen Vergnügungen – ungekünstelt, verspielt, liebevoll; sie verstand die Gedanken, die Beweggründe, die Kümmernisse, die Fehltritte des Kleinen, wie es die weiße Mutter nicht immer vermochte: Sie wusste intuitiv, wie sie es bei jeder Gelegenheit beruhigen konnte, wie sie es unterhalten, seine Einbildungskraft wecken und ihm schmeicheln konnte; zwischen ihren Naturen herrschte absolute Harmonie – eine glückliche Gemeinschaft der Vorlieben und Abneigungen, ein vollkommener Einklang animalischer Lebenslust. Später, sobald das Kind alt genug war, von einem Tutor oder einer Gouvernante unterrichtet zu werden, um Französisch zu lernen, begann sich die Zuneigung zur da und die Zuneigung zur Mutter entsprechend der geistigen Entwicklung voneinander zu unterscheiden; doch obwohl die Mutter nun vielleicht mehr geliebt wurde als zuvor, wurde die da nicht weniger geschätzt. Die Liebe zur Amme währte das ganze Leben; und die Beziehung der da zur Familie wurde selten beendet – außer in jenen grausamen Fällen, wenn sie an einen anderen Sklavenhalter nur »vermietet« wurde.
Oft wurde die da der Familie auf dem Gut geboren; unter demselben Dach würde sie vielleicht zwei Generationen als Amme dienen. Wenn die Familie wuchs und sich trennte – wenn die Söhne und Töchter erwachsen und selbst Väter und Mütter wurden –, versorgte sie nicht selten all deren Kinder abwechselnd. Sie verbrachte ihren Lebensabend mit ihren Herren: Obwohl sie Privateigentum war, hätte es beinah als schändlich gegolten, sie zu verkaufen. Wurde ihr aus Dankbarkeit die Freiheit geschenkt – pour services rendus4 –, dachte sie nicht daran, sich ein eigenes Zuhause zu schaffen: Für sie hatte Freiheit nur einen geringen Wert, es sei denn, sie überlebte jene, denen sie zugetan war. Sie hatte eigene Kinder, denen sie eher die Freiheit wünschte als sich selbst und um deren Befreiung sie rechtmäßig bat, da sie so viele ihrer mütterlichen Freuden dem Wohl fremder Kinder geopfert hatte. Sie war selbstlos und hingebungsvoll in einem Maß, das selbst eiserne Gemüter zwang, ihr dankbar zu sein; sie repräsentierte den höchsten Grad natürlicher Güte, der von einem ungebildeten Volk erreicht werden konnte, das man durch Knechtschaft in einem Zustand halber Wildheit hielt, das körperlich jedoch durch Klima, Umwelt und all die rätselhaften Einflüsse, die die Eigenschaften der Kreolen formten, auf bemerkenswerte Weise verschönert wurde.
Die da gehört bereits der Vergangenheit an. Ihr besonderer Schlag war ein Produkt der Sklaverei, größtenteils durch Selektion erzeugt: die einzige Schöpfung der Sklaverei, deren Verlust man vielleicht bedauern könnte – eine seltsame Blüte inmitten des üppig wuchernden dunklen Gestrüpps, das jener bitteren Erde entsprang. Im Grunde war es nicht die Luft der Freiheit, die das Überdauern jenes Schlages verhinderte; doch mit der Freiheit kamen viele unvorhergesehene Veränderungen: Eine große Wirtschaftsflaute im Zuge ausländischer Rivalitäten und neuer Erfindungen – kurzum, eine Finanzkrise – begleitete die Einführung des allgemeinen Wahlrechts, die Unterwerfung des weißen Teils der Bevölkerung durch die Schwarzen in einer Revolution und die vollkommene Auflösung der alten Gesellschaftsordnung. Die Umwälzung war zu gewaltsam, um zu guten Ergebnissen zu führen; der Missbrauch politischer Macht, die zu rasch und zu willkürlich übertragen wurde, vergrößerte den alten Hass und ließ neuen entstehen; die Völker trennten sich unwiderruflich, als sie einander am meisten brauchten. Auch die immer schwieriger werdenden Lebensbedingungen leisteten der Selbstsucht Vorschub: Großzügigkeit und Wohlstand verschwanden Hand in Hand; der kreolische Alltag verlief nun in engeren Bahnen, und die Wesenszüge aller Klassen verhärteten sichtlich unter dem Druck bislang unbekannter Nöte.
… Die das sind tatsächlich verschwunden: Heute gibt es nur noch gardiennes oder bonnes5 – Ammen, die ihre Stelle selten länger als drei Monate behalten können. Loyalität und Schlichtheit der da sind sprichwörtlich geworden: In der neuen Generation bezahlter Hausangestellter sucht man vergeblich nach etwas in der Art! Doch von denen, die einst das waren, sind manche unter uns und tragen immer noch diesen Namen, der, einmal vergeben, lebenslang als Ehrentitel geführt wird. In Saint Pierre kann man noch einige von ihnen treffen … Zum Beispiel steht ein wunderschönes Haus an der seewärtigen Seite der Grande Rue, auf dessen Marmorstufen man an fast jedem heiteren Morgen eine uralte Negerin sehen kann, die die Sonne liebt. Das ist Da Siyotte. Reiche Herren von hohem Rang, Kaufleute und Richter, grüßen sie im Vorübergehen. Vielleicht sieht man die Männer der Familie, den ergrauten alten Vater und seine gutaussehenden Söhne, stehenbleiben und einen Moment lang mit ihr plaudern, bevor sie in ihre Büros gehen. Vielleicht sieht man junge Damen, die sich zu ihr hinabbeugen und sie küssen, bevor sie in ihre Kutschen einsteigen und fortfahren. Man würde feststellen – wenn man lange genug verweilt –, dass alle Besucher sie mit einem Lächeln begrüßen und sich freundlich erkundigen: »Coument ou yé, Da Siyotte?« 6 … Wehe dem Fremden, der sie grob anspricht, in dem Glauben, sie sei nur eine Dienerin! … » Si elle n’est qu’une domestique«, sagte der Hausherr, so jemanden zurechtweisend – »alors vous n’ êtes qu’un valet!«7 Denn wer die da beleidigt, beleidigt die ganze Familie. Stirbt sie, bekommt sie ein Begräbnis, wie man es für Geld allein nicht bekommen kann; ein Begräbnis der première classe8, auf dem sich die reichsten und stolzesten Bürger versammeln. Es gibt Plantagenbesitzer, die an jenem Tag einen Ritt von zwanzig Meilen über die Berge auf sich nehmen, um als Sargträger zu fungieren. Es gibt Damen, die man kaum je auf dem Bürgersteig sieht, die selten ausgehen und dann nur in ihren Kutschen, aber in der Sonnenglut dem Sarg jener alten Negerin zu Fuß folgen, den ganzen Weg bis zum Cimetière du Mouillage. Und sie bestatten ihre da in der Familiengruft, während die Kronen der großen Palmen zum Geläut der bourdon9 erbeben.
Einige alte Leute, die in Saint Pierre leben, erinnern sich noch an Youma, eine große capresse, Eigentum von Madame Léonie Peyronnette. Die Dienerin war bekannter als die Herrin; denn Madame Peyronnette ging nach dem Verlust ihres Mannes, eines reichen Kaufmanns, der sie in mehr als annehmlichen Lebensverhältnissen zurückgelassen hatte, nur selten aus.
Youma war eine Lieblingssklavin und zudem das Patenkind von Madame Peyronnette: In der Zeit des alten Regimes war es für kreolische Damen nicht ungewöhnlich, Patinnen kleiner Sklaven zu werden. Youmas Mutter Douceline hatte man als da für Madame Peyronnettes einziges Kind, Aimée, gekauft – und sie starb, als Aimée fast fünf Jahre alt war. Die beiden Kinder waren beinahe gleich alt und schienen einander sehr zugetan: Nach Doucelines Tod beschloss Madame Peyronnette, die kleine capresse als Spielgefährtin für ihre Tochter großzuziehen.
Die Veranlagungen der beiden Kinder waren bemerkenswert verschieden; und als sie größer wurden, traten die Unterschiede noch deutlicher hervor. Aimée war gefühlvoll und zärtlich, empfindsam und leidenschaftlich – sie schwankte zwischen Freude und Kummer, Tränen und Lächeln. Ganz anders Youma, die eher schweigsam war und selten Gefühle zeigte; sie spielte still, wenn Aimée schrie, und lächelte kaum, wenn Aimée so lauthals lachte, dass ihre Mutter erschrak. Trotz dieser unterschiedlichen Temperamente, oder vielleicht gerade deswegen, kamen die beiden sehr gut miteinander aus: Sie hatten nie einen ernsten Streit und wurden erst getrennt, als Aimée im Alter von neun Jahren in eine Klosterschule geschickt wurde, um eine kultiviertere Bildung zu erhalten, als sie von Privatlehrern hätte vermittelt werden können. Aimées Kummer beim Abschied von ihrer Spielgefährtin wurde nicht durch die Versicherung gemindert, sie werde in der Schule nettere Kameradinnen als eine junge capresse finden; Youma, die durch die Veränderung sicher mehr zu verlieren hatte, blieb äußerlich ruhig – »était d’une conduite irréprochable«, sagte Madame Peyronnette, die eine zu aufmerksame Beobachterin war, um das »tadellose Verhalten« einer Gefühllosigkeit zuzuschreiben.
Die Freundinnen trafen einander jedoch weiterhin; denn Madame Peyronnette fuhr jeden Sonntag in ihrer Kutsche zu der Klosterschule und nahm Youma mit; und Aimée schien kaum weniger entzückt, ihre ehemalige Spielgefährtin zu sehen als ihre Mutter. Während der ersten Sommerferien und der Weihnachtsfeiertage wurde die Kameradschaft aus Kindertagen unschuldig erneuert, und die gegenseitige Zuneigung überdauerte die nachfolgenden natürlichen Veränderungen ihrer Beziehung: Obwohl Youma eigentlich als bonne galt, die Aimée wie eine Herrin anredete, wurde sie fast wie eine Ziehschwester behandelt. Und nachdem Mademoiselle ihre Schulzeit hinter sich hatte, blieb das junge Sklavenmädchen ihre Vertraute und, in gewissen Grenzen, ihre Gefährtin. Youma hatte nie Lesen und Schreiben gelernt; Madame Peyronnette glaubte, dass sie mit ihrem schicksalhaften Los, von dem sie keine noch so große Anstrengung befreien konnte, nur unzufrieden werden würde, wenn man sie unterrichtete. Doch das Mädchen besaß eine natürliche Intelligenz, die ihren Mangel an geistiger Erziehung in vielerlei Hinsicht ausglich: Sie wusste bei jeder Gelegenheit, was sie zu tun und zu sagen hatte. Sie wuchs zu einer wundervollen Frau heran – sicherlich die schönste capresse ihres Bezirks. Ihre Hautfarbe war ein reines dunkles Rot; in ihren Zügen zeigte sich eine sanfte, unbestimmte Schönheit – etwas, das an das unergründliche Antlitz der Sphinx erinnerte, insbesondere im Profil; ihr Haar war zwar lockig wie schwarzes Vlies, aber lang und nicht reizlos; zudem war sie anmutig und sehr groß. Mit fünfzehn schien sie eine Frau zu sein; mit achtzehn war sie mehr als einen Kopf größer als ihre junge Herrin; und Mademoiselle Aimée musste aufblicken, wenn sie beim Spazierengehen Youma in die Augen sehen wollte. Die junge bonne wurde überall bewundert: Sie war eine von jenen, auf die ein Martiniquais einen Besucher voll Stolz als Beispiel für die Schönheit der vermischten Rassen hinweisen würde. Sogar in den Tagen der Sklavenhaltung verzichtete der Kreole nicht auf das Vergnügen, jene Farbtöne menschlicher Haut zu bewundern, die man furchtlos als bronzefarben und golden preisen kann: Er gab freimütig zu, dass sie vorzüglich waren – in ästhetischer Hinsicht existierten Vorurteile der Hautfarbe nicht. Dennoch hätten nur wenige junge Weiße sich erdreistet, Youma ihre Bewunderung zu offenbaren: In den Augen und dem ernsten Benehmen der jungen Sklavin war etwas, das sie ebenso schützte wie der moralische Einfluss der Familie, in der sie aufgewachsen war.
Madame Peyronnette war stolz auf ihre Dienerin und fand Freude daran, sie so hübsch wie möglich gekleidet zu sehen, in den leuchtenden und anmutigen Gewändern der farbigen Frauen. Was Kleidung betraf, hatte Youma keinen Grund, irgendjemanden der freien Klasse zu beneiden: Sie besaß alles, was eine capresse sich zum Anziehen nur wünschen konnte und den örtlichen Vorlieben für Farbkontraste entsprach – jupes10 aus Seide und Satin, robes-dézindes11 mit passendem Kopfschmuck und leichten Halstüchern –, Azurblau mit Orange, Rot mit Violett, Gelb mit Hellblau, Grün mit Rosa. Zu besonderen Anlässen, wie Aimées Erstkommunion, der fête12 von Madame, einem Ball, einer Hochzeit, zu der die Familie eingeladen war, trug Youma ein herrliches Kleid. Mit ihrem bodenlangen jupe aus orangefarbenem Satin, bis direkt unter ihre Brust reichend, darüber die geschnürte und bestickte Bluse freilegend, mit kurzen Ärmeln, die die bloßen, mit Reifen geschmückten Arme zeigten und an den Ellenbogen mit Goldspangen (boutons-à-clous) zusammengehalten wurden, ihrem hellgelben Halstuch (mouchouè-en-lai) mit grünen und blauen Streifen, ihrer dreifach geschlungenen Halskette aus geschnitzten Goldperlen (collier-chou), ihrem aufblitzenden Ohrgehänge (zanneaux-à-clou), ein jedes aus mehreren dicken Goldzylindern zusammengefügt, ihrem gelb gestreiften Madras-Turban, der vor Juwelen wie »Zitterbroschen«, Kettchen, bebenden Eicheln aus Gold (broches-à-gland) glitzerte, hätte sie einem Maler als Königin von Saba Modell stehen können. Unter Youmas Zierrat fanden sich verschiedene hübsche Geschenke von Aimée, doch den größten Teil des Schmucks hatte ihr Madame Peyronnette nach und nach als Neujahrsgeschenke gekauft. Youma wurde kein Vergnügen verweigert, von dem man annahm, es würde ihren angemessenen Wünschen entsprechen – außer die Freiheit.
Vielleicht hatte Youma sich nie darüber den Kopf zerbrochen, Madame Peyronnette indes hatte sorgfältig darüber nachgedacht und einen Entschluss gefasst. Zweimal lehnte sie Mademoiselle Aimées Ersuchen ab, dem Mädchen die Freiheit zu schenken, trotz aufrichtiger Bitten und Tränen; aus Gründen, die Aimée in ihrer Jugend nicht gänzlich verstehen konnte. Madame Peyronnettes wahre Absicht bestand darin, Youma erst freizulassen, wenn die Freiheit sie glücklicher machen würde, als sie es jetzt schon war. Vorläufig diente ihr der Sklavenstatus als moralischer Schutz: Er unterstellte sie rechtlich denjenigen, die sie am meisten liebten; er behütete sie vor Gefahren, von denen sie noch nichts ahnte; zu guter Letzt verhinderte er die Möglichkeit einer Vermählung, mit der ihre Herrin nicht einverstanden wäre. Die Patin hatte ihre eigenen Pläne für die Zukunft des Mädchens: Sie wollte, dass Youma eines Tages einen sparsamen und fleißigen Freigelassenen heiratete – jemanden, der ihr ein gutes Zuhause bieten konnte, ein Schiffsbauer, Zimmermann, Baumeister, irgendein ordentlicher Handwerker –, und in diesem Fall würde sie ihre Freiheit bekommen – vielleicht zusammen mit einer kleinen Mitgift. In der Zwischenzeit war sie gewiss so glücklich, wie sie nur sein konnte.
… Mit neunzehn feierte Aimée eine Liebesheirat – ihr Mann war Monsieur Louis Desrivières, ein entfernter, rund zehn Jahre älterer Cousin. Monsieur Desrivières hatte ein blühendes Landgut an der Ostküste geerbt, doch wie viele reiche Plantagenbesitzer verbrachte er den größeren Teil des Jahres lieber in der Stadt, und er führte seine junge Braut in das Haus seiner Mutter im Quartier du Fort. Youma begleitete Aimée in ihr neues Zuhause, so wie diese es sich gewünscht hatte. Von Madame Peyronnettes Haus in der Grande Rue war es nicht so weit bis zum Heim der Desrivières in der Rue de la Consolation, als dass die Tochter oder das Patenkind die Trennung als schmerzlich hätten empfinden können.
… Dreizehn Monate später trug Youma, gekleidet wie eine orientalische Prinzessin, ein kleines Mädchen zum Taufbecken, dessen Ankunft in der kleinen kolonialen Welt im Archiv de la Marine verzeichnet wurde: »Lucile-Aimée-Francillette-Marie, fille du sieur Raoul-Ernest-Louis Desrivières, et de dame Adélaïde-Hortense-Aimée Peyronnette.« So wurde Youma die da der kleinen Mayotte. Für gewöhnlich ruft und benennt man das Kind mit dem letzten bei der Taufe genannten Namen – oder vielmehr mit einer kreolischen Koseform dieses Namens … Die Koseform von Marie lautet Mayotte.
In beiden Familien dachte man, dass sie ihrem Vater ähnlicher sah als ihrer Mutter: Sie hatte seine grauen Augen, sein braunes Haar – das helle Haar, das bei Kindern der älteren Kolonialfamilien mit dem Heranwachsen dunkler wird, bis es scheinbar schwarz ist. Sie versprach, eine Schönheit zu werden.
Ein weiteres Jahr verstrich, in dessen Verlauf man keine glücklichere Familie hätte finden können: Dann wurde Aimée mit grausamer Plötzlichkeit vom Tod fortgerissen. Sie war mit ihrem Mann in einer offenen Kutsche ausgefahren, um einen Ausflug auf der schönen Bergstraße La Trace zu unternehmen, während Youma mit dem Kind zu Hause blieb. Auf der Rückfahrt hatte sie einer dieser kalten und flutartigen Regenschauer, die zu bestimmten Zeiten des Jahres einen unerwarteten Sturm begleiten, mitten an einem ungewöhnlich warmen Nachmittag überrascht, als sie weit von jeder Zuflucht entfernt waren. Beide waren sogleich nass bis auf die Knochen; und ein starker, unvermittelt aufkommender Nordostwind blies ihnen auf dem ganzen Nachhauseweg entgegen. Die junge Frau, von Natur aus empfindlich, bekam eine Brustfellentzündung und starb trotz aller nur denkbaren Hilfe vor dem nächsten Sonnenaufgang.
Und Youma zog sie ein letztes Mal an, zärtlich und gewandt, so wie sie sie zu ihrem ersten Ball in Hellblau und an ihrem Hochzeitstag in wolkiges Weiß gekleidet hatte. Nur wurde Aimée diesmal ganz in Schwarz gehüllt, wie es bei verstorbenen kreolischen Müttern Brauch ist.
Monsieur Desrivières hatte seine junge Frau leidenschaftlich geliebt; er hatte mit jugendlichem Herzen geheiratet und war in seinem Wesen durch Kontakt mit den raueren Seiten des Daseins kaum verhärtet worden. Die Prüfung war eine schreckliche – eine Zeitlang befürchtete man, er werde sie nicht überleben. Als er schließlich begann, sich von der ernsten Krankheit zu erholen, die durch den Kummer verursacht worden war, schien es ihm undenkbar, mit all den Erinnerungen in seinem Haus zu bleiben: So bald wie möglich zog er auf seine Plantage und versuchte sich dort durch Arbeit abzulenken, um nur gelegentlich in die Stadt zurückzukehren und sein Kind zu besuchen, für das Madame Peyronnette unbedingt hatte sorgen wollen. Doch Mayotte erwies sich als empfindlich wie ihre Mutter; und ungefähr sechs Monate später, als die Region von einer Epidemie heimgesucht wurde, entschied Madame Peyronnette, dass es besser für sie wäre, sie in Youmas Obhut zu ihrem Vater aufs Land zu schicken. Anse-Marine war als einer der gesündesten Orte der Kolonie bekannt; und das Kind wurde dort kräftiger, wie die Mimose – zhèbe-mamisé